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Der
grenzdeutsche Gürtel (Teil 3)
Das Deutschtum im Memelland und in Litauen
Durch das Friedensdiktat von Versailles ist ohne
Volksbefragung und gegen den Willen der Bevölkerung der
nordöstliche Zipfel Deutschlands, das sogenannte "Memelgebiet", das wir
besser Memelland nennen wollen, vom Deutschen Reiche abgerissen worden.
Seine Bevölkerung zählte etwa 140 000 Seelen, je zur
Hälfte mit deutscher und mit litauischer Umgangssprache, aber zu mehr als
neun Zehnteln deutsch von Gesinnung. Die Abtrennung des Memellandes
geschah, um auf alle Fälle Deutschland zu schwächen. Dabei blieb
das staatliche Schicksal des Gebiets zunächst noch ungewiß. Die
alliierten und assoziierten Mächte ließen es sich von Deutschland
abtreten, ohne schlüssig zu sein, ob sie es späterhin an Litauen oder
an Polen überlassen wollten.
Wir werden im folgenden darzulegen haben, wie sich das Schicksal des
Memellandes in den auf das Friedensdiktat folgenden Jahren entwickelte. Es
wurde von Litauen gewaltsam annektiert, und die Mächte ließen sich
diese Lösung, um die sie nicht gefragt waren, schließlich gefallen. So
kam ein Stück Grenzdeutschtum als künstlich und gewaltsam
geschaffene deutsche "Minderheit" an Litauen. Die Memelländer sind aber
nicht die einzigen Deutschen innerhalb der Grenze des litauischen Staates. Es gibt
dort außer ihnen noch etwa 50 000 deutsche Bauern, von deren
Dasein eigentlich niemand etwas gewußt hat, bevor Litauen seine
Staatlichkeit erhielt. Auch von diesem eigentlichen "Deutschtum in Litauen" wird
in diesem Kapitel noch genauer zu handeln
sein. Zuerst jedoch besprechen wir das Memelland als einen Bestandteil des
grenzdeutschen Gürtels.
Die Grenze des Memellandes gegen das Reichsgebiet bildet der Memelfluß.
Mit rund 2450 qkm ist es ungefähr so groß wie Luxemburg
oder Sachsen-Meiningen. Die Ansprüche Litauens auf dieses Stück
Deutschland wurden und werden damit begründet, daß es einstmal
litauisches Land gewesen sei. Das ist aber erweislich nicht richtig. Vor der
Ordenszeit hat kein Litauer in Ostpreußen gesessen. Die litauischen
Siedlungen sind nicht älter als etwa 400 Jahre. Zahlreiche Gelehrte,
darunter Dr. Gertrud Heinrich und Geheimrat Dr. Karge, haben dies
auf Grund von Urkunden nachgewiesen. Memel dagegen wurde bereits im Jahre
1252 von dem livländischen Ordensmeister Eberhardt von Seyme
gegründet. 1328 übernahm es der preußische Orden. Aus den
Akten des Ordens geht hervor, daß bis in die Mitte des
16. Jahrhunderts neben Deutschen nur
Kuren (ein baltischer Volks- [83] stamm) im Memelgebiet
angesiedelt wurden. Die wenigen Litauer, die im 13. und 14. Jahrhundert
im Memelgebiet auftauchten, waren Flüchtlinge; sie wurden ausweislich
der Akten jener Zeit nur "vorübergehend" angesiedelt. Erst im 16. und
17. Jahrhundert entstanden durch die fortschreitenden Besiedlung mit
Litauern Ortsnamen litauischen Ursprungs, bezw. litauisierte
Orts- und Personennamen.
Als kurz nach der Revolution 1918 im Memelgebiet vereinzelt Leute auftraten,
die den Anschluß an Groß-Litauen (Russisch-Litauen) propagierten,
stießen sie bei der deutschen litauisch sprechenden Bevölkerung auf
starken Widerspruch, welcher wiederum als Gegenwirkung die Gründung
des deutsch-litauischen Heimatbundes, der die Erhaltung der deutschen Kultur
erstrebte, auslöste. Großlitauische Fanatiker hatten die sogenannte
"Taryba" gebildet. Die litauisch sprechende Bevölkerung des Gebietes
stand sich in zwei Lagern gegenüber, auf der einen Seite die Tarybagruppe
mit von großlitauischer Seite bezahlten Agenten, auf der anderen Seite die
große Masse der preußisch und deutsch denkenden und
fühlenden litauischen Bevölkerung, die mit den rein deutschen
Bewohnern durch Verwandtschaft und Freundschaft seit Jahrhunderten verbunden
ist.
Das Stärkeverhältnis dieser Gruppen zueinander läßt
eine Ende 1921 aus der Bevölkerung heraus veranstaltete Art
"Abstimmung" erkennen: 54 429 Personen erklärten sich damals
durch Unterschrift für einen Memelländischen Freistaat; das waren
90 v. H. der wahlberechtigten Bevölkerung. Auf diese
"Abstimmung" gestützt, beantragten die Memelländer bei der
Botschafterkonferenz, ihnen den "Freistaat" nach dem Muster Danzigs zu
gewähren. Eine Entscheidung blieb jedoch aus; immerhin wurde den
Memelländern versprochen, daß sie vor der endgültigen
Bestimmung über die Zukunft des Memellandes "gehört" werden
sollten. Als sie Anfang November 1922 nach Paris geladen wurden, hatten sich
neben deutschgesinnten Memelländern auch memelländische
Großlitauer dort eingefunden. Diese verlangten die bedingungslose
Vereinigung des Memelgebietes mit Litauen, während die Erstgenannten
zunächst darauf hinwiesen, daß die übergroße Mehrheit
der Bevölkerung des Memelgebiets die Wiedervereinigung mit dem
deutschen Vaterlande wünsche, was der Vorsitzende der Kommission, die
die Memelländer im Auftrage der Botschafterkonferenz empfing, schroff
ablehnte.
Gerade die memelländischen Litauer waren nach ihrer staatlichen
Gesinnung "preußisch" bis auf die Knochen. Jedermann, vielleicht mit
Ausnahme von ein paar alten Leuten, beherrschte auch die deutsche Sprache,
brauchte sie ohne Schwierigkeit im Verkehr außer dem Hause, las und
schrieb deutsch. Erst nach dem Zusammenbruch Deutschlands im Weltkriege
tauchten unter den memelländischen Litauern Gestalten auf, die ihr
"Großlitauertum" entdeckten. Die Sorge um ihre Zukunft trieb im Sommer
1919 die memelländische Bevölkerung ohne Unterschied von
Sprache und Herkunft zur Bildung eines "Vorparlaments", das sich aus etwa 100
Abgeordneten aller Schichten zusammensetzte. Es trat mit
überwältigender Mehrheit und mit so [84] gut wie restloser
Zustimmung der ganzen Bevölkerung für das Verbleiben des
Memelgebietes beim Deutschen Reiche ein. Falls dieses Ziel nicht erreichbar sei,
wurde staatliche Selbständigkeit verlangt, indes vergeblich. Mit der
Unterzeichnung des Friedensdiktates und mit dem Austausch der Urkunden am
10. Januar 1920 wurde das Memelgebiet vom Deutschen Reiche losgerissen. Am
13. Februar traf in Memel eine französische Besatzung ein, unter dem
General Odry, als dem Kommissar der Entente. Dieser übernahm die
öffentliche Gewalt.
Daß gerade Frankreich den Kommissar und die Besatzung im Memellande
stellte, war bezeichnend dafür, daß die Memelfrage in den Augen der
Entente, namentlich Frankreichs, einen besonderen Charakter besaß.
Frankreichs Hauptziel im Osten war die Schaffung eines großen und starken
Polen. In der polnischen Vorstellung hat Litauen eigentlich keine besondere
Existenzberechtigung. Die Polen berufen sich, wenn auch mit einer gewissen
Vorsicht, in der Öffentlichkeit auf die
polnisch-litauische Union, die auf dem Reichstag zu Lublin 1568 geschlossen
wurde und die nach ihrer Auffassung Litauen zu einem Bestandteile des
polnischen Staates machte. Immerhin ließ sich die Vereinigung Litauens mit
Polen bei den Friedensverhandlungen nicht einfach durchsetzen. Nicht einmal
Wilna, das die Litauer als ihre geschichtliche Hauptstadt betrachten, konnte den
Polen schon in Versailles zugesprochen werden. Indes holten sie das bald genug
durch den - von der polnischen Regierung heimlich
angeordneten - Handstreich des Generals Zeligowski nach. Wilna
gehört nicht zum geschlossenen litauischen Siedlungsgebiet und hat ein
weit mehr polnisch-jüdisches als litauisches Gepräge; in der
Umgebung wohnen gleichfalls nicht eigentliche Litauer, sondern eine
weißruthenisch-litauische Mischbevölkerung. Gelang es, nicht nur
das Wilnaer Gebiet, sondern in irgendeiner Form auch noch Litauen in
Abhängigkeit von Polen zu bringen und diesem dann auch noch das
Memelgebiet zuzuschanzen, so schloß sich ein eiserner polnischer
Ring um das ganz vom übrigen Reiche getrennte Ostpreußen, das
dann im polnisch-französischen Sinne baldmöglichst dem Schicksal
Memels folgen sollte. Es gibt eine französische Karte, die dies Ziel der
französischen Ostpolitik mit überzeugender Deutlichkeit zeigt.
