Deutschland östlich
der Elbe - Max
Wocke
Ostpreußen
"Es webt ein Zauber über jenem
Boden,
den das edelste deutsche Blut gedüngt hat
im Kampfe für den
deutschen Namen und die reinsten Güter der Menschheit."
Treitschke.
Ostpreußen - das ist für uns das ganze deutsche Land östlich
der Weichsel; das ist die Provinz Ostpreußen und der kleine jenseits des
Korridors verbliebene Rest des früheren Westpreußen.
Zweierlei klingt jedem Deutschen im Ohr, wenn er das Wort Ostpreußen
hört: die gesteigerte Schönheit deutschen Flachlandes und die Not
des äußersten Nordostens des Reiches.
Beide - Schönheit und Not - sind für uns alle ein Ruf.
Das Land ruft uns, seine Schönheit zu sehen, der Ostpreuße ruft uns,
ihm zu helfen. Beide - Schönheit und Not - sind in Natur und
Geschichte, durch Boden und Klima, Krieg und Frieden, Mensch und Frucht das
Schicksal dieses Landes.
Die Schönheit Ostpreußens ist noch jung. Sie ist ihrem Wesen und
ihrem Ursprunge nach eine ganz andere als die der deutschen Mittelgebirge.
Nirgends ragt hier der felsige Untergrund, das Gerüst der Erdkruste, auf.
Der Bohrer des Geologen, der bei Heilsberg bis in eine Tiefe von beinahe
900 Meter vorgedrungen ist, weiß nur von ungeheuren Schuttmassen
zu berichten, unter denen die festen Schichten des Mittelalters und Altertums der
Erdgeschichte in fast ungestörter Lagerung ruhen. Ostpreußen
gehört noch zu dem Rande der Russischen Tafel, deren Merkmal der
erdgeschichtliche Frieden ist. Nur an einigen wenigen Stellen haben die
Mächte des Erdinneren Andeutungen ihres [387] Wirkens hinterlassen.
Sonst ist das ganze Antlitz dieses Landes ein Werk der erdgeschichtlichen
Gegenwart und der ihr vorangegangenen Eiszeit. Mit Ausnahme der zwischen
Elbe und Weichsel besonders ausgeprägten Urstromtäler sind hier in
Ostpreußen alle Landschaftsformen des norddeutschen Flachlandes
gesteigert, zusammengedrängt und z. T. vergesellschaftet, wie es so
stark in anderen Gebieten nicht der Fall ist. Mitten in diesen von der Natur
geschaffenen Schönheiten stehen Werke des deutschen Menschen, in
großer Verbundenheit und Urwüchsigkeit in diese viel
umkämpfte Erde gestellt. Die trutzigen Bauwerke des deutschen
Ritterordens: Kirchen, Schlösser und Burgen. Nordische Findlinge der
Gletscheraufschüttungen bilden das Fundament, und den Backstein lieferte
der Lehm und Ton des Heimatbodens. So ist dieses Land der Seen, der "wenigen
Menschen, der vielen Tiere, der großen Wälder" (Wiechert) eine
allzeit gegenwärtige Mannigfaltigkeit und zugleich große Einheit.
Die Not Ostpreußens ist ein Erbteil seiner Lage und seiner Natur; sie ist
noch mehr Machwerk der Menschen. Genau so wie die schlesische Mark ist der
Nordosten ein Eckpfeiler des Deutschtums, eine Außenbastion, "verwegen
hinausgebaut vom deutschen Ufer in die wilde See der östlichen
Völker." (Treitschke).
Das ist Aufgabe und Ehre und Not zugleich. Denn
die Grenze des deutschen Ostens ist von Memel bis Kattowitz ein einziges
Trümmerfeld; sie ist allseits offen und nach Versailles von
637 Kilometer auf 854 Kilometer Länge gewachsen. Das
Memelland und das Soldauer Gebiet im Süden gingen uns verloren. Aus
der zerschlagenen Provinz Westpreußen kam der Regierungsbezirk
Marienwerder dazu mit einer Grenze an der Weichsel, die allen Regeln
internationaler Grenzziehung widerspricht. Vom Reich ist es wie eine Insel
getrennt worden. Nirgends auf der Erde zeigt die Karte eines mächtigen
Reiches solche Wunden. Aber das Wort Insel hat noch einen zu guten Klang und
Ruf: Inseln sind allseitig zugänglich und genießen häufig eine
große Gunst der Lage. Ostpreußen dagegen ist abgeschnürt wie
ein einsames Eiland im Packeis. Ein Korridor von
90-225 Kilometer Breite isoliert es vom Mutterlande. Die
natürlichen Leitlinien und die schnellsten Verkehrswege Osteuropas sind
zerschnitten. 12 Eisenbahnlinien, 32 Kunststraßen und 122 Landstraßen wurden unterbrochen, aufgerissen. Vor dem Kriege gingen
über drei Viertel des gesamten ostpreußischen Verkehrs nach
Rußland (30 Prozent), Oberschlesien (27 Prozent) und
Westpreußen (19 Prozent). Geblieben ist lediglich der starke Verkehr
mit Oberschlesien, aber auch er ist behindert und verteuert durch den Korridor.
Die beiden anderen Gebiete sind wirtschaftlich so gut wie verloren gegangen.
Auch die vor dem Kriege so rege Binnenwasserstraße von der Oder zur
Weichsel ist völlig verödet. Eine wirtschaftlich tote Zone, die
für Handel und Verkehr einfach ausgeschaltet ist, liegt zwischen der
Provinz und ihrem Mutterland. So ist die durchschnittliche Transportentfernung
für ostpreußische Güter von 120 Kilometer im Jahre
1913 heute auf das Doppelte, auf 240 Kilometer gewachsen. Das Absinken
der Zahl der Kartoffeltransporte auf die Hälfte spricht dieselbe Sprache.
Berlin und Stettin liegen als Absatzgebiete für das landwirtschaftliche
Überschußgebiet Ostpreußen eigentlich zu weit fort. Denn die
Provinz [388] hatte ihren Hauptmarkt
in Westpreußen, genau so wie Pommern in Danzig. Dorthin gingen die
Kartoffeln in die Brennereien, dorthin lieferte der ostpreußische Bauer sein
Magervieh, wo es mit Hilfe der Schlempe fett gemacht wurde, und erst von dort
ging es weiter nach Berlin. So wurde für das viehreiche, aber futterarme
Ostpreußen ein Ausgleich geschaffen. Heute muß der
ostpreußische Bauer, der um 10 Prozent teurer erzeugt als der Bauer
im Reich, seine Ware noch um 10 Prozent billiger verkaufen. Kein
Wunder, daß auf 1000 Einwohner im Jahre 1925 nur 150 Steuerpflichtige
kamen, während es im Reich beinahe 300 waren. Die Verkehrsferne und
die damit verbundene Absatznot sind die Hauptbelastungen für das Land,
und doch hat Ostpreußen im Jahre 1936 für 300 Millionen
Mark landwirtschaftliche Erzeugnisse an andere Gaue des Reiches
abgegeben!
Die Not des Landes wäre nicht so groß, wenn es nicht wirtschaftlich
so einseitig beschaffen wäre, wenn es neben seinen guten Böden
auch im Lande noch Rohstoffe hätte, die den Aufbau einer Industrie
ermöglichen würden, wenn es - ähnlich wie
Schlesien - wirtschaftlich selbstgenügsam sein könnte. Aber
die Natur hat es nicht so vielseitig beschenkt. Jener gewaltige, träge von
Norden über das Land kriechende Eiskuchen, der die Schönheit des
Landes schuf, hat eine Schuttdecke von durchschnittlich 150 Meter Kiesen
und Sanden über den Untergrund ausgebreitet. Die eintönige
Russische Tafel weist auch in der Tiefe kaum wesentliche Bodenschätze
auf. Moderne Kraftstoffe, Kohle und Öl, hat Ostpreußen nicht; nur
einige Wasserkräfte, die aber nicht ausreichen, das Land mit elektrischer
Energie zu versorgen.
Ostpreußens Wirtschaft wurzelt allein in seinem land- und
forstwirtschaftlich genutzten Boden, dessen Güte den Durchschnitt in
Preußen dank des Vorherrschens mittlerer Bodenklassen übertrifft.
Sandboden herrscht im Süden vor, während im Norden die schweren
Böden zu finden sind. Verglichen mit dem Reich ist die Ackerfläche
Ostpreußens um 9 Prozent größer. Aber das will nicht
viel sagen. Das Klima des Landes läßt eine intensive Ausnutzung
nicht zu. Lange Winter, Frühjahrsdürre und Spätfröste
sind die hemmenden Erscheinungen. "Himmelfohrt, Pelz verwohrt; te Johann
treck em wedder an" sagt der ostpreußische Bauer. Nur 153 Arbeitstage hat
hier der Landwirt, während es im Reich 194 sind. Der Frühling zieht
erst Mitte Mai und sehr plötzlich ins Land, so daß nur 30 Tage
für die Bestellung zur Verfügung stehen. Im Reich verteilen sich die
Arbeiten auf 70 Tage. Das bedeutet einen Mehrbedarf an Gespannen, Maschinen
und Menschen, der die Erzeugung erheblich vorbelastet. Außerdem liegen
die Erträge von Korn, Kartoffeln und Heu überall unter dem
Reichsdurchschnitt. Denn die Wachstumsdauer beträgt hier nur 188
Tage - in Süddeutschland sind es 288! Der Anbau der heute so
wichtigen Zwischenfrüchte nach der Ernte und vor der Wintersaat ist daher
auch nicht möglich. Etwas ausgeglichen werden diese Nachteile durch die
größere Sonnenscheindauer des Landes. Treuburg hat im Jahre 1686
Stunden Sonne, Königsberg nur 1577, Aachen aber nur 1140. Hierin macht
sich das kontinentale Klima des Landes bemerkbar. Trotz alledem kann die
ostpreußische Landwirtschaft außer [389] der eigenen
Bevölkerung noch drei Millionen in anderen Gauen mit Fleisch und Brot
versorgen, denn es ist ja menschenarmes Land.
Neben dem Fehlen von Kraft- und Rohstoffen zum Aufbau einer Industrie ist es
diese Ungunst des Klimas, die einer Verdichtung der Bevölkerung im
deutschen Nordosten hindernd im Wege steht. So gehört gerade diese von
fremdem Volkstum umschlossene Provinz zu den am dünnsten besiedelten
Teilen des Reiches. Mit einer Dichte von 64 Einwohnern ist noch nicht einmal der
Reichsdurchschnitt erreicht. Trotz großer Geburtenüberschüsse
nimmt die Bevölkerung nicht zu, denn bis zum Jahre 1929 hatte das flache
Land, besonders die Gebiete mit überwiegendem Großgrundbesitz,
eine Abwanderung nach dem Westen des Reiches, die in diesem Jahre sogar die
Höhe von 21 000 Menschen erreichte. Jetzt ist sie endlich zum
Stillstand gekommen, ja 1935 hat sogar erstmalig eine Zuwanderung von 2600
Menschen stattgefunden. Der neue Aufbauplan für Ostpreußen sieht
die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten durch Kleinindustrie und
gewerbliche Unternehmungen - besonders
Holzverarbeitung - auf dem Lande vor, um endgültig den Verlusten
an Menschen einen Riegel vorzuschieben. Fürwahr: die Not
Ostpreußens ist groß und vielgestaltig! Es ist Grenznot und
Rohstoffnot, Wetternot und Absatznot, Verkehrsnot und Siedlungsnot.
"Über der Weichsel drüben, Vaterland, höre uns
an!
Wir sinken wie Pferd und Wagen, versinken in Dünensand!
Recke aus deine Hand, daß sie uns hält, die uns allein halten
kann!
Deutschland, heiliges Land, Vaterland!" (Agnes
Miegel.)
Der Reisende, der den Fahrplan studiert, um in das leider noch so unbekannte,
bedrohte Land jenseits des Korridors zu fahren, stößt verwundert und
mißtrauisch auf eine Unzahl von recht fremd klingenden Namen, die er
fälschlich für polnisch oder litauisch hält. Es sind die alten
Ortsnamen der Preußen, eines baltischen Stammes der indogermanischen
Völkerfamilie, der viel Germanenblut in sich aufgenommen hatte. Zwar
hatten die alten Preußen keine Schriftsprache, aber der Wortschatz ist uns
durch eine Übersetzung des lutherischen Katechismus aus dem
16. Jahrhundert erhalten. Da stößt man also im Fahrplan und
auf der Karte auf merkwürdige
Vor- und Endsilben: Eichmedien (median = Wald), Mehlauken
(lauks = Feld), Galtgarben (Garbis = Berg), Dirschkeim
(Keim = Dorf), Warnicken (Warne = Krähe), Uderwangen
(Udro = Otter) und viele andere. Auch einzelne Wörter haben sich in
der Umgangssprache erhalten. Das für Mädel viel gebrauchte
"Marjell", ebenso das Wort für Wacholder "Kaddick" sind
preußischen Ursprungs. Neben diesen fremd klingenden gibt es eine
Unmenge deutscher Ortsnamen, wie Ludwigswalde, Osterode, Ellerwald, die alle
auf Landgewinnung durch deutsche Siedler hinweisen. Neben und zwischen
diesen beiden aber stehen die großgedruckten Namen der Städte, die
zahlreich auf ‑burg endigen. Das sind die festen Plätze mit den trutzigen
Burgen, von denen aus der deutsche Ritterorden das Land eroberte und besiedelte.
Ein Teil der Geschichte des Landes steht im Fahrplan!
[390] Ein
unaufhörliches Hin und Her kennzeichnet das Schicksal dieses Ostraumes.
Zur älteren Steinzeit war das Land allem Anschein nach noch nicht
besiedelt. In der mittleren erscheinen Fischer und Jäger an den zahlreichen
Flüssen und Seen. In der jüngeren Zeit flutet eine Welle von
langköpfigen Indogermanen von Westen her in das Land, und es beginnt
unter diesen Schnurkeramikern die Umwandlung der Naturlandschaft
Ostpreußens in eine Kulturlandschaft. Damals entstand in diesem Raum
nach Meinung der Forschung die ostbaltische Völkergruppe, zu der die
alten Preußen, Litauer, Kuren und Letten gerechnet werden. Die
Formenwelt der danach erscheinenden Bronzegegenstände ist die der
Lausitzer Kultur der Nordillyrer, die nichts mit slavischen Völkergruppen
zu tun hatten. Vor Beginn unserer Zeitrechnung wanderten dann ostgermanische
Stämme in das Gebiet der Weichsel ein: die Bastarnen, Burgunden und
Wandalen, die so stark auf die eingesessene Bevölkerung wirkten,
daß diese sogar deren Begräbnissitten annahmen. Um das Jahr 1000
hat dann noch ein anderes germanisches Volk in Ostpreußen eine Rolle
gespielt und nordisches Blut in das Land gebracht: die Wikinger. In Wiskiauten,
in der Nähe von Cranz, wo die Beek in das Kurische Haff mündet,
liegt ein Friedhof von über 500 Wikingergräbern, die in ihrem Inhalt
weitgehend mit schwedischen Wikingergräbern am Mälarsee
übereinstimmen. Auch einige religiöse Gebräuche der alten
Preußen weisen deutlich auf Einflüsse skandinavischer
Völkerschaften hin. So sind die alten Preußen, mit denen es der
Orden bei der Eroberung des Landes zu tun bekam, ein Volk gewesen, an dessen
Prägung germanisches Blut entscheidend beteiligt war. Auch ihr
Widerstand gegen die Bekehrung zum Christentum zeigt eine den Slaven
völlig unbekannte Energie.
