[283]
Bd. 3: Die
grenz- und volkspolitischen Folgen
des Friedensschlusses
IV. Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung
oder Verselbständigung (Teil 3)
3) Memel
Dr. Felix Borchardt
Berlin
Das autonome Memelland unter litauischer Souveränität ist das
unnatürlichste Zwischengebilde, das durch den Vertrag von Versailles ein
Scheinleben erhalten hat. Eine Abtrennung ohne Abtretung. Eine Abtrennung
Deutschland zu Leide und niemandem zu Liebe. Das damals neu geschaffene
"territoire de Memel" war ein willkürlich abgegrenzter Teil des
ostpreußischen Memellandes zu beiden Seiten des Memelflusses, und zwar
ging die Grenze mitten durch den nach wie vor beide Ufer verbindenden
Memelfluß, das Kurische Haff und die Kurische Nehrung in zwei
Hälften zerschneidend. Diesseits und jenseits der Grenze wohnten dieselben
Menschen - Memelländer, Ostpreußen, Deutsche, zum
mindesten Kulturdeutsche.
Ebenso unnatürlich wie die Abgrenzung des Memelgebietes ist die
Bestimmung darüber im Art. 99
des Vertrages von Versailles. Das Gebiet
wurde zum Niemandsland, zum Mandatgebiet der fünf alliierten und
assoziierten Mächte erklärt. Deutschland wurde nicht zur Abtretung,
sondern zum Verzicht darauf gezwungen und gleichzeitig verpflichtet, sich mit
jeder künftigen Bestimmung der fünf Hauptmächte über
die Staatlichkeit des Memelgebiets vorbehaltlos einverstanden zu
erklären.
Wir sind es rückschauend der Würde unserer Nation schuldig, die
Erklärung an den Anfang zu stellen, welche die deutsche Friedensdelegation
bei den Verhandlungen über das Memelgebiet abgab. (Denkschrift zur
deutschen Mantelnote, zweiter Teil, Abschnitt II 7):
"In Art. 99
wird die Loslösung eines die
Kreise Memel, Heydekrug sowie Teile der Kreise Tilsit und Ragnit umfassenden
Gebietsstreifens im Norden der Provinz Ostpreußen gefordert. Die Bewohner
dieses Gebietes einschließlich derer, die das Litauische als Muttersprache
sprechen, haben die Lostrennung von Deutschland niemals gewünscht. Sie
haben sich jederzeit als ein treuer Bestandteil der deutschen Volksgemeinschaft
bewährt. Was die sprachlichen Verhältnisse in jenen Gebieten betrifft,
so weist nach der Volkszählung von 1910 nur der Kreis Heydekrug mit
55 v. H. [284] litauisch sprechender Bevölkerung eine
kleine nichtdeutsch sprechende Mehrheit auf. Im Kreise Memel sprechen nur
44 v. H., im Kreise Tilsit 23 v. H. und im
Kreise Ragnit gar nur 12 v. H. das Litauische
als Muttersprache. Das ganze Gebiet ist auch der Zahl der Einwohner nach
überwiegend deutsch. Etwa 68 000 Deutschen stehen nur etwa 54 000
litauisch sprechende Bewohner gegenüber. Insbesondere ist Memel eine rein
deutsche Stadt; sie ist im Jahre 1252 von Deutschen gegründet und hat in
ihrer ganzen Geschichte niemals zu Polen oder zu Litauen gehört; ebenso
wie im Süden ist auch hier die ostpreußische Grenze seit dem Jahre
1422 unverändert geblieben. Dabei muß bemerkt werden, daß
auch die das Litauische als Muttersprache sprechenden Bewohner dieses Gebietes
fast durchweg des Deutschen vollkommen mächtig sind und sich dieser
Sprache sogar untereinander regelmäßig bedienen. Eine Bewegung
zum Anschluß an die litauische Einwohnerschaft des früheren
Russischen Reiches ist auch hier, abgesehen von einer kleinen, nicht ins Gewicht
fallenden Gruppe, nicht vorhanden, um so weniger, als die im früheren
Russischen Reiche wohnende litauische Bevölkerung katholisch, die des
deutschen Gebietes aber protestantisch ist.
Die Abtretung dieses Gebietes muß die Deutsche
Regierung daher ablehnen."
Es steht auch heute noch nicht ganz einwandfrei fest, aus welchen Gründen
und zu welchen Zwecken die fünf Hauptmächte trotzdem auf der
Abtrennung des sogenannten Memelgebietes, also des ostpreußischen
Nord-Memellandes, bestanden. Vielleicht glaubte man damals, eine
unterdrückte fremdstämmige Bevölkerung zu befreien, ohne
jede Ahnung von der
Kultur- und Gesinnungseinheit der deutschen und der eine litauische Mundart
sprechenden Bewohner des Memellandes. Den Präsidenten Wilson
mögen Anträge amerikanischer Litauer, abgewanderter Einwohner
des ehemaligen russischen Litauens, beeindruckt haben, die mit den dortigen
Unabhängigkeitsbestrebungen sich verbunden fühlten. Tatsache ist,
daß amerikanische Litauer auch späterhin persönlich und mit
Geldmitteln zu den politischen Entscheidungen über das Memelland
beigetragen haben. Die Führer der litauischen
Selbständigkeitsbewegung, Woldemaras und Smetona, die im Jahre 1918
mit Hilfe der deutschen Reichsregierung die Anerkennung Litauens als Staat
erstrebten und erwirkten, haben damals keine Ansprüche über den
Umfang des russischen Gebiets hinaus erhoben. Wohl aber benutzten einzelne
Führer der wenig umfangreichen
preußisch-litauischen Kulturbewegung (die Gründer der "Taryba", des
litauischen Nationalrats) den Niederbruch Deutschlands im November 1918, um
im Gegensatz zu ihren eigenen früheren
An- und Aussprüchen sich selbst durch weiter- [285] gehende Vorstellungen in Paris ans Staatsruder
zu bringen. Sie verkündeten dem Ausland die Schwindelnachricht,
zahlreiche ostpreußische Städte hätten sich für den
Anschluß an Litauen erklärt. Diese ehemals preußischen Litauer
sind auch heute, zehn Jahre nach Versailles, im Memelgebiet nur als ein kleines
Häuflein von Separatisten anzusehen, ohne wesentlichen Anhang beim
Memelvolke, auch soweit dieses unbezweifelbar litauischen Stammes ist. Sie
waren es, die das willig geglaubte Märchen von dem
national-litauischen Charakter des Memelgebietes verbreiteten. Viel wichtiger sind
wohl polnische Einflüsse und Bestrebungen gewesen, einerseits wegen des
Seehafens von Memel als Ausgangspunkt für das polnische
Memelflußgebiet (entsprechend Danzig als Hafen der polnischen Weichsel),
ferner zur festeren Umklammerung Ostpreußens und zu dessen
Abschließung von Rußland (s. Denkschrift zur Mantelnote der
deutschen Regierung I. Teil, Abschn. 2 vom 28./29. Mai 1919), vor allem aber als
Zwischenstufe zu dem hochpolitischen Ziel einer
polnisch-litauischen Union, also zur Schaffung eines zwar von Rußland, aber
nicht von Polen unabhängigen litauischen Staates. Litauen bestand damals
nur de facto, nicht aber de jure, und seine Ostgrenzen standen nicht
fest.
Die fünf Hauptmächte waren sich über ihre Ziele in bezug auf
das Memelland noch jahrelang später nicht klar. Teils schienen sie litauische
Ansprüche befriedigen zu wollen (s. Erklärung der
Botschafterkonferenz vom 16. Juni 1919), teils hatten sie unbestimmte Absichten
mit dem Hafen von Memel als Ausgangspunkt für die Wirtschaft der
litauisch-polnischen Anliegergebiete des Memelflusses (s. Bericht der
Memelkommission des Völkerbundes unter Norman Davis vom
6. März 1924). Der litauische Gesandte
Dr. Puricki erklärte noch 1920:
"Es ist uns völlig unklar, was die Entente damit bezweckte, als sie das
Gebiet von Deutschland losriß." Die sehr unfreiwillige Entscheidung der
Botschafterkonferenz vom 16. Februar 1923 zugunsten Litauens führte beide
Gründe - völkische und wirtschaftliche - dafür
an.
So wurde die Abtrennung des Memellandes durch den Versailler Vertrag Tatsache
trotz des stürmischen Widerspruchs der gesamten
deutsch-litauischen Bewohnerschaft nördlich und südlich der Memel.