Im April 1921, nach dem russisch-polnischen Kriege, berief der
Völkerbund eine Konferenz unter dem Vorsitz des Belgiers Hymans nach
Brüssel, um den polnisch-litauischen Streit wegen Wilna beizulegen.
Hymans entwarf das Projekt eines engen Bundes zwischen Litauen und Polen,
wobei Litauen als Preis Wilna erhalten sollte, falls es sich in einen Bundesstaat
mit zwei "autonomen Kantonen" umwandelte: Wilna und Kowno. Der Plan war
französisch, und seine Tendenz war klar: ein in sich selbständiger
Kanton Wilna von überwiegend nichtlitauischem Charakter war für
Litauen untragbar, eine starke Zentralgewalt wäre unmöglich
gewesen, und der auf diese Weise geschwächte Staat sollte durch das
Bündnis dem Druck des ohnehin übermächtigen Polen
ausgeliefert werden, das auf diesem Umwege das dominierende Gewicht unter
den nordöstlichen Randstaaten erlangt hätte. [85] Den feinen Aufbau des
ganzen Projekts erkennen wir aus dem folgenden Satz: "Die Regelung des Status
von Memel könnte in gewisser Beziehung der krönende
Abschluß der zustande gekommenen Vereinbarung sein."
Die Brüsseler Konferenz ging ohne Ergebnis auseinander, aber die
Verhandlungen wurden im selben Jahre auf der Herbsttagung des
Völkerbundes in Genf fortgesetzt. Unter dem Druck Polens und
Frankreichs war die litauische Regierung nahe daran, ihre Einwilligung zu geben,
da sie ohne Rückhalt nach außen war und die zerfahrenen inneren
Verhältnisse ihr keine große Belastung der auswärtigen Politik
gestatteten. Da aber erzwangen die national-litauischen Bauernorganisationen, die
Vorkämpfer der antipolnischen Bewegung in Litauen, noch im letzten
Augenblick eine Änderung des Kurses. Der Völkerbund sah die
Aussichtslosigkeit eines haltbaren polnisch-litauischen Ausgleiches ein; das
Brüsseler Projekt und damit ein Stück französischer
Randstaatenpolitik war endgültig gescheitert.
Im Memelgebiet wurde die innere Ordnung von diesen Wirren zunächst
nicht wesentlich berührt. Die Verwaltung erhielt der
"Geschäftsführende Ausschuß" des Vorparlaments unter der
Bezeichnung "Landesdirektorium des Memelgebiets" von den Franzosen
übertragen. Am 12. März erfuhr das Direktorium eine Erweiterung
durch zwei "Großlitauer", d. h. Anhänger der restlosen
Vereinigung des Memelgebietes mit dem litauischen Staate. Die
Botschafterkonferenz verlieh dem Memelgebiet eine eigene Flagge, und zwar in
den alten Memelfarben gold-rot mit dem Memeler Stadtwappen. Den
Eisenbahnverkehr führte Deutschland für Rechnung des
Memelgebietes weiter. Am 7. Juli wurde der französische Präfekt
Petisné als Zivilkommissar mit der Oberleitung der Zivilverwaltung von
der Entente betraut. Die Amtssprache blieb nach wie vor deutsch. Bald wurde der
Paßzwang eingeführt und eine Zollgrenze am Memelstrom errichtet.
Im September 1920 ordnete die Besatzungsbehörde die Bildung eines
"Staatsrats" von 20 Mitgliedern und eines Oberverwaltungsgerichtes an. Der
Staatsrat war als beratende Körperschaft gedacht, die ihr Gutachten
über sämtliche wichtigen Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen, die
das Gebiet betrafen, abgeben sollte. Die ehemalige Gendarmerie erhielt die
Bezeichnung "Landespolizei".
Der französische Gouverneur Odry verließ am 1. Mai 1921 das
Memelgebiet. An die Spitze der gesamten Verwaltung trat nunmehr als
Oberkommissar der Franzose Petisné. Ihm wurde sofort von den
Vertretern der wichtigsten Körperschaften und Verbände des
Memelgebietes eine Entschließung überreicht, in der es
hieß:
"Wir verlangen einmütig und
mit aller Entschiedenheit, bei den Verhandlungen über das Memelgebiet
gehört zu werden, nachdem wir den zwingenden Beweis erbracht haben,
daß das Memelgebiet finanziell und wirtschaftlich durchaus
lebensfähig ist. Wir erbitten daher die alsbaldige Erklärung des
Memelgebiets zu einem »Freistaat« unter dem Schutz eines
Ententestaates."
[86] Hierzu kam es jedoch
nicht. Die Botschafterkonferenz gab im Dezember 1921 dem Memelgebiet die
Genehmigung, Wirtschaftsverträge mit den Nachbarstaaten
abzuschließen. Sie wurde auch alsbald zu einem Handelsvertrage mit Polen
benutzt.
Der neue Oberkommissar Petisné, ein Südfranzose und
höchst ehrgeiziger, auch auf sein persönliches Ansehen bedachter
Mann, hatte bald erkannt, daß die Pläne Frankreichs, wie sie auf der
Brüsseler Konferenz vertreten wurden, sich nicht verwirklichen
ließen, und richtete seine Politik nun darauf ein, in Memel ein
französisches Protektorat auf Dauer zu errichten. War es auch in erster
Linie persönlicher Ehrgeiz, der ihn leitete, so konnte sich diese Politik
weiter Sicht eines Tages wohl lohnen. Das Faustpfand war wertvoll. Zur
Durchführung war es aber notwendig, sich die Sympathien der Memeler
Bevölkerung zu erwerben, und damit hatte er vollen Erfolg. Seine Taktik
ging darauf aus, möglichst wenig in die inneren Angelegenheiten des
Gebietes einzugreifen und den Schein hervorzurufen, als ob eine
tatsächliche Selbstverwaltung bestünde. Besonders wußte er
sich auch als Beschützer der Unabhängigkeit Memels gegen Litauen
aufzuspielen - ohne zu ahnen, wie bald er gezwungen sein würde,
sich selbst vor den Litauern zurückzuziehen. Auch eine Regung der
Deutschen Ende 1921, einmal wirklich selbständige Politik zu treiben,
nämlich ein Versuch, sich mit Litauen zu verständigen, um im
Notfall nicht allein auf die Franzosen angewiesen zu sein, wurde von ihm
unterdrückt, und das folgende Jahr schien die Verwirklichung der
Autonomiewünsche zu bringen. Französische Politiker weilten im
Lande, um die Lage zu studieren, und Anfang November 1922 fuhr eine
memelländische Abordnung nach Paris, um der Botschafterkonferenz die
Forderung nach einem Freistaat unter einem Ententekommissar zu unterbreiten.
So hatte Petisné auch hier seinen Willen durchgesetzt. Außerdem
standen noch ein litauischer und ein polnischer Antrag zur Beratung, der letztere
ebenfalls im profranzösischen Sinne. Die endgültige Erledigung der
Angelegenheit wurde aber wiederum verschoben, denn die Aufmerksamkeit der
französischen Politiker wurde von wichtigeren Dingen in Beschlag
genommen: der Einfall ins Ruhrgebiet stand vor der
Tür.
Im Memelgebiet hatte sich inzwischen der politische Kampf bis zur Siedehitze
gesteigert. Zwar zog die Taryba, der litauische Nationalbund im Memelland, ihre
Mitglieder aus der Landesregierung zurück und bildete ein "Hilfskomitee
für Kleinlitauen" - aber die Führer beschlossen in Kowno
gemeinsam mit der litauischen Regierung, die infolge der durch Staatsstreich
erfolgten Präsidenteneinsetzung die Wogen der politischen Erregung
irgendwie glätten mußte, die gewaltsame Wegnahme des
Gebietes.
Am 10. Januar 1923, einem Tag vor dem französischen Einbruch ins
Ruhrgebiet, von dem man in Kowno sehr wahrscheinlich wußte,
überschritten litauische, in Zivil gekleidete Truppen die Grenze. Eine
litauische Landesregierung unter Simonaitis wurde gebildet. Die
französischen Truppen waren zu schwach, um
Wider- [87] stand leisten zu
können und gaben den Kampf bald auf. In wenigen Tagen war das
Unerhörte geschehen: Litauen, der eben erst von der Entente anerkannte
Staat, hatte es gewagt, ein unter französischem Protektorat stehendes
Gebiet den Großmächten zum Trotz kühn an sich zu
reißen.
