[V-VI=Inhaltsübersicht Bd. 2] [1]
Bd. 2: Teil 2: Die politischen
Folgen des Versailler Vertrages
A. Die Beschränkung der Machtbefugnis
Deutschlands
durch den Friedensvertrag von Versailles
Wilhelm Sollmann
Mitglied des Reichstags, Reichsminister a. D.
Über den Begriff der Souveränität sind im Bereiche der
Rechtswissenschaft seit langem tiefgründige Erörterungen im Gange.
Hervorragende Rechtsgelehrte vertreten die Anschauung, daß die
Entwicklung des überstaatlichen Rechts die Souveränität der
Staatspersonen nicht nur einschränke, sondern eigentlich schon aufhebe. Der
Begriff "Souveränität" sei für die gegenwärtige
Rechtslehre schon bedeutungslos geworden. Kelsen geht in dem Abschnitt
"Souveränität" im Wörterbuche des Völkerrechts und der
Diplomatie soweit, zu sagen: "Es wäre höchste Zeit, daß der
Begriff der Souveränität, nachdem er durch Jahrhunderte eine mehr
als fragwürdige Rolle in der Geschichte der Rechtswissenschaft gespielt hat,
aus dem Wörterbuch des Völkerrechts endgültig
verschwände." Sein Buch Das Problem der Souveränität und
die Theorie des Völkerrechts versucht die wissenschaftliche
Begründung dieses Standpunktes.
Man enge nun unter dem Gesichtswinkel internationaler Verträge die
Souveränität der Staaten so sehr ein wie immer möglich, so
bleibt doch bestehen, daß das Deutsche Reich der Nachkriegszeit in
besonderem Maße eine Beschränkung seiner
Souveränität erlitten hat. Der Friedensvertrag von Versailles, genauer
gesagt schon die Friedensverhandlungen haben das Deutsche Reich zu einer
beschränkten Rechtsfähigkeit und zu einer beschränkten
völkerrechtlichen Geschäftsfähigkeit herabgedrückt. Die
Staatspersönlichkeit Deutsches Reich ist durch den Friedensvertrag nicht nur
territorial verstümmelt worden, sondern hat auch in ihrem
Verfügungsrecht Einschränkungen erfahren, die mit der
Entmündigung von Einzelpersonen vergleichbar sind. Sehr entscheidende
Eingriffe in die Souveränität Deutschlands bestehen 10 Jahre nach
dem Friedensschlusse ungemindert fort.
Schon die Vorgeschichte des Friedensvertrages beweist, daß das Deutsche
Reich nicht als gleichberechtigter Kontrahent anerkannt wurde. Das Deutsche
Reich erhielt keine Möglichkeit, über die Friedensbedingungen zu
verhandeln. Der Inhalt des Vertrages ist so gut [2] wie ausschließlich von den Gegnern
Deutschlands festgesetzt worden. Man hat nicht mit Deutschland sondern
gegen Deutschland Frieden geschlossen. Der Charakter eines Diktates der
Friedensbedingungen geht klar aus der Note vom 10. Mai 1919 hervor: "Die
Alliierten und Assoziierten Mächte können keinerlei Diskussion
über ihr Recht zulassen, die grundsätzlichen Bedingungen des
Friedens, so wie sie sie festgesetzt haben, aufrechtzuerhalten. Sie können
nur Anregungen praktischer Art in Erwägung ziehen." Die 440 Artikel des
diktierten Vertrages bilden ein ewiges Dokument für den
rücksichtslosen Willen der an Waffen, Wirtschaft und Finanzen
Stärkeren, einem entmachteten Volke für unabsehbare Zeit die
Kräfte zu lähmen.
Deutlich genug offenbart sich dies schon in dem Umfange der Entziehung von
Land und Menschen. Deutschland hat durch den Friedensvertrag ein Achtel seiner
Fläche (7,05 Mill. ha) und rund ein Zehntel seiner Bevölkerung (6,47
Millionen Einwohner) verloren. Ein Achtel der Fläche Deutschlands, das ist
mehr als Belgien, die Niederlande und Luxemburg zusammen genommen (6,72
Mill. ha), das ist so viel wie Bayern rechts des Rheins (6,99 Mill. ha). Ein Zehntel
der Bevölkerung Deutschlands, das ist erheblich mehr als die
Einwohnerzahl
der Niederlande |
mit |
5,86 |
Mill. |
Einwohner |
(1909) |
oder Schweden |
" |
5,52 |
" |
" |
(1910) |
oder Bayern r. d. Rh. |
" |
5,95 |
" |
" |
(1910) |
Im einzelnen verteilen sich die
Gebiets- und Bevölkerungsverluste wie folgt:
[Scriptorium merkt an: im Original erscheint diese Tabelle
auf der gegenüberstehenden Seite - der Übersicht halber
fügen wir sie gleich hier ein:]
[3]
Abgetreten wurden an |
Fläche
in qkm |
Einwohner-
zahl am
1. Dez. 1910 |
davon
Deutsche
in % |
Abtretungszeit |
|
Belgien:
Eupen-Malmedy |
1 036 |
60 000 |
|
49 500
=82,6% |
20. IX. 20 |
Frankreich:
Elsaß-Lothringen |
14 522 |
1 874 000 |
|
1 637 600
=87,4% |
10. I. 20 |
Dänemark:
Nordschleswig |
3 993 |
166 300 |
|
40 900
=25,0% |
15. VI. 20 |
|
Polen:
Teil von Ostpreußen |
501 |
24 700 |
|
10 100
=40,9% |
10. I. 20 |
Größter Teil v.
Westpreußen |
15 864 |
964 700 |
|
426 400
=44,2% |
10. I. 20 |
Größter Teil v.
Posen |
20 042 |
1 946 400 |
|
681 000
=35,0% |
10. I. 20 |
Teil v. Pommern u. Brandenb. |
10 |
200 |
|
180 |
10. I. 20 |
Teil v. Niederschlesien |
511 |
26 200 |
|
11 700
=44,7% |
10. I. 20 |
Süd- u.
Ost-Oberschlesien |
3 221 |
892 500 |
|
263 900
=29,4% |
19. VI. 20 |
|
Zusammen |
46 149 |
3 854 700 |
|
1 393 280
=38,8% |
|
|
Hauptmächte, dann an Litauen:
Teil v. Ostpreußen: Memelland |
2 656 |
141 200 |
|
73 800
=52,3% |
10. I. 20
bzw. 1. III. 23 |
Freie Stadt Danzig (Schutz
des Völkerbundes):
Teil v. Westpreußen |
1 914 |
330 600 |
|
318 300
=96,3% |
10. I. 20 |
Tschecho-Slowakei:
Teil von Oberschlesien
(Hultschiner Land) |
315 |
48 400 |
|
7 100
=14,8% |
10. I. 20 |
|
Gesamtverlust |
70 585 |
6 475 200 |
|
3 520 1801
=54,0% |
|
|
Völkerbund:
Sämtliche deutsche Kolonien |
2 954 605 |
14 863 350 |
|
etwa 25 000
Deutsche |
|
|
Völkerbund für 15 Jahre, dann
Abstimmung: Saargebiet |
1 922 |
651 900 |
|
648 200
=99,7% |
10. I. 20
bis 10. I. 35 |
|
Die Bevölkerung Elsaß-Lothringens ist nicht befragt worden,
ob sie den Willen habe, zu Frankreich zurückzukehren. Man hat
über sie genau so verfügt, wie im Jahre 1871 über sie
verfügt worden ist, obwohl der Vertrag
von dem Unrecht spricht, das
Deutschland im Jahre 1871 sowohl gegen das Recht Frankreichs wie auch gegen
den Willen der Bevölkerung von
Elsaß-Lothringen begangen habe.
Eupen-Malmedy sind ohne wirkliche Mitbestimmung der
Bevölkerung von Deutschland getrennt worden. Nach Artikel 34
des Versailler Vertrages hatten die Bewohner das Recht, während der ersten 6
Monate unter belgischer Herrschaft sich in Listen einzutragen und darin schriftlich
gegen die Angliederung an Belgien zu protestieren. Wer sich aber eintrug, hatte
schwere Schädigungen zu erwarten und war insbesondere von der
Ausweisung bedroht. So wurden denn die Listen gemieden. Nur 271 Personen
beteiligten sich an der "Volksbefragung". Das Gefühl, daß ihnen
Unrecht geschehen sei, lebt in der Bevölkerung von
Eupen-Malmedy fort.
Von den nach Artikel 109
gebildeten 2 Abstimmungszonen in [3] Nordschleswig entschied sich die
südliche zweite Abstimmungszone mit Flensburg unzweifelhaft für
Deutschland. Die erste Zone, das nördliche Drittel Schleswigs, wurde en
bloc an Dänemark über- [4] geben, obwohl auch in dieser Zone ein
Grenzgürtel noch deutsche Mehrheit aufwies.