Die nach dem Grundsatze des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den
Wilson-Punkten
geforderte Volksabstimmung über die
Staatszugehörigkeit auch dieses Teils von Ostpreußen wurde
verweigert. Erst in den nächsten Jahren reifte die Einsicht, daß man
einer unwahrhaftigen Berichterstattung zum Opfer gefallen war. Dies sprach der
Bericht der Sonderkommission der Botschafterkonferenz vom 6. März 1923
vier Jahre später mit dürren Worten aus, indem er erklärte,
"daß die litauische Diplomatie und Propaganda die Wahrheit mutwillig
verschleiert und verdreht habe".
[286] Die formelle Abtretung des Memelgebietes
erfolgte am 10. Januar 1920. Bis dahin
be- und erhielten dort alle deutschen Gesetze, auch die neuen Gesetze der
deutschen Republik, Geltung.
Die nächsten drei Jahre stand Memel unter der Besetzung und Verwaltung
der vier alliierten Mächte England, Frankreich, Italien und Japan, vertreten
durch die "Botschafterkonferenz". Die fünfte Hauptmacht hatte sich als
Nichtunterzeichner des Versailler Vertrages von den übrigen vier
Hauptmächten getrennt. Diese vier Hauptmächte sind auch allein an
allen späteren Entscheidungen über das Memelgebiet beteiligt
gewesen. Zur Besatzungsmacht wurde nicht, wie ursprünglich in Aussicht
genommen, England, sondern Frankreich bestimmt. Es übte sein
Mandatsrecht zuerst durch einen General aus, dem bezeichnenderweise ein
polnischer Dolmetscher beigegeben war (im ganzen hatte das Memelland 126
polnische Einwohner), dann durch einen Zivilkommissar. Das Memelland erhielt
keine politische Selbstvertretung. Zur inneren Selbstverwaltung wurde jedoch ein
Direktorium unter einem Memelländer, dem früheren
Oberbürgermeister von Memel, als Landespräsidenten, berufen. Ein
aus den Berufsvertretungen zusammengesetzter begutachtender Staatsrat trat selten
in Tätigkeit. Die Person des Landespräsidenten wechselte einmal,
indem der von der kleinlitauischen "Taryba" (dem
preußisch-litauischen "Volksrat") geforderte Kandidat, Dr. Steputat, ein
früherer litauischer Abgeordneter des preußischen Landtags, hierzu
ernannt wurde. Diese kleine Gruppe hatte auch ihre Vertretung im
Landesdirektorium. Das Memelgebiet erhielt sich während dieser Zeit
finanziell aus eigenen Kräften, sein Gebietshaushalt hielt Einnahmen und
Ausgaben im Gleichgewicht. Das Recht der politischen
Meinungsäußerung und Selbstvertretung bestand nicht. Die
Besatzungsbehörde enthielt sich aber jedes sonstigen Eingriffs in die
übrigen Verhältnisse von Land und Leuten, so daß der
national-kulturelle Zustand des Memellandes unverändert blieb. Wesentliche
Ereignisse waren nur die Schaffung eines memelländischen Obergerichts
und die auf Veranlassung der "Taryba" vorgenommene Elternbefragung von 1921
über den litauischen Religions-, Schreib- und Leseunterricht.
Dagegen war das Memelgebiet in dieser Periode ein bevorzugter Gegenstand der
großen internationalen Politik. Auch hier nicht etwa vom Standpunkt des
Memellandes und Memelvolkes aus, dessen Selbstbestimmungsrecht niemals in
Frage kam - entgegen den 14 Punkten
Wilsons, auf die sich die Mantelnote
Deutschlands vom 29. Mai 1919 ausdrücklich auch für Memel
berufen hatte. Litauen erstrebte offensichtlich die glatte Annexion des
Memelgebiets (Bericht der Sonderkommission der Botschafterkonferenz vom 6.
März 1923), die es in bewußter Geschichtsfälschung als
"Wiedervereini- [287] gung des Territoriums von Memel mit der
Republik Litauen" bezeichnete. (So auch Entscheidung der Botschafterkonferenz
vom 16. Februar 1923). Es verschleierte diese Absicht in einer platonischen
Entschließung des litauischen Seim von 11. November 1921 durch die
Anerkennung des Rechts des Memelgebiets auf innere Selbstverwaltung und eine
auf demokratischer Grundlage aufgebaute Autonomie. Die Hauptmächte,
insbesondere die Besatzungsmacht Frankreich, dachten aber zunächst gar
nicht daran, diesen litauischen Ansprüchen näher zu treten. Vielmehr
sollte die Entscheidung über das Memelgebiet erst nach einer ganz
bestimmten Lösung der staatlichen Beziehungen zwischen den feindlichen
Brüdern Litauen und Polen erfolgen. In diesem Sinne wollte auf der
Brüsseler Konferenz von 1921 das Projekt des belgischen Ministers Hymans
die Memelfrage zum "krönenden Abschluß" einer staatlichen und
militärischen
polnisch-litauischen Union machen, die gleichzeitig die Bereinigung des
Wilnakonfliktes herbeiführen sollte. (Protokoll vom 25. Mai 1921.) Das
Memelland sollte einen dritten autonomen "Kanton" bilden. Nach dem Scheitern
dieses Projektes gipfelte die französische These über das Memelgebiet
in dem polnischen Vorschlag vor der Botschafterkonferenz in Paris vom
19. November 1922, die folgende Lösung vorsah: Schaffung eines Freistaates
Memel unter einem französischen Oberkommissar, Verwaltung von Hafen,
Eisenbahn und Memelfluß durch einen Hafenrat aus Vertretern Memels,
Litauens und Polens (nicht etwa auch Deutschlands, das 52% des Hafenverkehrs
stellte) und Schaffung einer polnischen Freihafenzone innerhalb eines
memelländischen autonomen Zollgebiets. Auf diese Weise sollte das
Memelland, politisch gänzlich von Litauen unabhängig, wirtschaftlich
mit Polen, politisch mit Frankreich und der kleinen Entente auf zehn Jahre
verbunden werden, ohne daß das formale Mandat der vier
Hauptmächte davon berührt wurde.
Wie stellten sich die Memelländer zu den vorgeschlagenen
Lösungen? Die kleinlitauische "Taryba" hatte am 26. Februar 1920 den
bedingungslosen Zusammenschluß des Memellandes mit Litauen, also ohne
Gebietsautonomie, gefordert. (Ein heiterer Zufall wollte es, daß bei den
ersten Wahlen zum Memeler Landtag unter litauischer Herrschaft dieselben
Klein-Litauer es nur wagten, sich unter der Maske einer sogenannten
"Autonomiepartei" zur Wahl zu stellen.) Die große Mehrheit der
Memelländer, Deutsche und Litauer, erklärte sich in Anbetracht der
Unmöglichkeit einer Wiedervereinigung mit Deutschland und der
Versagung jeder Volksabstimmung (selbst ohne Zulassung der Frage nach der
Wiedervereinigung) ebenfalls für einen Freistaat Memel unter einem
Kommissar der Hauptmächte, möglichst unter einen neutralen
(Schweden). Sie hätte sich aber auch bewußt mit einem
französischen Oberkommissar abgefunden.
Aus- [288] schlaggebend war dabei zunächst das
Interesse der führenden Kaufmannschaft am polnischen Holzhandel und an
den wirtschaftlichen Vorteilen eines internationalisierten Transitlandes.
Außerdem war bei ihnen und bei den übrigen Teilen der
Bevölkerung - Landwirten, Fischern, Bürgern, Beamten und
Arbeitern - der vordringliche Beweggrund der Wunsch, den deutschen
Charakter und die deutsche Kultur des Landes gewährleistet zu sehen, und
die Befürchtung, daß bei jeder irgendwie gearteten Angliederung an
Litauen sowohl die nationalen wie die kulturellen und wirtschaftlichen Interessen
des Memellandes zu Schaden oder gar zum Erliegen kommen müßten.
In diesem Sinne legte eine Denkschrift sämtlicher Berufsstände des
Memelgebietes die Stellung des Memellandes fest. Auf diese Weise wäre
Deutschland ganz und Litauen zum größten Teil von der
Mitbestimmung über das Schicksal des Memellandes ausgeschlossen
worden.
Auch der Memellandbund, die Vereinigung der reichsdeutschen
Memelländer, der
reichs- und volksdeutsche, nicht memelländische Politik betreibt, sprach
sich schweren Herzens aus nationalkulturellen Gründen für diese
Zwischenlösung als das kleinere Übel aus, ohne deren politische
Gefahren zu verkennen oder seine grundsätzliche Forderung auf
Wiedervereinigung des Memellandes mit Deutschland preiszugeben.
Durchaus bestritten werden muß die mehrfach auch von Deutschen
(Schierenberg, Sturm) aufgestellte oder geglaubte Behauptung des Berichts der
Sonderkommission vom 6. März 1923, daß im Memelland "sich die
Deutschen weniger an ihr deutsches Vaterland gebunden zeigen, als die in anderen
Gebieten des Reiches wohnenden Deutschen". Diese Auffassung beruht auf einer
Verwechselung von Taktik und Gesinnung.