Die Überraschung der Welt war allgemein. Polen legte einen scharfen
Protest ein, wagte aber nicht, weiter einzuschreiten, da Rußland
plötzlich eine drohende Stellung einnahm. Auch wurde kurze Zeit darauf
von den Großmächten endlich seine Ostgrenze und damit der Raub
von Wilna anerkannt. Der Botschafterrat entsandte eine Sonderkommission nach
Memel, um den genauen Tatbestand aufzunehmen. Inzwischen schickte er Note
auf Note nach Kowno, aber die litauische Regierung behauptete fest, daß
nicht verkleidete Truppen, sondern Freischärler den Überfall
unternommen hätten und daß sie im übrigen nur die
Wünsche der Memeler Bevölkerung zu erfüllen bestrebt sei.
Litauen nützte die politische Lage, durch die Frankreich im Ruhrgebiet
festgehalten wurde, geschickt aus und dachte nicht an Nachgeben.
Trotzdem ist es wohl noch nicht ganz geklärt, weshalb eigentlich
Frankreich und die Entente sich den Gewaltstreich Litauens, der sogar einem
französischen Soldaten das Leben kostete, in dieser speziell die Franzosen
demütigenden Form gefallen ließen.
Nach der Besetzung durch die Litauer wurde über das Memelgebiet die
großlitauische Diktatur verhängt. Die Zeitungen standen unter
Vorzensur. Ende Januar sandten die alliierten Mächte eine Kommission, die
von Kriegsschiffen begleitet wurde, nach Memel. Sie sollte die Ordnung
wiederherstellen. Die Litauer kümmerten sich wenig um die Forderungen
dieser Ententekommission, so daß sich die Entente genötigt sah, der
Regierung in Kowno ein Ultimatum auf Zurückziehung aller bewaffneten
Elemente, Auflösung der Banden und Absetzung der Simonaitisregierung,
sowie Auflösung des Tarybakomitees zu stellen. Die litauische Regierung
wurde beschuldigt, die Bildung und Bewaffnung der Banden in Litauen nicht nur
zugelassen, sondern auch militärisch und finanziell unterstützt zu
haben. Es wurde auch festgestellt, daß reguläre litauische Offiziere
und Soldaten ins Gebiet gesandt worden waren. Damit brach die Vorspiegelung
einer "Volkserhebung" zusammen. Simonaitis mußte zurücktreten;
die Untersuchungskommission der Entente bildete unter dem Präsidium des
früheren litauischen diplomatischen Vertreters in Berlin, Viktor Gailus, ein
neues Landesdirektorium, dem drei Großlitauer und zwei Deutsche
angehörten.
Am 18. Februar zogen die Franzosen sang- und klanglos ab.
Da Litauen am 20. Dezember 1922 de jure anerkannt worden war,
beschloß Ende Februar 1923 die Botschafterkonferenz, die
Souveränität Litauens über das Memelgebiet unter Verleihung
einer Autonomie für das Gebiet und besonderer Rechte für Polen
bezüglich der Benutzung des Hafens anzuerkennen.
Ende März 1923 begannen nunmehr in Paris Verhandlungen über
das Memelstatut, das die Bestimmungen über die Autonomie des
Memelgebiets innerhalb des [88] litauischen Staates
enthalten sollte. Die Vorschläge bezüglich des Hafens erschienen den
Litauern unannehmbar. So versuchten sie einen neuen Staatsstreich. Am 8. Mai
erschien der Ministerpräsident Galvanauskas in Memel und
verkündete feierlich die Autonomie. Das Statut enthielt im wesentlichen
dasselbe wie der Vorschlag der Botschafterkonferenz, aber ohne die
Zugeständnisse an Polen. Schon innerhalb der nächsten sechs
Monate sollten die Landtags- (Sejmelis-) Wahlen stattfinden. Von Polens Rechten
auf den Hafen war nicht mehr die Rede. Der bisherige litauische
Geschäftsträger in Memel, Smetona, wurde zum Gouverneur
ernannt, trat aber bald zurück, da die Tarybaleute ihm Schwierigkeiten
machten. Sein Nachfolger wurde Budrys, der an der Spitze der Freischar das
Memelgebiet erobert hatte. Am 4. März wurde die Litaswährung
neben der deutschen Mark eingeführt; sie wurde vom 10. Juni ab zum
alleinigen Zahlungsmittel bestimmt. Am 10. März hatte Litauen die
Zollverwaltung übernommen und die Zollgrenze nach Litauen aufgehoben.
Russisch-litauische Zoll- und Akzisesätze führten bald zu einer
ungeheueren Verteuerung der Lebensverhältnisse. Auch Post und
Telegraphie gingen in die Hände Litauens über, das sofort mit dem
Abbau wichtiger Einrichtungen begann. Die meisten deutschen oder
deutschfreundlichen Beamten wurden entlassen und abgeschoben. Die Folge war
eine schwere Erschütterung der Staatseinrichtungen. In den Staatsbetrieben
sowie in der Zollverwaltung wurde die deutsche Sprache abgeschafft. Formulare,
Bekanntmachungen usw. erschienen vielfach nur noch in litauischer
Sprache. Das ist bis heute fast überall so geblieben. Es hagelte
[84a]
Von den Litauern gestürzte Denkmäler in
Memel.
[84a]
Bahnhof in Memel, das von den Litauern in Klaipéda
umgetauft ist.
|
Zeitungsverbote nach langer Vorzensur; der Belagerungszustand schien eine
ständige Einrichtung werden zu wollen. Was von dem
Autonomieversprechen im Interesse der Litauer lag, wurde erfüllt, anderes
nicht. In der Nacht zum 8. April zerstörten Großlitauer die deutschen
Denkmäler. Aus einer Arbeitslosendemonstration entwickelte sich am 12.
April ein Generalstreik als Protest gegen die litauische Willkür.
Militär schoß blindlings in eine Demonstrationsversammlung hinein,
es gab Tote und Verletzte. Erst am 7. Mai wurde der Ausnahmezustand
aufgehoben. Am 15. August bemächtigten sich die Litauer ohne weiteres
der Eisenbahnen, worauf Deutschland sofort den Verkehr einstellte. Die
Verhandlungen wegen Übernahme des Eisenbahnverkehrs durch Litauen
führten erst am 5. Februar 1924 zur Wiederaufnahme des Betriebes und des
Durchgangsverkehrs. Sämtliche Stationsnamen wurden durch litauische
ersetzt, so z. B. aus Memel ein "Klaipéda". Trotz aller Proteste sind
auch heute noch nicht die deutschen Namen zugelassen, obgleich nach dem Statut
die deutsche und die litauische Sprache gleichberechtigt sein sollen. Im Dezember
1923 wurde der "Autonomieverband" unter dem Vorsitz des
Oberbürgermeisters Dr. Grabow [von] Memel zur Erringung der Autonomie
gegründet. Da verbot der Landespräsident den Staatsbeamten und
staatlich unterstützten Korporationen den Beitritt, weil der Verband
"überflüssig" und "regierungsfeindlich" sei. Im April 1924 entstand
ein "Kulturbund" zum Schutze deutscher Kultur.
[89] Nachdem alle
Verhandlungen der Botschafterkonferenz mit der litauischen Regierung
über die endgültige Fassung des Memellandstatuts fehlgeschlagen
waren, übernahm der Völkerbundsrat die Regelung der
Angelegenheit. Anfang Februar 1924 schickte er eine Kommission nach Memel,
die insbesondere feststellte, daß "die Ostgrenze des Memelgebietes, die
frühere russisch-deutsche Grenze, eine wirkliche Scheidewand zwischen
zwei besonderen Zivilisationen, eine richtige Grenze zwischen dem Westen und
dem Osten, zwischen Europa und Asien darstellt". Auf Grund der
Vorschläge der Kommission kam es schließlich zu einem
Übereinkommen, der sogenannten Memellandkonvention, die am 8. Mai
durch die Vertreter der beteiligten Mächte, nämlich England,
Frankreich, Italien, Japan, Amerika und Litauen, in Paris unterzeichnet wurde.
Diese Konvention über das Memelgebiet hat folgenden Inhalt:
"Die Kosten der Besetzung usw.
trägt Litauen. Das Staatseigentum, mit Ausnahme von Eisenbahn, Post,
Telegraphie, des Hafens und der Zollverwaltung, wird von Litauen auf die
Behörden des Memelgebiets zurückübertragen. Litauen
übernimmt die Reparationskosten für das Gebiet. Die früher
deutschen Staatsangehörigen, die am Tage der Ratifizierung durch Litauen
über 18 Jahre alt sind und seit dem 10. Januar 1920 im Memelgebiet ihren
Wohnsitz haben, erwerben ohne weiteres die litauische Staatsangehörigkeit.