Als der Deutsche Ritterorden seine Aufgabe im Heiligen Lande verloren
hatte, suchte er sich eine neue im europäischen Osten. Nach einigen
Fehlschlägen in Siebenbürgen verlegte er sein Kraftfeld nach dem
Gestade der Ostsee. Als die deutschen Ordensritter auf den Ruf von Konrad von
Masovien das ihnen von Kaiser und Papst zugesicherte Land jenseits der
Weichsel im Jahre 1231 betraten, da schlug die Geburtsstunde eines neuen
Deutschland. Nicht Landesherrscher haben dieses Gebiet der deutschen Kultur
erschlossen, sondern deutsche Ritter, die den einzigen mittelalterlichen Ritterstaat
nach fester Planung schufen. Sie gaben ihrer Arbeit der Heidenbekehrung auch ein
national-völkisches Gepräge, durch das sie sich von den
religiös-romantischen Abenteuern des Zeitalters der Kreuzzüge
deutlich absetzten. Dieser Staat war im Gegensatz zu den vielen anderen auf
deutschem Boden ein planmäßig gegründeter autonomer Staat,
in dem der Führergedanke entscheidenden Platz hatte. Die geistlichen
Aufgaben innerhalb des Ordens wurden von Priesterbrüdern erfüllt,
aus denen dann die Bischöfe hervorgingen. So gab es hier die sonst im
Mittelalter üblichen Konflikte zwischen Staatsgewalt und Kirche nicht.
Dieser sichere Aufbau des eigenen Hauses, der sich auf einen eigenen
Beamtenapparat stützte, und die Flankendeckung durch die
meerbeherrschende Macht der Hansa sind die Grundlagen für die Erfolge
des deutschen Ritterordens, der von allen seiner Art zuletzt gegründet
wurde. Ihm verdanken wir die Wiedereindeutschung und Landgewinnung im
[391] Nordosten, die
keineswegs den Charakter einer kriegerischen Eroberung und
Unterdrückung hatte. Sonst hätte Herzog Albrecht, der letzte
Hochmeister und der erste Herzog von Preußen, es nicht nötig
gehabt, noch 1545 den lutherischen Katechismus ins Preußische
übersetzen zu lassen!
Das Vordringen der Ritter war durch die Flußläufe der Weichsel und
Alle, des Pregels und durch den Verlauf der Haffküste vorgezeichnet. Ihren
Weg bezeichnen die Burgen, in deren Schutz viele blühende Städte
entstanden. Die ersten Bauwerke des Ordens zeigen noch eine deutliche
Ähnlichkeit mit denen des deutschen Südwestens. Aber die neue und
eigentümliche Aufgabe, einen Bau aufzurichten, der zugleich Festung,
Verwaltungssitz und Kloster sein sollte, brachte bald eigene Formen. Es entstand
ein Vierecksbau mit Ecktürmen, dessen vier Flügel einen
geschlossenen Hof umgeben. Wie die Burgen im Reich, so hatten auch diese
Bauten meist einen Bergfried, der das Gebäude beherrschte und in Not und
Gefahr als Zufluchtsort dienen konnte. Die mit Wehrmauer und Gräben
umringte Vorburg enthielt die Wirtschaftsgebäude. - Zunächst
wurde das Land an der Weichsel in Besitz genommen, dann folgten die
Küste des Haffes und die inneren daran angrenzenden Landschaften. 1243
wird das Bistum Samland gegründet, 1242 wird auch die Burg Memel
schon angelegt, und nach einigen Rückschlägen und
Aufständen werden bis 1283 auch die östlichen Randlandschaften
erreicht. Ihre Sicherung im Osten gegen die Litauer übernimmt die
"Große Wildnis", jenes riesige Waldgebiet, das bis zum
16. Jahrhundert unbesiedelt blieb. Von Tilsit über Insterburg,
Rastenburg, Gerdauen, Hohenstein erstreckt es sich bis nach Osterode. Insgesamt
wurden im 14. Jahrhundert 70 Städte und 1500 Dörfer
gegründet. Den Höhepunkt der Macht erreichte der Orden um 1400.
Aber Polen und Litauen - seit 1386 verbunden - nahmen zu Beginn
des 15. Jahrhunderts das Land Preußen zum ersten Male in die
Zange. Die Niederlage bei Tannenberg 1410 brachte für den Orden, der
durch die Entwicklungen im Reich völlig auf sich gestellt war, den
Zusammenbruch. In den wechselvollen Ereignissen der folgenden Jahrhunderte ist
der deutsche Nordosten immer wieder der Kampfplatz deutscher und polnischer,
protestantischer und katholischer Ansprüche, germanischen und slawischen
Volkstums gewesen. Erst durch die im Jahre 1618 vollzogene staatspolitische
Bindung an Brandenburg-Preußen gewann das Land wieder an Ansehen und
Macht. In den folgenden Jahrhunderten wurde ihm mehrfach neues deutsches Blut
zugeführt. So blieb das Werk des Ordens bestehen, wurde ausgebaut und
erweitert. Die schwarz-weiße Farbe des Ritterschildes blieb die Farbe dieses
Landes; die ragenden Türme der Burgen, Schlösser und Dome sind
die Wahrzeichen seiner Deutschheit. Die Volksabstimmung des Jahres 1920 hat
es all denen gezeigt, die es nicht glaubten oder nicht glauben wollten: der
Ostpreuße ist Deutscher; auch wenn er eine andere Sprache oder Mundart
spricht, bekennt er sich doch in großer Mehrheit nicht nach Osten, sondern
nach Westen.
Wer ist dieser Ostpreuße? Die Geschichte des Landes läßt
vermuten, daß es den Ostpreußen nicht gibt! Denn auf
diesem Boden des deutschen Nordostens trafen sich ja beinahe alle Rassen
Europas. So mannigfaltig wie das [392] Land in seinen
Landschaften, so viel Gesichter kann der Ostpreuße haben, aber nur
eine Gesinnung. Zu den durch Wikinger beeinflußten
Preußen kamen Kolonisten aus Nieder- und Mitteldeutschland und schon
erfahrene Siedler aus den früheren Kolonisationsgebieten des Ostens, das
heißt aus Pommern, Mecklenburg und Schlesien. Nach dem
Zusammenbruch von 1410 strömten dann Masovier und Litauer in das
Land östlich der Wildnis und brachten ostisches und ostbaltisches Rassegut
mit. Im nächsten Jahrhundert kam wieder nordisches und fälisches
Blut mit den holländischen Mennoniten herein. Zu Beginn des
18. Jahrhunderts wütete die Pest im Lande. Da holten
Friedrich I. und Friedrich
Wilhelm I. französische Schweizer
und Hugenotten ins Land und mit ihnen mittelländischen Einfluß.
Dann kamen wieder Einwanderer aus Nassau und der Pfalz, und schließlich
im Jahre 1732 die 17 000 von den Jesuiten vertriebenen Salzburger
Protestanten, für die Freiherr vom Stein in der Gumbinner Hospitalkirche
eine Gedenktafel errichten ließ mit der Inschrift: "Mir neue Söhne!
Euch ein neues Vaterland!" Diese tapferen Dinarier gingen aus dem Reichtum ins
Elend, nur um sich selber die Treue zu halten. Ihnen hat die Provinz sehr viel zu
verdanken. Auch Schotten und Engländer kamen in die Hafenstädte,
und nach Masuren eine russische Sekte der Philipponen. Fürwahr eine
Buntscheckigkeit, wie sie nur in Kolonialländern, in Deutschland kaum
noch einmal zu finden ist!
Die Ostpreußen haben die hellste Augenfarbe, die zweithellste Haarfarbe
Deutschlands. Das ist aber nicht ostbaltischer Einfluß, sondern
nordisch-alpines Blut. Mit ihrer Durchschnittsgröße von fast
1,70 Meter sind sie auch die zweitgrößten deutschen
Menschen. Der Anteil des nordischen Blutes überschreitet den Durchschnitt
des Reiches, der ungefähr 50 Prozent ausmacht. Diese Menschen
haben freilich nicht die Beweglichkeit der Westdeutschen und nicht die
Härte der Norddeutschen, aber der Ostpreuße ist durch eine gute
Mischung des Blutes im Kampf gegen Krankheiten und hartes Klima, durch
Bekennermut und Opfersinn, im Krieg und Frieden, Revolution und Aufbau ein
rassisch wertvoller Teil des Preußentums. Seine Langsamkeit ist
Stärke, und seine Ruhe ist Kraft. Er ist tief verwurzelt in der Landschaft, in
der er aufgewachsen ist. Er ist wortkarg, aber gastfreundlich. Seine gesunde
Nüchternheit und Ehrlichkeit haben ihm oft den Vorwurf der Grobheit
eingebracht, aber gegen solche Anklage antwortet er in kräftigem Platt:
"Wat", schriet de Ostpreuß glik dazwösche,
"du seggst, de Ostpreuße sönd grob?
Wascht do törück dat Wort hier nehme!
Sonst hau ek di öhnt anne Kopp!" (Heinrich
Toball.)
Auch diese seine breite Sprache hat man ihm vorgehalten und im Reiche als roh
und ungeschlacht, ungepflegt und hinterwälderisch verlacht und verachtet.
Aber diese Urteile, die sich meist auf schlechte Vorträge gründen,
treffen nicht, denn keine Sprache kann von dem Mensch getrennt werden, der sie
spricht; sie [393] muß von dem
Lande aus gesehen werden, in dem sie erklingt. Gewiß: sie klingt breit, aber
sie ist gemütlich und urwüchsig gesund; sie hat nichts Geziertes, sie
hat etwas von dem Boden dieses Landes, sie ist offen (wie ihre Vokale!), sie ist
klar und ursprünglich.
Neben der Vielgestaltigkeit der Siedlungsgeschichte Ostpreußens steht die
Vielgestaltigkeit seiner Landschaft, geschaffen von der Eiszeit.
Vor mehreren hunderttausend Jahren war der Boden Norddeutschlands von einem
Eispanzer bedeckt, der sich von Norden her über die
Ostsee - genährt durch viele Niederschläge und bewahrt durch
ein kühles Klima - in einer Höhe von Hunderten von Metern
auf dem Lande lastete. Ganz langsam schob sich dieses Ungetüm
über das Land, verdrängte das Leben, und die Kälte war das
einzige, das Macht hatte. Gewaltige Massen von Schotter und Blöcken
schuf die Frostverwitterung im hohen Norden. Der Gletscher nahm alles mit.
Unterwegs wurden alle Hügel gleichgemacht, tief wurde der Untergrund
durchfurcht. Die Eiszeit war der größte Schuttproduzent, der
Gletscher der transporttüchtigste Spediteur der Erdgeschichte. Keinem
Werkzeug des Menschen vergleichbar, mißhandelte die kristalline Last den
deutschen Boden: sie wühlte und furchte, preßte und
durchpflügte ihn. Schließlich breitete sie die bunte Fracht in einer
Schicht von durchschnittlich 150 Meter Mächtigkeit über das
Land aus: bei langsamem Zurückweichen als
Grundmoräne - so im Norden
Ostpreußens - bei längerem Verweilen der Gletscherzunge an
einer Stelle in den Riesenwällen der Endmoränen, die im
Süden des Landes Hunderte von Metern Höhe erreichen. Meist
verlaufen sie in Ostwestrichtung. Zuweilen stießen auch einzelne Eiszungen
von Norden vor und preßten dabei die Schuttmassen in
Nordsüdrichtung in langen Zügen auf. So die Seeskerhöhe und
die Kernsdorfer Höhe.
Masuren. Das Land.
[305]
Masuren. Die Seen.
|
Masuren. Zwischen diesen beiden Erhebungen spannt sich wie zwischen
zwei Pfosten die bucklige Welt des preußischen Landrückens, ein in
sich viel gegliederter Zug einer eiszeitlichen Endmoräne. In die
Hügel der Aufschüttungslandschaft eingestreut glänzen
zwischen Hochwald, Wiesen und Kornfeldern die 3000 Seen Masurens. In weiten
Mulden und flachen Senken liegen sie wie riesige Pfützen einer eben erst
abgezogenen Sintflut; sie liegen als lange Kettenseen in schmalen steil umuferten
Rinnen, die von Schmelzwasserbächen ausgefurcht wurden; sie liegen als
vereinzelte Kesselseen in Strudellöchern inmitten dunkler Wälder. In
der ganzen Provinz sind es 4 Prozent des Bodens, die von Wasser
eingenommen werden, in den Kreisen Angerburg, Lötzen und Sensburg
sogar 13 und 14 Prozent! Kein deutsches Mittelgebirge kann dem
Wanderer einen solchen Blick bieten, wie den von der Kaiserhöhe bei
Nikolaiken - der Stadt des sagenhaften
"Stinthengstes" - auf die Flächen von Spirding,
Nieder-und Beldahnsee! Noch gewaltiger ist der Eindruck von den großen
blauen Wasserflächen des vielfach zerlappten
Mauer- und Löwentinsees von dem Angerburger Heldenfriedhof aus. Im
Winter gleitet der Eisschlitten auf scharfer Schiene über die weiten vom
Frost kontinentaler Kälte spiegelblank geschlossenen Flächen. Im
Sommer durchfurchen Motorboote von
Angerburg - das ist Aalburg - bis Johannisburg die flachen, weit
ausholenden Grund- [394] moränenseen,
die bis zu 50 Meter tiefen, hochumwaldeten Rinnenseen, in deren
kühlem Wasser die Maräne, der Edelfisch Masurens, lebt. An einem
Paß zwischen den Seen liegt Lötzen mit der Fischerfachschule. Durch
schmale, von Schilf und Binsen umwachsene Kanäle sind die
Wasserflächen miteinander verbunden. Vorbei geht die Fahrt an sauberen
Städten und armen Dörfern, deren strohgedeckte Blockhäuser
still an den Ufern der Seen stehen.
Masuren ist nicht nur das Land des größten deutschen Seengebietes,
sondern auch des größten zusammenhängenden Forstes des
preußischen Staates. An die bucklige
Hügel- und Seenwelt schließt sich im Süden die flache
Kiefernwelt der Johannisburger Heide, ein Rest der "Großen
Wildnis", die sich einst von der Drewenz bis zur Memel hinzog. Fast
hunderttausend Hektar ist dieses Waldgebiet groß. Robert Budzinski, der
echt ostpreußisch trocken-humorvolle "Entdecker Ostpreußens",
hat - wie er behauptet - "52 257 890 613 Bäume"
gezählt, "meistens Kiefern, die ungezählten Wacholderbüsche
nicht eingerechnet". Auch die große
Johannisburg-Ortelsburger Heide ist ein Werk der Eiszeit und ihrer im Eis
gespeicherten und auf deutsches Land losgelassenen Kräfte. Dieselben nach
Süden fließenden Schmelzwasser, die jene Rinnen für viele
Seen schufen, übernahmen dort, wo das Eis seine Macht verloren hatte und
zu Wasser zerrann, die Arbeit, den Schutt der nordischen Länder
möglichst weit nach Süden zu schaffen, allerdings in anderer Form.
Ihre Kraft reichte nicht aus, die schweren Findlinge weiterzurollen. Nur den Sand
spülten sie aus den Schuttmassen heraus und lagerten ihn weiter
südlich in den riesigen Sandflächen der Johannisburger Heide ab.