Ende 1922 schien im Verfolg der Pariser Konferenz vom 3./4. November diese
Zwischenlösung Wirklichkeit werden zu wollen. Da kam die unvermutete
Wendung. Gerade zu dem Zeitpunkt, in dem im Zusammenhang mit dem
Reparationsstreit Frankreich den Einmarsch ins Ruhrgebiet vorbereitete, schuf
Litauen mit Waffengewalt eine neue Tatsache und zwar unter Mitwirkung eines
Teiles der kleinlitauischen Führer. Angeblich drangen aus Litauen
Freischaren ins Memelland ein und besetzten es nach kurzem erfolgreichen
Kampfe mit der französischen Besatzungstruppe. Tatsächlich waren
es nicht Freischaren, sondern Soldaten und Offiziere der regulären Armee
unter Führung großlitauischer Offiziere, und zwar Teile der
Infanterie-Regimenter 2, 5, 8, und der Kavallerie-Regimenter 1 und 2 (s. Bericht
der Sonderkommission der Botschafterkonferenz vom 6. März 1923 und
Bericht der polnischen Gesandtschaft in Reval). Der litauische
Landespräsident Dr. Steputat wurde seines Postens entsetzt, der
französische Zivilkommissar verließ mit der
Besatzungs- [289] truppe das Land. Es wurde eine vorläufige
kleinlitauische Landesregierung eingesetzt. Aus formalen Gründen bestand
die Botschafterkonferenz jedoch nochmals auf der Ersetzung der
"Revolutions"-Regierung durch eine von ihr selbst ernannte kleinlitauische
Landesregierung im Memelland unter Vorsitz eines
Taryba-Litauers und übertrug gleich darauf Litauen die
Souveränität über das Memelgebiet unter einer Reihe von
Bedingungen, die die zahlreichen Interessen Polens (§ 3) und die Autonomie
des Gebietes gewährleisten sollten. Der erste großlitauische
Gouverneur des Landes wurde der heutige litauische Staatspräsident
Smetona.
Über diesen litauischen Einbruch sind Legenden verbreitet worden, die
zurückzuweisen sind. Gänzlich falsch ist die Erklärung der
litauischen Regierung, daß es sich um einen "Aufstand" der
memelländischen Landbevölkerung zugunsten Litauens gehandelt
habe. Vielmehr bot sich die waffengeübte memelländische
Einwohnerschaft vergeblich dem französischen Oberkommissar zur
Vertreibung der Eindringlinge an. Ebenso falsch aber ist die von Frankreich und
Polen genährte Version, daß es sich um einen zwischen Litauen
einerseits und Rußland und Deutschland andererseits verabredeten
antifranzösischen Gegenschlag gehandelt habe. (Siehe Bericht der
Sonderkommission vom 6. März 1923 und die bezeichnende
Äußerung des Oberkommissars Petisné zum deutschen
Reichskommissar: "Das erste Spiel haben wir, das zweite haben Sie gewonnen.
Das letzte Spiel wird in Rußland gespielt werden".) Noch weniger vertretbar
war die volkstümliche deutsche Auffassung von einem abgekarteten
französisch-litauischen Spiel.
Während des nun folgenden, noch jetzt andauernden großlitauischen
Stadiums stand in irgendeiner Form immer das Ringen um die Autonomie des
Memellandes im Vordergrunde. Zuerst das Ringen zwischen den vier
Hauptmächten, bzw. dem Völkerbund und Litauen, alsdann zwischen
Groß-Litauen und dem Memellande und endlich die diplomatische
Demarche Deutschlands gegenüber Litauen. Der Ministerpräsident
Galvanauskas hatte, um nach der ersten Auflehnung der Bewohner gegen ihre
Bedrückung, dem Generalstreik, bei dessen Niederschlagung das Blut
memelländischer Litauer floß, die Gemüter zu
besänftigen, am 7. Mai 1923 dem Memelgebiet freiwillig Parlamentswahlen
und ein Autonomiestatut versprochen, das weitgehendste innere Selbstverwaltung
und eine demokratische Verfassung, sogar einen memelländischen Minister
im großlitauischen Kabinett verhieß. Die Botschafterkonferenz machte
jedoch Vorschläge für die Autonomie auf anderer Grundlage, und
zwar wesentlich unter Einbeziehung der polnischen Interessen in der Verkehrsund
in der Hafenfrage. Da diese Vorschläge von Litauen nicht angenommen
wurden, rief die Botschafterkonferenz den Völkerbund an, [290] der eine Studienkommission unter dem
Amerikaner Norman Davis nach dem Memelgebiet entsandte. Auch der Bericht
dieser Kommission, insbesondere die Rede von Norman Davis in der Sitzung des
Völkerbundrates vom 12. März 1924, ist eine geschichtliche Urkunde
von ungewöhnlicher Bedeutung. Sie enthielt unter anderem die Verwerfung
der polnischen Memellandthese. Polen wurde das politische Interesse an Memel
aberkannt zugunsten seiner Wirtschaftsinteressen, wobei seine Anteilnahme an der
Hafenverwaltung oder noch weitergehende Ansprüche an den Hafen glatt
abgelehnt wurden. Auf dieser Grundlage wurde alsdann im Jahre 1924 die
memelländische Autonomie durch einen Staatsvertrag zwischen den vier
Hauptmächten und Litauen geschaffen. Die Autonomie des Memelgebietes
beruht völkerrechtlich auf diesem Memelabkommen vom 8. Mai 1924,
innerpolitisch auf dem Statut des Memelgebiets, das also die
memelländische Verfassungsurkunde darstellt (mit zwei Anhängen
über die Hafenverwaltung und den Transitverkehr). Das Statut trägt
das Datum des 14. März 1924 und wurde am 1. September 1924 als
litauisches Staatsgesetz verkündet. Es stellt zweifellos eine
Territorialautonomie her. Denn Art. 2 des Memelabkommens lautet
ausdrücklich: Das Memelgebiet soll unter der Souveränität
Litauens eine Einheit bilden, welche gesetzgebende, richterliche,
Verwaltungs- und finanzielle Autonomie innerhalb der durch das Statut
vorgeschriebenen Grenzen genießt. Es ist also vollständig abwegig,
die memelländische Autonomie inhaltlich als Personalautonomie anzusehen
und sie in irgendwelche Ideenverbindung mit den
Personalautonomie-Bestrebungen deutscher und anderer Minderheiten in den
Oststaaten zu bringen. Es gibt wohl eine deutsche Minderheit in Litauen, in bezug
auf welche Litauen an die Minderheitsschutzbestimmungen des
Völkerbundes gebunden ist. Es gibt jedoch weder eine deutsche noch eine
litauische Minderheit im Memellande (tatsächlich ist ja das deutsche
Element dort in der Mehrheit), obwohl Art. 11 für alle Fälle den
litauischen Minderheitsschutz auch auf das Memelgebiet ausdehnt. Es gibt nur eine
einheitliche, ungeschiedene Bevölkerung des Memelgebietes mit eigenem
Gebietsbürgerrecht. Als Minderheit könnten im Memellande
höchstens die Zuzügler aus dem ehemals russischen Litauen
angesehen werden. Der Charakter des Memellandes nähert sich somit
staatsrechtlich dem eines litauischen Bundesstaates an. Es ist eine dem litauischen
Staat an-, nicht eingegliederte organisierte Gebietskörperschaft (vgl. Rogge, Die
Verfassung des Memelgebiets).
Wichtige Punkte des Statuts betreffen die zeitweise Befreiung vom litauischen
Militärdienst und vor allen Dingen die Völkerbundkontrolle
über die Einhaltung der Autonomie, wonach jedes Mitglied des
Völkerbundrates berechtigt sein solle, die Aufmerksamkeit des [291] Rates auf Verletzungen der Autonomie zu
richten, mit endgültiger Entscheidung des Ständigen Internationalen
Gerichtshofes über alle Streitfragen. Die Souveränität Litauens
über das Memelgebiet ist heute wie zu Beginn keine absolute, sondern eine
bedingte, einmal bedingt durch ihre völkerrechtlichen Kontrollen und zum
anderen durch Art. 15 des Memelabkommens, wonach Litauen seinerseits
souveräne Rechte an das Memelgebiet oder die Ausübung solcher
Rechte nicht ohne Zustimmung der vier Hauptmächte übertragen
kann - eine Bestimmung, die heute völlig sinnwidrig geworden ist,
seitdem die Überwachung der Autonomie dem Völkerbundrat
übertragen worden ist. Das Autonomiestatut gab dem Memelgebiet das
Selfgouvernement in bezug auf Gemeindeverwaltung, Religion und Unterricht,
Sozialgesetzgebung, Kleinbahnen, Polizeigewalt, bürgerliche und
Strafgesetzgebung, Gerichtsverfassung, direkte und indirekte Steuern usw. Am
wichtigsten ist die formale Demokratie nach westlerischen Vorlagen, wonach die
gesetzgebende Gewalt beim memelländischen Landtag (Seimelis), die
vollziehende bei einem Direktorium liegt. Der litauische Gouverneur als Vertreter
der Zentralregierung hat zwar das Recht, den Präsidenten des Direktoriums
zu ernennen (nicht, ihn abzusetzen), dieser darf jedoch nur amtieren, solange er das
Vertrauen des Landtages genießt. Der litauische Gouverneur hat ferner ein
beschränktes Einspruchsrecht gegen Gesetze und das Recht der
Landtagsauflösung. Der Zentralregierung verbleibt im wesentlichen die
Außenvertretung, die Zollhoheit und die Verkehrshoheit. Die
Memelländer nehmen an der Regierung des Gesamtstaates durch
selbständige Abgeordnete im großlitauischen Parlament (Seim)
teil.