Für Litauen optieren können innerhalb sechs Monaten alle geborenen
Memelländer über 18 Jahre, die länger als zehn Jahre dort
wohnen, und alle Personen, die seit dem 1. Januar 1922 im Gebiet von der
interalliierten Verwaltung eine dauernde Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben.
Optanten verlieren ihre deutsche Staatsangehörigkeit und werden litauische
und memelländische Bürger. Die ohne Option litauisch werdenden
Personen können innerhalb 18 Monaten für Deutschland optieren
und müssen dann das Gebiet in den folgenden zwei Jahren verlassen.
Für unmittelbare Staatsbeamte ist die Optionsfrist auf sechs Monate
beschränkt. Die Memelländer sind bis 1930 vom Militärdienst
befreit.
Das Memelgebiet bildet unter der
Souveränität Litauens eine Einheit, die, auf demokratischen
Grundsätzen aufgebaut, in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und
Finanzen Autonomie genießt. Der Präsident Litauens ernennt den
Gouverneur. Sechs Abgeordnete wählt das Gebiet in den Sejm. Zur
Zuständigkeit der autonomen Regierung des Gebiets gehören:
Organisationen und Verwaltung der Gemeinden und Kreise, Religionswesen,
Unterrichtswesen, öffentliche Wohlfahrtspflege,
Gesundheits- und Veterinärwesen, Lokalbahnen, die nicht dem litauischen
Staate gehören, Straßen und öffentliche Arbeiten lokaler
Bedeutung, Aufenthaltsregelung für Ausländer nach den litauischen
Gesetzen, Polizei, mit Ausnahme der
Grenz-, Zoll- und Eisenbahnpolizei, Bürgerliche Gesetzgebung,
Bodenrecht-, Strafgesetz-, Landwirtschafts-,
Forst-, Handels-, Gewerbegerichts-, Maß- und Gewichtsgesetzgebung;
ferner die gesetzlichen Bestimmungen über die zur amtlichen Vertretung
der wirtschaftlichen Interessen des Gebiets berufenen Organisationen, Erwerb des
memelländischen Bürgerrechts, Gerichtsverfassung (bis auf das
Obertribunal), direkte und indirekte Steuern, ausschließlich der Zölle,
Akzisen, Verbrauchssteuern und der Monopole auf Tabak, Alkohol und
Luxuswaren, die Verwaltung des öffentlichen Eigentums des Gebiets,
Regelung der Holzflößerei und Schiffahrt auf den Flüssen (mit
Ausnahme des Memelstroms) und Kanälen des Gebiets und Registrierung
der Handelsschiffe. Litauen kann die Zuständigkeit der autonomen
Behörden erweitern. Ein Gesetz wird in Übereinstimmung mit den
Gesetzen Litauens über Erwerbung der
litau- [90] ischen
Staatsangehörigkeit die Bedingungen festsetzen, nach denen das
memelländische Bürgerrecht in Zukunft erworben werden kann.
Für Litauer müssen sie die gleichen sein, wie sie in Litauen für
die Ausübung der staatsbürgerlichen und öffentlichen Rechte
festgelegt sind. Die Gesetze gibt der Landtag (Sejmelis), der in allgemeiner,
geheimer, gleicher und direkter Wahl auf je drei Jahre gewählt wird.
Wähler sind nur Bürger des Gebiets. Der Gouverneur
verkündet die Gesetze, die der Landtag beschließt. Er hat das
Einspruchsrecht, wenn die Gesetze die Zuständigkeit der autonomen
Regierung überschreiten, und kann mit dem Präsidenten des
Direktoriums gemeinsam den Landtag auflösen. Neuwahlen finden dann
sechs Wochen später statt. Die ersten Wahlen haben innerhalb sechs
Wochen nach dem Inkrafttreten des Statuts zu erfolgen. Wahlberechtigt sind nur
die über 21 Jahre alten Einwohner des Gebiets, falls sie nicht für
Deutschland optiert haben oder wenn sie litauische Staatsbürger geworden
sind. Das Landesdirektorium hat die vollziehende Gewalt im Gebiet. Es besteht
aus höchstens fünf Mitgliedern, Bürger des Gebiets,
einschließlich des Präsidenten, den der Gouverneur ernennt; der
Präsident muß das Vertrauen des Landtages haben, ebenso das
Direktorium, andernfalls müssen beide zurücktreten. Der
Wirtschaftsrat bleibt bestehen, bis der Landtag über ihn entscheidet. Er
muß über jeden Gesetzesentwurf fiskalischen oder wirtschaftlichen
Inhalts vor dem endgültigen Beschluß des Landtages gehört
werden. Die Wahlen zu den Gemeinde- und Kreiskörperschaften werden
nach memelländischen Gesetzen vorgenommen. Die unabsetzbaren Richter
ernennt das Landesdirektorium auf Lebenszeit. Sie können nur von der zu
bildenden Abteilung des litauischen Obertribunals (oberstes Gericht) für
memelländische Sachen, das überwiegend aus Richtern des Gebiets
bestehen muß, ihres Amtes enthoben werden. Die deutsche und litauische
Sprache gelten zu gleichen Rechten als Amtssprachen. Die wohlerworbenen
Rechte aller Beamten und Angestellten werden anerkannt. Bis zum 1. Januar 1930
können die Schulbehörden Lehrpersonal fremder
Staatsangehörigkeit in dem Umfange einstellen, den sie für
nötig erachten, um den Stand des Unterrichts auf der bisherigen
Höhe zu erhalten. Nach drei Jahren ist eine Änderung des Statuts,
unter besonderen Bedingungen zugunsten des Gebiets, zulässig."
Im Teil II: »Der Memeler Hafen« ist
bestimmt: "Der Hafen ist von internationalem Interesse nach den
Beschlüssen von Barcelona. Die Kosten für die Unterhaltung und
den Ausbau trägt die litauische Regierung. Eine Hafendirektion, bestehend
aus einem Litauer, einem Memelländer und einem Neutralen, den der
Völkerbund bestimmt, verwaltet den Hafen und überwacht die
Durchführung des Abkommens. Sie hat die bestehende Freizone
beizubehalten und für Anlagen für den Transithandel zu
sorgen."
Der Anhang III: »Transitverkehr«
bestimmt: "Falls am 1. Mai 1925 alle Einfuhrzölle auf Holz oder
Waren, die bis zu 75 v. H. des Wertes Holz als Rohstoff enthalten,
nicht abgeschafft sind, muß Litauen im Hafen eine Freizone zur Lagerung
und Bearbeitung von Holz nichtlitauischen Ursprungs errichten. Es sichert ferner
die Freiheit des Verkehrs zur See, auf Binnengewässern und Eisenbahnen
mit dem Memelgebiet zu, ebenso den Transit durch das Gebiet. Auch den Verkehr
zwecks Ausbeutung der Wälder am oberen Njemen sichert Litauen auf dem
Memelstrom mit allen Erleichterungen, trotz des Streites mit Polen,
zu."
Die litauischen Nationalisten, die mit dem Abkommen nicht zufrieden waren,
verschleppten die Ratifizierung bis zum 30. Juli 1924; ebenso verschleppte die
litauische Regierung die Wahlen zum memelländischen Landtag bis zum
Oktober 1925.
Schier endlos ist die Liste der Verstöße gegen die im Memelstatut
verankerten Rechte der Memelländer und der gegen das Deutschtum
gerichteten Gebote und Verbote.
[91] Trotz des Lehrermangels
im Memelgebiet verbot die litauische Regierung die Anstellung von Lehrern aus
Deutschland, obgleich das Statut dieses Recht ausdrücklich vorsieht.
Im Mai 1924 riß der Oberste Bevollmächtigte der litauischen
Regierung mit einer Verordnung die
Paß- und Aufenthaltsgenehmigungs-Angelegenheiten an sich, obgleich das
Statut den memelländischen Behörden diese Aufgabe zuwies.
Ausweisungen von Reichsdeutschen haben seit der litauischen Besetzung nicht
aufgehört. Sämtliche Flaggen, bis auf die litauische Staatsflagge,
selbst die Flagge der Stadt Memel und die kleinlitauische Flagge, die schon in
Vorkriegszeiten bestand, wurden verboten. Im November 1924 erließen
Gouverneur und Landespräsident eine Verordnung gegen die Presse, nach
der der Landespräsident unter Ausschluß der Gerichte Geldstrafen bis
zu 25 000 Lit oder Haft bis zu sechs Wochen gegen Redakteur oder
Verleger und Verbote auf unbestimmte Zeit verhängen konnte. Trotz eines
starken Richtermangels verbot die Kownoer Regierung die Anstellung
reichsdeutscher Richter.