Danzig wurde
sehr gegen den Willen seiner deutschen
Bevölkerung durch Artikel 100
gezwungen, einen Freistaat zu bilden. Polen
hatte ursprünglich die Annexion Danzigs verlangt. Damit drang es nicht
durch, aber die Ententemächte gestanden ihm zu, daß es Danzig als
freien Zugang zum Meer benutzen dürfe. Danzig wurde unter den Schutz
des Völkerbundes gestellt. Seine Souveränität wurde zugunsten
Polens stark eingeschränkt. So wird der Hafen, dieses wichtigste Stück
Danziger Lebens, weder von Danzig noch von Polen verwaltet, vielmehr wurde ein
besonderer Ausschuß für den Hafen und die Wasserwege von Danzig
eingesetzt, der aus 5 Danzigern und 5 Polen unter dem Vorsitz eines neutralen
Präsidenten besteht. Das ganze Danziger Gebiet wurde ins
polnische Zoll- und Wirtschaftsgebiet einbezogen. Sämtliche
Eisenbahnen wurden Polen zugeteilt.
Der Artikel 99
trennte Memel vom
Deutschen Reiche. Als Vorwand galt,
daß dort neben den Deutschen auch Litauer leben. Der wirkliche Grund war
der wertvolle Hafen der ganz deutschen Stadt Memel. Zunächst
übernahm die Entente die Souveränität über das
Memelgebiet und ließ es durch einen französischen Oberkommissar
verwalten (seit 15. Februar 1920). Drei Jahre rangen Litauen und Polen, dem
Frankreich sekundierte, zäh um das Land. Die zur Entscheidung berufene
Botschafterkonferenz würde unzweifelhaft gegen Litauen für Polen
entschieden haben. Da schaffte Litauen eine vollzogene Tatsache. Am 10. Januar
1923 rückten litauische Freischaren in Memel ein und erklärten
dessen Vereinigung mit Litauen. Die Entente fand sich damit ab. Nach
mehrjährigen Verhandlungen wurde ein Memelstatut festgelegt, das
u. a. Polen einige Vorrechte im Hafen von Memel gewährt.
Durch Artikel 87
wurden Gebiete Posens,
Westpreußens sowie
kleine Stücke von Ostpreußen und Niederschlesien
an Polen abgetreten. Nach der Volkszählung von 1910 befanden
sich unter den fast 3 Millionen Einwohnern 1 100 000 Deutsche.
Es sind dies die
Gebiete des Korridors, der Ostdeutschland zerschneidet und Ostpreußen als
eine Insel von dem übrigen Deutschland trennt Die antideutsche Politik
Polens, die nicht dadurch besser wird, daß leider auch das frühere
Preußen eine verhängnisvolle Polenpolitik getrieben hat, dezimierte
den deutschen Anteil an der Bevölkerung. Zu hunderttausenden
verließen die Deutschen das ungastliche Land. Es mögen in
Posen-Westpreußen statt der 1 100 000 Deutschen jetzt nur noch
300 000 - 350 000 leben, ohne
daß die Gesamtzahl der Einwohner sich
vermindert hätte. Die
Polnisierung setzt naturgemäß am
schärfsten in der Schule ein. Entlassung deutscher Lehrer,
Übertragung deutscher [5] Schulhäuser an polnische Schulen,
Zerschlagung der alten Schulverbände und Überweisung deutscher
Kinder an polnische Schulen sind beliebte Mittel des antideutschen Kulturkampfes.
Die Polnisierung macht bedeutende Fortschritte. Am 1. September 1924
mußten schon 29,8% der deutschen Kinder polnische Schulen besuchen. In
Pommerellen waren sogar schon 48,1% der deutschen Kinder in die polnischen
Schulen einbezogen.
Der Artikel 88
setzte für einen großen Teil Oberschlesiens
Abstimmung fest, ob die Bewohner zu Deutschland oder zu Polen zu
gehören wünschen. Obwohl bei der Abstimmung am 20. März
1921 auf Deutschland 60% der Stemmen und auf Polen nur 40% der Stimmen
entfielen, ist Oberschlesien an Polen gegeben worden. Deutschland verlor damit
einen seiner bedeutendsten Industriebezirke. Kulturell steht die deutsche
Minderheit in einem ständigen Kampfe, insbesondere um ihre
Minderheitsschulen.
Artikel 83
endlich nahm uns das Hultschiner Ländchen und gab es
der Tschechoslowakei. Wie sehr sich seine Bewohner als Glieder deutschen
Volkstums fühlen, haben die Parlamentswahlen von 1925 bewiesen: 14 990
deutsche und nur 7938 tschechische Stimmen.
Die Artikel 119 bis
127 aberkannten
dem Deutschen Reiche sämtliche
Kolonien, in denen bedeutende öffentliche und private deutsche
Werte investiert waren.
Ein- und Ausfuhr der
deutschen Kolonien zeigten eine ansteigende Linie. [Scriptorium merkt an: vgl. auch hier.] Die
Einfuhr belief sich im Jahre 1903 auf 77 Mill. Mark, 1913 auf 238 Mill. Mark; die
Ausfuhr im Jahre 1903 auf 40 Millionen, 1913 auf 269 Millionen. An
Ausfuhrprodukten waren verfügbar in Togo: Palmkerne und Palmöl;
Kamerun:
Kautschuk, Kakao, Palmkerne, Palmöl; Ostafrika: Kautschuk,
Baumwolle, Hanf, Häute und Felle, Kaffee; Südwestafrika:
Diamanten und Kupfer; Südsee-Inseln: Phosphate, Kopra und Kakao; Samoa: Kakao und Kopra.
Durch die Artikel 128 bis
134 wurden die Pachtverträge mit China
über chinesisches Gebiet (Tientsin und Hankau) annulliert
Ein besonderes bis zum Jahre 1935 von Deutschland tatsächlich getrenntes
Gebilde haben die Artikel 45ff.
aus dem Saargebiet geschaffen, unter
dessen Bevölkerung sich höchstens einige hundert Franzosen
befinden. Um Frankreich "die Ausbeutung der Gruben zu verbürgen und zur
Sicherstellung der Rechte und der Wohlfahrt der Bevölkerung" wurden
Frankreich die Kohlengruben zugesprochen, die Verwaltung dem
Völkerbund übertragen. Damit ruht die Staatshoheit des Reiches
sowohl wie Preußens und Bayerns. Nach dem 10. Januar 1935 soll die
Bevölkerung sich entscheiden, "unter welche Souveränität sie
zu treten wünscht". Der Völkerbund läßt die Verwaltung
durch eine "Regierungskommission" ausüben. Die "Volksvertretung" bildet
das "Saar-Parlament", das indes nur beratende [6] Stimme hat. Das Gebiet ist dem
französischen Zollsystem eingeordnet. Die Volksabstimmung im
Jahre 1935 wird sich auf drei Fragen erstrecken: "Vereinigung mit Deutschland,
Vereinigung mit Frankreich, Beibehaltung der jetzigen
Rechtsordnung". - Die Abstimmung wird gemeindeweise erfolgen. Der
Völkerbund entscheidet dann "unter Berücksichtigung des durch die
Abstimmung ausgedrückten Wunsches darüber, unter welche
Souveränität das Gebiet ganz oder teilweise zu stellen ist."
In dieser Bestimmung liegt die Gefahr, daß in diesem kerndeutschen Land
für einzelne Teile oder Teilchen Mehrheiten für Frankreich
konstruiert werden, die entsprechende Loslösungen von Deutschland zur
Folge haben könnten. Indessen ist trotz aller gegenteiligen Mühe die
Wahrscheinlichkeit groß, daß das ganze Saargebiet geschlossen
für Deutschland stimmen wird.
Die Verstümmelung des Reichsgebietes hat der deutschen
Volkswirtschaft schwere und dauernde Wunden verursacht. Das gilt
zunächst für die Ernährungsbasis. Schon vor dem
Kriege war Deutschland nicht in der Lage, den Nahrungsbedarf für seine
Bevölkerung auf dem heimischen Boden zu erzeugen. Für ein
Fünftel bis ein Sechstel des deutschen Volkes mußten die
Lebensmittel aus dem Auslande bezogen werden. In den abgetretenen Gebieten hat
Deutschland eine landwirtschaftlich genutzte Fläche von 4,96 Mill. ha
verloren, das ist 14,2% seiner gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Der Rückgang des Ernteertrages wird beeinflußt auch durch den
Mangel an Düngemitteln, besonders an Thomasmehl, das in
Lothringen in umfangreicher Weise gewonnen wurde. Seine Erzeugung in
Deutschland ist durch den Verlust der Lothringer
Erzlager - das phosphorhaltige Thomasmehl ist ein Nebenprodukt aus dem
lothringischen Eisenerz - von 2,6 Millionen Tonnen auf 1 Million Tonnen
zurückgegangen.
Die landwirtschaftliche Bedeutung der einzelnen verlorenen Gebiete geht aus
folgender Übersicht der Ernteerträgnisse und Viehmengen (1913)
hervor:
|
Ost- u.