In der vertraglosen Zeitspanne von der freiwillig verkündeten bis zur
vereinbarten Autonomie tat Litauen alles, um im litauischen Sinne vollendete
Tatsachen zu schaffen, und zwar durchweg willkürlich ("in satrapischer
Weise", sagte damals Smetona) und gegen den Willen der Memelländer
selbst, insbesondere unter dem Einfluß der zahlenmäßig
geringen kleinlitauischen Kamarilla, die alle einflußreichen Stellungen
für sich in Anspruch nahm. Erst im Oktober 1925 fanden die ersten Wahlen
zum memelländischen Landtag statt. Nach deren überaus
ungünstigem Ausfall für
Groß-Litauen und seine Parteigänger im Memellande setzte jene
beliebte Schikanierung der Bevölkerung verschärft ein, mit der die
neugeschaffenen Oststaaten nach bewährten sarmatischen Rezepten ihre
erzwungenen Zugeständnisse zu begleiten pflegen. Es änderte daran
nichts, ob nun die Regierung in
Groß-Litauen in den Händen der christlichen Demokraten oder der
Volkssozialisten oder endlich des Häufleins der Tautininkai (Nationalisten)
lag. Kaum einer der ernannten Direktoriumspräsidenten regierte mit dem
Vertrauen des Landtages, kein einziger [292] wurde im Einvernehmen mit der
übergroßen Mehrheit des Landtages ernannt. Über ein Jahr lang
wurde nach Auflösung des ersten Landtages parlamentlos regiert.
Willkürhandlungen im altrussischen Stil waren an der Tagesordnung.
Näheres darüber ergibt sich aus den Beschwerdedenkschriften des
Memellandes an den Völkerbund, die dort zur Verhandlung kamen, obwohl
der Völkerbundrat über seine rechtliche Zuständigkeit nicht
einheitlich dachte und obwohl den memelländischen
Beschwerdeführern vom Gouverneur verschleiert mit einem
Hochverratsverfahren gedroht wurde. Zugestanden sind diese Tatsachen auch von
litauischer Seite im Seim (Smetona, Robinsohn, sozialdemokratische
Fraktion).
Es muß zugegeben werden, daß Unklarheiten und Lücken in der
Autonomiegesetzgebung vorhanden sind und zu
Zweifels- und Streitfällen Anlaß geben konnten. Unverkennbar sind
auch die Schwierigkeiten, die sich natürlicherweise zwischen der
Souveränität eines Staatsganzen und der Autonomie eines Teils
ergeben müssen. Diese wurden noch viel größer, als in
Groß-Litauen unter Auflösung des Parlaments und Aufhebung der
Verfassung seit Ende 1926 der Zustand der Diktatur mit Kriegsgericht, Zensur und
Pressestrafrecht verkündet und ohne jede Veranlassung auf das
Memelgebiet ausgedehnt wurde. Was aber nicht verantwortet werden kann, ist die
teils vertragswidrige, teils böswillige Umdeutung und
Kraftloserklärung unzweifelhafter Autonomiebestimmungen, die
hinterhältige Unwirksammachung offenbarer autonomer Rechte auf dem
Verwaltungs- und Aufsichtswege, die Lahmlegung der Gesetzgebungsarbeit des
Landtages durch das Veto-Recht und die unbillige Begünstigung einer geringen Zahl
großlitauischer Parteigänger. Aus der großen Beschwerdeliste
wollen wir lediglich erwähnen: die Litauisierung des Schulwesens, die
entgegen dem erklärten
Eltern- und Schülerwillen und entgegen allen pädagogischen
Grundsätzen versucht wurde, die Entrechtung der Beamtenschaft, die ganz
ungenügende Regelung des dem Memelland zustehenden Finanzanteils an
den Zoll- und Akziseeinnahmen und die Bedrohung der bürgerlichen
Rechtssprechung durch die Kriegsgerichte. Unfreundlichkeiten und
Bedrückungen gegen das deutsche Element waren und sind an der
Tagesordnung, so daß im Jahre 1926 nicht weniger als 14 872 Personen, also
10% der Bevölkerung, darunter 10 500 Erwachsene, für
Deutschland optierten trotz der Aussicht auf erzwungene Abwanderung. Die
Ausweisung deutscher Redakteure, die Kündigung deutscher Richter und
Lehrer, die Erschwerung jedes Ersatzes der
Führer- und Kulturträgerschichten aus Deutschland, die
Hereinziehung altlitauischer Beamter, die finanzielle Bevorzugung neulitauischer
Wirtschaftsorganisationen rundeten das Bild ab.
Neuerdings schien unter dem Einfluß der im Völkerbundrat vom
[293] Deutschen Reich vertretenen zweiten
Memelbeschwerde und der daraufhin erfolgten höchst persönlichen
Auseinandersetzung zwischen Stresemann und Woldemaras der offene Kampf
gegen die Autonomie und gegen die Mehrheit der memelländischen
Bevölkerung eingestellt zu werden. Einem neuen Direktorium von
weitgehendstem Kompromißcharakter hat der Landtag, um in Ruhe arbeiten
zu können, sein Vertrauen ausgesprochen und es bisher wenigstens nicht
ausdrücklich zurückgenommen. Einige Führer der
kaufmännischen Bevölkerung versuchen, die wirtschaftliche
Umstellung des Memellandes auf den litauischen Binnenmarkt (die nötig
war, weil die überlieferten Wirtschaftsbeziehungen zum polnischen
Wilnagebiet bis heute, entgegen dem Memelabkommen, nicht wieder hergestellt
wurden) durch Verzicht auf unveräußerliche politische Forderungen
zu unterstützen. Durch ein weitverzweigtes Netz von
Staats- und Wirtschaftsverträgen, die Deutschland, unter Einschluß
der Belange des Memelgebietes, mit Litauen abgeschlossen hat (unter dessen
Verzicht auf die Abwanderung der Optanten), soll der Gedanke gefördert
werden, das Memelland nicht zur Scheidewand, sondern zur Brücke
zwischen beiden Ländern zu gestalten. Aber auch diese Verträge,
z. B. diejenigen über die Sozialversicherten und
Kriegsbeschädigten, haben nur Anlaß zur Schikanierung und
finanziellen Strangulierung des Memellandes gegeben. Auch wer die
staatsrechtliche Autonomie des Memellandes, übrigens die einzige
Hilfsstellung der deutschen und deutschgesinnten Mehrheit der
Bevölkerung, nicht als Wert an sich betrachtet, darf sich doch nicht
darüber hinwegtäuschen, daß in der Mehrheit des Memelvolkes
dumpfe Unzufriedenheit herrscht und selbst ein großer Teil der
früheren litauischen Parteigänger sich enttäuscht, ja betrogen
fühlt, was erst jüngst der ehemalige litauische Kirchenkommissar
Gailus in auffallendster Weise öffentlich bekundet hat. Die beiden Welten
diesseits und jenseits der alten ostpreußischen Memellandgrenze gegen
Litauen von 1422 stehen sich noch heute völlig fremd gegenüber. Bei
allem klugen Entgegenkommen der derzeitigen autokratischen litauischen
Zentralregierung gegen das Deutsche Reich fehlt es nicht an sich häufenden
unerfreulichen Stimmen und Handlungen bei den großlitauischen Parteien
gegen Deutschland, das deutsche Volk, die deutsche Kultur, gegen das
Memelgebiet und die deutsche Minderheit in Litauen selbst.