Auf diesem unfruchtbaren Boden ist auch der Wald verarmt. Hier wachsen nur
Kiefern, die mit ihren hohen, oft leicht gebogenen Stämmen gelbrot in der
Sonne leuchten, und der schlanksäulige, dichtbenadelte Wacholder, der
Kaddick, der aus dem dichten Meer der Adlerfarne oder aus dem niedrigen
Teppich der Beerensträucher herausragt. In zahlreichen
Sägewerken - in Rudcanny, Ortelsburg und Puppe sind die
größten - wird die Johannisburger Kiefer
verarbeitet. - Aber dieses Land kann wohl viele Kiefern ernähren,
aber nicht viele Menschen. Im Kreise Johannisburg sind es 32, im Kreise Neidenburg 34, während der ostpreußische Durchschnitt 64 auf den
Quadratkilometer beträgt. Es wären noch weit weniger, und das Land
wäre dadurch völkisch weniger gesichert, wenn hier wie im Norden
Großgrundbesitz herrschen würde. Hier im Süden hat die
Abwanderung am meisten Verluste gebracht. Es gibt kaum ein Dorf, das nicht
zahlreiche Verwandte in Berlin und im Ruhrgebiet hat. Auch hier sollen jetzt
Sicherungen für die Zukunft geschaffen werden.
Der Gesinnung der Bewohner nach ist dieses Land auch gesichert. Preußen,
Deutsche und Masovier sind hier zu einer Schicksalsgemeinschaft verschmolzen,
die im Jahre 1920 ihre Feuerprobe bestanden hat. Und das unbeschadet des
Masurischen, einer mittelalterlichen, von dem Polnischen ganz deutlich
unterschiedenen Mundart, die hier viel gesprochen wird. Nur ein ganz geringer
Prozentsatz der Fremdsprachigen hat damals gegen Deutschland gestimmt. Der
Masure fühlt sich als Deutscher, wenn er auch die fremde Mundart spricht.
[395] Rassisch zeigt er stark
ostischen Einschlag; er ist beweglich und sangesfreudig, abergläubisch und
farbliebend. Rot, weiß und blau sind seine Farben, die er gern zeigt. Bald
wird aber auch das Masurische verschwunden sein, denn der Prozeß seines
Aussterbens macht schnelle Fortschritte. Unter den alten Leuten sprechen heute
noch ein Fünftel die Mundart, unter den jungen nur noch ein Zwanzigstel.
Der Bestand des Masurischen ist nur eine Frage von Generationen.
Im Gebiete der Wälder und Seen Masurens sind drei große
Schlachten des Weltkrieges gewonnen worden: die Schlacht bei Tannenberg, die
Schlacht an den Masurischen Seen und die Winterschlacht in Masuren. Tausende
von deutschen Kämpfern liegen in dieser Erde bestattet. In Waplitz
zwischen Hohenstein und Neidenburg liegt der größte ostpreußische Heldenfriedhof.
[329]
Ostpreußen. Heldenfriedhof Waplitz.
|
Im Tannenbergdenkmal, dem
Reichsehrenmal bei Hohenstein unweit der Kernsdorfer Höhe, wo
er die Schlacht bei Tannenberg leitete, liegt der unsterbliche Feldmarschall
bestattet in dem Boden des Landes, das er vor der russischen Dampfwalze rettete.
Das ist ein Vermächtnis, das Masuren zu einem heiligen Lande macht, und
Hohenstein mit seinem Backsteindenkmal zu einer Wallfahrtsstätte
für die ganze Nation. Das ist ein Mahnruf aus der Vergangenheit des
Landes.
Das Samland. "Ostpreußen vorgelagert wie ein ungeheurer
Wachtturm ragt das Samland in die Ostsee. Wie an Ketten hängt es an den
langen, schmalen Dünenzügen der Nehrung" (Agnes Miegel).
Allseitig wird dieses fruchtbare Rechteck von Wasser umschlossen. Im Norden
und Westen schlagen die Brecher der Ostsee an seine Küste, im Nordosten
und Südwesten taucht es mit Schilf und Binsen, Erlenbrüchen und
Wiesen langsam aus den Spiegeln der Haffe heraus, im Süden und Osten
sinkt es zu den breiten Tälern von Pregel und Deime ab.
Solche Lage, solche Sicherung, solche Grenzsetzung erzeugen Eigenleben und
Eigengeschichte: Die Ortsnamen zeigen, daß das Samland schon früh
von den alten Preußen geschlossen besiedelt war. Phönizier,
Wikinger und Römer sandten ihre Händler nach Bernstein hierher.
Ein Altertumsforscher hat das Gebiet mit Recht ein "einziges Gräberfeld"
genannt. Auch heute noch spuken hier die Geister der Vergangenheit in
zahlreichen Sagen. Der Galtgarben, die höchste Erhebung des
Alk-Gebirges, soll nach der Sage der Sitz eines samländischen
Königs oder Reiks gewesen sein. Andere berichten von einem Heiligtum
des Ligo, des Gottes des Frühlings und der Freude. Heute ist er der Berg der
Königsberger für Ski und Rodel, Feier und Feuer.
Dem Orden gelang es nur schwer und erst spät, die Samen zu unterwerfen;
997 mußte Adalbert von Prag unweit Fischhausen am Haff sein Leben
lassen. Die Sage berichtet allerdings von einer schnellen, freiwilligen
Unterwerfung der Samen, die sich für verloren hielten, als sie von der
Frömmigkeit und der Genügsamkeit der Ritter erfuhren, die "selbst
in der Nacht zu ihrem Gotte beten" und "in der Wildnis ohne Mühe ihre
Nahrung finden" könnten, weil sie "Kraut (Kohl) äßen wie das
liebe Vieh". Heute ist die wellige Grundmoränenlandschaft mit ihrem
fruchtbaren Boden die Molkerei, die
Korn- und Fleischkammer von Königsberg. Hier im Inneren des Landes
regieren die Werte der Wirtschaft, und der Bauer gestaltet das Gesicht des
Landes.
[308]
Samlandküste. Blick über die Steilküste nach Osten.
|
[396] Anders an der
Küste. An dem schmalen Grenzsaum zweier
Welten - zwischen Erde und Wasser - ist der Mensch klein und
machtlos, die Natur groß und gewaltig. Es mag in deutschen Landen
Küsten geben, die auch auf steilen Ufern dunkle Wälder
tragen - in Pommern und Mecklenburg, es mag
Inseln - Helgoland und Rügen - geben, deren seltsame und
rätselhafte Farben mehr Bewunderung uns
abverlangen - das Steilufer des Samlandes ist packender,
mächtiger, ursprünglicher, denn der große Kampf zwischen
Meer und Wind auf der einen und dem Land, verbündet mit dem
Menschen, auf der anderen Seite ist hier mehr auf unser Auge eingestellt als auf
den Felseninseln, an denen die Brandung weit länger arbeiten muß,
ehe ein Stückchen Erdgeschichte vor uns kurzlebigen Menschen abgerollt
wird. In kilometerlanger Front wird hier der Bau der Halbinsel in einem
Längs- und einem Querschnitt wie in einer Ausstellung echt
ostpreußisch nüchtern und sachlich vor uns aufgedeckt. Bis zu einer
Höhe von 60 Metern ragen die Sande und Kiese, Lehme und Tone
der Eiszeit auf, unterlagert von Schichten des Tertiärs. Brüche und
Faltungen, Quetschungen und Zerreißungen geben von der knetenden und
walzenden Arbeit der Riesenlast des Gletschers anschaulichen Bericht.
Gegen dieses Schichtenbauwerk aus der Vergangenheit sind alle
verfügbaren Kräfte der Gegenwart eingesetzt! Von unten her
unterspült die Brandung in einer Hohlkehle die Steilküste, bis die
Schwerkraft größer ist als der Zusammenhalt der
überhängenden Massen und sie zum Einsturz bringt. Von oben her
machen die Sickerwasser die tonhaltigen Schichten so schwer und gleitwillig,
daß sie in kesselförmigen Abbrüchen staffelförmig
absinken. Auch das in Bächen und kleinen Rinnsalen oberflächlich
abströmende Wasser ist auf der Seite der Angreifer: tiefe malerische
Schluchten reißen sie in das Steilufer ein. Die Gausupschlucht bei
Rauschen, die Wolfsschlucht bei Warnicken und die Dirschkeimerschlucht sind
die schönsten von ihnen. Am Fuße der Steilwand bilden die
abgestürzten Massen wie zum Schutze gegen weitere Zerstörung
zunächst wallförmig dem Meer die Stirn, bis die Wellen von heute
auch dieses Werk der Schwerkraft von gestern aufgearbeitet haben und von
neuem ihre Zerstörungsarbeit beginnen können. Bei weitem am
zähesten wehren sich die Bäume gegen das unabwendbare Schicksal
des Abstürzens. Mit ihrem weitverzweigten Wurzelwerk hängen sie
oft wochenlang über dem Steilhang, während ihre Krone sich schon
längst dem Meere hat zuneigen müssen. Nur der unseren Weiden
ähnliche Sanddorn, der mit seinen dichten Kuppeln von silbergrünem
Blattwerk weite Flächen einnimmt, leistet etwas mehr Widerstand. Selten
stürzt er einzeln ab, meist nur in großen Feldern, die geschlossen als
mächtige Scholle ihre Fahrt in die Tiefe antreten.
Die Fischerdörfer, die sich immer mehr zu Bädern entwickeln, liegen
alle in Schutzlage auf dem hohen Ufer an den Stellen, wo die Breite des Strandes
das Baden ermöglicht und eine Schlucht einen bequemen Weg zum Strande
vorgezeichnet hat. An einigen Stellen - so bei Rauschen, Warnicken und
Brüsterort - hat der Mensch mit künstlichen Mitteln eingreifen
müssen, um dem Meere Einhalt zu gebieten. Lange Buhnen sind ins Meer
vorgeschoben, um eine [397] Verbreiterung des
Strandes zu erreichen. Dämme aus riesigen Betonklötzen sind
gezogen, um die Brandung zu brechen. Aber nur stellenweise und sehr langsam
gelingt die Verteidigung. Wenn im Winter nach Frost sich Tauwetter einstellt und
der Nordost auf die Küste des Samlandes steht, dann sind die steilen
Wände wieder einmal durch den Spaltenfrost sturmreif gemacht, dann
reicht dem Meere die Kraft aus, um wieder eine Schlacht gegen den schwachen
Menschen zu gewinnen. Das sind die Nächte, in denen die Brandung mit
allem spielt: mit Findlingsblöcken und Bäumen, mit Buhnen und
Betonklötzen. Das sind die Nächte, in denen Tausende von
Kubikmetern schwersten Lehmbodens in wenigen Stunden "bewegt" werden!
Beinahe einen halben Meter im Durchschnitt kann hier im Jahre der Landverlust
betragen; denn die Küste des Samlandes ist im Laufe von 6000 Jahren um
etwa 2000 Meter zurückgewichen. Wer vom Brüsterorter
Leuchtturm nach Westen blickt, der sieht bei bewegter See zwei Kilometer
meerwärts eine weiße Brandungslinie parallel zur Küste in
[308]
Samlandküste. Der Zipfelberg bei
Groß-Kuhren.
[309]
Samlandküste. Bernsteinbergwerk.
|
hellem Schaum aufleuchten. Dort lag die Front zwischen Meer und Land vor
einigen tausend Jahren! Vor der Macht solcher Naturgewalten, die Berge
versetzen können, ist der Mensch klein, und seine Bauten sind
jämmerliches Stückwerk! Das ist das Erlebnis des
Samlandes! Nirgend anderswo an der Küste deutscher Meere wird dieser
ungleiche Kampf so offen und vielgestaltig und in einer so langen Schlachtfront
vor unseren Augen ausgekämpft.
Wer von Rauschen aus den Höhenweg nach Brüsterort nimmt,
kommt zunächst durch die hohen Wälder von Warnicken. Weiter
geht es über Groß- und Klein-Kuhren am steilen Ufer mit
gefährlichen Abrißwänden entlang am Zipfelberg vorbei zum
Wachtbudenberg. Von dort lohnt sich ein Rundblick über die See, die unten
feindlich brandet und in der Ferne friedlich in den Himmel übergeht. Von
dort umfaßt der Blick die weite, leicht gewellte Fruchtebene des Samlandes,
von dort stößt das Auge plötzlich an einige ragende
Schornsteine, die völlig unerwartet aus dem Waldsaum aufsteigen, der die
Steilküste begleitet. Das sind die berühmten
Bernsteinwerke von Palmnicken, in denen das "Gold des Samlandes"
gewonnen, gewaschen und sortiert wird. "Man findet den Bernstein, indem man
mit gesenktem Haupt unten am Strand, wo die Wellen ihr ewiges Lied singen,
spazieren geht. Leichter aber erhält man ihn in dem einschlägigen
Geschäfte oben am Strand", so plaudert Robert Budzinski trocken und
frech. Auch heute noch wird der Bernstein, den die Wellen aus der unter dem
Meeresspiegel gelegenen Schicht des sogenannten "blauen Tones" auswaschen,
aus dem Meere gefischt, besonders nach Sturmtagen. Hier hilft die Brandung dem
Menschen einmal! Aber der weitaus größte Teil dieses erstarrten
Harzes einer tertiären Kiefer wird im Tagebau bergmännisch
gewonnen. Die zwei Kilogramm Bernsteine, die in jedem Kubikmeter der blauen
Erde durchschnittlich enthalten sind, werden auf riesigen Rosten durch
Wasserstrahlen von dem schmutzigen Mutterton befreit. Aber nur
20 Prozent der Steine sind für Schmuckstücke verwendbar;
das übrige wird zu Bernsteinkolophonium, Bernsteinöl und
Bernsteinsäure verarbeitet. Auch heute noch ist der goldfarbige Schmuck
sehr begehrt. Wie schon früher, so gehen jährlich große
Mengen nach [398] dem Orient. Besonders
nach Mesopotamien, nach Arabien und Persien in Form von mohammedanischen
Rosenkränzen. In Ägypten werden schwere Ketten als Brautschmuck
getragen, in Indien und Afrika legen viele ihr Vermögen in Bernstein an.
Das samländische Gold geht in alle Erdteile!
Königsberg. Die Bäder des
Samlandes - besonders Cranz, das älteste, das 1816 als
Königliches Ostseebad gegründet wurde, Rauschen und
Palmnicken - gehören so zu Königsberg wie Wannsee zu
Berlin. Der neue Nordbahnhof, der Bäderbahnhof, ist der "Potsdamer
Bahnhof" von Königsberg. Zahlreiche Bürger haben an der
Samlandküste ihre Wochenendhäuser und ihre Villen, denn durch
Bahn und Autostraßen liegt die Küste vor den Toren der Stadt. Auch
nach Südwesten greift sie weit aus: Fischhausen mit seiner wuchtigen
Ordenskirche und Pillau - einstmals der Hafen der kurbrandenburgischen
Flotte, heute des Ostpreußendienstes - sind auch nur eine Art
"Vorort" der Hauptstadt.
Die Stadt selbst bestand ursprünglich aus drei Teilen, die nacheinander
(Altstadt 1286, Löbenicht 1300, Kneiphof 1337) als selbständige
Gemeinwesen mit eigenen Türmen, Mauern und Rathäusern
gegründet wurden. Die ersten Einwanderer der Stadt waren zu
60 Prozent Niedersachsen, und zwar Westfalen; später kamen
Pommern und Mecklenburger, Mitteldeutsche aus Franken, Sachsen und
Schlesien, während Oberdeutschland überhaupt nicht vertreten war.
Durch umfangreichen Handel standen die drei Städte bald in Blüte,
besonders die Altstadt, die schon 1340 der Hansa angehörte. Denn
Königsberg ist nicht nur der Hafen des Pregelgebietes, sondern durch die
Deime auch der Memel und durch die Nogat über das Frische Haff auch ein
Weichselhafen. So erklärt sich, daß diese Stadt, an dem Schnittpunkt
zweier wichtiger Linien, dem breiten Tal des Pregels und der Küstenlinie
gelegen, weit größer geworden ist als ein Hafen, der nur für
Ostpreußen arbeitet. Heute ist es mit 300 000 Einwohnern die
größte deutsche Ostseestadt. Wenn Königsberg auch in
ausgesprochener Randlage entstanden ist, so ist es doch geschichtlich, kulturell
und wirtschaftlich die Hauptstadt des Landes. Das an dem großen
Ostwestwege sehr günstig und landschaftlich so schön gelegene
Allenstein ist durch die Randlage von Königsberg zu einer
kleinen Hauptstadt des Südens geworden. Aber Königsbergs Stellung
ist durch seine Geschichte, durch seinen Handel und seine Universität
unumstritten.