Einen weiteren schweren Eingriff in die Rechtsprechung ergab der sogenannte
"Memelputsch" von 1924. Ein großlitauischer Spitzel verführte
leichtsinnige junge Leute zu dem Beschluß, eine Kaserne zu besetzen und
das Memelgebiet von den Litauern zu befreien. Nach der Aufdeckung wurde von
der litauischen Regierung mit rückwirkender (!) Kraft eine
Verordnung erlassen, nach der das litauische Kriegsgericht für Straftaten
aus den §§ 81 - 93 des deutschen Strafgesetzbuches
für zuständig erklärt wurde, obgleich "Hochverrat" und
"Landesverrat" von der dem deutschen Reichsgericht entsprechenden
memelländischen Abteilung des litauischen Obertribunals abgeurteilt
werden mußten. Man lieferte damit Memelländer fremden Richtern
und litauischen Strafgesetzen aus. Das Kriegsgericht fällte trotz aller
Proteste ein ungerechtfertigt hartes Urteil; das litauische Obertribunal milderte
später die Strafen erheblich.
Durch Einrangieren in das litauische Besoldungsgesetz wurden sämtliche
Beamten um drei Gruppen herabgesetzt. Frühere Dienstjahre wurden nur
für die Polizei angerechnet. Das Versprechen, die erworbenen Rechte der
Beamten anzuerkennen, wurde nicht gehalten. Noch im September 1924 wurden
50 v. H. sämtlicher Beamten mit Gehältern abgefunden,
die sich im Monat zwischen
130 - 160 Lit (1 Mark = 2,40 Lit)
bewegten. Auch in der Hilfe für die Kriegsbeschädigten hat der
litauische Staat nicht die Verpflichtungen innegehalten, die er bei der Abtrennung
des Gebietes übernommen hatte.
Ein besonderes Kapitel in der Reihe der litauischen Maßnahmen gegen die
Memelländer war der Memeler Kirchenstreik.
Im Memelgebiet befinden sich 31 evangelische Kirchengemeinden mit
128 000 überwiegend deutschen Gemeindegliedern. Nach der
Abtrennung bildete sich ein "Evangelischer Kirchenausschuß
Nord-Memelland", der die Aufgabe hatte, die
Frei- [92] heit und
Selbständigkeit der Kirche unter dem neuen Machthaber zu wahren. Das
Landesdirektorium verlangte aber nach dem Einbruch der Litauer in das
Memelgebiet, daß eine Verbindung mit dem Konsistorium in
Königsberg nicht mehr unterhalten werden dürfe. Der litauische
Pfarrer Gailus wurde zum Kirchenkommissar für das Memelgebiet bestellt.
Dieser verfügte, daß Geistliche, die sich in die gegebenen
Verhältnisse nicht hineinfinden könnten, die Folgerungen zu ziehen
hätten. Den widerstrebenden Kirchengemeinden wurde die Entziehung
jeder staatlichen Beihilfe und des staatlichen Schutzes sowie des
Besteuerungsrechtes angedroht. Mit nur zwei Ausnahmen erhoben
sämtliche Gemeindekörperschaften des Memelgebiets gegen diese
Vergewaltigung Einspruch. Das Landgericht in Memel verneinte die
Zuständigkeit des Landesdirektoriums zu Anordnungen auf rein
kirchlichem Gebiet und die Rechtsgültigkeit der Verordnungen betr. den
Kirchenkommissar, sowie der Anordnungen des Kirchenkommissars. Gailus aber
verfügte weiter die Auflösung einzelner kirchlicher Organe und die
Neuordnung der Gottesdienste, wobei es zum Teil zum tätlichen
Widerstand kam. Die papiernen Verordnungen konnten den Zusammenhang der
Gemeinden und Geistlichen mit ihrer alten Kirche nicht trennen. Am 3.
September 1924 bildete Gailus widerrechtlich eine eigene Landessynode. Anfang
1925 begannen endlich in Berlin die Verhandlungen, um den Frieden
wiederherzustellen. Im Juli wurde ein Abkommen getroffen, nach dem die
evangelischen Kirchengemeinden des Memelgebiets aus dem bisherigen
Zusammenhang mit Ostpreußen ausscheiden und zu einem
rechtsfähigen Synodalverband des Memelgebiets zusammengefaßt
werden, dessen Organ die Synode des Memelgebiets und der Kirchenrat sind. Die
Kirche hatte somit den großlitauischen Machtgelüsten
gegenüber ihre innere Freiheit und Selbständigkeit gewahrt.
Die Wirtschaft des Gebietes steht im Zeichen des Niederganges. Von der
Holzindustrie hängt im Memelland das ganze Wirtschaftsleben ab. Sie ist
erstorben. Der Rohstoffbezug ist durch die Sperrung des Memelstromes infolge
des latenten litauisch-polnischen Kriegszustandes seit Jahren unterbunden. In
Vorkriegszeiten kamen jährlich 600 000 Festmeter Holz die Memel
herab und wurden in Memel verarbeitet und exportiert. 1924 waren es nur noch
124 000 Festmeter. Die Holzausfuhr betrug 1922: 225 000, 1923:
165 000, 1924 aber nur noch 40 000 Festmeter. Von 60 Gattern im
Gebiet liefen 1924 noch acht, jetzt nur noch zwei bis drei. Der Zoll
übersteigt vielfach den Warenpreis, sogar bis zu 300 v. H. des
Wertes.
Im Memeler Hafen ist es sehr still geworden. Früher war es selten,
daß ein Schiff ohne Ladung Memel verließ; heute verlassen fast alle
Schiffe den Hafen leer. Trotz Hinzukommen des litauischen Hinterlandes machte
1924 die Einfuhr über See nur 75,7 v. H., die Ausfuhr aber
nur 44,7 v. H. der Vorkriegszeit aus. Der gesamte
Binnenschiffsverkehr 1924 betrug knapp die Hälfte der Vorkriegseinfuhr,
die Ausfuhr sogar nur ein Fünftel. Gewisse Kreise Litauens sehen in der
Abwürgung der memelländischen Industrie, die mit ihrer
Arbeiterschaft ein Bollwerk des
Deutsch- [93] tums darstellt, den
schnellsten Weg zur Litauisierung des Gebietes und Beseitigung der Konkurrenz,
gegen die die zugewanderten litauischen Firmen sonst nicht aufzukommen
vermögen.
Im Jahre 1914 waren 8000 Arbeiter bei der Industrie beschäftigt; davon
entfielen auf die Bau- und Sägeindustrie allein in Memel 4620 und auf das
übrige Gebiet 3250 Arbeiter. Jetzt werden in Memel nur noch 50 Arbeiter
in zwei Sägewerken, 700 in der Zellstoffabrik, 550 in einer
Sperrplattenfabrik und 200 in einer Kistenfabrik beschäftigt. Im
übrigen Gebiet ist die Beschäftigung in der Holzindustrie auf 100
Arbeiter zurückgegangen. In den letzten zwei Jahren stieg die
Arbeitslosigkeit zeitweise derartig, daß 40 bis 50 v. H. aller
Arbeiter im Memelgebiet arbeitslos waren. Die Stadt Memel bezahlte für
Notstandsarbeiten unverhältnismäßig große Summen.
Der litauische Staat entzog sich seiner Pflicht, die Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen. Erst durch die Abwanderung von optierenden
Arbeitskräften nach Deutschland trat ein Rückgang der Erwerbslosen
ein.
Auch in der sozialen Fürsorge steht nicht alles zum besten. Zwar ist am 4.
September 1920 ein Vertrag mit der Landesversicherungsanstalt Ostpreußen
abgeschlossen worden, der die Weiterführung der deutschen
Sozialversicherung im Memelgebiet mit Rückwirkung vom 11. Januar 1920
ab vorsah. Bald aber versuchten ganz besonders die großlitauisch
eingestellten Bauern, den Versicherungszwang für ihre Arbeiter zu
beseitigen, was ihnen auch teilweise gelang.
Die Großlitauer erfuhren bei den Kreistagswahlen, die nach einer einfach
diktierten Wahlverordnung am 10. Juli 1925 stattfanden, eine schwere Niederlage.
In dem Kreise Memel, dessen Bevölkerung überwiegend litauischer
Abstammung ist, erhielten die Listen der deutschen Bauern 11, die
Sozialdemokraten 5, die kleinen Landwirte 1 und die Großlitauer 3 Sitze.
Der frühere Kreistag des Kreises Memel wies dagegen von 26
Abgeordneten 19 Großlitauer auf. Im Kreise Heydekrug errangen die
vereinigte Liste der deutschen Landwirte und anderen Berufe 14, die
Sozialdemokraten 4, die kleinen Landwirte 2 Sitze und die Großlitauer nur
einen Sitz. Im Kreise Pogegen erhielten die deutschen Bauern 13, die
Sozialdemokraten 5, die kleinen Landwirte 1 und die Großlitauer 2 Sitze. 62
deutschen Kreistags-Abgeordneten standen 12 großlitauisch eingestellte
Volksvertreter gegenüber.