Angesichts dieses durchaus unfesten Standes der Dinge ist es wichtig, Deutschland
und dem Ausland die Tatsachen und urkundlichen Unterlagen zur politischen
Urteilsbildung über die Memelfrage bekannt zu geben. Daraus mag
namentlich das Ausland seine Schlüsse ziehen, ob die Abtrennung des
Memelgebietes vom Reich und die gefundene Zwischenlösung geschichtlich
verantwortbar und zur [294] Dauerlösung geeignet ist. Daß das
deutsche Volk trotz des Verzichtes des Deutschen Reiches auf das Memelland sich
diesem weiter verbunden fühlt, ist selbstverständlich. Aber auch dem
Ausland dürften inzwischen wertvolle Erkenntnisse über die
Memelfrage aufgegangen sein, die an dieser Stelle zu unterstreichen und zu
ergänzen sind.
Die erste Frage lautet: Ist das Memelland nach dem Charakter und dem Willen
seiner Bewohner deutsch oder litauisch?
Bekanntlich beruht die Rechtfertigung der Abtretung auf der Annahme des
litauischen Charakters des Memelgebiets. Es heißt in der Antwort der
Entente auf die deutsche Mantelnote vom 16. Juni 1919 unter Sekt. X: "Die
alliierten und assoziierten Mächte lehnen es ab, daß die Abtretung von
Memel dem Nationalitätsprinzip widerspricht. Die fragliche Gegend ist
immer litauisch gewesen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist litauisch von
Herkunft und Sprache." Wie lautete nun die Ansicht derselben vier
Hauptmächte, als ihre Sonderkommission von 1923, bestehend aus den
Herren Clinchant, Fry und Aloisi, das Memelgebiet nach der litauischen Besetzung
bereist hatten? Aus diesem Bericht, einem geschichtlichen Dokumente von
größter Wichtigkeit, das in Wortlaut wiederzugeben leider
Raumgründe verbieten, seien folgende Ausführungen
entnommen:
"Memel, die älteste Stadt in Ostpreußen,
hat niemals zu Litauen gehört...... Die Bewohner des Memelgebiets wurden
stark germanisiert. In der Stadt wohnen fast nur Deutsche. Anders kann es ja auch
nicht sein, da die deutsche Grenze seit 500 Jahren unverändert geblieben ist.
Die Ostgrenze des Memelgebietes, die früher
russisch-deutsche Grenze, stellt eine wirkliche Scheidung ohne Übergang
zwischen zwei verschiedenen Zivilisationen dar. Mindestens ein Jahrhundert trennt
sie voneinander. Es ist eine richtige Grenze zwischen West und Ost, zwischen
Europa und Asien. Hier ist die Bildung so weit fortgeschritten, daß nicht
einmal unter den Dorfbewohnern, von denen eine Anzahl litauisch und deutsch
zugleich spricht, Analphabeten zu finden sind...... Die Bewohner
Groß-Litauens sind Katholiken, dagegen sind die Bewohner des
Memelgebietes Protestanten. Die litauische Sprache hat sich nicht in gleicher
Weise dies- und jenseits der Grenze entwickelt. Ein großer Teil des Litauer
memelländischen Stammes fürchtet sich vor einem Anschluß an
Litauen ohne genügende autonome Garantien, denn sie wissen ganz gut, was
sie dann zu erwarten hätten. Während sich sämtliche
Führer der Deutschen, mit denen die Kommission zusammentraf, für
einen Volksentscheid über die Unabhängigkeitsfrage des
Memelgebiets aussprachen, zeigte kein
Taryba-Litauer den Wunsch nach einem Plebiszit. Diese
Tat- [295] sache zeigt deutlicher als alle Statistiken,
daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht litauisch ist..."
Man braucht beide Äußerungen nur gegeneinander zu stellen, um das
ungeheuerliche Unrecht der Abtretung des Memellandes infolge falscher
Unterrichtung in der Hauptsache zu erweisen.
Steht das geschichtliche Recht auf Seiten der Litauer?
Es ist ein Wahn, von einer "Wiedervereinigung" des Memellandes mit Litauen zu
sprechen. Keinem litauischen Staate ist das Memelland jemals zugehörig
gewesen. Das Memelgebiet war bei der Ordensbesetzung zum größten
Teil Wildnis (terra inculta). Soweit es randbesiedelt war oder wurde, waren seine
Stammbewohner Kuren (Letten) oder Schalauer (Preußen). (Die
wissenschaftlichen Nachweise bringen Karge, Gerullis, Endzelin, Ganß und
Mortensen.) Nördlich und südlich des Memelstromes gibt es in
Ostpreußen keinen urlitauischen Landstrich. Nur eine verhängnisvolle
deutsche Gelehrtenschule (Bezzenberger, Tetzner) hat, fußend auf der
späteren Verlitauerung ursprünglich preußischer Ortsnamen, die
von Deutschen (Kurschat, Sauerwein) mitgeschaffene
neu-litauische Volksromantik in ihren unberechtigten Ansprüchen an
ostpreußisches Land gestärkt. Die heutige Grenze des Memellandes
gegen Groß- und Nieder-Litauen (Schamaiten) wurde dem deutschen Orden von
den Litauern im Gewaltfrieden am Melnoer See 1422 aufgezwungen. Erst nach
diesem Ereignis haben der Orden und später die Landesfürsten
litauische Ansiedler und Auswanderer in größeren Mengen ins Land
gezogen. Ihr kärgliches Sprachgut wurde durch deutsche Gelehrte und durch
die evangelische Kirche gerettet. Diese Bevölkerung litauischer
Abstammung optierte völlig freiwillig für die deutsche Kultur und
damit für die deutsche Nation. Die Grenzen deutschen und litauischen
Volkstums im Memellande sind durchaus flüssig. Der subjektive Wille des
Einzelnen entscheidet darüber ohne Rücksicht auf die Namensform.
Die deutsche Sprache wird von jedem Memelländer verstanden und in Rede
und Schrift bevorzugt gebraucht. Die
memelländisch-litauische Bibel- und Kirchensprache ist nicht identisch mit
der
neu-litauischen Schrift- und Amtssprache. Die
Verkehrs- und Umgangssprache ist fast durchweg deutsch. Ein Schulunterricht ist
ohne Zugrundelegung der deutschen Sprache undurchführbar. Sprachlich ist
eine erhebliche Personenzahl doppelsprachig. Sie wurden von
Groß-Litauern "Bastarde" geschimpft.
Die letzte deutsche Volkszählung vom 1. Dezember 1910 ergab im Kreise
Memel 32 885 Personen mit deutscher, 27 402 mit litauischer Muttersprache, im
Kreise Heydekrug 20 329 gegen 22 968. Die Volkszählung von 1925, die
bereits unter litauischer Herrschaft veranstaltet wurde, also gewiß
ungünstig beeinflußt war, ergab bei der gleichen Personenzahl von
etwa 140 000 Bewohnern 43,51%, die [296] sich als Deutsche, 27,59%, die sich als Litauer,
25,18%, die sich als Memelländer bezeichneten, neben 3,72% sonstigen
Bewohnern. Damit ist erwiesen, daß die litauische Nationalität
zweifellos in der Minderheit ist, ganz abgesehen von der Tatsache, daß nur
ein kleiner Bruchteil dieser 27,59% Litauer
groß-litauisch gesinnt ist. Wie wenig verläßlich das litauische
Nationalempfinden ist, ergibt sich aus der wechselnden Nationalitätenzahl
der Einwohner des Nehrungsdorfes Nidden. 1890 sind es 330 Deutsche,
125 Litauer und 227 Kuren, 1900 470 Deutsche
und 238 Litauer, 1905 763 Deutsche
und 40 Litauer, 1910 wieder 194 Deutsche und 604 Litauer.
In Wirklichkeit hat die
Bevölkerung immer in der Mehrzahl aus deutsch sprechenden Kuren
(Letten) bestanden. Die bedeutsamste Äußerung über Sprache
und Nationalität der Bevölkerung kam zustande durch die auf
klein-litauischen Druck von der französischen Verwaltung
durchgeführte Elternbefragung von 1921 über den litauischen
Schulunterricht. Hierbei war die deutsche Stadt Memel von vornherein
ausgenommen. Von der Landbevölkerung des Memelgebiets wurde der
Wille dahin kund gegeben, daß von 16 510 Schulkindern nur 1894 am
litauischen Religionsunterricht und gar nur 395 am litauischen
Schreib- und Leseunterricht beteiligt werden wollten. In den einzelnen Kreisen
schwankten die Zahlen für den litauischen Religionsunterricht zwischen
30,2%, 5,2% und 2,91%, für den litauischen
Lese- und Schreibunterricht zwischen 5,2%, 4,94% und 0,99%. Es gibt keinen
besseren Beweis für den einheitlichen deutschen Charakter und
Gemeinschaftswillen der Bewohnerschaft.