[332]
Wehlau (östlich von Königsberg). Der größte Pferdemarkt Europas.
|
Als Handelshafen hat Königsberg wie alle Städte des deutschen
Ostens durch den Vertrag von Versailles schweren Schaden erlitten. Holz, Flachs
und Roggen waren die Güter, die in seinem Verkehr eine entscheidende
Rolle spielten, weil sie im Hinterlande in großer Menge erzeugt wurden.
Heute sind die politischen Grenzen überall näher an den Hafen
herangerückt, und auch die Zollmauern sind viel höher als vor dem
Kriege. Aber in echter ostdeutscher Zähigkeit hat man sich auf die neue
Lage eingestellt: Der Seekanal, die Fahrrinne durch das Haff, ist auf eine Tiefe
von acht Metern ausgebaggert worden, so daß die größten
Seeschiffe zur Stadt gelangen können. Unterhalb der Altstadt wurden im
breiten Pregeltal große Hafenanlagen geschaffen, die mit [399] langen Kaimauern,
modernen Verladeeinrichtungen und dem größten Getreidesilo des
Kontinents Handel und Schiffahrt anziehen sollen, und das mit Erfolg! Schon im
Jahre 1930 erreichte der Hafen mit 1,8 Millionen Tonnen den
Güterumschlag der Vorkriegszeit, und im Jahre 1933 hatte er bereits
2,1 Millionen erreicht. Im Getreideverkehr, der früher so
blühte, hat Königsberg allerdings noch nicht den Stand der
Friedensjahre erreicht, und auch ein Massengut nimmt heute seinen Weg nicht
mehr über ostpreußische Wasserstraßen und den Pregelhafen:
Durch Vorzugstarife hat der polnische Staat den Holzverkehr nach seinem Hafen
Gdingen gezogen, den es zum größten Holzausfuhrplatz Osteuropas
machen möchte. 1912 kamen bei Schmallenningken am Memelstrom fast
3000 Flöße mit über 70 000 Tonnen Holz über die
Grenze, von dem ein großer Teil den Pregel abwärts nach
Königsberg schwamm - heute sind es kaum 100
Flöße!
[310]
Königsberg (Preußen). Der Außenhafen am Pregel.
|
An den Hafenmauern der inneren Stadt stehen noch die alten Speicher, und vor
diesen schlanken Stapelhäusern, die in ihrem zierenden Fachwerkbau nicht
anders dastehen als in den Fleeten von Hamburg oder an der Mottlau in
Danzig - dieselbe Bauaufgabe und die Hansa geboten hier wie
da - vor diesen malerischen Bauwerken mit ihren alten Giebelkränen
könnte man sich auch heute noch eine Hansakogge, einen Finnlandsegler
oder ein Orlogschiff gut vorstellen! Auch der sechshundertjährige Dom
gehört in diese Welt. Er ist ein Hallenbau von großem
Ausmaße, der von dem ältesten Dom des Ordenslandes in Kulmsee
die zweitürmige Fassade übernahm, die sehr einfach und klar
gegliedert ist. In dem Domchor, in der sogenannten Fürstengruft, ruhen die
Hochmeister des Ordens und der
erste Herzog. Unter den schlanken Pfeilern eines
Anbaues auf der Ostseite ist die letzte Ruhestätte des großen
Genius Ostpreußens Immanuel Kant, des "Herrschers im Reiche der
Vernunft". Das Jahrhundert Kants läßt Königsberg
"geistesgeschichtlich in hellem Lichte erstrahlen". Der gesichtereiche Romantiker E. T. A. Hoffmann
und der Dichter Zacharias Werner sind Söhne der Stadt, Hamann und Herder wirkten zu diesen Zeiten hier. Von
hier erging durch York von Wartenberg im Februar 1813 der Ruf zum Sturm der
Befreiungskriege.
Das Schloß ist eine "Musterkarte der Bauformen vieler Jahrhunderte". Die
ältesten Teile sind der Haberturm und der Nordflügel. Unter Herzog
Albrecht, der sein Ordenskleid hier ablegte, wurde die Ostfront vollendet und der
Südflügel erbaut. Die in der Zeit der Renaissance sonst recht
üppig wuchernde Ornamentik ist hier ziemlich spärlich entwickelt.
Der Markgraf von Ansbach widmete sich dem noch fehlenden Westflügel. Der
Große Kurfürst, der hier die Huldigung der ostpreußischen
Stände erzwang, ließ im Innern einiges ändern.
Friedrich I., der sich an jenem denkwürdigen 18. Januar 1701 in der
Schloßkirche die Krone aufs Haupt setzte, plante einen königlichen
Palastbau. Der Umbau wurde begonnen, aber durch seinen Tod unterbrochen und
nie wieder aufgenommen. Auch das 19. Jahrhundert verewigte sich in dem
Bauwerk, ließ den Nordflügel abreißen und auf dem
Fundament des Kornhauses das Oberlandesgericht erbauen. Gegen die Bauten des
Ordens wirkt das Königsberger Schloß [400] sehr uneinheitlich. Das
Feingefühl, mit dem einige Baumeister in Schlesien es verstanden haben,
alte Bauwerke auszugestalten und in neue Pläne einzubeziehen, fehlt hier
völlig. Ein Sinnbild der vielen Unruhe und Uneinheit, die über dem
Lande jahrhundertelang lagen.
[311]
Königsberg (Preußen). Fischmarkt am Pregel.
|
Robert Budzinski, der es ja wissen muß, nennt als die beiden
"größten Sehenswürdigkeiten der Stadt" die Fischweiber und
das Blutgericht. In der Tat: wer einmal den Klang des unverfälschten
Königsberger Plattdeutsch mit Fischgeruch und Herdrauch der
Kähne aus der Niederung genießen will, der muß zur
Grünen Brücke gehen! Dort sitzen die Fischweiber "seit
Jahrhunderten, zu allen Tages- und Nachtzeiten" und sprechen ihr "angeborenes
uraltes Königsberger Platt. Sonst aber verkaufen sie Flundern, Hechte,
Stinte, Bücklinge und Räucherheringe". - Das Blutgericht ist
ein von einem Salzburger eingerichtetes, von vielen Sagen und Legenden
umranktes Weinlokal im Nordflügel des Schlosses, ein echtes Kind der
Romantik. Hier gibt es den berühmten Königsberger Randmarzipan
allerdings nicht, wohl aber die Nationalgerichte der Stadt: Königsberger
Klops und Königsberger Rinderfleck. Und noch etwas hat die Stadt, was
einzig dasteht: die größte Buchhandlung des Kontinents, Gräfe
und Unzer, das Haus, das hier an der Ostgrenze deutsches Geistesgut
feilhält. Die 1544 gegründete Universität, die Alma mater
Albertina, und der größte deutsche Philosoph, ein
Riesen-Getreidespeicher und die größte deutsche Buchhandlung, das
sind die "Sender" deutscher Arbeit und deutschen Wesens im bedrohten
Osten.
[331]
Kurische Nehrung. Dünen.
[330]
Kurische Nehrung. Gehöft.
|
Die Kurische Nehrung. Durch viel Sand, durch Wasser und das
Verkehrszeichen "Verbot für Kraftfahrzeuge" von der Hauptstadt und dem
übrigen Ostpreußen geschützt und gesichert, liegen die
"Wunder der Kurischen Nehrung", die so eigenartig und groß ist,
"daß man sie eigentlich ebensogut wie Spanien und Italien gesehen haben
muß, wenn einem nicht ein wundervolles Bild in der Seele fehlen soll" (Wilhelm von Humboldt
1809). Man hat das Wanderdünengebiet der
Kurischen Nehrung auch die "Ostpreußische Sahara" genannt. Vielleicht ist
diese Bezeichnung zugkräftig, aber sie kennzeichnet die Eigenart des
Gebietes nur schlecht. Die Wüsten Afrikas dehnen sich in ewiger
Gleichförmigkeit in unendliche Ferne - die Kurische Nehrung ist
eine schmale leuchtende Sandbarre, die sich zwischen zwei blauen
Wasserspiegeln langzieht, deren Ufer nicht sichtbar sind. Auch der viel
gebrauchte Name "Wüste" erweckt falsche Vorstellungen der
Lebensfeindlichkeit und Leblosigkeit. Die Kurische Nehrung ist voller Farben,
voller Formen, voller Leben.
Die Nehrung ist noch gar nicht alt, erst ungefähr 7000 Jahre. Wasser und
Wind zur Strömung vereint haben die an der Küste des Samlandes
freigewordenen Sandmassen nach Osten "versetzt". Dann griff sie der Wind auf
und wehte aus ihnen die höchsten Dünen Europas auf. So wurde die
ehemalige Bucht des Kurischen Haffes abgeriegelt. "Die See will eine glatte Linie
haben." Vorsprünge reißt sie ein, Nehrungshaken baut sie auf.
Hundert Kilometer lang und 400 - 4000 Meter breit ist dieser
Landstreifen, der allein aus Sand besteht und nur bei Sarkau und Rossitten einige
Inseln festeren Lehmbodens als "Stützpfeiler" umschließt.
[401-408=Fotos] [409] Noch
zur Zeit des deutschen Ritterordens war die Nehrung völlig mit Wald
bedeckt und auch dichter besiedelt. Aber Weidewirtschaft und besonders die
Kahlschläge durch die Russen im Siebenjährigen Kriege befreiten
den Sand aus den Wurzelklammern der Gräser, Kräuter und
Bäume, und nicht weniger als 80 Kilometer der Landzunge wurden
dem Winde und seinem Spiel ausgeliefert. Durch Strandhafer und Strandgerste,
durch Meersenf und Platterbse und vor allem durch die dänische
Krüppelkiefer, der man ein Klümpchen Lehm mit in den kargen
Boden gab, sind 35 Kilometer zurückerobert worden. So
können heute Rossitten, Pillkoppen und Nidden als gerettet gelten. Sieben
Nehrungsdörfer aber wurden in der Zwischenzeit durch den unerbittlich
vorwärtsschreitenden Sand verschüttet. Ziegel und Reste von
Geräten, Scherben und Knochen geben davon Kunde, die erschauern
macht. Man muß das Wirken des Windes einmal gesehen haben, wenn man
begreifen will, was für eine unbezwingbare Macht er hat, wenn er die
Düne wandern läßt: Auf der dem Meere zugekehrten flacheren
Seite greift der Sturm den Sand auf, und in einer Höhe von 5 Metern
und mehr ist die Luft dicht mit Millionen von Sandkörnern befrachtet. In
eilendem Zuge trägt er die körnige Last wirbelnd bis auf
60 Meter Höhe - eine größere Höhe duldet
er nicht - und läßt sie dort, wo seine Kraft im Schatten des
selbsterrichteten Bauwerkes erlahmt, wieder fallen. Hier ist der
Böschungswinkel dreißig Grad groß, und herrliche
Rutschpartien lassen sich auf dem Sande machen, dessen lockere Lagerung das
Gleiten wie tausend "Kugellager" fördert, während auf der Luvseite
die Körner so dicht vom Winde zu einem "Sandharsch" gefügt
werden, daß der Wanderer wie auf einer Tenne geht und nicht einsinkt. Vier
bis sechs Meter wandert der Sandwall im Jahre; an der Meeresküste gibt die
Düne eine Fläche frei, an der Haffküste begräbt sie
ebensoviel und schüttet so das Haff ganz langsam zu.
Wer mit dem Haffdampfer sich der Dünenwelt nähert und sieht, wie
sie hinter Erlengebüsch und niedrigen Kiefernwäldern, von
Wolkenschatten überflogen, aus der Ferne langsam auftaucht, wie sie gegen
Himmel und Haff in vielen Farbabstufungen aufleuchtet, der hält die
gelben, braunen und rötlichen Sandflächen für ein ewig
gleichförmiges Meer. Aber wie der Wind das Wasser in Wellenfalten legt
und die Wolken zu Schäfchen formt, so läßt er auch die
Myriaden voll Sandkörnern an seiner Bewegung teilhaben: er prägt
ihnen unzählige kleine Wellenberge auf, die wie ihre großen
Dünenschwestern auch immer wieder vergehen und neu entstehen. Mit
zahllosen kleinen Rippen ist der Sand überzogen. In der Höhe, wo
der Wind größeren Widerstand findet, bleibt seine Arbeit nicht auf
die Oberfläche beschränkt. Da greift er tiefer hinein, höhlt aus
und zerreißt. Und wie der Bildhauer aus seinem ungefügen Stoff
durch Wegnehmen sein Kunstwerk gestaltet, so schafft auch hier der Wind neue
eigenartige Schönheit, indem er zerstört. Die feine Schichtung des
Sandes arbeitet er heraus, und es entstehen Rippen und Borten, Stufen und
Konsolen, Gitter-"Maßwerk", das einem Meister der Gotik alle Ehre
machen würde. Der Wind ist ein seltsamer Gestalter des Sandes: An der
einen Stelle nimmt er etwas fort und schafft wunderbare Kunstwerke, auf der
anderen Seite gibt er etwas ab und verschüttet ganze Dörfer.
[410] Agnes
Miegel, die große Ostpreußin, hat in einer Ballade ein
erschütterndes Bild dieses Geschehens gegeben:
Die Frauen von Nidden.
Die Frauen von Nidden standen am Strand,
Über spähenden Augen die braune Hand,
Und die Boote nahten in wilder Hast,
Schwarze Wimpel flogen züngelnd am Mast.
Die Männer banden die Kähne fest
Und schrieen: "Drüben wütet die Pest,
In der Niedrung von Heydekrug bis Schaaken
Gehen die Leute im Trauerlaken!"
Da sprachen die Frauen: "Es hat nicht not,
Vor unsrer Türe lauert der Tod,
Jeden Tag, den uns Gott gegeben,
Müssen wir ringen um unser Leben.
Die wandernde Düne ist Leides genug,
Gott wird uns verschonen, der uns schlug!"
Doch die Pest ist des Nachts gekommen,
Mit den Elchen über das Haff geschwommen.
Drei Tage lang und drei Nächte lang
Wimmernd im Kirchstuhl die Glocke klang;
Am vierten Morgen still und jach
Ihre Stimme im Leide brach.
Und in dem Dorfe, aus Kate und Haus,
Sieben Frauen schritten heraus,
Sie schritten barfuß und tiefgebückt
In schwarzen Kleidern buntgestickt.
Und sie klommen die steile Düne hinan,
Schuh und Strümpfe legten sie an,
Und sie sprachem "Düne, wir sieben
Sind allein noch übrig geblieben.
Kein Tischler lebt, der den Sarg uns schreint,
Nicht Sohn und nicht Enkel, der uns beweint,
Kein Pfarrer mehr, uns den Kelch zu geben,
Nicht Knecht noch Magd ist mehr unten am Leben.
Nun, weiße Düne, gib wohl acht:
Türe und Tor ist dir aufgemacht,
In unsere Stuben wirst du gehn,
Herd und Hof und Schober verwehn.
[411] Gott vergaß uns,
er ließ uns verderben,
Sein verödetes Haus sollst du erben,
Kreuz und Bibel zum Spielzeug haben,
Nun, Mütterchen, komm, uns begraben!
Schlage uns still ins Leichentuch,
Du unser Segen, einst unser Fluch,
Sieh, wir liegen und warten ganz mit Ruh'" -
und die Düne kam und deckte sie zu.