Für die Wahlen zum memelländischen Landtag erließ Litauen
im Juni 1925 ein besonderes Wahlgesetz. Die Zahl der zu wählenden
Abgeordneten wurde auf 29 festgesetzt. Wählen und gewählt werden
dürfen zum Landtag nur örtliche Einwohner des Memelgebietes; die
Wähler müssen am Wahltage 21 Jahre, Gewählte 24 Jahre alt
sein.
Die Landtagswahlen wurden unter nichtigen Vorwänden von Monat zu
Monat hinausgeschoben. Am 19. Oktober 1925 fanden sie endlich statt. Zur
Durchführung der Landtagswahl hatten sich alle deutschen Parteien und
berufsständischen Organisationen zu einer Einheitsfront
zusammengeschlossen. Auf der anderen Seite [94] standen die
großlitauischen Nationalisten,die jetzt irreführenderweise vorgaben,
die wahren Verfechter der Autonomie zu sein. Sie zerfielen in vier Gruppen: die
litauischen Bauern, den sogenannten "Autonomiebund", dessen Väter die
Männer des litauischen "Hilfskomitees zur Eroberung des Memelgebiets"
waren, die Darbo-Federacija (Arbeiterföderation), eine christliche
Arbeiterpartei, die dem Regierungsblock in Litauen angehört, und die
litauischen Staatsbeamten, welche Gruppe sich bereits vor dem Wahltage
auflöste. Bei der Wahl wurden insgesamt 62 517 Stimmen
abgegeben. Davon für die Einheitsfront 57 916 Stimmen, und
zwar
für die Memelländische Volkspartei |
24 082 Stimmen |
für die Memelländische Landwirtschaftspartei
|
23 824 " |
für die Sozialdemokraten |
10 010 " |
Auf die großlitauischen Parteien entfielen nur 3761 Stimmen und auf die
übrigen Splitterparteien 1840 Stimmen. Es standen also im Memelgebiet
einer Gesamtzahl von 57 916 Stimmen für die Einheitsfront 5601
Stimmen aller übrigen Parteien gegenüber.
Die Wahlbeteiligung betrug 83,52 v. H., in einer Reihe von Orten sogar 100 v.
H.
Der erste Landtag des Memelgebiets setzte sich aus folgenden Parteien
zusammen:
Memelländische Volkspartei |
11 |
Memelländische Landwirtschaftspartei |
11 |
Sozialdemokratische Partei |
5 |
Großlitauer (Landwirte) |
2 |
Dieses Wahlresultat ist auch als Ersatz für die seinerzeit von der Entente
verhinderte Volksabstimmung anzusehen; es beweist schlagend, daß die
Memelländer von den Großlitauern und ihren großlitauischen
Plänen nichts wissen wollen. Die Alliierten und der Völkerbund, die
das in seiner übergroßen Mehrheit deutschdenkende und
deutschfühlende Volk von seiner alten Heimat losrissen und es einem
fremden Staate angliederten, müssen aus diesen Ziffern ihr Unrecht und die
Verpflichtung, es wieder gutzumachen, erkennen.
Der Landtag trat am 23. November 1925 erstmalig zusammen. Zum
Präsidenten wurde der Handelskammerpräsident Josef Kraus
gewählt, der in seiner Ansprache dankbar der alten Heimat, des Deutschen
Reiches, gedachte, mit dem das Memelgebiet jahrhundertelang verbunden
gewesen ist und an dessen Kulturgütern es hat teilnehmen können.
Zu Anfang des Jahres 1926 wurde der bisherige Landrat des Kreises Heydekrug,
Simonaitis, zum Präsidenten des Landesdirektoriums ernannt. Simonaitis
ist nicht der Vertrauensmann der Mehrheit des Landtags; sie mußte ihn sich
aber schließlich gefallen lassen, wenn der Landtag überhaupt
arbeitsfähig werden sollte, denn der litauische Gouverneur lehnte es ab,
einen anderen als einen ausgesprochenen Großlitauer zum
Landespräsidenten zu ernennen. Der
Land- [95] tag hat sich aber beim
Völkerbund über dieses Vorgehen des Vertreters der litauischen
Regierung beschwert; die Entscheidung des Völkerbundsrats steht noch
aus. Ein Unpolitischer und drei Mitglieder der Einheitsfront wurden
Landesdirektoren.
Zwischen dem Memelgebiet und seinen Bewohnern und der litauischen Regierung
besteht mithin immer noch ein höchst gespanntes Verhältnis, weil
die Streitpunkte noch nicht entschieden, die fortgesetzten Rechtsverletzungen
noch nicht aufgegeben sind. Der Landtagspräsident Kraus sah sich erst
kürzlich gezwungen, in der Öffentlichkeit darauf hinzuweisen,
daß, wenn es nicht möglich sein sollte, auf friedlichem Wege die
Durchführung der Konventionen von der litauischen Regierung zu
erreichen, der Völkerbund das letzte Wort sprechen müsse.
Die Deutschen im eigentlichen
Litauen
Im litauischen Staate bilden die memelländischen Deutschen, zu denen,
wie gesagt, auch der größte Teil der memelländischen Litauer
nach ihrer politischen Gesinnung gehört, einen geschlossen wohnenden
Block mit der deutschen Stadt Memel als Zentrum. Ganz anders verhält es
sich mit den im eigentlichen Litauen zerstreut wohnenden Deutschen. Von dem
Boden, der heute das litauische Staatsgebiet ausmacht, war der Teil, der zur
russischen Zeit das Gouvernement Suwalki bildete, d. h. die Gegend
zwischen dem Njemen (Memelfluß) und der ostpreußischen Grenze,
zum größten Teile unbewohnte Waldwildnis. Ebenso erstreckte sich
nördlich von diesem Gebiete zu beiden Seiten der heutigen Grenze
zwischen dem Memelland und Litauen gleiche Waldeinöde. Es war das
Niemandsland, das Ordensgebiet und Litauen voneinander trennte und die
Grenzen von den gegenseitigen
Kriegs- und Raubzügen schützen sollte. Erst in späterer Zeit
ist diese Zone besiedelt worden, und von beiden Seiten zogen Einwanderer zu.
Auf diese Weise sind auch die ersten deutschen Siedler in das Gebiet des heutigen
Litauens gekommen. Später haben litauische Große und polnische
Könige wiederholt deutsche Handwerker und Bürger in die von
ihnen begründeten Städte berufen, die sie mit Privilegien
und mit deutschem Recht ausstatteten. Als in der Reformationszeit neun Zehntel
Litauens zur reformierten, kalvinistischen Kirche übertrat, haben viele zum
reformierten Bekenntnis gehörende Magnaten ihren deutschen
Niederlassungen auch lutherische Kirchen gestiftet, da die deutschen Zuwanderer
fast alle lutherischen Bekenntnisses waren. So z. B. in Keidani, in
Godlewo, Schoden, Jurburg usw. Nach der dritten Teilung Polens kam das
Suwalker Gebiet zu Preußen und damals sind viele deutsche Bauern in
dieses Gebiet eingewandert. So findet man in diesem Teile von Litauen,
namentlich in den Gebieten, die an das heutige Ostpreußen grenzen, wie
z. B. in Wischtyten, Wirballen, Neustadt, gegenüber dem
preußischen Schirwindt gelegen, aber auch im Mariampoler Kreise
zahlreiche Nachkommen der evangelischen Salzburger, die nach ihrer Vertreibung
eine neue Heimat in Ostpreußen gefunden hatten und von dort aus nach
Litauen übergetreten sind. Auch das Gebiet von Tauroggen, das [96] lange zu Preußen
gehört hat, hat eine zahlreiche deutsche Bevölkerung, sowohl auf
dem flachen Lande als auch in der Stadt. Das städtische Deutschtum ist in
früheren Jahrhunderten wirtschaftlich stärker und zahlreicher
gewesen als heute. In dem großen Pestjahre um 1700 ist ihm indessen ein so
schwerer Verlust entstanden, daß es sich nie mehr davon erholt hat. So
schrumpfte beispielsweise damals in Kowno durch die Pest der mündige
männliche Teil der deutschen Gemeinde bis auf 3 Personen zusammen. Im
Laufe der letzten zwei Jahrhundert ist das Deutschtum nicht mehr durch
Zuwanderung zu seiner früheren Bedeutung in den Städten gelangt.