Ebenso umfaßte der 1919 von der Mehrheit der Deutschen und Litauer
gegründete
Deutsch-litauische Heimatbund 68 535 eingeschriebene Mitglieder von 140 000
Einwohnern, also die große Mehrzahl aller Erwachsenen. Das gleiche gilt
von dem späteren deutschen Kulturbund. Auch der reichsdeutsche
Memellandbund setzt sich mindestens je zur Hälfte aus Mitgliedern
deutscher und litauischer Abstammung zusammen, welch letztere im
rheinisch-westfälischen Industriegebiet bei weitem überwiegen.
Die gleiche Sprache sprechen die urkundlichen Verlautbarungen der
memelländischen Bevölkerung über deren politische
Willensbildung.
Die Verwahrungskundgebung des "Preußischen Volksbundes"
gegenüber der Abtrennung des Memellandes im Juni 1919 war von der
überwältigenden Mehrheit der Gesamtwählerschaft
nördlich und südlich des Memelstroms unterzeichnet. Im Kreise
Heydekrug mit 52% litauisch sprechender Bevölkerung
äußerten sich in diesem Sinne
93% - und das zur Zeit des schlimmsten Niederbruchs Deutschlands. Auf
der Pariser Konferenz vom 3./4. November 1922 sagte der französische
Vorsitzende Laroche zu der memelländischen [297] Abordnung: "Wir wissen, daß Sie alle zu
Deutschland zurück wollen, aber wir werden es zu verhindern wissen."
Ende 1922 brachte die "Arbeitsgemeinschaft für den Freistaat Memel" auf
dem Weg einer Namensammlung 54 429 Personen auf etwa 56 000
Stimmberechtigte über 20 Jahre für die
anti-litauische Freistaatlösung der Memelfrage auf. Bei den ersten Wahlen
zum memelländischen Landtag unter litauischer Herrschaft am 19. Oktober
1925 erzielten die deutschen Parteien (Deutsche und Litauer umfassend) von
62 000 abgegebenen Stimmen rund 58 000 (27 Abgeordnete), bei den ersten
Wahlen zur Memeler Stadtverordnetenversammlung im April 1924 von 14 000
Stimmen rund 13 300 (40 Stadtverordnete), bei den Kreistagswahlen 1925 rund
90%, bei den Wahlen zum großlitauischen Seim
von 59 000 Stimmen 50 500
(5 Abgeordnete), bei der zweiten Wahl zum memelländischen Landtag vom
30. August 1927 von 54 700 Stimmen rund 47 000 (25 Abgeordnete).
Welche zahlenmäßige Bedeutung hatten demgegenüber die
kleinlitauischen Parteigänger Litauens im Memelgebiet unter litauischer
Herrschaft aufzuweisen?
Die Sonderkommission des Völkerbundes schätzte die Zahl dieser
Parteigänger nach Angaben ihres Führers
Jankus-Bittehnen auf 8000 bis 10 000. Tatsächlich betrug ihre Stimmenzahl
bei der Wahl zum ersten Landtag 1692 (2 Abgeordnete), zur Memeler
Stadtverordnetenversammlung 710 Stimmen (2 Stadtverordnete), zum litauischen
Seim 8684 Stimmen (kein Abgeordneter), bei den Wahlen zum zweiten Landtag
7311 Stimmen (4 Abgeordnete). Bei diesem Ergebnis der zweiten Wahl zum
memelländischen Landtag ist aber zu berücksichtigen, daß
daran die Optanten für Deutschland, die etwa 10 000 Stimmberechtigte
zählten, nicht mehr teilnahmen, dagegen für die litauischen Parteien
entgegen dem Memelstatut sämtliche "örtlichen Einwohner" des
Memelgebietes aus Altlitauen, also die Beamten, die Landarbeiter und vor allem
die gesamte Garnison, stimmen durften. Wahrlich; man begreift, daß damals
der spätere litauische Ministerpräsident Woldemaras schreiben
konnte: "Die Wahlen sind das erste deutliche Zeichen, daß das Gebiet gegen
Litauen gerichtet ist und wieder zu Deutschland zurück will." Jetzt verstehen
wir es auch, wenn der Bericht der Sonderkommission bemerkt, daß die
Taryba-Litauer eine Volksabstimmung zwecks politischer Entscheidung
über das Memelgebiet ihrerseits ablehnten. Wir aber können, mit
mehr Recht als der französische Präsident im Elsaß, sagen: Le
plebiscit est fait - die Volksabstimmung über Versailles hat stattgefunden.
Die alliierten und assoziierten Mächte haben dem Statut des Memelgebietes
die Eingangsformel gegeben: "In Verwirklichung des weisen Entschlusses, dem
Memelgebiet Autonomie zu gewähren und [298] die überlieferten Rechte und die Kultur
seiner Einwohner zu erhalten." Wenn wir prüfen, ob der litauische Staat,
ganz abgesehen von seinem Verhalten gegenüber den Paragraphen des
Memelstatuts (z. B. gegenüber Eisenbahn und Post), dem Geiste nach
die eingangs erwähnte vereinbarte Verpflichtung erfüllt hat, so
muß die Antwort verneinend ausfallen. Der Kulturstand des Landes ist nicht
gewahrt geblieben. Die Bildungsmöglichkeiten sind teils erschwert, teils
verringert worden. Die Ausbildung der neuberufenen Lehrkräfte
läßt alles zu wünschen übrig. Die Gerichte erliegen dem
Andrang der Geschäfte. Eisenbahn und Post, mit Beamten aus
Alt-Litauen besetzt, stehen nicht auf der Höhe einer bescheidenen
Leistungsfähigkeit, trotzdem Posturkunden und Eisenbahnfahrkarten die im
Memelabkommen vereinbarte Gleichberechtigung beider Sprachen dadurch
beweisen, daß sie nur litauischen
und - französischen Text aufweisen. Aus der Hafenverwaltung sind
bewährte memelländische Beamte und Arbeiter, auch litauischer
Abkunft, entfernt und durch weniger sachkundige Großlitauer ersetzt
worden. Gerichtliche und Strafvollziehungsbeamte sind mit Waffengewalt zur
Duldung rechtswidriger Verhandlungen gezwungen worden. Mitglieder der
litauischen freiwilligen Schützenvereinigung wurden zu
Gewalttätigkeiten gegen die Bevölkerung ermutigt und zum Teil
straflos gelassen. Nur die litauische Zollverwaltung ist auf der Höhe und
bietet den Spritschmugglern zu Wasser und zu Lande mehr oder weniger
glückliche Gefechte. Kirchenpolitisch ist das Memelland von der
preußischen Volkskirche getrennt und verselbständigt worden unter
gegenseitiger Vertretungsbefugnis mit Ostpreußen. Die vorher von der
litauischen Regierung willkürlich eingesetzten Kirchenleiter mußten
teils abtreten, teils nach Litauen übergeführt werden.
Das Memelland und das Memelvolk haben sich diesen Drangsalierungen
gegenüber stets im Rahmen der Gesetzlichkeit gehalten. Der Generalstreik
in Memel vom April 1924 trug lediglich den Charakter einer Kundgebung, die
Gewalttätigkeit beschränkte sich auf das dagegen aufgebotene
litauische
Militär, das sich auch nicht entblödete, die alten deutschen
Denkmäler zu stürzen. Bezeichnend ist es, daß die einzigen
wirklichen Auflehnungsakte gerade aus der litauischen Landbevölkerung
heraus erfolgten, nämlich der Schulstreik gegen die Verordnung des
Direktoriums von 1925, welche die Kinder der Eltern mit litauischen Namen und
Muttersprache zur litauischen Unterrichtssprache zwingen wollte, und die
Massenkundgebungen gegen die Einsetzung unerwünschter litauischer
Prediger in Ruß und Wieszen. Dagegen war der vor seinem Ausbruch
unterdrückte sogenannte Memelputsch vom Juli 1924 eine
groß-litauische Provokation einiger unerfahrener jungen Leute, ohne
Kenntnis und Anteil- [299] nahme der Bevölkerung. Es besteht keine
Irredenta, weder im Memelgebiet selbst noch in Deutschland. Auch der
reichsdeutsche Memellandbund verfolgt seine Ziele offen und lediglich durch
Einwirkung auf die reichsdeutschen, nicht aber auf die abgetrenntem
Memelländer.