West-
preußen |
Posen |
Nord-
schleswig |
Elsaß-
Lothringen |
Ober-
schlesien |
Reich |
Verlust in %
ohne | mit
Oberschlesien |
|
I. Ernteerträgnisse (1913) in 1000
Tonnen: |
Weizen |
130 |
181 |
37 |
238 |
88 |
4 655 |
12,8 |
14,6 |
Roggen |
568 |
1 274 |
40 |
93 |
292 |
12 222 |
16,4 |
19,1 |
Gerste |
163 |
299 |
44 |
108 |
95 |
3 673 |
16,9 |
19,5 |
Hafer |
287 |
345 |
124 |
210 |
249 |
9 713 |
10,2 |
12,9 |
Kartoffeln |
2 722 |
5 156 |
59 |
1 266 |
1 664 |
54 121 |
17,3 |
20,3 |
Zuckerrüben |
776 |
2 268 |
1 |
7 |
351 |
16 940 |
18 |
20 |
[7] |
II. Viehstand (1913) in 1000
Stück: |
Pferde |
235 |
282 |
38 |
136 |
99 |
4 523 |
15,5 |
17,7 |
Rindvieh |
590 |
864 |
255 |
550 |
377 |
20 994 |
11,2 |
13,1 |
Schafe |
229 |
230 |
18 |
44 |
14 |
5 520 |
9,6 |
9,9 |
Schweine |
899 |
1 219 |
218 |
492 |
415 |
25 659 |
11,2 |
14 |
Verglichen mit dem Bevölkerungsverlust (10%) haben sich die
Anbauflächen und der Viehbestand in viel stärkerem Maße
vermindert. Es gingen verloren:
an Weizenfläche |
14,8 % der Reichsmenge |
an Roggenfläche |
17,7 % " " |
an Sommergerstenfläche |
16,4 % " " |
an Haferfläche |
11,2 % " " |
an Kartoffelfläche |
17,2 % " " |
an Pferden |
15,5 % " " |
an Rindern |
11,2 % " " |
an Schweinen |
11,2 % " " |
In der Schmälerung der deutschen Rohstoffbasis sind besonders
empfindlich die Verluste an Erzen und Kohle. Deutschland verlor an Zinkerz 68,3
v. H., an Bleierz 26,2 v. H., an Eisenerz 74,5 v. H. seiner Erzeugung im letzten
Friedensjahre 1913. Die deutschen Erzverluste entsprechen bei Eisen 20 v. H., bei
Zink 34 v. H., bei Blei 8 v. H. der Erzerzeugung von ganz Europa. Dabei
genügte die deutsche Erzgewinnung schon vor dem Kriege auch mit den
luxemburgischen Erzen, die im deutschen Zollgebiet lagen, für den Bedarf
der deutschen Wirtschaft nicht. Deutschland mußte große Mengen
Erze einführen.
Von der Steinkohlenförderung gingen mit den Saargruben, den
lothringischen und ostoberschlesischen Gruben nach dem Maßstab von 1913
rund 49 Millionen Tonnen von insgesamt 190 Millionen Tonnen verloren,
d. h. rund 26 v. H.
Die wirtschaftliche Stellung Deutschlands vor dem Kriege beruhte im
Gegensatze zu vielen anderen
Ländern - insbesondere zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika,
Frankreich und
England - weniger auf den natürlichen Reichtümern des Landes
oder der Kolonien als vielmehr in erster Linie auf der Arbeitskraft und
der Arbeitsleistung seines Volkes. Nach den Verlusten landwirtschaftlich
fruchtbarer Gebiete und der Einschränkung seiner Rohstoffbasis ist
Deutschland in noch höherem Maße als vor dem Kriege auf die
Arbeitskraft seiner Bevölkerung angewiesen. Diese hat aber durch die
Kriegsverluste und noch mehr durch den Vertrag von Versailles eine bedeutende
Schwächung erlitten. Nach der Berufszählung von 1907 gab es im
Deutschen Reiche alten Umfanges 26,8 Millionen erwerbstätige Personen.
Auf die abgetretenen Gebiete entfallen davon nicht weniger als 2,7 Millionen
Erwerbstätige. Das Reich hat also rund ein Zehntel der ehemaligen
deutschen Arbeitskraft verloren. Der Verlust ist etwa so groß wie [8] die Gesamtzahl der Erwerbstätigen Belgiens
(2,9 Millionen im Jahre 1910) oder der Erwerbstätigen von Schweden und
Norwegen (2,0 + 0,8 Millionen im Jahre 1910) zusammengenommen.
In den deutschen
Grenzgebieten hat die willkürliche Grenzziehung,
die uralte Verkehrs- und Handelsbeziehungen zerschnitten hat, verheerend gewirkt. Durch
das Ausscheiden Luxemburgs aus der deutschen Zollunion ist der sehr wichtige
volkswirtschaftliche Faktor, den Luxemburg mit seiner bedeutenden
Schwerindustrie darstellt, für Westdeutschland verloren gegangen. Dies hat
besonders auf die Aachener Eisenindustrie zurückgewirkt, die mit der
Luxemburgischen eng verbunden war. Einschneidende Umstellungen wurden
notwendig, denen u. a. das Eisenwerk Rote Erde (4000 Arbeiter) zum Opfer
gefallen ist. Mit dem Saargebiet hat der Regierungsbezirk Trier seinen
natürlichen Absatzmarkt verloren. So lieferten die Gerbereien des heutigen
Bezirks Trier ihre gesamte Sohllederfabrikation in das Saargebiet, die
Tabakindustrie über 50 v. H. ihrer Erzeugnisse, die Rohstoffindustrie der
Steine und Erze 80 v. H. ihres Materials, die Keramik 45 v. H., die
Handelsgärtnereien bis zu 60 v. H., die Mühlen zwischen 25 und 33 v.
H., die Holzfabriken bis zu 40 v. H. ihrer Erzeugnisse. 13 000 Erwerbstätige
arbeiten jenseits der neuen Grenzen. Diese Leute sind verurteilt, ihr und ihrer
Familien Dasein mit niedrigem Frankenlohn unter den teuren inländischen
Lebensbedingungen zu fristen.
Der Verlust konsumkräftiger Industriezentren des Saargebiets,
Lothringens und Luxemburgs, der beispielsweise zu einer völligen
Verödung der deutschen Märkte an der Saargrenze und an der
belgischen Grenze führte, hat die rheinische Landwirtschaft schwer
geschädigt. Verhängnisvoll sind die neuen Grenzziehungen für
die Industrie, die aus ihrer früheren Wirtschaftsgemeinschaft mit
dem Saargebiet, Luxemburg und Lothringen herausgerissen ist. So sind im Bezirk
Aachen 47 Betriebe mit insgesamt 12 823 Arbeitern und 945 Angestellten und
außerdem 3 Gruben mit einer Belegschaft von etwa 2000 Bergleuten
stillgelegt worden. Im Bezirk Koblenz wurden 160 Betriebe mit 5800 Arbeitern
stillgelegt und 10 Hochöfen ausgeblasen. Im Bezirk Trier sind 68 Betriebe
eingegangen. Zahlreiche Betriebe haben ihre Belegschaften wesentlich vermindert.
Der Versand hat stark nachgelassen. Nach der Güterstatistik ist das
Aachener Gebiet im Empfang und Versand von Stückgut gegenüber
dem Jahre 1913 um 40 v. H., im Wagenladungsverkehr ohne Kohlenverkehr um
über 35 v. H. zurückgegangen.
Auch die bayrische Pfalz hat durch die Trennung vom Saargebiet und
von Elsaß-Lothringen starke wirtschaftliche Einbuße erlitten. Deutlich
zeigt dies der Rückgang Ludwighafens als Stapelplatz. Der Umschlag von
Bahn zu Wasser betrug im Jahre 1926 [9] nur noch 46 560 t gegenüber
471 323 t im
Jahre 1913. Die Umschlagsziffern in den hessischen Häfen gingen von 1913
auf 1926 zurück: Worms von 538 934 auf 452 886 t, Gustavsburg von
1 126 824 auf 298 938 t, Mainz von 1 810 444 auf
1 232 103 t. Nur Bingen meldet eine
kleine Steigerung von 19 188 t. Beinahe alle Industrien Hessens weisen
Rückgänge ihrer Produktionsziffern auf. Auch Baden hat eine
Senkung seiner Wirtschaftskapazität durch die Verengerung des
Absatzraums. Der Gesamthafenverkehr Mannheims im Jahre 1926 hat gegen 1913
um 27,6 v. H. abgenommen; der eigentliche Umschlagverkehr von Schiff auf Bahn
ist 1925 gegen 1913 um 52 v. H. zurückgegangen. Nahezu die gesamte
Industrie der Pfalz, Hessens und Badens leidet unter dem Verluste des Saargebiets
und Elsaß-Lothringens.
Im Osten schreit die Grenzziehung schon durch den breiten
Korridor, der Ostdeutschland durchschneidet, ihre Verletzung der Wirtschaft und
des Verkehrs in die Welt hinaus. In
Posen-Westpreußen sind die meisten westöstlich verlaufenden
Eisenbahnen durch die Grenzen unterbrochen. Der Handel der deutsch gebliebenen
Gebiete hat sein Absatzgebiet in dem jetzt polnischen Posen verloren. Ebenso ist
das Handwerk in den kleinen Grenzstädten schwer geschädigt. Der
noch immer währende Zollkonflikt mit Polen verschärft die
Verhältnisse. Die an sich armen Landesteile leiden schwer.