Die Vereinigung Litauens mit Polen brachte Litauen die jesuitische
Gegenreformation in polnischem Gewande. Das litauische Bauerntum wurde
leibeigen und mit Gewalt katholisiert, die litauischen Bojaren und Fürsten
wurden polnische katholische Magnaten, und von der jesuitischen
Universität Wilna aus wurde die Geistlichkeit und Intelligenz katholisiert
und polonisiert. Die reformierte Kirche ist zugrunde gegangen und zählt
heute noch knapp 12 000 Bekenner litauischer Nationalität. Durch
diese Entwicklung wurden auch die lutherischen Deutschen in den Städten
bedrängt, und an ihre Stelle traten vielfach Polen, sowie die schon
früher ins Land gekommenen zahlreichen Juden, die sich allmählich
zum Hauptbestandteil der städtischen Bevölkerung entwickelten. Als
durch den Wiener
Kongreß das heutige Litauen an Rußland kam, hat
sich zunächst die Lage des Deutschtums nicht ungünstig gestaltet;
aber nach den polnischen Revolutionen begann die Zwangsrussifizierung des
Landes mit den brutalen moskowitischen Methoden zarischer Verwaltung. Jede
selbständige Regung wurde niedergehalten; nur russische staatliche Schulen
durften bestehen; dieselben waren wenig zahlreich, so daß das flache Land
ganz analphabetisch war. Die Lage der deutschen Gemeinden war etwas besser, da
ihren lutherischen Predigern gestattet wurde, Gemeindekirchenschulen zur
Vorbereitung für den Konfirmationsunterricht zu unterhalten. Die Pastoren
haben solche bei ihren Hauptkirchen und vielfach auch in den Filialkirchen
eingerichtet, und an Bibel, Katechismus und Gesangbuch lernten die Kinder auch
vielfach im Hause von Mutter und Vater das Lesen. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß die geschlossene Zugehörigkeit unseres Volkstums in Litauen zur
Lutherkirche dasselbe deutsch erhalten hat. Unabhängig von diesem
Deutschtum entstand in den letzten hundert Jahren vereinzeltes Deutschtum in
ganz Nordlitauen durch Zuwanderung von baltischen Deutschen aus Kurland und
Riga. Deutsche Kurländer kauften sich in den Grenzgebieten in Litauen
Güter; deutsche Müller aus Kurland erwarben und bauten
Mühlen, Gewerbetreibende und Kaufleute ließen sich vereinzelt
nieder, Apotheker und Ärzte, sowie einzelne Prediger kamen ins Land; aber
alle diese Leute traten mit dem deutschen Bauerntum im Westen kaum in
Berührung, da alle ihre Beziehungen zu dem Deutschtum ihrer Heimat
hinliefen. Auch im westlichen Litauen kauften sich zahlreiche Reichsdeutsche
Güter und bewirtschafteten dieselben. Aber sie sind zum Teil der
Polonisierung oder Russifizierung verfallen, oder sie verkauften ihre Güter
und [97] verließen das
Land, als Alexander III. das Gesetz erließ, welches Ausländern
Eigentum an Grund und Boden in diesen Gebieten verbot. Erwähnenswert
ist noch, daß in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege durch
Reichsdeutsche einzelne große Industrieunternehmungen in Kowno
gegründet wurden, wodurch eine größere Anzahl deutscher
Werkmeister und Spezialarbeiter angezogen wurde. Dieselben sind vielfach
russische Staatsangehörige geworden und haben das Deutschtum Kownos
beträchtlich vermehrt. Die deutsche Oberschicht in den Städten ist
sehr gering, wenn man von den reichsdeutschen kaufmännischen Vertretern
absieht. Denn soweit sich eine Oberschicht im Laufe der Zeit gebildet hatte, ist sie
wegen des absoluten Mangels an deutschen Schulen größtenteils
russischen und polnischen Einflüssen verfallen. Außer einzelnen
größeren Gewerbetreibenden und Kaufleuten besteht das heutige
Deutschtum aus Handwerkern, Fabrikangestellten, gehobenen Arbeitern, kleinen
Hausbesitzern in den Vororten, die zum Teil Gartenwirtschaft betreiben, und
einfachen Arbeitern. Das Bauerntum auf dem flachen Lande lebt nirgends in
geschlossenen Gemeinden, sondern eingesprengt in größeren oder
kleineren Siedlungsnestern und bildet
5 - 50% der Bevölkerung der einzelnen Dorfschaften, die sich
zu Gemeindebezirken zusammenschließen. Es ist ein ganz
unregelmäßiges Siedlungsbild, das unseren Volksgenossen die
Behauptung des Deutschtums naturgemäß nicht erleichtert. Die
Durchschnittsgröße der Landstellen geht von
1 - 60 ha und entspricht im Gesamtdurchschnitt dem
Durchschnitt der Bauernstelle ganz Litauens mit einer Größe von
17 - 18 ha. Die wirtschaftliche Entwicklung auf den
deutschen Bauernhöfen ist im Durchschnitt höher als die ihrer
litauischen Nachbarn, indessen mit Ostpreußen verglichen immer noch sehr
rückständig.
Der Weltkrieg und die außerordentliche Machtentwicklung Deutschlands
nach Osten haben das Bewußtsein der Zugehörigkeit der litauischen
Deutschen zu dem deutschen Volke gewaltig erweckt und dadurch das
Selbstbewußtsein deutlich gehoben. Als nach dem Zusammenbruche
Deutschlands und Rußlands in Revolutionen und Bolschewismus auch
Litauen in Versailles seine Anerkennung als Republik erreichte, erhoben die
Deutschen in Litauen sofort den Anspruch, als nationale Minderheit ihr
Eigenleben im Rahmen des Staates auf dem Gebiete von Kirche und Schule zu
führen. Es entstand die Partei der Deutschen in Litauen,die ihre Vertreter,
zur Zeit zwei, ins Parlament entsandten. Laut § 83 der Verfassung
haben die Staatsbürger Litauens das Recht, ihre konfessionellen
Angelegenheiten selbständig zu regeln und ihre Kirchenverfassung frei zu
gestalten. Die Deutschen traten zu einer konstituierenden Synode zusammen, an
der alle Geistlichen und zahlreiche Laiendeputierte teilnahmen, und
begründeten die lutherische Kirche Litauens. Sie haben sich zu diesem
Zwecke mit den lutherischen Letten, die im Norden Litauens aus Kurland
zugewandert sind, und den lutherischen Litauern im Westen des Landes, die nicht
zahlreich sind, zu einer Kirche zusammengeschlossen. Das wesentliche an der
Verfassung ist, daß jede dieser Nationalitäten in ihrer eigenen Synode
ihre kirchlichen [98]
Gemeindeangelegenheiten selbst regelt, und zwei Vertreter jeder Synode, ein
geistlicher und ein weltlicher, also im ganzen sechs Personen, das evangelische
Konsistorium des Landes bilden, das die oberste Verwaltungsbehörde der
Kirche darstellt. Große selbständige deutsche Kirchengemeinden gibt
es in Wischtyten, in Wirballen mit der Filialgemeinde Kibarty, in Neustadt, in
Scheki, in Sudargi, in Sereje, in Mariampol mit den Filialen Wilkowischki und
Pilwischki, ferner in Godlewo mit der Filialgemeinde Prenny, Kowno mit der
Filialgemeinde Schanzen, dann Jurburg, Schwieren, Tauroggen mit Filialen in
Skaudwillen und Schilleli, dann das nördliche Neustadt, ferner Klaidany
mit Schadow und Schaulen mit den Filialen Kurschani, Moschaiki, Schagarn,
schließlich Ponewesch, Birsen, Schaimeln, Schoden mit der Filiale
Telschen und Kreetingen mit der Filiale Budendixhof. Die Zahl der Deutschen in
Litauen übersteigt 50 000. Die letzte Volkszählung der
litauischen Regierung gibt eine geringere Ziffer an; sie ist aber sehr
tendenziös und unzuverlässig durchgeführt worden. Eine
Nachkontrolle durch die deutschen Deputierten hat das einwandfrei festgestellt. In
den letzten drei Jahren hat in Litauen die
christlich-demokratische Partei die absolute Majorität im Parlament gehabt
und ist in dieser Zeit zu einer rücksichtslosen Gewaltpolitik gegen die
nationalen und konfessionellen Minderheiten übergegangen. So hat sie
beispielsweise, ohne die geringste Berechtigung dazu in den Gesetzen des Landes
zu finden, von sich aus den Präsidenten des lutherischen Konsistoriums
abgesetzt und an seine Stelle den durch seinen Verrat am Memellande bekannt
gewordenen früheren preußischen Landtagsabgeordneten Gaigalat
berufen. Derselbe diente der katholisch-klerikalen Regierung als das Werkzeug,
um die lutherische Kirche Litauens und damit das stärkste Bollwerk des
Deutschtums dortselbst zu vernichten. Überall versucht dieser neue
Kirchengewalthaber, unterstützt von Polizei und Regierungsgewalt,
Pastoren und kirchliche Gemeindevertreter abzusetzen und zu vertreiben, wobei er
durchweg auf entschlossenen Widerstand in den Gemeinden stößt.