Über die wirtschaftliche Entwicklung ist wenig zu sagen. Die an sich
überaus günstige Lage des Memeler Hafens ist weder zur deutschen
noch zur litauischen Zeit, außer als Transithafen bei internationalen Kriegen,
zu rechter Entfaltung gekommen. Die altberühmte Frage "des Hinterlandes"
ist auch jetzt nicht vorwärts gekommen. Das kleinagrarische litauische
Hinterland ist arm und wenig kaufkräftig. Die Verkehrsverbindungen aus
Litauen zum Memelland sind zum Teil ungünstiger als nach
Königsberg, Libau und Riga. Die Verschiedenheit des altrussischen und des
deutschen Handelsrechts, sowie der kaufmännischen Geschäftssitte
und Preisbildung diesseits und jenseits der alten Grenze bringt, begleitet von einem
als rückständig empfundenen Verbrauchsbesteuerungssystem und von
überhohen Einfuhrzöllen auf Fertigfabrikate, der Memeler
Kaufmannschaft mancherlei Unbequemlichkeiten. Ob in der Entstehung einer
einfachen Genußmittel- und Verarbeitungsindustrie für den litauischen
Binnenmarkt Ausgleichsmöglichkeiten von Dauer liegen, muß
abgewartet werden. Das Versprechen des Artikels 3 des Memelabkommens
über den Transitverkehr, der insbesondere der polnischen Holzwirtschaft des
Wilnagebietes dienen sollte, ist bekanntlich noch heute nicht eingelöst und
damit sind dem Memeler Hafen und der Memeler Holzindustrie noch nicht wieder
die alten Entwicklungsmöglichkeiten zurückgegeben. Im
übrigen ist Deutschland noch immer das an Einfuhr und Ausfuhr, sowie am
Schiffsverkehr des Memelgebietes am meisten beteiligte Land. Nach dem Bericht
der Memeler Industrie- und Handelskammer vom Jahre 1927 kamen aus Deutschland
445 Schiffe mit 57 5000 cbm Ladung, das sind rund 60%. Im
seewärtigen
Warenverkehr des Hafens wurden aus Deutschland eingeführt 217 000 Tons
gegenüber 275 000 Tons aus allen anderen Ländern, nach Deutschland
ausgeführt 91 000 Tons gegen etwa 50 000 nach allen anderen
Ländern. Selbst in der Binnenschiffahrt sind unter deutscher Flagge rund
1100, unter litauischer Flagge nur rund 560 Fahrzeuge gelaufen. Norman Davis
hatte in seiner Rede vom 12. März 1924 gesagt, daß "Litauen sehr
bestimmte moralische Verpflichtungen gegenüber den Einwohnern des
Memelgebietes übernehme und daß es nicht die Wirtschaftsinteressen
jener Bevölkerung ruinieren könne, deren Wohlstand völlig
von dem freien Stromverkehr abhängt." Diese moralische Verpflichtung
gegenüber der Wirtschaft des Memelgebietes ist bis heute nicht
erfüllt.
Der jetzige völkerrechtliche Stand der Memelfrage ist in
wei- [300] testen Kreisen unbekannt, verdient aber, in das
wahre Licht gerückt zu werden. An den Staatsverträgen, die das
Memelgebiet als autonomes Glied des litauischen Staates geschaffen haben, sind
folgende Mächte unbeteiligt und daran infolgedessen auch nicht vertraglich
gebunden:
1. Amerika. Die Vereinigten Staaten haben den Vertrag von Versailles nicht
ratifiziert und an dem Memelabkommen nicht mitgewirkt.
2. Das Deutsche Reich. Dieses hat zwar im Vertrag von Versailles auf das
Memelgebiet verzichtet, aber im 2. Absatz des Artikels 99
sich lediglich
verpflichtet, die von den "alliierten und assoziierten Hauptmächten"
hinsichtlich des Memelgebietes, insbesondere über die
Staatszugehörigkeit der betreffenden Einwohner, getroffenen Vorschriften
anzuerkennen. Da die alliierten und assoziierten Mächte die fünf
Hauptmächte einschließlich Amerika sind, aber nur die drei
europäischen Großmächte und Japan das Memelabkommen
abgeschlossen haben, so ist das Deutsche Reich völkerrechtlich an das
Memelabkommen nicht gebunden.
3. Polen. Der polnische Staat hat durch seinen Vertreter im Völkerbund
Skirmunt am 14. März 1924 seine Zustimmung zu dem Memelabkommen
verweigert, ein völkerrechtlich belangloser Akt, da Polen damals nicht
Mitglied des Völkerbundrates war, aber eine noch heute bedeutsame
politische Willenskundgebung.
4. Rußland. Dieser Staat hat zwei Verbalnoten zur memelländischen
Frage an die alliierten Mächte und den Völkerbundrat gerichtet,
wonach es jede Lösung der Memelfrage, die ohne seine Beteiligung erfolge,
für null und nichtig erklärt. Die russische Note Tschitscherins an die
alliierten Hauptmächte vom 22. Februar 1923 ist so wichtig, daß wir
sie zum größten Teil wiedergeben:
"Die russische Regierung hat durch die Presse von
der Entscheidung der alliierten Mächte über die Memelfrage Kenntnis
erlangt, welche Entscheidung die Mächte der litauischen Regierung
mitgeteilt haben. Rußland und seine Verbündeten (!) sind bei den
Beratungen, die zu dieser Entscheidung geführt haben, vollkommen
ausgeschaltet worden und haben an ihr selbst in keiner Weise teilgenommen. Eine
Frage, die das politische Gleichgewicht an der Ostsee tief berührt und von
der gewisse Lösungen die Sicherheit Rußlands und seiner
Verbündeten (!) schwer gefährden können, ist somit ohne sein
Vorwissen angeschnitten worden, obschon es gegenwärtig außer
Zweifel ist, daß die Versuche, internationale, Rußland und seine
Verbündeten interessierende Fragen ohne seine Teilnahme zu lösen,
nur neue Keime zu künftigen internationalen Verwicklungen schaffen
können.
[301] Einen Protest gegen die Annahme einer
Regelung der Memelfrage ohne Beteiligung Rußlands und seiner
Verbündeten hat die russische Regierung an die Regierungen Englands,
Frankreichs und Italiens bereits am 22. Dezember 1922 gerichtet, mit dem
Hinweis, daß jede Lösung dieser Frage, die für Rußland
und seine Verbündeten der gesetzlichen Kraft entbehrt, weder
endgültig noch dauerhaft sein werde....
Die russische Regierung stellt heute fest, daß die
Mächte geflissentlich unterlassen haben, ihren oben erwähnten
Erklärungen Folge zu geben und daß sie infolgedessen in dieser Sache
volle Handlungsfreiheit besitzt, die sie nach ihrem Belieben verwerten kann.
Die russische Regierung hält bei dieser Gelegenheit
den alliierten Regierungen vor Augen, daß sie haftbar sind für alle
Schäden und Nachteile, die für Rußland und seine
Verbündeten als Folge der fraglichen Entscheidung über das
Schicksal von Memel und über die Bedingungen seiner Zuteilung an
Litauen eintreten können. Die Sowjetregierung wird den alliierten
Regierungen zu gegebener Zeit, wenn die Regelung wechselseitiger
Ansprüche erfolgt, das Verlangen nach Wiedergutmachung der betreffenden
Schäden unterbreiten....
Unter dem gleichen Vorbehalt ihrer Stellungnahme
gegenüber dem System, das am besten für die Regelung der
internationalen Stellung des Memelstromes anzunehmen wäre, stellt die
russische Regierung insbesondere fest:
1. Daß die Einführung irgendeines
internationalen Organs auf dem Memelstrom ohne ihre Beteiligung
unzulässig ist.
2. Daß, wenn ein derartiges Organ eingerichtet
werden sollte, die Uferstaaten des Memelstroms und seiner Zuflüsse
zugezogen werden müßten (also auch Deutschland! D. Verf.).
3. Daß von Rußland nur eine solche
Lösung anerkannt werden kann, die ihm und seinen Verbündeten die
Freiheit des Transports und besonders der Flösserei auf dem Memelstrom
gewährleistet.
Die russische Regierung hofft, daß die Regierungen,
die an der fraglichen Entscheidung teilgenommen haben, mit Rußland und
seinen Verbündeten (!) in einen Meinungsaustausch eintreten werden, um
der durch ihren Schritt geschaffenen Lage ein Ende zu machen, die so schwere
Gefahren für die Befestigung des Friedens von
Ost-Europa darbietet."
5. Der Völkerbund. Der Völkerbundrat hat zwar nach dem
Memelabkommen das Recht, sich mit den Verletzungen des Memelabkommens zu
beschäftigen (Art. 17). Er hat aber keineswegs das Memelabkommen, das im
Sekretariat des Völkerbundes registriert ist, gewährleistet. Daran
ändert auch nichts die Tatsache, daß [302] Deutschland nach Abschluß des
Memelabkommens dem Völkerbunde beigetreten und ständiges
Mitglied des Völkerbundrates geworden ist.
Die Memelfrage ist daher völkerrechtlich noch heute als eine durchaus
offene Frage anzusehen.