Sehr erschüttert wurde die wirtschaftliche Lage Schlesiens infolge
der Durchschneidung wirtschaftlich und kommunal Jahrzehnte bis Jahrhunderte
lang zusammengehöriger Unternehmungen und Gemeinwesen. Die
Abtretung fast der gesamten früheren Provinz Posen an Polen hat den
Zusammenhang gelöst, in dem bis dahin Schlesien geographisch und
politisch mit den anderen östlichen Landesteilen gestanden hat. Die
Verbindung zwischen Schlesien und Ostpreußen ist durch die neuen Grenzen
gestört. Das insulare Ostpreußen und das nunmehr weit in fremde
Gebietsteile vorgeschobene Schlesien sind jetzt auch wirtschaftlich sehr
voneinander isoliert. Die Handelsverbindungen der schlesischen Hauptstadt
Breslau haben stark gelitten. Schlesien ist nebst Ostpreußen das
ärmste Sorgenkind des Deutschen Reichs unter seinen durch den Versailler
Friedensvertrag verwundeten Grenzländern. Die Trennung der beiden
Oberschlesien durch politischen Machtspruch macht in dem bei Deutschland
verbliebenen Teile eine Umschichtung der gesamten wirtschaftlichen
Verhältnisse notwendig. Ehedem dominierte in Oberschlesien die Industrie,
während Landwirtschaft und Handwerk erst an zweiter Stelle kamen. Jetzt
aber ist die Landwirtschaft vorherrschend, weil die bedeutendsten industriellen
Teile an Polen gefallen sind, während das Handwerk an zweiter Stelle und
die Industrie erst an dritter Stelle kommt. Das bedeutet eine
wirtschaft- [10] liche Umwälzung, die bisher noch
ungelöste Probleme zur Folge gehabt hat.
Eine der stärksten lange in die Friedensjahre hinein wirkenden
Beschränkung der Souveränität Deutschlands ist die
Besetzung großer Teile seines Gebietes durch fremde Truppen (Art.
428-432). Sie gilt als Sicherung für die Ausführung des
Friedensvertrages durch Deutschland. Der Umfang dieser Besetzung wird durch
folgende Zahlen veranschaulicht:
|
Fläche
Einwohnerzahl
1. 12. 1910 |
I. Zone (nach 5 Jahren zu räumen) |
6 544,2 qkm = 2 333 500 Einwohner |
II. Zone (nach 10 Jahren zu räumen) |
6 749,3 qkm = 1 132 600 Einwohner |
III. Zone (nach 15 Jahren zu räumen) |
17 242,0 qkm = 2 389 200 Einwohner |
|
30 535,5 qkm = 5 855 300 Einwohner |
Außer dieser durch den Friedensvertrag vorgesehenen sozusagen
regulären Besetzung wurden durch Reparationskonflikte folgende
vorübergehende Besetzungen verursacht:
B. Sanktionsgebiet: Düsseldorf, Duisburg, Ruhrort: |
7. März 1921 bis 25. August 1925 besetzt |
502,2 qkm = 651 900 Einwohner |
C. Einbruchsgebiet an der Ruhr usw.: |
11. Januar 1923 bis 31. Juli 1925 |
2 396,7 qkm = 2 857 600 Einwohner |
Geräumt wurde am 31. Jan. 1926 die erste Zone,
während die zweite und dritte Zone noch immer vollbesetzt sind. Allein auf
dem preußischen Gebiete beträgt die Stärke der
Besatzungstruppen 30 930 Mann. Davon
entfallen 19 036 auf Franzosen, 5470 auf
Belgier und 6424 auf Engländer. Ein Heer von etwa 67 000 fremden
Soldaten steht 10 Jahre nach Friedensschluß auf deutschem Boden. Hierzu
kommt der sehr erhebliche Troß (Familienangehörige, Verwaltung,
Wirtschaft).
Alle mit der Besetzung zusammenhängenden Fragen sind im
"Rheinlandabkommen" geregelt, das zusammen mit dem
Friedensvertrage unterzeichnet und im wesentlichen auch in der Form eines
Diktats dem Deutschen Reiche auferlegt wurde. Die oberste Vertretung
der Besatzungsmächte ist der "Interalliierte Hohe Ausschuß für
die Rheinlande", allgemein Rheinlandkommission genannt. Dieses
Rheinlandabkommen mit beinahe harmlos anmutendem Text ist in der schlimmsten
Weise ausgelegt und ausgeweitet worden, und zwar persönlich wie sachlich.
Die Rheinlandkommission sollte aus 4 Mitgliedern bestehen, war aber mit ihrem
Delegiertensystem zeitweise bis auf 1300 Mitglieder angewachsen. Noch jetzt
zählt sie allein an ihrem Regierungssitze in Koblenz 173 Personen. Die
Eingriffe der Besatzungsbehörden in die Souveränitätsrechte
Deutschlands und in nahezu alle politischen, wirtschaftlichen, kulturellen [11] und gesellschaftlichen Verhältnisse der
deutschen Bevölkerung würden allein in der nackten
Aufzählung der Geschehnisse Bände füllen, insbesondere in
den bewegten Zeiten des Ruhrkampfes. Beschlagnahmt sind zahlreiche Kasernen,
sonstige militär-fiskalische Gebäude, Regierungsgebäude,
Dienstwohnungen und Privatwohnungen, Schulen, Krankenhäuser, Theater,
landwirtschaftliche Güter und Gelände für
Übungs- und Flugplätze. In diesen Rahmen fällt auch die
Inanspruchnahme deutscher
Jagd- und Fischereibezirke durch die Besatzung. Rücksichtslos werden
militärische Übungen und Manöver in
allergrößtem Stile unter Verwendung der modernsten Technik
veranstaltet. Die Armee ist motorisiert. Durch die endlosen Autokolonnen werden
die Straßen in Grund und Boden gefahren und Felder und Wiesen vernichtet.
Das Besatzungsregime, dargestellt durch die Verordnungen der
Rheinlandkommission, kennzeichnet sich nach wie vor als eine unmittelbare
oberste Gewalt über das besetzte Gebiet. Die deutsche Verwaltung ist zwar
bestehen geblieben. Die
Besatzung - Rheinlandkommission - hat aber das Recht,
Verordnungen zu erlassen, die für die Behörden und Bewohner des
besetzten Gebietes bindend sind. Nach dem Rheinlandabkommen soll sich dies
Verordnungsrecht darauf beschränken, die Sicherheit und den Unterhalt der
Besatzungstruppen zu gewährleisten. Dieser Rahmen ist aber von jeher sehr
weit gespannt worden und bei manchen der Ordonnanzen muß ein
Zusammenhang mit dem dehnbaren Begriff der Sicherheit und des Unterhalts der
Besatzungstruppen mehr als zweifelhaft erscheinen.
Mit ihren nunmehr 316 Ordonnanzen nebst Ausführungsanweisungen hat
die Rheinlandkommission das öffentliche und private Leben im besetzten
Gebiet mehr oder weniger erfaßt. Dieser Zustand besteht auch heute noch,
nachdem eine Anzahl von Verordnungen als durch die Zeitverhältnisse
überholt - sogenannten Kampfverordnungen des passiven
Widerstandes - aufgehoben worden sind und die Handhabung der
Ordonnanzen gemildert worden ist.
Die erhoffte Revision der Ordonnanzen hat sich noch nicht verwirklicht. Noch
immer bedeutet das Verordnungssystem eine schwere Beeinträchtigung der
deutschen Verwaltungshoheit. Noch immer stellt es das besetzte Gebiet unter ein
Sonderrecht und beschneidet dem deutschen Einwohner in mancher Beziehung
seine staatsbürgerlichen Rechte.
Noch immer ist der deutsche Beamte der Besatzung Gehorsam schuldig. Auch
heute noch müssen uniformierte Beamte (Polizei, Zoll, Forst) und andere
Uniformträger (Feuerwehr) die Offiziere und Fahnen der Besatzung
grüßen. Leitende Beamte bedürfen der Zulassung. Bei ihrer
Versetzung und Verabschiedung hat sich die Besatzung ein Einspruchsrecht
vorbehalten. Desgleichen bedürfen die [12] deutschen Gesetze und Verordnungen der
Zulassung. Der deutsche Staatsbürger unterliegt der
Militärgerichtsbarkeit der Besatzung und kann ausgewiesen werden.
Deutsche Zivil- und Strafgerichtsverfahren können von der Besatzung inhibiert oder
auf Besatzungsgerichte übernommen werden. Die
Presse- und Versammlungsfreiheit ist beschränkt. In die
Wirtschaftskämpfe einzugreifen, hat die Besatzungsbehörde das
Recht. Sie hat auch das Recht, im besetzten Gebiete den Belagerungszustand zu
verhängen.
Welcher Geist heute noch das Besatzungsregime beseelt, mag aus dem Einspruch
hervorgehen, der seitens der Besatzung gegen
das - strichweise - Überfliegen des besetzten Gebietes durch
das Luftschiff "Graf Zeppelin" eingelegt worden ist.
Die Einstellung der Besatzung gegen das Deutschlandlied, die
Ausschließung der
Landeskriminal- und Schutzpolizei aus dem besetzten Gebiet, die
Kontingentierung der Polizeistärke, die Erschwerung der Luftfahrt, die
Überwachung des Rundfunks, die Kontrolle der Brieftaubenschläge
usw. atmen denselben Geist.
Das Lichtspielwesen steht im besetzten Gebiet sogar unter einer Art
Vorzensur.
Durch die Beschränkung des privaten Luftverkehrs ist dies modernste
Verkehrsmittel dem besetzten Gebiet bisher tatsächlich vorenthalten.
Ähnlich liegen die Verhältnisse im Rundfunk. Da Sendestationen im
besetzten Gebiet nicht gestattet sind, ist der Empfang nur mit großen und
teuren Apparaten möglich, so daß der Rundfunk im besetzten Gebiet
bisher nur geringe Volkstümlichkeit und Verbreitung gefunden hat.