Nur in Rossitten, der alten Ordensniederlassung, in deren Nähe E. T. A.
Hoffmanns Novelle Das Majorat spielt, ragt eiszeitlicher Lehmboden auf,
und es gedeiht hier Weizen, umgeben von Dünen. Sonst ist das Meer und
das Haff die Nährfläche des Nehrungsbewohners. Auf
[330]
Kurische Nehrung. "Keitelkähne" im Hafen.
|
seetüchtigen Schwertbooten fährt er ins Meer und fischt auf Dorsch,
Flundern und Lachs. Aufs Haff fährt er mit den flachkieligen
"Keitelkähnen", die in ihrer plumpen Form an Wikingerboote erinnern
könnten und mit ihren dunkelbraunen Segeln und dem handgeschnitzten
Wimpel an der Spitze des Mastes ein typisches Nehrungsbild abgeben. Im Winter
wird die mühsame und gefährliche Eisfischerei
betrieben. - Wesentliche Hilfe im Erwerb des täglichen Brotes bringt
den Nehrungsleuten der Fremdenverkehr, der sich in den letzten Jahren stark
entwickelt hat, stellenweise leider auf Kosten der Ursprünglichkeit der
Dörfer. Das landschaftlich bei weitem schönste Nehrungsdorf ist
Nidden, in dem Königin Luise
auf ihrer Flucht übernachtete. Durch
eine unnatürliche Grenzziehung ist es uns heute entrissen. Dasselbe
Schicksal ist Schwarzort zuteil geworden, das landschaftlich nicht so eigenartig ist
wie die anderen Orte der Nehrung. Ein echtes Nehrungsdorf ist das letzte vor der
Grenze, Pillkoppen, in dessen Nähe die besten Fischgründe des Haffs
auf Zander und Bars liegen.
Rossitten nimmt in mehrfacher Beziehung eine Sonderstellung ein. Es
hat einen für Dampfer zugänglichen Hafen, am Fuße der
Predindüne hat es das Segelfliegerlager, es liegt an der breitesten Stelle der
Nehrung, auf der Ackerbau betrieben werden kann, und schließlich hat es
die weltbekannte Vogelwarte. Der geheimnisvolle Zug der Vögel
im Frühjahr und Herbst, den die Schwedin Selma Lagerlöff zum
Vorwand für eines der schönsten Heimatbücher der
Weltliteratur genommen hat, wird hier wissenschaftlich erforscht. Die vielen
Zugvögel, die in den Ostseeprovinzen ihre Brutheimat, in Deutschland und
südlichen Ländern ihre Winterheimat haben, meiden bei ihren
Zügen die weite Wasserfläche des Haffes und
fliegen in dichter Scharung - zuweilen zählt man bis zu einer halben
Million an einem Tage - auf der Nehrung entlang: Finken, Stare und
Ammern, Watvögel und Strandvögel, Raubvögel,
Krähen und viele andere. Bei Ulmenhorst südlich Rossitten werden
sie beobachtet und gezählt, in zahlreichen Stationen beringt. Was zwingt
die Tiere zu diesem Nomadenleben? Wodurch wird der innere Trieb zum Zuge
ausgelöst? Warum bleiben sie nicht für immer in den
wärmeren Ländern? Wie findet die Möve ihren Weg von
Ostpreußen nach Mexiko? Wer steuert die zierliche Bachstelze, die mit
ihrem Blick- [412] feld nur wenige
Kilometer erfassen kann, bis ins Innere von Afrika? Das sind die Geheimnisse,
um die es dem großen Naturfreunde Thienemann ging, als er aus
eigenen Mitteln die Vogelwarte gründete, das sind die Geheimnisse, die
von der Forschung noch lange nicht gelöst
sind. - Der auf der futterarmen Nehrung mit Fleisch nicht reich versehene
und nur an Fisch gewöhnte Bewohner der Nehrung macht sich den
Vogelzug auch zunutze. Von niedrigen Hütten aus, die mit Kiefernreisig
getarnt sind, bedient er ein Fangnetz mit angepflockten Lockkrähen. Die
einfallenden Nebelkrähen werden von dem "Krajebieter" durch
einen Biß in die Schädeldecke nach altem Brauch getötet. Das
sind die "Nehrungstauben", die, mit Zwiebeln eingesalzen, gekocht oder gebraten
mit ihrem Wildgeschmack den Fischern die eintönige Kost aufbessern und
für die Betten die Federn liefern.
[331]
Elche in der Brunst auf der Kurischen Nehrung.
|
Abseits von der uralten Nehrungsstraße, auf der einst Königin Luise
nach Memel floh, fern den allseits blickfreien Wanderdünen, die immer
dem Winde und der Sonne ausgesetzt sind, lebt in den dunklen
Erlenbrüchen der Elch. Sein Stammgebiet liegt jenseits des Haffes
zwischen Labiau und Memel, und auf dem deutschen Anteil der Nehrung sind
höchstens 25 Stücke dieses Wildes zu finden, das mit seinem
wiegenden Gang und seinen mächtigen Schaufeln wie ein Abgesandter aus
einer lange vergangenen Zeit anmutet. Aber hier in diese Welt, in der auch
Fischreiher und Fischadler horsten, in der Zugvögel in solchen Mengen
durch die Lüfte wandern, daß sie den Himmel verdunkeln, hier
gehört er hin.
Die Memelniederung. Jenseits des Kurischen Haffes liegt wieder eine
andere Welt, wieder ein Stück umkämpftes Land. Aber hier
zerstört die Brandung keine Steilküste, hier baut der Wind keine
Dünen auf und verschüttet ganze Dörfer, hier haben die
Flüsse Memel, Ruß und Gilge eine flache große Meeresbucht
mit ihren Sinkstoffen langsam wieder zu Land gemacht, zu Land, das von
Äckern, Wiesen, Sümpfen, Mooren erfüllt ist. Die
Memelniederung ist das größte Deltagebiet Europas. Als riesiges
Dreieck spannt sie sich zwischen Labiau, Memel und Tilsit, Deutschlands
nördlichster Stadt. Keine Stadt ist in ihrem Innern zu finden, aber reiche
Dörfer und große Marktflecken; Skeisgirren hat die
größten Wochenmärkte Ostpreußens und den
größten Ferkelmarkt Deutschlands.
Das Gebiet war schon früh von den alten Preußen besiedelt. Nach
ihnen drang der Ritterorden ein. 1252 gründete er Memel, 1258 stand schon
eines seiner festen Häuser in Labiau. Mit den litauischen Herzögen
lag der Orden lange im Zollkrieg. Nach 1410 wanderten viel Masovier ins Land,
die sich aber völlig mit den Preußen vermischten. Später
kamen holländische Mennoniten. Die Pestjahre des 18. Jahrhunderts
vernichteten viel, aber die einwandernden Salzburger brachten wieder neues Blut
hinein. Heute ist das in seiner Landschaft und Bevölkerung so einheitliche
Gebiet durch die Grenzziehung gegen das Memelland zerrissen.
In Memel suchte das preußische Königspaar in den
unheilvollen Jahren 1807/08 Zuflucht. Die ersten Pläne für die
Aufhebung der Leibeigenschaft, für die allgemeine Wehrpflicht, für
die Gewerbefreiheit, sind hier entstanden. [413] Vor dem
Städtischen Schauspielhause steht der Brunnen mit der lieblichen Figur des
Ännchen von Tharau, der "ostpreußischen
Nationalheiligen" (Budzinski), die der Memeler Simon Dach in dem
samländischen Platt seines Liebesliedes besang, das Herder in seine
"Stimmen der Völker" einreihte und ins Hochdeutsche übertrug,
wodurch es weltbekannt wurde.
Anke van Tharow öß, de mi geföllt,
se öß mihn Lewen, mihn Goot on mihn Gölt.
Anke van Tharow heft wedder eer Hart
bi mi geröchtet än Löw on än Schmart.
Anke van Tharow, mihn Rihkdom, mihn Goot,
du mihne Seele, mihn Fleesch on mihn Bloot.
Anke van Tharow, mihn Licht, mihne Sonn,
min Lewen schluht ök ön dihnet henäm.
Heute braucht man zur Einreise in dieses immer deutsch gewesene Land einen
Sichtvermerk des Staates, der dieses Gebiet 1923 unrechtmäßig an
sich riß.
Für Tilsit und das südöstliche davon gelegene Ragnit
ist die Grenzziehung ein schwerer wirtschaftlicher Nachteil, besonders durch den
Verlust des Handels mit Holz, das früher im Werte von 25 bis
30 Millionen Mark jährlich aus dem Einzugsgebiet der Memel und
seiner Nebenflüsse nach Tilsit
kam. - Ostwärts von Tilsit schließt sich die "Hohe
Niederung" an, ein Land reicher Landwirtschaft mit stattlichen
Wohnhäusern, Scheunen und Stallungen. Es ist eines der storchreichsten
Gebiete Deutschlands. Zahlreiche Wassergräben laufen, wie in Holland,
von Kopfweiden umsäumt durch die fruchtbaren Wiesen, die von
Windmühlen überragt werden. Nur die Türme der Kirchen und
die Schornsteine der Molkereien unterbrechen mit ihren Senkrechten die
weitgespannte grüne Ebene.
Ganz anders das Bild am Ufer des Haffes. Dort, wo einige Flüsse und
Flüßchen münden, sind die großen Fischerdörfer
Nemonien und Gilge, Tawe und Toye, Inse und Karkeln, entstanden, wo der
Boden nur vierzig Zentimeter über den Wasserspiegel hinausragt. Jedes
Dorf ist von Fluß und Straße begleitet, denn diese Siedlungen liegen
im Wasser und auf dem Lande, je nach Wetter und Jahreszeit, und das
Nährgebiet ihrer Bewohner ist bald das Haff und bald die Niederung; bald
fahren sie mit den Keitelkähnen, an deren hohem bewimpelten Mast das
plumpe Vierecksegel flattert, zum Fang hinaus, bald stecken sie ihre roten
Zwiebeln, das "Korn der Haffdörfer", die zusammen mit Gurken und
Kürbissen über den Großen Friedrichsgraben und die Deime
nach Königsberg gebracht und dort von Kähnen und Karren aus
feilgehalten werden. Zuzeiten können sich die Niederungsleute nicht vom
Fleck rühren. Das ist die Zeit, wenn im Winter der "Schacktarp"
einsetzt, wenn das Eis weder Schlitten noch Mensch, noch Boot auf sich duldet.
Dann sind die Holzhäuser mit den bunten Fensterläden und den
Pferdeköpfen am Giebel von aller Welt abgeschlossen, auch vom Arzt und
Briefträger. Beinahe noch schlimmer ist es, wenn [414] das Eis sich in den
Mündungen der Flüsse staut und der Wasserspiegel so hoch steigt,
daß die Bewohner wochenlang auf den Böden ihrer Häuser
leben müssen. Bei starkem Nordost wiederum greift das sonst so friedliche
Haff das Land auf eine ganz besondere Form an: der Sturm drückt die
Eismassen gegen die flache Küste, an der sie sich in wilden Bergen von
zerborstenen Schollen aufstauen. Bis zu zehn Meter hoch können diese
Wälle werden und Netzgestänge, Boote und Häuser bedrohen.
Eine Eiszeit im kleinen!
Zwischen der fruchtbaren Hohen Niederung und dem schmalen Streifen der
Fischerdörfer am Haff liegen große Erlenbrüche und Moore.
Hier ist die eigentliche Heimat des Elches, hier lebt er unbekümmert, hier
findet er genug Nahrung, denn das Land gehört nur ihm. Hier hat der
größte Teil der über tausend Elche Ostpreußens sein
eigentliches Stammgebiet in einer Urlandschaft, die in vielem an den Spreewald
erinnern mag, aber doch viel unheimlicher ist. Hier ist auch der scheue Kranich
noch zu Hause, der Ruf des Uhus hallt zuweilen durch den Erlenwald. Auch der
Schwarzstorch nistet hier, dessen gleißendes Gefieder sich von dem Rot der
Beme und des Schnabels seltsam schön absetzt. Im allgemeinen herrscht
aber unter der Tierwelt eine ausgesprochene Artenarmut, bedingt durch die
einseitigen Boden- und Pflanzenverhältnisse. In diese amphibische Welt hat
der Mensch auch noch nicht einzudringen gewagt, nicht einmal als
Flüchtling.
[312]
Ostpreußen. Das große Moosbruch.
[312]
Ostpreußen. Gehöft im großen Moosbruch.
|
Das ist in den östlicher gelegenen Mooren, die schon etwas höher
liegen, anders. Die Memelniederung umschließt eine ganze Reihe dieser
merkwürdigen Gebilde: das Rukalwener, das Pleiner, das Cranzer, das
Agilla Hochmoor und das größte von ihnen, das Große
Moosbruch, das Mündungsgebiet des Laukne, des Timbers und
Nemonienstromes. Solche Moore entstehen durch stufenweise fortschreitende
Verlandung einer Wasserfläche vom offenen See über das
Flach- zum Zwischen- und Hochmoor. In zehn bis fünfzehn Meter dicken
Schichten liegen hier Faulschlamm, Schilftorf, Waldtorf und Moostorf
übereinander. Eine dunkelbraune bis schwarze Erde, von
Krüppelkiefer und Kümmerbirke bewachsen, trocken und
kreuzotterreich am Rande; federnd und schwippend und weiß von Wollgras
weiter einwärts; ein verkümmerter See, der Rest des blinkenden
Wassers, in der uhrglasförmig durch das Wachstum der Moose
aufgewölbte Mitte. In dieses von den Pflanzen dem Wasser abgerungene
"Hochland" ist der Mensch vom Rande her eingedrungen und hat etwa
2500 Hektar urbar gemacht. Durch Gräben und
Holzröhrendrainage, mit Kali, Kalk und Raupenschlepper ist er dem Moor
zu Leibe gegangen und hat eine ganze Reihe von Siedlungen gegründet; die
ersten schon unter Friedrich
dem Großen. Verbunden sind sie durch
Straßen mit weißleuchtenden Birkenstämmen. Unendlich
schwer ist es, diesem Boden etwas abzugewinnen. Die Pferde bekommen
Holzscheiben unter die Hufe, und die Bauern müssen sich
Gänserümpfe unter die Schuhe binden, damit sie nicht einsinken. Im
Herbst werden die Felder mit Pfählen umgeben zum Schutze der
Muttererde gegen das alles fortreißende Eis. Solchen Schutz sieht man sonst
nur bei Brücken! Die einzige Frucht, die der schwarzbraune Acker
trägt, ist die Kartoffel, die oft in die Furchen gelegt wird, [415] wenn das Wasser noch
in ihnen steht; und im Herbst ersaufen sie zuweilen, wenn das Hochwasser zu
früh kommt. Sonst wird die Ernte zu Schiff nach Königsberg
gebracht, wo die Frühkartoffeln gute Preise bringen. Das auf den Wiesen
gewonnene Heu wird in großen Haufen auf den höher gelegenen
Rändern der Flußläufe und Gräben
aufgereutert - die einzige Erhebung in diesem spiegelflachen Lande; von
dort läßt sich das Heu leicht einfahren, und dort ist es auch vor
Hochwasser geschützt. Der Bauer der Memelniederung hat ein schweres
Los erwählt. Vielleicht ist hier, wo das Wasser so träge
dahinschleicht, wo der Boden so kargen Ertrag gibt, wo die vielen Vögel im
Frühjahr und Herbst ihren Weg über das Land nehmen, das
schwermütige Lied zuerst gesungen worden:
Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah!
Keiner ward mehr gesehn.
Wuchsen einst fünf junge Birken,
schön und schlank am Grabenrand.