Wir wollen die Fällung eines eigenen politischen Urteils über die
Memelfrage an dieser Stelle zurückstellen zugunsten dreier wichtiger
Stimmen von internationaler Bedeutung.
Es schreibt Professor Dr. Walther Schücking, Mitglied des Ständigen
Internationalen Gerichtshofes im Haag, Vizepräsident des Institut de droit
international:
"Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß
formales Recht, das seinem Inhalte nach ein materielles Unrecht ist, keinen
dauernden Bestand hat. Es kommt nur darauf an, auf welchem Wege die Dinge
wieder in die von der Natur der Sache geforderte Ordnung gebracht werden, ob
durch Katastrophen oder durch friedliche Entwicklung. Wer die Welt vor neuen, in
ihren Folgen unabsehbaren Erschütterungen bewahren will, ist verpflichtet,
sich mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, daß das geschriebene Unrecht
baldmöglichst beseitigt und das natürliche Recht auf friedlichem
Wege wieder hergestellt wird. Das gilt auch von dem tragischen Schicksal des
Memellandes, das gegen den Willen seiner Bevölkerung aus dem
Körper des Deutschen Reichs herausgerissen worden ist. Der zur
Aufrechterhaltung des Friedens und zur Durchsetzung internationaler Gerechtigkeit
gegründete Völkerbund wird nur dann das moralische Ansehen in der
Welt gewinnen, dessen er zur Durchführung seiner Aufgaben bedarf, wenn
er sich baldmöglichst das Ziel setzt, im Rahmen seiner Organisation mit den
schlimmsten Ungerechtigkeiten des Versailler Diktats auch die erzwungene
Abtrennung des Memellandes rückgängig zu machen und diese
traurige Wunde der Verstümmelung am Körper des Deutschen
Reiches zu schließen."
Freiherr von Gayl, ehemals Chef der politischen Abteilung beim Oberbefehlshaber
Ost, einer der Mitschöpfer des litauischem Staates:
"An der Tatsache, daß das Memelland trotz der
gegenwärtigen politischen Trennung von Ostpreußen zum deutschen
Kulturkreis gehört, kann keine Macht der Welt etwas ändern, auch
nicht die Litauens, das sein eigenstaatliches Leben ausschließlich
Deutschland verdankt. Litauen sollte dieser Tatsache im eigenen wohlverstandenen
Interesse endlich Rechnung tragen. Wir haben nichts gegen das litauische Volk und
gönnen ihm gern sein eigenes nationales Leben, aber wir sind nicht gewillt,
litauische Übergriffe zu vergessen, mit denen es die verbriefte Freiheit des
Memellandes antastet. Das mögen die maßgeblichen Kreise Litauens
[303] stets bedenken, vielleicht um so mehr, wenn es
ihnen ein Deutscher sagt, der nach dem Ausspruch namhafter litauischer Politiker
nicht unwesentlich an der neuen Freiheit Litauens beteiligt war."
Endlich der Litauer Dr. Steputat, ehemaliger Landespräsident des
Memelgebietes:
"Je mehr Unrecht dem einen durch die Macht des
anderen zugefügt wird, desto größer wird der Anspruch des
einen auf Beseitigung des Unrechts und desto geringer wird die Aussicht des
anderen auf Erhaltung der Macht. Dieser Trost und diese Warnung gilt für
Völker ebenso wie für einzelne Menschen."
Die derzeitige Zwischenlösung der Memelfrage hat nicht den politischen
und wirtschaftlichen Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und Litauen
gehindert. Darüber hinaus hat das Deutsche Reich sogar die streitenden
Parteien Litauen und Polen zwecks Wiederaufnahme des gegenseitigen
unmittelbaren Wirtschaftsverkehrs, auch auf dem Memelstrom, zu einer Konferenz
nach Königsberg geladen. Eine kriegerische Auseinandersetzung über
das Memelgebiet mit Litauen entbehrt jeder geschichtlichen Wahrscheinlichkeit.
Ob (im Falle eines inneren oder äußeren Zusammenbruchs des
litauischen Staates oder seiner Regierung, den auch wir als verhängnisvoll
ansehen würden und keineswegs herbeiwünschen) das Memelgebiet
seine unveräußerlichen
Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte wieder erhalten oder ob es sie sich wieder
nehmen wird, ist eine Frage der Zukunft, die wir nicht zu erörtern brauchen.
Polen und Litauen haben im
Wilna- und Memelgebiet gezeigt, daß außerhalb der
völkerrechtlichen Bindungen auch heute noch durch aktive Politik im Osten
neue Tatbestände geschaffen werden können, ohne daß die
Westmächte oder der Völkerbund zum militärischen
Eingreifen sich bereit finden.
Das litauische Volk hat seine staatliche Unabhängigkeit wohlverdient und
deren Anerkennung durch uns soll weder durch die zahlreichen unfreundlichen
Äußerungen aus litauischem Munde gemindert werden noch durch das
Verlangen Übereifriger nach weiteren "litauischen" Gebieten
Ostpreußens; ebensowenig durch das einträchtige Zusammenwirken
der litauischen mit der polnischen Minderheit Preußens in Deutschland. Die
Memelfrage aber ist und bleibt, so oder so, auch eine litauische Schicksalsfrage.
Schrieb doch der heutige litauische Staatspräsident Smetona schon 1924 in
seiner Zeitung Vairas: "Wenn es früher unklar war, dann hat es sich in
letzter Zeit erwiesen, daß auf der Memelfrage sich das ganze Schicksal
aufbaut, Untergang oder unabhängiges Bestehen von Litauen." Denn die
Memelfrage bleibt nach wie vor mit der Wilnafrage eng verknüpft.
[304] Die Memelfrage bleibt auch fürderhin
eingebettet in den Komplex der Ostfragen, auch der Randstaatenfrage. Ob das
Memelland, wie Walter Harich schreibt: "ein
Elsaß-Lothringen des Ostens'' wird, ob Memel als das "Gibraltar der Ostsee"
anzusehen ist, wie dereinst andere schrieben, soll hier nicht untersucht werden, da
sinnbildliche Vergleiche immer hinken. Aber es wird dem Memellande kaum
vergönnt sein, einseitig sich aus den künftigen Entwicklungen und
Katastrophen des nahen Ostens herauszuhalten.
Das Deutsche Reich muß in bezug auf das Memelland praktische Politik auf
nahe Sicht treiben. Nicht so das deutsche Volk! Dieses hat keinen Verzicht
ausgesprochen. Deutschtumspolitik ist eine Angelegenheit langer Sichten. Das
Memelland bleibt für die Deutschen ein unabtrennbarer Teil des
unabtrennbaren Ostpreußens, der Wiege des
preußisch-deutschen Staates.
Die Memelfrage bleibt in aller Zukunft eine heilige, vaterländische,
volksdeutsche Sache. Das mag Litauen, das mögen die Westmächte,
das soll die Welt wissen!
Schrifttum
Albert Rogge, Die Verfassung des Memelgebietes. Berlin 1928. Deutsche
Rundschau G.m.b.H.
Elisabeth Brönner-Höpfner, Die
Leiden des Memelgebietes. 1929. Berlin-Nowawes, Memellandverlag.
Dr. phil. Johannes Ganß, Die völkischen Verhältnisse des
Memellandes. 1925. Berlin-Nowawes, Memellandverlag.
Ders., Das
Memelland. 1929. Berlin, Deutscher Schutzbundverlag.
Alfred Katschinski, Das Schicksal des Memellandes.
1923. Tilsit, Selbstverlag des
Memelgaubundes Tilsit.
Rolf Schierenberg, Die Memelfrage als
Randstaatenproblem. 1925. Berlin, Kurt Vowinkel Verlag.
Dr. Gottfried Langer, "Die Rechtsverhältnisse im
autonomen Memelgebiet." Nr. 11 der
Mitteilungen der Akademie für wissenschaftliche Erforschung und zur
Pflege des Deutschtums. Deutsche Akademie, München,
März 1927.
Dr. Gertrud Mortensen, Beiträge zu den Nationalitäten-
und Siedlungsverhältnissen in Preuß. Litauen. 1927. Berlin-Nowawes,
Memellandverlag.
Geh. Archivrat Dr. Paul Karge, Die Litauerfrage in
Altpreußen in geschichtlicher Beleuchtung. 1925. Königsberg i. Pr.,
Bruno Meyer & Co.
Dr. Felix Borchardt, "Deutsche Kultur im Memelland."
Nr. 19 der Zeitschrift Das Memelland vom 15. Okt. 1928.
Ders., "Das
autonome Memelgebiet." Zeitschrift Die Kultur, Sonderheft, Deutscher Osten.
F. Fontane & Co.
Ders., "80 Jahre Memel und und Memelland."
Jubiläumsheft der Ostpreußischen Zeitung.
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