Vielfach wird den Pastoren das Gehalt gesperrt, das sie für das
Führen der Kirchen- und Standesregister vom Staate beziehen. Der vom
Konsistorium wegen unwürdigen Verhaltens abgesetzte Pastor Wiemer von
Tauroggen wurde auf Betreiben von Gaigalat gegen den Willen der
Kirchengemeinde mit Polizeigewalt wieder restituiert, indem die vom
Gemeindekirchenrate verschlossene Kirche mit Hilfe der Polizei von Gaigalat
geöffnet und Wiemer wieder eingeführt wurde. Anderswo, wo er mit
seinen Helfershelfern erschien, hat sich Gaigalat nur durch schleunige Flucht vor
der Erbitterung der Leute gerettet.
Auf dem Gebiete des Schulwesens hat das Deutschtum ganz neu beginnen
müssen. Wie schon früher gesagt wurde, haben außer einigen
kleineren Kirchenschulen zur Vorbereitung für die Konfirmation in Litauen
überhaupt keine deutschen Schulen vor dem Weltkriege bestanden. In
Kowno entstand nun ein deutscher Schulverein, der im Jahre 1922 für eine
deutsche Oberrealschule ein schönes deutsches Schulgebäude
errichtet hat. Die Schule hat jetzt etwa 360 Schüler und hat erst [99] seit drei Jahren ihre
oberste IX. Klasse, aus welcher vor zwei Jahren die ersten vier
Abiturienten entlassen wurden. In diesem Jahre sind es bereits neun. Die
Entlassenen studieren zum größten Teil in Deutschland und stellen
somit die ersten Deutschen aus Litauen dar, die aus einer deutschen Schule in
Litauen die Reife für den Besuch einer deutschen Hochschule erlangt
haben. In Schaulen und in Schoden sind deutsche Schulen begründet
worden, die den untersten fünf Klassen der deutschen Oberrealschule
entsprechen. Da in diesen Gebieten die Deutschen vereinzelt und weit verstreut
liegen, so sind an beiden Schulen Internate begründet worden, die es den
Eltern ermöglichen, ihre Kinder billig während des Unterrichts an
den Schulorten zu halten. Während für die soziale Struktur des
Deutschtums diese Oberrealschule mit ihren zwei Vorschulen, zu denen noch eine
soeben im Bau begriffene große Vorschule in Kibarty kommt, für das
Mittelschulwesen zunächst genügen würde, ist das
Volksschulwesen in trostlosester Verfassung. Der Bedarf an Volksschulen
würde durch 80 Schulen gedeckt sein, und es ist nicht einmal ein Drittel
davon vorhanden. Aber auch in diesen noch nicht ganz 30 Schulen sind die
Lehrkräfte vollständig ungenügend, und nur einige wenige
Lehrer entsprechen mäßigen Anforderungen. Das schlimmste ist aber,
daß in den letzten 2½ Jahren 30% dieser Schüler dadurch von
der litauischen Regierung litauisiert worden sind, daß sie nach Entfernung
des deutschen, wenn auch ungenügenden Lehrers einen
national-litauischen, der deutschen Sprache nicht mächtigen Lehrer gesetzt
hat, woraus sich ergibt, daß, wenn die Sache im gleichen Tempo weitergeht,
in wenigen Jahren keine deutsche Volksschule mehr vorhanden ist. Das
schlimmste ist der Mangel an geeigneten Volksschullehrkräften. Aus dem
deutschen Schulverein in Kowno hat sich in diesem Jahre der Kulturverband der
Deutschen Litauens entwickelt, der bereits eine ganze Anzahl Ortsgruppen in ganz
Litauen hat. Seine Hauptaufgabe wird es sein, die deutsche Volksschule für
unser Volkstum herzustellen und dadurch unserer Kultur zu erhalten. Es wird
notwendig sein, Lehrkräfte für die deutschen Volksschulen Litauens
am deutschen Volkslehrerseminar in Memel auszubilden und in Verhandlungen
mit der Regierung das verfassungsmäßige Recht des Deutschtums in
Litauen auf eigene Volksschulen durchzusetzen. Zu diesem Kampfe aber
gehören Mittel. Dieselben in genügendem Maße zu beschaffen,
ist bei der katastrophalen Wirtschaftslage Litauens, unter der das Deutschtum
ebenso leidet wie die Gesamtbevölkerung, äußerst schwierig;
daher befindet sich der so aussichtsreiche Aufstieg unseres Volkstums in Litauen
eben in schwerer Krise. Die Hauptschuld an der trostlosen Lage trägt die
bisherige unglückliche Verwaltung des Landes. Litauen hat nur seinen
reichen Boden und die Arbeitskraft seiner Bevölkerung. Letztere wird aber
nicht ausgenutzt, und die Bewirtschaftung des Bodens ist außerordentlich
rückständig. Alle vorhandenen Reserven sind in den letzten Jahren
der Mißwirtschaft vollkommen aufgezehrt worden. Der einzige Rohstoff,
das im Walde vorhandene Holz, das für die eigenen Bedürfnisse
Litauens nicht genügend vorhanden war, ist vollständig [100] durch Ausraubung
erschöpft; alte Ersparnisse der Bevölkerung an russischem Goldgelde
sind dahin, die in der Inflationszeit für Papiermark in großen Mengen
eingeführten Waren, die einen großen Aktivposten darstellten, sind
allmählich verbraucht und es ist kein Geld vorhanden, um
Neuanschaffungen zu machen. Aus dem Memellande hat man die Einnahmen aus
Zöllen, Post und Eisenbahn nach Kowno gebracht und dadurch Memel um
30 Millionen Lit beraubt, auf deren Rückgabe das Gebiet vergebens wartet.
Man hat für mehrere Millionen Lit in Washington, Paris und Berlin
großartige Gesandtschaftsgebäude gekauft; man hat 5 Millionen
für die Anlage eines Fischereihafens in Polangen, nur einige 20 km
nördlich von Memel, ausgegeben, aber ein Herbststurm hat den Hafen
weggefegt. Man hat Millionen ausgegeben für gewaltige
Silospeicheranlagen in Kowno und Schaulen, nachdem die Agrarreform den
Großgrundbesitz in kleinbäuerliche Wirtschaften aufgelöst hat,
die für ihre Erzeugnisse natürlich keine Getreidesilos brauchen. Eine
französische Firma hat bei Kowno eine Großfunkstation, die eine
Millionenanlage ist, angelegt, aber sie funktioniert nicht und ist trotz fast
zweijähriger Bemühungen nicht in Ordnung zu bringen. Man hat
eine Bahn von Schaulen durch Litauen direkt auf Memel zu bauen beschlossen,
ein lebensnotwendiger Bau, um Memel mit seinem direkten Hinterlande zu
verbinden; man hat aber nicht bei Memel begonnen, sondern bei Schaulen, und
nach dem die Hälfte der Linie fertiggestellt, ist der Weiterbau aus Mangel
an Mitteln eingestellt worden, und Memel kann noch lange warten. Dazu kam die
Mißernte im Jahre 1924 und eine schlechte Ernte im Jahre 1925. Die Lage
ist heute so, daß, wenn nicht Litauen eine äußere Anleihe
bekommt, sich die eigene Staatswirtschaft kaum wird aufrecht erhalten lassen.
Diese Lage bedeutet für das Deutschtum im Lande: Arbeitslosigkeit
für die städtischen Arbeiter und Handwerker, keinen Absatz und
Umsatz für deutsche Kaufleute und Gewerbetreibende, vollständigen
Geldmangel bei den Bauern, die kaum in der Lage sind, das Geld für ihre
Steuern noch aufzubringen. Vor zwei Jahren sind eine ganze Reihe von deutschen
Genossenschaftskassen in Litauen entstanden. Dieselben haben bis heute noch die
kritischen Zeiten gut überstanden, weil sie vorsichtig geleitet worden sind,
und haben den Deutschen im Lande durch ihre Kreditgewährung sehr
geholfen. Auch Mittel für Bau und Inbetriebsetzung der Schulen haben sie
gewährt. Heute ist aber auch ihre Lage so bedrängt, daß sie
für kulturelle Zwecke nichts abgeben können. Die Hoffnung des
Deutschtums beruht nun darauf, daß eine neue Regierung das Vertrauen zu
Litauen wieder herstellt, daß mit Hilfe einer ausländischen Anleihe
die Wirtschaft des Landes neu belebt und durch Gewährung der in der
Verfassung verbrieften Rechte Gewissensfreiheit und Kulturgemeinschaft
für die deutsche Bevölkerung wieder zur Wirklichkeit werden.
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