Sing, sing, was geschah!
Keine in Blüte stand.
Zogen einst fünf junge Burschen
stolz und kühn zum Kampf hinaus.
Sing, sing, was geschah!
Keiner kehrt nach Haus.
Wuchsen einst fünf junge Mädchen
schön und schlank am Memelstrand.
Sing, sing, was geschah!
Keine den Brautkranz wand.
Das Oberland. Das ist das Land zwischen dem an die Weichsel und
Nogat grenzenden alten Pomesanien und dem höher liegenden Pogesanien
und Ermland. Das ist das seenreiche und waldreiche Gebiet, das von Elbing her
langsam nach Osterode und
[332]
Ostpreußen. Vorlaubenhaus im Oberland.
[333]
Ostpreußen. Der Drewenzsee im Oberland.
|
Deutsch-Eylau aufsteigt, das Land, in dem mitteldeutsche Mundart gesprochen
wird - die Ortsnamen Görlitz, Hirschberg, Mohrungen,
Mühlhausen und Saalfeld sagen genug - und sich mit der Sprache
auch viele Bräuche erhalten haben, wie das Hexenknallen und
Glückgreifen in der Neujahrsnacht, das Schimmelreiten und andere. Auch
durch das Lauben- oder Vorhallenhaus, dessen Verbreitung sich von
Nordschlesien über Lausitz, Posen, Pommern, Westpreußen und das
Weichselgebiet zur Elbinger Höhe und dem Oberland hinzieht,
unterscheidet sich es von den übrigen ostpreußischen
Charakterlandschaften.
Siedlungsgeschichtlich gehört es zu den Gebieten, die am frühesten
vom Orden eingedeutscht worden sind, und zwar von Elbing, Christburg und
Osterode aus. Versailles hat aus dem ursprünglichen Oberland die
südlichsten Teile bei Soldau und Löbau herausgerissen. Sein
natürliches Rückgrat sind zahlreiche lang- [416] gestreckte,
flußähnliche Rinnenseen, die von hohen und dichten
Mischwäldern umrahmt werden, in denen die besten ostpreußischen
Buchen und Eichen geschlagen werden. Mächtige Moorbrücken im
Sorgetal beweisen, daß das Oberland schon in vorgeschichtlicher Zeit durch
Handelswege erschlossen war. Heute sind diese Seen durch eine Reihe von
kleinen Kanälen miteinander verbunden, mit denen sie eine
hundertundfünfundneunzig Kilometer lange Wasserstraße bilden;
davon der Oberländische Kanal 41 Kilometer. Dieser
Schiffahrtsweg hat zwei Sehenswürdigkeiten: der in Verlandung begriffene
Drausensee und die "Geneigten Ebenen", mit deren Hilfe hier an Stelle von
Schleusen die Höhenunterschiede des Fahrwassers überwunden
werden.
Die Fahrt ins Oberland beginnt auf einem schmalen Motorboot in Elbing unter
den Fachwerkspeichern der alten Hansastadt. Auf dem gleichnamigen Fluß
geht es zum Drausensee, hinter dessen Namen wahrscheinlich das
rätselhafte Truso zu vermuten ist - vielleicht eine Stadt, vielleicht ein
ganzer Landstrich, von dem der nordische Seefahrer Wulfstan, der um das Jahr
900 von Schleswig hierher kam, Bericht gibt. Zur Ordenszeit haben auf dem See
sogar Gefechte gegen die Preußen stattgefunden. Damals war er allerdings
viel größer als heute und reichte mit seiner Wasserfläche bis
unter die Tore von Preußisch-Holland und Marienburg. Heute weiß
man nicht recht, ob man ihn noch als See bezeichnen soll. "Nec stabilis terra,
nec navigabilis aqua"! So weit ist seine Verlandung auch in der Mitte schon
vorgeschritten. Es gibt in Deutschland kaum noch einmal eine
Wasserstraße, auf der man mit einem Motorboot mitten durch die Wunder
eines verlandenden Sees für wenig Geld gefahren wird. Ganze Felder von
Mummeln und Seerosen, weite Bestände von Binsen, Rohrkolben, Kalmus
und Wasserliesch. Ab und zu kommen ganze Inseln die Schilfchausseen
abwärts getriftet, die sogenannten "Kampen", die den Weg ins Frische Haff
nehmen. Das schönste aber ist der Vogelreichtum! Taucher, Enten,
Möven brüten hier in zahlreichen, oft seltenen Arten in
unschätzbarer Zahl. Auch Höckerschwäne nisten hier noch,
aber es sind nur zwanzig, die hier dauernd bleiben. (Auf dem Lauknainer See in
Masuren sind es zweihundert!) Im Frühjahr aber, wenn an klaren Tagen das
vergilbte Schilf grell in der Sonne leuchtet, dann sind es nicht zwanzig, sondern
manchmal tausend und mehr, die hier auf dem Durchzuge große Inseln von
leuchtendem Weiß in die dunkelblaue Wasserfläche zaubern. In der
Nähe der Weeskemündung kommen Rohrweihe, Rohrdommel,
Beutelmeise, Blaukehlchen und Karmingimpel vor, und auf den Wiesen auch
Brachvögel. Seeadler und Kornweihe besuchen zuweilen den See. Das ist
das eine Wunder der Fahrt ins Oberland.
[333]
Ostpreußen. Oberländer Kanal. Die geneigte Ebene.
|
Das andere ist Menschenwerk. Es ist der Kanal mit seinem fünf
"Geneigten Ebenen", die ein Elbinger Baurat in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts erbaute, um das wertvolle Holz des Oberlandes über die
106 Meter Höhenunterschied zwischen
Drausen- und Geserichsee auf dem Wasserwege nach Elbing schaffen zu
können. Die nur ein Meter tiefe schmale Wasserstraße wird etwas
breiter und ist plötzlich zu Ende. An einem großen Schwungrade
vorbei fährt das Motorboot auf ein Fahrgestell, das dann auf einem
Schienenwege mit [417] seiner Last auf einer
schiefen Ebene von ungefähr fünfhundert Meter Länge
aufwärts gezogen wird, während gleichzeitig auf dem Nebengeleise
ein ebenso beladenes Fahrzeug abwärts gleitet. Beide Wagen hängen
an einem Seil ohne Ende, das in dem Krafthaus am oberen Ende der Ebene um
eine Trommel läuft, die unter Ausnutzung des Wasserabflusses von einem
riesigen Schaufelrad betrieben wird. So rollen im Oberland Schiffe bis zu
fünfzig Tonnen und fünfundzwanzig Meter Länge über
die Berge! Das gibt es nur noch einmal in der Welt: In Amerika unweit New York
im sogenannten Morriskanal, der dem Erbauer zum Vorbild gedient hat.
Heute ist der Kanal ziemlich verwaist, da ihn die Eisenbahn weitgehend entlastet;
nur noch selten werden lange, schmale Floßtafeln von zusammengeketteten
Holzstämmen abwärts getreidelt. Aber für den
Ostpreußenfahrer zu Fuß und zu Boot gibt es keinen schöneren
Weg in das Innere des Landes als diesen: über den längsten See des
norddeutschen Flachlandes, den 30 Kilometer langen Geserichsee, durch
den inselreichen Bärtingsee mit seinen vielen Reihern auf den Kiefern, in
den man durch den Duzkanal gelangt - das ist ein Tunnel durch tiefen
Buchenwald!
Auch die Städte mit ihren Burgen, Rathäusern und
alten Mauern machen die Fahrt in dieses Land lohnend. Osterode besitzt
in der "Marienklage" der katholischen Kirche eine Skulptur aus der Zeit zwischen
1300 und 1350, die schönste und älteste Pieta östlich der
Weichsel. Nicht weit von dem ebenso schönen Dt. Eylau liegen die
Güter Neudeck und Langenau, die Besitzungen unseres großen
Feldmarschalls, der die asiatischen Heere vernichtete. Und in Schloß
Finkenstein - nicht weit davon - residierte einst kurze Zeit
Napoleon I., dessen Weltherrschaftspläne an der russischen
Kälte zuschanden wurden.
Die Weichselniederung. Durch vier deutsche Städte ist das
Mündungsdelta der Weichsel und ihrer Arme mit vielen Türmen
abgesteckt. Sie liegen jede an einem Fluß. Danzig an der Mottlau, Dirschau
an der Weichsel, Marienburg an der Nogat, Elbing an seinem eigenen Fluß.
Sie liegen jede am Rande einer Erhebung. Danzig am Fuße des
westpreußischen Endmoränenzuges, Dirschau an den
Ausläufern der Tuchler Heide, Marienburg am Westrande der
Hochflächen des Oberlandes, Elbing am Fuße der Höhe, die
nach der Stadt den Namen erhalten hat.
[354]
Elbing. Partie am Hafen.
|
Elbing, die Stadt im Raume zwischen Fluß, Höhe und See
hat eine lange Geschichte. Hier stand das sagenhafte Truso, eine
gotländische Siedlung, hier saß lange vor der Erbauung der
Marienburg der Landmeister des Deutschen Ritterordens, hier war der Sitz des
Oberst-Spittlers und das Haupthospital des Ordens in Preußen. Von
Lübecker Kaufleuten wurde es gegründet und wurde bald der erste
Seehafen des Ordens. Die im 13. Jahrhundert erbaute Marienkirche mit der
bekannten Schreinmadonna gehört zu den ältesten Bauten des
Ordenslandes. Mit Danzig ist Elbing die Stadt des Ordenslandes, in der sich am
reichsten die alten Bürgerhäuser erhalten haben, so in der
Spiering- und Heiligengeistgasse. Auch einige der alten
Beischläge zieren noch diese Häuser; das sind die vor der
Haustüre liegenden terassenartigen Vorbauten, zu denen ein paar Stufen
ein- [418] ladend
emporführen. Ehemals gab es sie an der ganzen deutschen Küste von
Hamburg über Lübeck bis nach Königsberg und Reval. Sie
stammen wohl aus der Zeit um 1600, als Polen mit Danzig in Fehde lag und
Elbing dafür lebhaften Handel mit England treiben konnte. Zahlreiche
Familiennamen und das bekannte Bier "Englisch Brunnen" erinnern heute noch an
die Niederlassung von Engländern. Durch die Schichauwerke, die
Automobilfabrik von Komnick, eine große Zigarrenfabrik, die
Büssingwerke und andere große Unternehmungen wurde Elbing im
19. Jahrhundert zur größten Industriestadt
Ost- und Westpreußens. Infolge des hohen Prozentsatzes von
Arbeiterbevölkerung hatte die Stadt nach dem Kriege unter Arbeitslosigkeit
sehr zu leiden - ein "Breslau" des Nordostens! Heute ist hier Wandel
geschaffen. Die Schichauwerke und alle anderen sind wieder voll
beschäftigt, und über die Elbinger Höhe, die von den
großen Verkehrswegen bisher gemieden wurde, wird die wichtige Strecke
der Reichsautobahn gebaut, die den Freistaat Danzig mit Ostpreußen
verbindet, bei Einlage an der Nogat mit einem mächtigen
Brückenbauwerk beginnt, im Süden der Stadt den Flugplatz streift
und dann bei Groß-Stoboy in 165 Meter Meereshöhe die
Elbinger Höhe überwindet. Fünf Millionen Kubikmeter Erde
müssen hier bewegt, 60 große Brücken zwischen Elbing und
Königsberg errichtet werden! Das ist Hilfe für Elbings Industrie und
seine Arbeiterbevölkerung! Das ist Arbeitsbeschaffung für
Ostpreußen; das ist wirksamer Schutz gegen Abwanderung wertvoller
Menschen!
[334]
Rössel (Ostpreußen).
|
Von der fast 200 Meter hohen Elbinger Höhe reicht der Blick des
Wanderers weit in die Ferne auf alle die Landschaften, die Elbing in großem
Reichtum umschließen: Im Nordosten liegt das an Kreuzen und Kapellen so
reiche Ermland, das bis 1644 ein kleines Fürstentum unter einem
Bischof war, sich später an Polen anlehnte und auf diese Weise als einziger
Teil des Landes eine fast rein katholische Bevölkerung hat, die z. T.
"breslausch" (schlesisch), z. T. "käslausch" (plattdeutsch) spricht.
Mit 65 bis 70 Einwohnern auf den Quadratkilometer ist es das am dichtesten
besiedelte landwirtschaftliche Gebiet der Provinz. Der Grund liegt in einem
ausgesprochenen Vorherrschen (bis zu 80 Prozent!) der Besitzungen
mittlerer Größe (20 - 100 Hektar). Weit bekannt
ist Frauenburg am Haff, seit 1836 der Sitz der Ermländischen
Bischöfe mit dem wuchtigen Langhaus des Domes, der von dicken
Backsteinmauern umgeben ist. Hier schrieb der in Thorn geborene
[307]
Heilsberg (Ostpreußen). Das Schloß.
|
Nikolaus
Kopernikus sein großes Werk "de revolutionibus orbium
coelestium", hier im Dom liegt dieser große Deutsche begraben.
Landeinwärts liegt Heilsberg an der Alle, die Stadt des
Großrundfunksenders und des Weltrekordsegelfliegers Ferdinand Schulz,
der auf ihrem Heldenfriedhof ruht. Aber die Stadt hat noch mehr, was einzig
dasteht: Der trutzige Profanbau des Schlosses, wohlverwahrt im
Mündungswinkel zwischen Alle und Simser; der mit einem hohen Tor von
seltener Wucht verriegelte, auf drei Seiten von Lauben umgebene Markt. Ebenso
wie in Wormditt, Friedland und Marienburg gehören diese Bauten zu der
Gruppe der gegiebelten Laubenhäuser, die sich in einer lockeren Kette von
dem Südwesten Böhmens her (Budweis, Kolin), über
schlesische Gebirgsstädte (Glatz, Schöm- [419] berg, Hirschberg,
Liebenthal) bis in das mitteldeutsche Siedlungsgebiet Ostpreußens
verfolgen lassen.
Nach Norden gleitet der Blick über den mattblauen Wasserspiegel des
Frischen Haffes, den der dünig-bucklige Waldkranz der Nehrung
abschließt. Vor der Zuschüttung durch Sand ist diese
Wasserfläche geschützt durch die Bewaldung, aber am Fuße
der Nehrung bereiten grüne Schilf- und Binsenwälder die
Trockenlegung in langsamer Arbeit vor, die im Kriege einmal geplant war und
durch russische Gefangene zur Ausführung kommen sollte. Am Ende des
langen Küstenwaldes tritt über dem weiten Wiesenmeer der
Niederung bei klaren Tagen der stumpfe Turm der Pfarrkirche zu
St. Marien von Danzig heraus. Die am Fuße der Höhe
gelegenen zahlreichen Ziegeleien mit ihren vielen kleinen Häfen und
eigenen Landungsbrücken am Haff haben heute schwer zu kämpfen,
denn sie lieferten ihre Backsteine fast alle ins Werder oder sogar bis Danzig. Und
dieses Gebiet liegt heute unter polnischer Zollhoheit. Nur die Majolikawerke von
Cadinen - ein Privatbesitz des ehemaligen
Kaisers - haben nie still zu liegen brauchen.
Auch nach Südwesten dehnt sich noch flaches Niederungsland, das an
seinen höchsten Stellen schon im 14. Jahrhundert besiedelt wurde,
das auch heute durch neue Eindeichung und Aufschlickung immer weiter
vergrößert wird. In einer Gesamtlänge von 20 Kilometer
haben die Teiche im Gebiet der Nogat Haffkampen (zwischen
Elbingfluß und Nogat) in den letzten zehn Jahren 6800 Morgen Land
gewonnen und damit das größte Eindeichungswerk des Reiches
geschaffen, das größer ist, als das der Kooge an der Küste von
Schleswig-Holstein. Heute sitzen 90 Siedler auf diesem Lande, die 1935 schon
100 000 Zentner Getreide ernten konnten. Reich und Preußen,
Arbeitsdienst und eine Königsberger Siedlungsgesellschaft haben Wasser,
Sumpf und Eis dieses "Trutz blanke Hans" zu bieten gewagt.