Die Benachteiligung im Luftverkehr und im Rundfunk wird auch fortdauern, wenn
einmal die Beschränkungen weggefallen sind, da Luftverkehr und Rundfunk
ihre Organisationen zwangsläufig unter Vermeidung des besetzten Gebietes
haben treffen müssen, und diese Organisationen nicht ohne weiteres zu
ändern sein werden.
Zu den Besatzungslasten gehört auch die Tätigkeit der
Besatzungspolizei (Gendarmerie). Die Gendarmen sind zu mehreren Hundert
über das besetzte Gebiet in einem Netz von zahlreichen Stationen verteilt.
Worin ihre Daseinsberechtigung besteht, ist nicht ersichtlich, da die polizeilichen
Sicherheitsaufgaben von der deutschen Polizei wahrgenommen werden und
gewährleistet sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß
sie in erster Linie für politische Zwecke unterhalten wird.
Beunruhigend wirkt auch die Tätigkeit der Besatzungsgerichte. Ihre
Rechtsauffassungen und Verfahren sind mit deutschen Gesetzen und
Gepflogenheiten nicht in Übereinstimmung zu bringen und müssen in
den Hunderten deutschen Bürgern, die alljährlich in ein
Untersuchungsverfahren gezogen und zur Aburteilung gestellt [13] werden, das Gefühl der Rechtsunsicherheit
und Schutzlosigkeit erwecken.
Diese Umstände in Verbindung mit dem Personalausweiszwang, den
unvermeidlichen Zwischenfällen mit Besatzungsangehörigen und den
beschränkten Unterkunftsverhältnissen haben den Fremdenverkehr
vom besetzten Gebiete abgelenkt. Dafür ein einziges Beispiel: Die
Besuchsziffer des Bades Wiesbaden, die in der Vorkriegszeit 103 000
betragen hatte, hat 1927 erst wieder 47 000 erreicht. Die gesamte Wirtschaft des
besetzten Gebietes, die an sich schon, wie die früher aufgeführten
Zahlen beweisen, unter der neuen Grenzziehung leidet, hat auch besonders schwere
Schäden durch willkürliche Besatzungsmaßnahmen ertragen.
Ihren Höhepunkt erreichten diese Verwüstungen im Ruhrkampf, als
mitten durch deutsches Gebiet eine Zollgrenze und Verkehrssperre gegen
Deutschland durch die fremden Mächte gezogen war. Diese
Maßnahmen haben viele kleinere Existenzen im besetzten Gebiete
vernichtet. Die Wirtschaft der Gebiete am Rhein hat sich auch jetzt noch nicht
ganz von diesen großem Störungen erholt.
Eine Gefahr für die Räumung des besetzten Gebietes im Jahre 1935
bietet der [3.] Absatz des Art. 429, der
besagt, daß die Entfernung der
Besatzungstruppen aufgeschoben werden kann, wenn im Jahre 1935 die Sicherheit
gegen einen Angriff Deutschlands von den alliierten und assoziierten Regierungen
nicht als ausreichend betrachtet wird.
Die Besatzung ist vorübergehend, zeitlich nicht begrenzt aber ist die
Einrichtung einer entmilitarisierten Zone am Rhein (Art.
42-44). Es ist Deutschland untersagt, Befestigungen sowohl auf dem linken Ufer
des Rheins wie auf dem rechten Ufer westlich einer 50 km östlich des
Stromes gezogenen Linie zu unterhalten oder zu errichten. Ebenso sind auf diesem
Gebiete die Unterhaltung oder die Zusammenziehung einer bewaffneten Macht,
sowohl in ständiger wie auch in vorübergehender Form, sowie alle
militärischen Übungen jeder Art und die Aufrechterhaltung
irgendwelcher materieller Vorkehrungen für eine Mobilmachung untersagt.
Diese Zone, auf der also das deutsche Verfügungsrecht für immer
stark eingeschränkt ist, umfaßt 56 092 qkm
und 15 357 185 Einwohner.
Sie ist eine der Sicherungsmaßnahmen Frankreichs gegen Deutschland. Ihr
einseitiger
Charakter - denn auf der französischen und belgischen Seite ist keine
entmilitarisierte Zone, sind im Gegenteil starke Festungssysteme und große
Grenzgarnisonen - entwürdigt sie jedoch zu einer
Hoheitsbeschränkung des Deutschen Reiches und zu einer Gefahr für
dessen Sicherheit. Eine wirkliche Friedenspolitik müßte auch auf der
anderen Seite eine entmilitarisierte Grenzzone ziehen.
Wie stark die entmilitarisierte Zone in alle Zukunft sich gegen die Wirtschaft und
den Verkehr Deutschlands auswirken kann, beweisen [14] die Einsprüche gegen gewisse
Eisenbahnbauten und gegen den Bau von drei Rheinbrücken durch das
bisher für die Kontrolle zuständige Organ, die Botschafterkonferenz.
Man wittert strategische Vorbereitungen, wo Notwendigkeiten des Verkehrs den
Ausbau der Eisenbahnlinien und neue Brücken fordern. Die Tatsache,
daß selbst in diesen rein wirtschaftlichen Fragen außerdeutsche Organe
Entscheidungen treffen, ist einer der stärksten Beweise für die durch
den Friedensvertrag unerträglich geminderte Souveränität des
Deutschen Reichs.
Unermüdlich strebt Frankreich danach, in dieser entmilitarisierten Zone
nach dem Abzug der Besatzung dauernde Organe zu schaffen, die bei der
weitgehenden Auslegung der Art.
42-44 zu einer steten Gefahr für die Rechte Deutschlands auf diesem
deutschen Gebiete werden müßten. Seit dem Eintritt Deutschlands in
den Völkerbund ist dieses Drängen Frankreichs allerdings gehemmt
durch den Investigationsbeschluß des Völkerbundes vom 11.
Dezember 1926, wonach dauernde Organe in der entmilitarisierten Zone (Elements
stables) nur noch mit vertraglicher Zustimmung Deutschlands möglich sind.
Diese Zustimmung wird von keiner deutschen Regierung erteilt werden
dürfen. Die durch den Versailler Vertrag unternommenen Eingriffe in die
deutsche Souveränität sind so ungeheuerlich und so vielgestaltig,
daß Deutschland keinerlei wie immer gearteten Verpflichtungen
darüber hinaus übernehmen darf. Wenn die Räumung der
besetzten Gebiete vor dem Jahre 1935 gelingen sollte, so mag als Preis
dafür, wie dies auch im Sinne des Reichsaußenministers
Dr. Stresemann ist, eine Kontrolle unter Beteiligung Deutschlands bis zum Jahre 1935
in Kauf genommen werden. Nach dem Jahre 1935 aber haben alle dauernden
Kontrollorgane in der entmilitarisierten Zone zu verschwinden, denn der
Friedensvertrag sieht sie nicht vor. Über dem
Völkerbundsbeschluß hinaus kann das Deutsche Reich keine
Kontrollmaßnahmen zugestehen. Deutsche und europäische Politik
wird vielmehr auf die Gleichberechtigung der Nationen sich richten müssen,
und diese erfordert die Gegenseitigkeit der entmilitarisierten Zonen.
Von geringerer, aber doch nicht zu übersehender Bedeutung ist die
Internationalisierung wichtiger deutscher Flüsse durch den Art.
331 des Versailler Vertrages: die Elbe von der Mündung der Moldau ab, die
Oder von der Mündung der Oppa ab, die Donau von Ulm ab und jeder
schiffbare Teil dieser Stromnetze, welche mehr als einem Staat als
natürlichen Zugang zum Meere dienen. Die Auffassungen, was man unter
einem internationalisierten Strome eigentlich zu verstehen hat, sind ganz und gar
ungeklärt. Der eine Erklärer meint, jedes Hoheitsrecht der Uferstaaten
auf diesen Flüssen sei erloschen, während der andere behauptet, es
handele sich lediglich um ein gewisses Mitbestimmungsrecht anderer Staaten auf
[15] Flußstrecken, deren Hoheitsrecht im
übrigen unangetastet bleibe. Ein Versuch des Völkerbundes, die
Begriffe zu klären (auf der großen Verkehrskonferenz in Barcelona
1921), hat gezeigt, wie völlig verschieden die Auffassungen sind. Es wurde
schließlich herausgefunden, daß internationalisiert diejenigen
schiffbaren Wasserstraßen seien, für die internationale Kommissionen
unter Beteiligung von Nichtuferstaaten beständen. Ob diese Definition
richtig oder falsch ist, bleibt eigentlich bedeutungslos, weil fast alle Staaten, auf
deren Stellungnahme es ankommt, die Ratifizierung des Abkommens von
Barcelona verweigert haben.
Eine schöne Einleitung haben die Art.
159-213 des Vertrages. Sie bringen die zunächst einseitige
Abrüstung Deutschlands, um die vom Völkerbund
verheißene Herabsetzung der Rüstungen aller Nationen auf das
Mindestmaß zu ermöglichen. Die zwangsmäßig erfolgte
Abrüstung Deutschlands ist unbestritten und allmählich auch von den
verbissensten ausländischen Skeptikern mit einigen Wenn und Aber
zugestanden. Ebenso unbestritten ist freilich, daß der Völkerbund
bisher trotz langjähriger Ausschußberatung nicht einmal zu einer
Vorbereitung der Vorbereitung einer allgemeinen
Rüstungsbeschränkung gekommen ist.