[336]
Marienburg (Westpreußen). Das Deutschordensschloß.
|
Jenseits dieses Neulandes ragt das Symbol deutscher Landgewinnung des Ostens
auf, die Marienburg. Wer von Westen her in das bedrohte Grenzland
gefahren kommt, wer nach reichen Wandertagen dieses deutsche Land mit der
Fülle seiner Bilder verläßt - ob über Danzig und
Pommern, ob über den Korridor und die
Grenzmark - der muß an der Marienburg vorbei. "Gotteshaus und
uneinnehmbare Festung, Speicher und prahlendes Riesengetürm", so nennt
es Jakob Schaffner, der Schweizer. Auf deutschem
Boden - um 800 v. Chr. siedeln am hohen Nogatufer Bastarnen und
Skiren, später Burgunden und schließlich Goten und
Gepiden - gründete der Orden hier 1276 die Stadt mit schlesischen
Siedlern, die den Laubenhausbau mitbrachten. 1309 verlegte der Hochmeister
seinen Sitz von Venedig hierher, wo er bis 1457 blieb. Beim "Opferbrand" nach
der Schlacht von Tannenberg wurde der größte Teil des
Laubenmarktes vernichtet. Im zweiten Thorner Frieden wurde uns das trutzige
Bauwerk für 300 Jahre entrissen, und erst Friedrich der Große
gewann es zurück. Aber in der Zeit des Merkantilismus mußte
solches Gemäuer den nüchternen Zwecken der Wirtschaft dienen:
Die Gastkammer mußte als Futterboden herhalten, und im Palast des
Hochmeisters [420] bauten Heimweber ihre
Stühle auf, bis die Romantik es von dieser fremden "Besatzung" befreite
und ihre Erneuerung anbahnte. - Hindenburg schlug in Marienburg sein
erstes Hauptquartier auf, und jetzt wird auf dem Gelände der "Vorburg" des
Schlosses eine nationalsozialistische Ordensburg für die
zukünftigen Führer der Partei entstehen. Hand in Hand damit wird
die Altstadt von Grund auf umgestaltet, um ihr wieder ein geschlossenes
Gepräge zu geben, das sie im Laufe der
willkürlich-planlosen Baugestaltung der letzten Jahrhunderte verloren
hatte.
Alle künstlerischen Kräfte des Ordens trafen sich in seinem
Haupthaus, dem Schloß, das immer wieder verschönert und
vergrößert wurde. Mit steilen, kahlen Mauern und wuchtigen
Türmen ist es von außen einer Festung gleich. "Gepanzerter
Mönch" ist es einmal genannt worden. Den Innenhof umschließt ein
stiller Kreuzgang. Kalt und nüchtern ist der Schlafsaal, aber heiter und
offen das Remter, in dem durch die feinen Rippen des Sterngewölbes alle
Erdenschwere wie aufgehoben scheint.
[335]
Marienburg (Westpreußen). Deutschordensschloß. Meisters Großer Remter (14. Jahrhundert).
|
In der dämmrigen Marienkapelle
ruhen acht Hochmeister; unter ihnen auch der Retter des Bauwerkes nach der
unglücklichen Schlacht bei Tannenberg, Heinrich von Plauen. Die acht
Meter hohe Riesenmadonna an der Außenseite des Chores hat nach der
Legende so manchen Ansturm von Feinden abgehalten. Aber sie mutet nicht nur
wie ein Schutz an, sondern mehr wie ein "Symbol kühnen
Vorwärtsschreitens des Staates, der einst von der Oder bis zum Peipussee
reichte". Die Ritter schufen in der Marienburg ein so eigenwilliges Bauwerk, das
in Größe und Gestaltungswillen sich mit den größten
Werken dieser Art in Europa messen kann, mit der Alhambra oder dem
Papstschloß zu Avignon.
Etwas weiter südlich - ebenso am Rande der Hochfläche, hoch
über dem breiten Urstromtal der Weichsel - erhebt sich noch eine im
Außenbau besonders schöne Gruppe, das "klassische Beispiel einer
Verschmelzung von Dom und Schloß, Brückengang und
Außenturm", die Kathedrale des ehemaligen Bistums Pomesanien zu
Marienwerder. Der steil sich aufrichtende Dansker steigt aus dem
Weichseltal auf, auf schweren Pfeilern wird der Brückenwehrgang in einer
breiten Horizontale auf das ansteigende Flußufer getragen und
mündet im Hochschloß, an den sich der Dom ansetzt. Die ganze
Gruppe wird von dem Bergfried überragt. Das ist ein Symbol der
"ecclesia militans", ein Denkmal jener Ritter, die zugleich Kreuz und
Schwert tragen und meistern konnten.
[353]
Marienwerder (Westpreußen).
Das Deutsch-Ordensschloß.
|
Die ganze Weichsellinie ist eine
Burgenallee ihrer Glaubenskraft und ihres Deutschtums: Thorn, Culm, Schwetz,
Graudenz, Neuenburg, Marienwerder, Mewe, Marienburg, Dirschau,
Danzig - von allen diesen vielen gehören nur zwei heute zum Reich.
Am Fuße der Anhöhe von Weißenberg, die das
Erinnerungskreuz an den Abstimmungssieg vom Jahre 1920 trägt, steht
eine dreiseitige Säule. Sie trägt das Stichwort für großes
Unrecht und viele Not im deutschen Osten: "Traité de
Versailles".
Die Fahrt von Marienburg über Dirschau nach Danzig führt durch
die weite grüne Weichselniederung. Es ist eine von
Schmelzwasserströmen geschaffene tiefe Senke, die nach der Eiszeit von
den Flüssen mit Sinkstoffen aufgefüllt wurde. [421] In der Mitte ist das
Land höher als an den beiden Rändern bei Elbing und Danzig. Mit
Ausnahme des Südens war der größte Teil zu Beginn der
geschichtlichen Zeit ein ganz unwegsames Gebiet, das von Brüchen,
Auewäldern, versumpften Wiesen und Altwassern eingenommen wurde.
Heute ist es ein großes fruchtbares Landwirtschaftsgebiet, das durch
deutsche Siedler der Natur in langer Arbeit abgerungen wurde. Auf dem schweren
nährstoffreichen Schlickboden gedeihen Weizen, Gerste und
Zuckerrüben hervorragend - daher das dichte Netz der
Kleinbahnen - und große Viehherden weiden auf dem futterreichen
Grünlande, das von zahlreichen Gräben, die mit Kopfweiden
umstanden sind, durchschnitten wird. Nur zwei Städte, Neuteich und
Tiegenhof, sind innerhalb der Niederung entstanden, aber unzählige reiche
Dörfer.
Der Orden hat das Große Werder zwischen Nogat und Weichsel
urbar gemacht: Im 16. und 17. Jahrhundert kamen holländische
Mennoniten in dieses Land, das ihrer Heimat so ähnlich sieht, und siedelten
in den nördlicheren Teilen. Ihre Höfe erbauten sie, wie in den
Niederlanden, auf Wurten, die verstreut aus dem flachen Lande auftauchen. Auf
dem schmalen erhöhten Landstreifen der Nehrung, der sich wie ein
schützender Damm vor das weite fruchtbare Tiefland legt, entstanden auf
der Innenseite eine Reihe von Fischerdörfern, deren Bewohner noch heute
ihr schweres Gewerbe ausüben und nicht geneigt sind, dort arbeiten zu
gehen, wo man "vor jeden Hans und Franz de Mitz aufnehmen muß"!
"Lewa eenmoal heistakopp no Land komme als emma en de Fabrik engespoart
senne." (Lieber einmal kopfüber ans Land geworfen werden, als immer in
der Fabrik eingesperrt sein.) - Im 19. Jahrhundert wurden die
Mündungsarme der Weichsel - Nogat, Elbinger und Danziger
Weichsel - die dem Lande oft im Frühjahr verheerende Hochwasser
brachten, durch Schleusen verschlossen und dem Strome bei Schiewenhorst eine
künstliche Mündung in die offene See gegeben. Die Sicherstellung
des Landes wurde im 20. Jahrhundert durch große
Schöpfwerke vollendet, die in den tiefergelegenen Teilen zu einer Senkung
des Grundwasserspiegels führten.
Für zahlreiche Dörfer der Niederung ist das deutsche Vorlaubenhaus
eine typische Zierde. Auch die von den holländischen Kolonisten
mitgebrachte Turmwindmühle, die ihr Kerngebiet in Niedersachsen hat, ist
hier überall zu finden. Ebenso der zweirädrige Karren, der in ganz
Ostelbien sonst kaum vorkommt, wird hier als Milchwagen verwandt, der mit
dem Melkgeschirr zur Weide und mit den Kannen zur Molkerei klappert. Der
Brummtopf, ein nordseedeutsches Lärminstrument aus einer
Blechbüchse, Schweinsblase und Pferdehaaren, wird von den Jungen in der
Woche vor Weihnachten, wenn sie als Heilige drei Könige von Haus zu
Haus ziehen, jedes Jahr noch geschwungen. Auch das Schmackostern, die Sitte
des Umherziehens am zweiten Osterfeiertag, um mit jungen Birkenruten einander
im Bett zu überraschen, wird hier noch viel geübt:
Ostre, Schmackostre, green Ostre!
Fief Flade, ses Eier, e Stöck Speck!
denn ga öck glieck weg!
[422] Landschaft und
Siedlung, Wirtschaft und Sprache, Gerät und alter
Brauch - sie alle stellen eine Einheit dar, die untrennbar ist. Und dennoch:
dieses Gebiet ist in Fetzen zerrissen worden durch einen Vertrag; nach Meinung
des amerikanischen Geographieprofessors Bowmann, des Ratgebers Wilsons,
sogar nach "ethnographischen Gesichtspunkten"! In diesem Sinne ist der
größere Teil der Niederung mit einem kleinen Teil Höhe im
Hinterland, ebenso deutsch wie der andere, zum Freistaat Danzig gemacht, und
die Elbinger Niederung zum Reich geschlagen worden!
[354]
Danzig. Hafenbild an der Mottlau.
|
Die Freie Stadt Danzig, jenes Staatswesen, das am 15. November 1920
durch die Willkür der Siegerstaaten ins Leben gerufen wurde, ist 2000
Quadratkilometer groß und hat ungefähr 400 000 Einwohner,
davon 300 000 allein in der Stadt Danzig. Eine Verstädterung
ohnegleichen! Das Streben des polnischen Staates zum Meer hat an dieser Stelle
durch den Korridor in die alte nach Osten gerichtete Kraftlinie
der Deutschen eine Bresche gerissen und ein Staatswesen geschaffen, dessen
Bestand durch die einseitigen Naturbedingungen und durch das Zerschneiden
vieler Verkehrslinien sehr in Frage gestellt ist. Mit der Schaffung des Freistaates
ist dem Reiche eine einzigartige deutsche Stadt entrissen worden, eine Stadt mit
einer überragenden Gunst der natürlichen Lage, eine Stadt mit einer
großen Geschichte, eine Stadt, die sich in der Zahl und Schönheit
ihrer Bauwerke an der deutschen Ostseeküste nur mit einer einzigen Stadt
messen kann: mit Lübeck.
Der große deutsche Romantiker, Joseph Freiherr von Eichendorff, der in
den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Amt als katholischer Rat beim
Oberpräsidium in Danzig schweren Herzens antrat, der von dort aus
für die Wiederherstellung der Marienburg so energisch eintrat, dieser
Freund des Waldes, der Bäche, der Mühlen, hat auch diese Stadt
zwischen Wald und Meer sehr bald unendlich geliebt:
Dunkle Giebel, hohe Fenster
Türme tief aus Nebeln sehn,
bleiche Statuen wie Gespenster
lautlos an den Türen stehn.
Träumerisch der Mond drauf scheinet,
dem die Stadt gar wohl gefällt,
als läg zauberhaft versteinet
drunten eine Märchenwelt.
Ringsher durch das tiefe Lauschen,
über alle Häuser weit,
nur des Meeres fernes Rauschen -
wunderbare Einsamkeit.
Und der Türmer wie vor Jahren
singet ein uraltes Lied:
Wolle Gott den Schiffer wahren,
der bei Nacht vorüber zieht.
[423] Nicht inmitten des vom
Wasser immer wieder bedrohten Deltas, nicht an der Mündung des
großen Stromes, wo mächtige Sandanschwemmungen immer wieder
das Eindringen von Schiffen in den Strom hindern würden, sondern in
geschützter Lage am Rande der Höhe, an einem kleinen
Niederungsfluß, der ehemals wohl ein Arm des großen war und heute
mit ihm durch die Tote Weichsel verbunden
ist - in dieser Lage ist die große Hafenstadt entstanden, die eine so
wechselvolle Geschichte erlebt hat bis hinein in die jüngste Vergangenheit.
Nur eines ist immer bestehen geblieben von Anfang an: die Stadt und
ihre Bewohner waren immer deutsch, trotz aller Schicksale, die die
Zeitläufte über sie brachten.
Funde der jüngeren Steinzeit auf den Höhen im Westen der Stadt
beweisen uralte germanische Siedlungen. In dem großen Raume der
Weichselniederung entstand die Kultur der Ostgermanen; von Skandinavien her
kommend, begannen hier um Christi Geburt die Goten ihre weiten Wanderungen.
Vielleicht ist der Name der Stadt auf einen alten germanischen Gaunamen
zurückzuführen. Dort wo die Schidlitzer Beek, die heutige Radaune,
mit ihren Sandablagerungen in dem versumpften Tale der Mottlau einen
höhergelegenen, trockenen Flecken schuf, dort auf dieser Kämpe
bauten kassubische und preußische Fischer ein kleines Dorf, neben dem
sich im 12. Jahrhundert eine Burg der pommerellischen Herzöge
erhob. In ihrem Schutze siedelten sich die ersten ins Land gerufenen deutschen
Mönche, Bauern und Bürger an, und es entstand die Altstadt, das
"Hakelwerk", mit dem unregelmäßigen Straßennetz, heute
bekannt durch das Altstädtische Rathaus und den dreischiffigen
Backsteinbau der Katharinenkirche, deren Renaissanceturm und Glockenspiel von
Danzig nicht fortzudenken sind. Lübische Kaufleute, die schon vor 1178 an
der Stelle des heutigen Langen Marktes eine Siedlung errichtet hatten und hier
Handel trieben, erhielten um 1224 von dem pommerellischen Herzog Swantopolk
deutsches Stadtrecht. Sie gründeten die Rechtsstadt mit dem
regelmäßigen Gitterwerk sich rechtwinklig schneidender
Straßen. Sie enthält die schönsten Bauten Danzigs, geschaffen
fern von der Gunst und dem Geld prachtliebender Könige und
Fürsten, geschaffen allein durch Vorkämpfer des Deutschtums, durch
Ritter und Mönche, Kaufleute und Seefahrer, Bischöfe und
Bürger. "Nec temere, nec timide" steht im Wappen der Stadt:
Weder verwegen noch furchtsam!