Für Deutschland aber sind folgende Bestimmungen angeordnet und
durchgeführt:
Das Landheer
Abrüstung des deutschen Heeres bis auf 7
Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen mit einer Gesamtstärke von 100 000
Mann, einschließlich 4000 Offizieren und der Depots, bestimmt nur
für die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebietes
und für die Grenzpolizei.
Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Aufstellung und Ergänzung des
Heeres im Weg freiwilliger Werbung.
Ununterbrochene Dienstzeit von 12 Jahren für Unteroffiziere und
Gemeine,
von 25 Jahren für neu ernannte, bis zum Alter von 45 Jahren für
Offiziere des alten Heeres, die in der Armee verbleiben.
Auflösung des Großen Generalstabs.
Auflösung aller Militärschulen, Kriegsakademien, Kadettenanstalten
mit Ausnahme von 4 zur Heranbildung der Offiziere der einzelnen
Waffengattungen bestimmten Schulen.
Verbot aller deutschen Mobilmachungsmaßnahmen.
Verbot der Abordnung deutscher Militärmissionen nach fremden
Ländern und der Kriegsdienstleistung von Reichsdeutschen in fremden
Heeren. Recht Frankreichs, in Deutschland Mannschaften für die
Fremdenlegion zu werben.
[16] Beschränkung der im
Zollwächterdienst sowie im
Forst- und Küstenschutz verwendeten Beamten auf den Stand des Jahres
1913, sowie Begrenzung der Zahl der Polizeibeamten nach dem Verhältnis
der seit 1913 eingetretenen Bevölkerungszunahme.
Peinlichste Beobachtung der Vorschriften über die Art und Zahl der
Bewaffnung und des Materials für Heereszwecke (Gewehre und Karabiner
102 000 Stück mit je 400 Schuß, Maschinengewehre 1926 Stück
mit je 8000 Schuß, 350 mittlere und 189 leichte Minenwerfer mit 400 bzw.
800 Schuß, 204 Geschütze (7,7 cm) und 84 Haubitzen (10,5 cm) mit
1000 bzw. 800 Schuß).
Verbot der Waffen-, Munitions- und
Kriegsgeräte-Herstellung über den vorgeschriebenen Bedarf hinaus
und in anderen als von den Alliierten und Associierten Mächten
genehmigten Betrieben.
Verbot der Ein- und Ausfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät.
Auslieferung des gesamten deutschen Kriegsgerätes über die
zugelassenen Mengen hinaus. Auslieferung sämtlicher
Kriegschemikalienrezepte.
Schleifung aller befestigten Anlagen in der entmilitarisierten Zone und im
übrigen Deutschland, abgesehen von seiner
Ost- und Südgrenze.
Zugelassene "Festungen" sind u. a. Königsberg mit 22, Pillau mit 36
und Swinemünde mit 32 Geschützen, Anlagen von sehr geringem
militärischem Werte.
Seemacht
Abrüstung der deutschen Flotte bis auf 6 Schlachtschiffe, 6 kleine Kreuzer,
12 Zerstörer, 12 Torpedoboote mit einer Gesamtkopfstärke von 15 000
Mann.
Bildung und Ergänzung des Personalbestandes der Marine im Weg
freiwilliger Verpflichtung, bei Offizieren für mindestens 25, bei
Mannschaften für mindestens 12 aufeinanderfolgende Jahre.
Verbot und des Erwerbs von Unterseebooten selbst zu Handelszwecken.
Peinlichste Beachtung der Vorschriften der A. A. Hauptmächte über
Art und Zahl von Waffen, Munition und Kriegsgerät an Bord oder in
Bereitschaft.
Auslieferung aller Schlachtschiffe und kleinen Kreuzer, 42 moderner
Zerstörer, 50 moderner Torpedoboote, der deutschen Hilfsschiffe, der
deutschen Kriegsschiffe im Auslande, aller Unterseeboote, aller Hebeschiffe und
Docks für Unterseeboote.
Schleifung der deutschen Befestigungen und Hafenanlagen von Helgoland.
[17] Luftfahrt
Der Artikel 198
bestimmt, daß Deutschland keine
Land- oder Marine-Luftstreitkräfte, auch kein lenkbares Luftschiff
unterhalten darf.
Bis zum 31. Januar 1927 überwachte ein ausgedehntes interalliiertes
Kontrollsystem, das tausende Kontrollbesuche machte, die
Durchführung der Entwaffnungsbestimmungen. Seit jenem Tage ist die
Interalliierte Kontrollkommission zurückgezogen. Die
Militärkontrolle ist gemäß Art. 213 des
Versailler Vertrages auf
den Völkerbund übergegangen. Dieser allgemeine Kontrollparagraph
besagt, daß, solange der Versailler Vertrag in Kraft bleibt, Deutschland sich
verpflichtet, jede Untersuchung, die der Rat des Völkerbundes mit
Mehrheitsbeschluß für nötig halten sollte, in jeder Weise zu
erleichtern. Hinsichtlich des Aufhörens der dauernden
Militärkontrolle ist übrigens noch eine Einschränkung zu
machen. Gemäß Nr. 5 des die Beendigung der
Militärkontrollkommission betreffenden Protokolls von Genf vom 12.
Dezember 1926 sind für gewisse Aufgaben, die die
Militärkontrollkommission nicht erledigen konnte (oder wollte), in Berlin
den diplomatischen Vertretungen von Frankreich, England, Belgien, Italien und
Japan (der sogenannten
Botschafterkonferenz-Regierungen) technische Sachverständige attachiert,
die geeignet seien, mit den zuständigen deutschen Behörden ins
Benehmen zu treten. Diese Herren stellen eine Kontrollkommission in Liquidation
dar. Sie haben jedoch nicht das Recht örtlicher Besuche und Besichtigungen.
Man darf annehmen, daß dieser Rest der Militärkontrollkommission in
etwa einem Jahre auch beseitigt sein wird.
Zur Sicherung des Artikels 198
(Luftstreitkräfte) des Versailler Vertrages
sind im Mai 1926 in Paris zwischen der Botschafterkonferenz und dem Deutschen
Reiche "Vereinbarungen" getroffen worden, die es Deutschland untersagen,
Luftfahrzeuge zu bauen, zu halten, einzuführen oder in Verkehr zu setzen,
die in irgendeiner Weise gepanzert oder geschützt sind oder die mit
Einrichtungen zur Aufnahme von Kriegsmaschinen jeder Art, wie Kanonen,
Maschinengewehren, Torpedos, Bomben oder mit
Visier- oder Abwurfeinrichtungen für solche Maschinen versehen sind.
Auch die
Zivil-Luftfahrt wird in diesem Abkommen zahlreichen
Einschränkungen unterworfen hinsichtlich der zahlenmäßigen
Entwicklung des Flugzeugparks, der Subventionen, der Zahl und Ausbildung von
Flugzeugführern, des Sportfliegens, der Flugzeugfabriken, der
Verkehrslinien, der Vereinigungen, Gesellschaften oder Einzelpersonen, die
Luftfahrt betreiben.
Auch die durch Artikel 162
des Versailler Vertrages festgelegten
Einschränkungen der deutschen Polizeimacht, haben zu langen
[18] und häufigen Verhandlungen zwischen
dem Deutschen Reiche und den anderen Vertragsmächten geführt. Die
zurzeit gültigen wichtigsten Bestimmungen sind:
Die Polizei muß den Charakter eines regionalen und munizipalen Organs
bewahren. Das Personal soll den Charakter von Beamten auf Lebenszeit haben. Die
Zahl der Gendarmen sowie der Angestellten und Beamten der Polizeiverwaltungen
für einzelne Bezirke und Gemeinden darf nur im Verhältnis zu der
seit 1913 in den betreffenden Bezirken oder Gemeinden eingetretenen
Bevölkerungszunahme vermehrt werden. Die Gesamtstärke ist auf
105 000 staatliche und 35 000 kommunale Polizeibeamte festgesetzt. Jede
Erhöhung durch Freiwillige oder Hilfspolizei ist untersagt. Die Angestellten
und Beamten der Polizei dürfen nicht zu militärischen Übungen
zusammengezogen werden. Ein Personalaustausch zwischen Reichswehr und
Polizei ist untersagt. Die Ausbildung der Polizei darf keinen gemeinschaftlichen
militärischen Charakter tragen. Die Bewaffnung der Polizei ist durch den
"interalliierten Überwachungsausschuß für das Landheer"
vorgeschrieben. Flugzeuge darf die Polizei nicht besitzen. Nur 50 Polizeibeamte
dürfen für die Luftfahrt ausgebildet werden. Führerscheine
werden den Polizeibeamten nur erteilt, um die technischen Kenntnisse zu
vervollständigen, die sie besitzen müssen, um die Beaufsichtigung der
Handelsluftfahrt in voller Sachkenntnis durchführen zu können.
Die finanzielle und politische Leidensgeschichte der Reparationen geht
zurück auf die Art. 231 ff.
des Versailler Vertrages, die Deutschlands
Verpflichtung zu "Wiedergutmachungen" festlegen, weil "Deutschland und seine
Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden
verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre
Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner
Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben". Nie hat eine
deutsche Regierung die Berechtigung dieses Kriegsschuldparagraphen anerkannt.
Nie wird sich eine deutsche Regierung finden, die Deutschlands Alleinschuld am
Kriege anders als eine grobe Geschichtslüge behandeln wird. Die
Machtverteilung in der Welt hat aber den Gegnern Deutschlands die
Möglichkeit gegeben, ihre auf den Schuldparagraphen gestützten
finanziellen Ansprüche weitgehend zu befriedigen und eine weitreichende
Finanzkontrolle über Deutschland zu verhängen.
Eine Zusammenstellung des Statistischen Reichsamts vom März 1923
berechnete die Vermögenswerte aller Art, die Deutschland infolge des
Waffenstillstandsabkommens und des Vertrags von
Ver- [19] sailles andern Staaten übergeben
mußte, und die sonstigen Leistungen, die es auf Grund des Vertrags
erfüllt hat, bis dahin auf über 50 Milliarden
Goldmark. Die erwähnten Artikel des Versailler Vertrages gestehen zu,
daß Deutschlands Hilfsmittel nicht ausreichen, um die Wiedergutmachung
aller Kriegsschäden sicherzustellen. Eine
Wiedergutmachungskommission erhielt durch Art. 233 den
Auftrag, die Höhe der Schäden festzustellen. Dieser Kommission liegen alle
letzten Entscheidungen in der Wiedergutmachungsfrage ob. Sie gibt der deutschen
Regierung angemessene Gelegenheit gehört zu werden, ohne aber, daß
Deutschland in irgendeiner Form an den Entscheidungen der
Kommission Anteil nehmen dürfte. Nach dem Wortlaut des Vertrages hat
diese Kommission nahezu diktatorische Vollmacht zur Überwachung und
Vollstreckung hinsichtlich aller Fragen der Wiedergutmachung, auch die
Vollmacht, die Bestimmungen des Vertrages selbständig auszulegen. So hat
die Kommission das Recht, in gewissen Zeitabständen Deutschlands
Leistungsfähigkeit abzuschätzen, das deutsche Steuersystem zu
prüfen und sich zu vergewissern, daß das deutsche Steuersystem
verhältnismäßig genau so drückend ist wie das
irgendeiner anderen in der Kommission vertretenen Macht.
Der erste, und zwar utopische Versuch, eine Endsumme der deutschen
Leistungen festzustellen, wurde am 5. Mai 1921 durch das Londoner
Ultimatum gemacht: 132 Milliarden Goldmark, die mit 5% verzinst und mit
1% getilgt werden sollten. Als feste Jahreszahlung wurden zunächst 2
Milliarden Goldmark plus 26% der deutschen Ausfuhr bestimmt, was eine
deutsche Leistung von etwa 3,3 Milliarden jährlich bedeutete. Durch die
deutsche Inflation und den passiven Widerstand an der Ruhr ging dieser
Zahlungsplan praktisch zugrunde, obwohl er juristisch fortbesteht. Das
Dawes-Gutachten und der
MacKenna-Bericht vom 9. April 1924 schufen neue Grundlagen für
die deutschen Leistungen, Grundlagen, die bis zu dieser Stunde Geltung haben. Die
Methoden zur Inkraftsetzung und Durchführung des
Dawes-Gutachtens wurden
im Juli und im August 1924 auf einer
Konferenz in London festgelegt, zu der auch deutsche Vertreter hinzugezogen
waren. Die verschiedenen Abkommen datieren vom 16. August 1924. Das sehr
verwickelte und weitschichtige Vertragswerk von London im Rahmen dieser
Arbeit auch nur inhaltlich wiederzugeben, ist unmöglich. Deutschland hat
nach diesen Verträgen jährlich bestimmte Summen aufzubringen, die
nur in genau begrenzten Ausnahmefällen sich verändern
können. Als Reparationsquellen, aus denen die Zahlungen zu
leisten sind, werden bestimmt die Reichsbahn, die Industrie und der
Reichshaushalt. Reparationsorgan ist der "Agent für
Reparationszahlungen", an den die deutschen Zahlungen abgeführt
werden. [20] Neben diesem Agenten sind von den
Gläubigern noch besondere Organe zur Überwachung und Aufsicht
eingesetzt: der Kommissar für die verpfändeten Einnahmen, der
Eisenbahnkommissar, der Bankkommissar, der Treuhänder für die
Reichsbahnobligationen, der Treuhänder für die Industriebonds.
Die deutschen Eisenbahnen werden als Reparationspfand unter eine
gewisse ausländische Kontrolle gestellt. Die Leitung bleibt jedoch unter
gewissen Einschränkungen grundsätzlich in deutscher Hand. Die
Aufsicht über die Verwaltung wird von einem Verwaltungsrat von 18
Mitgliedern besorgt, von denen die Hälfte von der deutschen Regierung, die
andere Hälfte von dem Treuhänder des Reparationsagenten ernannt
wird. Von letzteren können fünf die deutsche
Staatsangehörigkeit haben. Der Präsident des Verwaltungsrates
muß ein Deutscher sein. Der Vorstand, der unter Aufsicht des
Verwaltungsrates die Geschäfte führt, besteht aus einem
Generaldirektor und mehreren Direktoren, die sämtlich Deutsche sein
müssen und dem Verwaltungsrat nicht angehören dürfen.
Neben diesen Organen steht der ausländische Eisenbahnkommissar, der von
den ausländischen Mitgliedern des Verwaltungsrates gewählt wird. Er
hat neben ausgedehnten Informationsrechten Kontrollbefugnisse über
Bau-, Betriebs- und Tarifmaßnahmen, auf Grund deren er eine Entscheidung
des Verwaltungsrates herbeiführen kann. Sollte die Reichsbahn mit ihren
Zahlungen in Rückstand kommen, so kann der ausländische
Eisenbahnkommissar weitgehende Eingriffe in die Leitung der Bahnen
vornehmen.
Eine weitgehende Kontrolle betrifft den deutschen Reichshaushaltsplan.
Als Sicherheit für die deutschen Zahlungen sind die Erträge aus den
Zöllen und den Abgaben aus Branntwein, Tabak, Bier
und Zucker verpfändet. Als Organ der Kontrolle ist ein
Oberkommissar zur Beaufsichtigung der kontrollierten Einnahmen mit je einem
Unterkommissar für jede der 5 kontrollierten Einnahmen vorgesehen. Dem
Oberkommissar steht ein beratender Ausschuß zur Seite, in dem jedes der
beteiligten alliierten Länder vertreten sein soll. Es sind drei scharf getrennte
Stufen der Kontrolle des Kommissars vorgesehen. In der ersten Stufe, die als die
Normale zu gelten hat, besitzt der Kommissar nur Informationsrechte. Die beiden
nächsten Stufen drohen unter gewissen Voraussetzungen, insbesondere
wenn Deutschland mit seinen Verpflichtungen im Rückstand bleiben sollte.
Dann hat der Kommissar bestimmte
Einspruchs- und Forderungsrechte. Er kann dann auch Änderungen der
Verwaltung und der Gesetzgebung fordern. Im allgemeinen ist vorgesehen,
daß die Sätze der verpfändeten Abgaben von der deutschen
Regierung nicht ohne die Einwilligung des Kommissars
herab- [21] gesetzt werden sollen, daß der Kommissar
sich aber jeder Einmischung in die Zolltarifpolitik enthalten wird.
Der Gesamtzahlungsplan auf Grund des Londoner Abkommens ist wie
folgt:
Im 1. Jahr (das vom 1. September 1924 bis 31. August 1925
läuft) |
|
aus internationaler Anleihe |
800 Mill. GM |
|
aus Zahlungen der Reichsbahngesellschaft
in Form von Zinsen der Reichsobligationen |
200 " " |
|
|
|
|
zusammen |
1000 Mill. GM |
Im 2. Jahr (1. September 1925 bis 31. August 1926) |
|
aus Erträgen des außerordentlichen Reichshaushaltsetats,
und zwar entweder aus dem Verkauf von Vorzugsaktien
der Reichsbahngesellschaft oder aus einer inneren Anleihe |
250 Mill. GM |
|
aus den Erträgen der von der Reichsbahn zu
erhebenden Beförderungssteuer |
250 " " |
|
|
|
|
zusammen |
500 Mill. GM |
|
aus Zinsen der Eisenbahnobligationen |
595 Mill. GM |
|
aus Zinsen (2,5%) von 5 Milliarden GM Industrie-
Obligationen, abzuführen von der Industriebelastungsbank |
125 " " |
|
|
|
|
zusammen |
1220 Mill. GM |
Im 3. Jahr (1. Sept. 1926 bis 31. August 1927) |
|
aus Erträgen des ordentlichen Reichshaushalts |
110 Mill. GM |
|
aus Erträgen der Beförderungssteuer |
290 " " |
|
aus Zinsen (5 v. H.) auf Reichsbahnobligationen |
550 " " |
|
aus Zinsen (5 v. H.) auf Industrieobligationen |
250 " " |
|
|
|
|
zusammen |
1200 Mill. GM |
Im 4. Jahr (1. Sept. 1927 bis 31. August 1928) |
|
aus Erträgen des ordentlichen Reichshaushalts |
500 Mill. GM |
|
aus Erträgen der Beförderungssteuer |
290 " " |
|
aus Annuität der Reichsbahnobligationen
(5 v. H. Zinsen und 1 v. H. Tilgung) |
660 " " |
|
aus Annuität der Industrieobligationen
(5 v. H. Zinsen und 1 v. H. Tilgung) |
300 " " |
|
|
|
|
zusammen |
1750 Mill. GM |
Im 5. Jahre und in den folgenden Jahren |
|
aus Erträgen des ordentlichen Reichshaushalts |
1250 Mill. GM |
|
aus Erträgen der Beförderungssteuer |
290 " " |
|
aus Annuität der Reichsbahnobligationen |
660 " " |
|
aus Annuität der Industrieobligationen |
300 " " |
|
|
|
|
zusammen |
2500 Mill. GM |
Alle Zahlungen sammeln sich im Depot des Reparationsagenten bei der
Reichsbank an. In den Jahreszahlungen sind die gesamten Zahlungsverpflichtungen
Deutschlands für dieses Jahr jedesmal abgetragen, einschließlich der
Besatzungskosten und der Kosten für die verschiedenen
ausländischen Kontrollorgane. Eine Erhöhung der Leistungen aus
dem deutschen Reichshaushaltsplan soll vom 6. Jahre auf Grund eines
Wohlstandsindexes eintreten können.
Der Reparationsagent verfügt zusammen mit einem
Trans- [22] ferkomitee über die Summen in
folgender Weise: Alle laufenden Ausgaben wie z. B. Besatzungskosten
u. a. sind zu begleichen, Sachleistungen sind zu finanzieren, und es sind,
wenn der Devisenmarkt es erlaubt, fremde Devisen zu kaufen und diese an die
Reparationskommission zu überweisen. Der gesamte Fragenkomplex der
Sachleistungen und des Transfers ist bis in die Einzelheiten geregelt, um eine
Erschütterung der deutschen Währung zu vermeiden. Das
Transferkomitee hat das Recht, für die Höhe der Sachlieferungen und
der Devisenkäufe Grenzen festzusetzen, die selbst durch das Programm der
Reparationskommission nicht überschritten werden dürfen. Durch
solche Maßnahmen häufen sich Summen auf dem Konto des
Reparationsagenten an, die zunächst für die eigentlichen
Reparationszwecke keine Verwendung finden können. Diese nicht zu
transferierenden Summen, also mit Rücksicht auf die deutsche
Währung nicht ins Ausland zu überführenden
Reparationswerte, muß das Transferkomitee vorläufig in Deutschland
anlegen. Die gesamten in Deutschland vorläufig zurückbleibenden
Summen dürfen aber 5 Milliarden nicht übersteigen.
Die Transferfrage beginnt erst jetzt akut zu werden. Sie ist einer der
Kernpunkte der bei Niederschrift dieser Zeilen noch nicht abgeschlossenen
Sachverständigen-Konferenz in Paris, die neu ermitteln will, welche
deutschen Jahresleistungen für die deutsche Wirtschaft erträglich
sind. Bis zur Stunde jedenfalls ist nicht nur der
Dawes-Plan, sondern auch sein ganzer Transferschutz noch in Kraft.
Schließlich darf nicht vergessen werden, daß in allen diesen Fragen
höchste und letzte Instanz der unerschütterte Versailler Vertrag
mit seiner Reparationskommission bleibt, die entscheidet, ob
Sachverständigen-Gutachten als vereinbar mit dem Vertrage hingenommen
und durchgeführt werden oder nicht. Als letztes Druckmittel gegen
Deutschland hat sie immer noch die Möglichkeit, den ersten Londoner
Zahlungsplan von 132 Milliarden Goldmark wieder in Kraft treten zu lassen. Es
hat sich als wirtschaftlich, finanziell und auch politisch für die
Gläubiger zweckmäßig erwiesen, mit Hilfe unparteiischer
Sachverständigen und unter Anhörung Deutschlands unsere
Zahlungsverpflichtungen festzusetzen. Eine rechtliche Änderung
des Diktatcharakters ist aber nicht erfolgt. Jede Weigerung Deutschlands gibt die
Möglichkeit, das ganze vielseitige und harte Kampfsystem des Versailler
Vertrages gegen das Deutsche Reich spielen zu lassen.
Wie diese lange Übersicht zeigt, gibt es kaum ein Gebiet des Lebens der
deutschen Nation, auf dem nicht durch den Friedensvertrag oder durch seine
Auswirkungen die deutschen Hoheitsrechte beschränkt worden wären.
Das Grundgesetz der deutschen Republik, die Verfassung des Deutschen
Reiches vom [23] 11. August 1919, macht davon keine
Ausnahme. Die Unsicherheit, die im Sommer 1919 in der
Nationalversammlung von Weimar gegenüber den möglichen
Ausstrahlungen des Versailler Diktates auf das deutsche Verfassungsleben
herrschte, äußert sich in dem Art. 178 Abs. 2 Satz 2 der Reichsverfassung: "Die
Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles
unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht
berührt." Eine Klausel, die ihr Entstehen dem Bestreben verdankt,
jeden etwa hervortretenden Widerspruch zwischen den Vorschriften der
Verfassung und den in ihrer Tragweite vielfach zweifelhaften Bestimmungen des
Versailler Vertrages unter allen Umständen auszuschließen. Eine
etwaige Kollision zwischen Verfassung und Friedensvertrag würde also
bedeuten, daß die betreffenden Verfassungsbestimmungen ruhen, insoweit
und solange der Vertrag in Geltung ist.
Schon am 2. September 1919 in einer Note des Präsidenten der
Friedenskonferenz, Clemenceau, glaubten die alliierten und assoziierten
Mächte feststellen zu können, daß ein Verfassungsartikel eine
förmliche Verletzung einer Bestimmung des Friedensvertrages enthalte. Es
handelt sich um den Art. 61 der Reichsverfassung, der das
Stimmenverhältnis der deutschen Länder im Reichsrat regelt. Der 2.
Absatz lautet:
"Deutschösterreich erhält
nach seinem
Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit
der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die
Vertreter Deutschösterreichs beratende Stimme."
Dieser Verfassungssatz wurde als im Widerspruch erachtet zu Art. 80 des
Versailler Vertrages, der besagt:
"Deutschland anerkennt die
Unabhängigkeit
Österreichs und wird sie streng in den durch den gegenwärtigen
Vertrag festgesetzten Grenzen als unabänderlich beachten, es sei denn mit
Zustimmung des Rates des Völkerbundes."
Trotz diesem klaren Diktat, daß ein Anschluß Österreichs
an Deutschland nur mit der Zustimmung des Völkerbundsrates
möglich sei, ließ man jene Verfassungsbestimmung stehen als
den Ausdruck einer staatsrechtlichen Hoffnung und
Anknüpfungsmöglichkeit. Die deutsche Regierung erwiderte auf die
Note Clemenceaus, daß der Vorbehalt des Art. 178 der Reichsverfassung
selbstverständlich auch den Art. 61 der Reichsverfassung unwirksam
mache. Das genügte nicht. Die deutsche Reichsregierung mußte
in einer diplomatischen Urkunde, deren Wortlaut vorgeschrieben wurde und von
der Nationalversammlung und vom Reichsrat zu billigen war, anerkennen und
erklären, daß der Abs. 2 des Art. 61 ungültig ist und die
Zulassung österreichischer Vertreter zum Reichsrat nur
statt- [24] finden kann, wenn gemäß Art.
80 des Friedensvertrages der Völkerbundsrat einer entsprechenden
Änderung der internationalen Lage Österreichs zugestimmt haben
wird.
Der Art. 61 Abs. 2 steht nun in der Reichsverfassung als ein überzeugendes
Dokument, wie stark der
Friedensvertrag in die Selbstbestimmung des deutschen
Volkes hemmend eingegriffen hat. Dem Wortlaut nach ist dies die einzige Stelle.
Tatsächlich aber sind auch wichtigste andere Verfassungsbestimmungen
über die Reichsgesetzgebung und die Reichsverwaltung eingeengt durch die
zahlreichen fremden Kontrollmaßnahmen, insbesondere des
Reparationsagenten. Es genügt, auf die Steuergesetzgebung, die
Steuerverwaltung, den Reichshaushalt, die Reichshoheit über das
Eisenbahnwesen und die Deutsche Reichsbank hinzuweisen. Der von nationalem
Selbstbewußtsein und nationalem Freiheitsgefühl getragene Wortlaut
der Reichsverfassung steht hier mit den durch den Friedensvertrag erzwungenen
Tatsachen in Widerspruch.
Das Friedensdiktat von Versailles hat das Deutsche Reich entmachtet und
entrechtet. Es ist ein Friedensschluß einseitig gegen Deutschland. Darum hat
der Vertrag ein Jahrzehnt nach dem Kriegsende noch keinen wahren Frieden
herbeiführen können.
Das in Deutschland geltende Staatsrecht kennt keine Rechtsbeschränkung
der deutschen Staatsbürger. Die Grundanschauung der Kulturmenschheit
wendet sich seit der französischen Revolution mit wachsender
Entschiedenheit gegen die Rechtsbeschränkung jedes Einzelmenschen. Das
Deutsche Reich erhebt den moralischen Anspruch, daß die
Rechtsfähigkeit seiner Nation den hohen Freiheitsbegriffen entspreche, die
es selbst jedem seiner Bürger zugesteht. Dieser Anspruch ist durch nichts zu
unterdrücken und bleibt unverjährbar.
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