Nach dem Aussterben der pommerellischen Herzöge wurde Danzig in den
deutschen Ritterorden eingegliedert und später auch Hansastadt. In dieser
Zeit reichte sein Handel weit über die Ostsee hinaus bis nach England und
Flandern. Um 1400 hatte die Stadt schon ungefähr 16 000
Einwohner. Als der Orden nach 1410 immer mehr verfiel, entzog sie sich mit den
westpreußischen Ständen seiner Herrschaft und schloß sich
dem polnischen Staate als reichsunmittelbare Stadt zum Schutze an, ließ
sich aber die volle wirtschaftliche und rechtliche Selbständigkeit
(Gesetzgebung, Rechtsprechung, Steuer- und Zolleinnahmen,
Münzprägung, Entscheidung über Krieg und Frieden)
verbürgen. So war Danzig über 300 Jahre lang ein Stadtstaat mit
völlig selbständigem Charakter, der dank des weiten Hinterlandes
um 1600 auf der Höhe seiner Blüte stand [424] und bis nach
Frankreich, Spanien, Portugal und Italien Holz und Getreide handelte und von
dort Salz und Weine bezog. Unter den langwierigen Kriegen und Wirren des 16.
und 17. Jahrhunderts, in deren Verlauf Polen und Schweden,
Rußland und Frankreich in das Schicksal der Stadt eingriffen oder
einzugreifen drohten, hatten die Danziger viel zu leiden. Nach der Teilung Polens
von 1793 kam die Stadt zu Preußen, wurde aber 1807 von Napoleon zur
Freien Stadt erklärt. Auf dem Wiener
Kongreß gelang es den
vereinigten Bemühungen Preußens und Englands, Rußland in
seinen Forderungen auf den Besitz der Weichselmündung
zurückzuweisen, so daß nun das Land endgültig mit
Preußen vereinigt wurde. Zunächst hatte es von diesem
glücklichen Ausgang allerdings einige Nachteile, denn durch die
preußisch-russische Grenze wurde es von seinem weiten Hinterland
völlig abgeschnitten und die schutzzöllnerische
Handels- und Verkehrspolitik der Russen sowie die Tarifpolitik Preußens,
die die Häfen des Westens einseitig bevorzugte, führten dahin,
daß Danzig in dieser Zeit von Stettin überflügelt wurde.
Damals verwandte es alle Kraft auf die Hebung und Entwicklung seiner
Industrie - der weithin sichtbare "Hammer" des Kranes der Schichauwerke
erinnert an diese Zeit -, bis der Handelsvertrag von 1905 wieder die
Voraussetzungen für einen Getreidehandel mit Rußland schuf. Der
Weltkrieg und sein Ende brachten wieder eine völlig neue Lage. Jetzt ist
Danzig sogar genötigt, für seine zahlreiche städtische
Bevölkerung Getreide und andere Lebensmittel aus dem Auslande
einzuführen. So schlimm ist es der Stadt noch nie ergangen.
Die Geschichte der Stadt und ihrer Blütezeiten spiegelt sich in ihrem
äußeren Bilde: Eine ganze Reihe gotischer Kirchen und Zweckbauten
stammen aus der Zeit, da die Stadt im späten Mittelalter als Mitglied der
Hansa unter dem Schutze des Ritterordens die erste große Blütezeit
erlebte. Die Schönheit der Straßen der Rechtsstadt mit ihren vielen
vornehmen Bürgerhäusern und den städtischen
Prunkgebäuden geben ein Bild von der zweiten Blütezeit um
1600.
Der gewaltige stumpfe Turm der Marienkirche ist das Wahrzeichen dieser ewig
deutschen Stadt. Wie ein riesiger Finger ragt das Mahnmal der Deutschheit
über ihre Dächer hinaus, sichtbar für jeden, der zu Wasser
oder zu Lande sich ihr nähert. Wie winzige Zwerge werden die
Häuser vor diesem ungefügen Einturm, der abends in der Sonne noch
lange bronzen leuchtet, wenn das Licht in der Tiefe schon der Dämmerung
gewichen ist.
Die Thorner Marienkirche, das Gotteshaus der Franziskaner, ist baulich der
Vorläufer der Danziger. Die Merkmale des spätgotischen
Kirchenbaues: die an Burgen erinnernde große Kahlheit und Schlichtheit
der Außenmauerflächen, die durch das Fehlen der
Strebepfeiler - sie sind hereingezogen - nicht gerade freundlich
wirken, die im Gegensatz dazu stehende bewegte Gliederung der
Dach- und Giebelzone, die Mehrschiffigkeit des Hallenbaues, der stumpfe
Turm - alles dies erfährt in der Danziger Kirche seine höchste
und eigentümlichste Steigerung. Hier wird sichtbar, daß der
Backstein nicht ein bloßer Ersatz ist, sondern der Baustein der großen
schmucklosen Hallenkirchen. Diese Bauten sind fern von
süd- und westdeutscher Phantastik unerreicht einfach, groß, klar,
[425-432=Fotos] [433]
norddeutsch. Die Marienkirche von Danzig ist eine ungeheure Burg Gottes, wie es
sie in den Städten von Calais bis Reval nur einmal gibt.
Die Anfänge der Kirche reichen bis in das Jahr 1240 zurück.
Ursprünglich war sie eine mittelgroße, schlicht gebaute Basilika. Im
Jahre 1379 beginnt der große Umbau, für den ein Meister Hinrich als
Leiter genannt wird. Der Bauplan dieser Kirche übertrifft alles bisher
Gestaltete: Zwei dreischiffige Hallen durchschneiden sich in
regelmäßiger Kreuzform! Das ist ein Baugedanke, der unerhört
kühn ist und seinesgleichen nicht findet! Im Innern steigen schlanke Pfeiler
steil empor und "tauchen in eine Zone des Halbdunkels, in dem phantastische
Geäste von Netzrippen sich von Bogen zu Bogen zerren" (Burmester).
Durch die nach innen gezogenen Strebepfeiler wird ein ununterbrochener Kranz
von Kapellen geschaffen, der den Raum ins Gewaltige erweitert und steigert. Der
Sage nach soll ein Straßburger Meister den Entwurf nach dem Vorbilde der
berühmten Sophienkirche in Konstantinopel entworfen haben. Selbst an
schneeleuchtenden Wintertagen wird es in diesem Raume nie ganz hell. Im
Halbdunkel des Chores schwebt der Hochaltar eines Augsburger Meisters.
Zwischen wuchtigen Pfeilern hängt unter vielen gesenkten Fahnen
unbeweglich - ein seltenes Bild - die Fahne des Kreuzers "Danzig",
der abgeliefert werden mußte. An einer anderen Stelle Memlings
"Jüngstes Gericht", eines der Wunder von Danzig, nicht weit davon das
Grab von Martin Opitz.
Außen steigen die nackten Mauern wie bei einer
Burg steil empor, unterbrochen allein von den riesigen Fenstern, kriegerisch
gekrönt von den lanzenartig aufragenden schlanken Türmen der
Giebel. Der Turm steht da, sicher, fest und natürlich, wie aus dem Boden
gewachsen. Auch die anderen Kirchen Danzigs aus dieser Zeit sind
unvergeßliche Werke, aber "der Raumgedanke der Danziger Marienkirche,
der die beiden monumentalen Probleme des norddeutschen
15. Jahrhunderts vereinigt, Kathedralgrundriß und
hallenmäßige Raumeinheit, muß als die Krönung der
norddeutschen spätesten Gotik, als die letzte ganz große
architektonische Tat des Mittelalters in den germanischen Nordlanden bezeichnet
werden." (Burmester.)
Auch das Krantor mit seinen Ecktürmen, das aus der Häuserreihe der
Langenbrücke so eigenwillig herausragt, ist in derselben Zeit, ist aus
demselben Stoff gewachsen, aber es ist eine andere Welt! Und doch sind es
Werke eines und desselben Geistes, der ein gleich starkes und sicheres
Gefühl für die Ausdrucksformen tiefster Gottessehnsucht und
nüchternster Zweckmäßigkeit hatte. Auch die großen
Stapelhäuser auf der Speicherinsel - einst wurde das Gebiet von
einer sumpfigen Lagune eingenommen - und die Große Mühle
mit ihrem weit heruntergezogenen durch viele Luken gelockerten Dach sind
Wahrzeichen beider: einer blühenden Handelsstadt und einer großen
Baugesinnung.
Das Straßenbild Danzigs hat bei aller Verwandtschaft mit dem anderer
Küstenstädte ein durchaus eigenes Gepräge. Da ist
zunächst der alte Marktplatz mit dem Artushof, der Langemarkt: er liegt als
ein Längsraum in der Verlängerung der Langgasse und führt
unmittelbar auf die Mottlau zu, von der er durch ein Tor abgeriegelt wird. Diese
Eigentümlichkeit wiederholt sich an allen Gassen, die zur Mottlau
führen. In Lübeck münden die Hafenstraßen
unmittel- [434] bar am
Wasser - in Danzig werden sie durch die Tore zu einem geschlossenen
Raumkörper. Die große Mehrheit der Bürgerbauten Danzigs
stammt im Gegensatz zu anderen Städten aus dem 16. und
17. Jahrhundert. Wichtiger aber ist das andere: Die Grundstücke sind
alle weit schmäler und die Gestalt der Häuser entsprechend schlanker
und höher aufgeschossen. Drei, zuweilen nur
zwei - manchmal vier - Fensterachsen haben die Danziger
Renaissancehäuser, während es in Lübeck meistens fünf
und sechs sind. Es ist der Stil der niederländischen Renaissance, der hier
von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts auf dem Seewege
in das Stadtbild Danzigs eindrang, während Polen im Gegensatz dazu unter
dem Einfluß der italienischen Renaissance stand. Die bedeutendste
Schöpfung dieser Zeit ist das Englische Haus in der
Brotbänkengasse, das - entgegen Danziger
Eigentümlichkeit - mit sechs paarweise angeordneten Fenstern von
einem Dresdener Meister für englische Kaufleute erbaut wurde. Die
Schmuckformen der Fassaden sind meist einfach, nur selten üppig. In der
Frauengasse sind noch viele Beischläge erhalten; in Nebenstraßen
haben sie leider fast alle den Forderungen des Verkehrs weichen müssen.
Ab und zu steht auch noch ein alter Baum, eine Rüster oder eine Linde.
Auch das erinnert an Holland, wo man die Landstraße mit ihrer Baumreihe
gern in der Stadt weiterlaufen ließ. Das gotische Rathaus bekam in dieser
Zeit seinen schlanken Helm, der wie eine spitze Nadel neben der stumpfen Wucht
von St. Marien aufragt. Auch die untersetzte Halle der Katharinenkirche in
der Altstadt erhielt 1634 ihre Bekrönung. Das Zeughaus ist ebenfalls
damals erbaut; es stammt von dem Holländer Antony von Obbergen, der
1586 nach Danzig kam und hier sehr stark den Einfluß der
holländischen Baukunst förderte.
[355]
Danzig. Dielenecke und Treppenhaus
eines Patrizierhauses.
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Das Rokoko hat der Stadt nur wenige Bauwerke geschenkt. Es war die Zeit, da
durch die schwedisch-polnischen Kriege der Handel darniederlag. Nur das Haus
des alten Danziger Handelsherren Johann Uphagen in der Langgasse, erbaut
1775-1779 von Johann Benjamin Dreyer, läßt dieses
versunkene Jahrhundert aus dem Schein bleichender Seiden vor uns erstehen. Das
war zu derselben Zeit, da Daniel Chodowiecki
seine feinen Stiche über die
Reise von Berlin nach Danzig schuf. Einige Jahre später schenkte Johanna
Schopenhauer auf einem der Patrizierhöfe zwischen Danzig und Oliva Danzigs größtem Sohn
das Leben. So schön und echt alles in
dem Uphagenhaus ist, so spürt man doch, daß "der Name fehlt, der es
hätte unvergänglich machen können". (Bäte.) Das viel
bescheidenere Frankfurter Goethehaus wirkt viel kräftiger und
überzeugender.
Zwischen Danzig und Zoppot, dem modernen Seebad, liegt das heute zu Danzig
eingemeindete Oliva, eingebettet in ein waldreiches Tal, überragt
von Höhen, die an Thüringen erinnern, mit einem weiten Blick auf
die See. Alexander von Humboldt
hat Oliva den drittschönsten Ort der
Welt genannt. Hier wurde im Jahre 1178 von Kolbatz bei Stettin aus das
Zisterzienserkloster Oliva gegründet, die erste Mönchsiedlung im
deutschen Osten, der erste Backsteinbau im Ordenslande. Hier erlebte Eichendorff
sein Schloß Dürande, hier wurde 1660 der Friede zu Oliva
geschlossen, der die Ordensländer zu Brandenburg brachte, hier wurde der
alte Abtsgarten zu einem der schönsten Schloßgärten [435] mit seltenem
Baumbestand ausgestaltet, in dem hohe Lindenhecken und ein langgestreckter
Teich den ungefähr drei Kilometer entferntliegenden Wasserspiegel der
Ostsee in echter Rokokolaune bis unter den Zaun des Gartens heranzaubern. Im
Schloß selbst ist das Danziger Heimatmuseum untergebracht.
Gegenüber dem "Paradies" und der "Flüstergrotte" liegt vor den
schmalen hohen Fenstern einer alten Orangerie mit gebrochenem Dach ein selten
schöner Steingarten, in dem Felsenpflanzen aus allen Gebirgen und
Ländern der Erde von einem Kenner gehegt werden,
der - Wissenschaftler und Künstler
zugleich - in langer Lebensarbeit dieses einzigartige Kleinod schuf.
Und wie sieht es heute in Danzigs Wirtschaft aus? Im Hafen, in den Kontoren der
Kaufleute, bei den Reedereien, auf den Werften?
Als Danzig durch den Vertrag von Versailles vom Reiche getrennt wurde, um
Polen einen freien Ausgang zum Meere zu sichern, war man in Danzig in
großer Sorge. Was wird aus dem Hafen und dem Handel werden?
Zunächst tröstete man die Schwarzseher mit dem Hinweis darauf,
daß Danzig nunmehr wieder in den Besitz seines großen
natürlichen Hinterlandes kommen würde, das in der Zeit von 1454
bis 1793 die Grundlage für Blüte und Reichtum war. In der Tat: Der
Handel Danzigs nahm bald einen gewaltigen Aufschwung, besonders seit 1926,
dem Jahre des englischen Kohlenarbeiterstreiks, der für Polen einen sehr
guten Absatz der oberschlesischen Kohle und damit die Eroberung wichtiger
Märkte im Ostseegebiet brachte. Der Güterumschlag, der in Danzig
vor dem Kriege etwa zwei Millionen Tonnen jährlich betragen hatte, wuchs
im Jahre 1931 auf über acht Millionen Tonnen.
Aber diese Zahl gibt ein Trugbild in zweifacher Beziehung: Während vor
dem Kriege der Umschlag im Danziger Hafen zu einem großen Teile aus
hochwertigen Gütern bestanden hatte, so waren es jetzt nur billige
Massengüter, wie vor allem Kohle, Erze, Schrott, und diese
Massengüter, an denen weniger zu verdienen ist, werden heute nicht mal in
Danzig gehandelt! Die polnischen Exportsyndikate sorgen dafür, daß
jeder Zwischenhandel möglichst weitgehend ausgeschaltet ist, und so ist es
dazu gekommen, daß Danzig aus einem
Handels- und Stapelplatz zu einem Transitplatz herabgesunken ist. Zur Zeit der
Blüte Danzigs war es anders. Da war der Stapelzwang in
unumschränkter Geltung. Da durfte keine Ware durch Danzig
geführt werden, ohne zum Verkauf feilgehalten zu werden, da durfte kein
Fremder mit einem anderen ohne Vermittlung des heimischen Kaufmannes ein
Geschäft abschließen! Das ist heute anders: der Danziger Kaufmann
ist nur noch der schlecht bezahlte Pförtner Polens!
Aber nicht genug damit! Das Jahr 1932 brachte für den Hafen eine weitere
Wendung zum Schlimmen. Der Güterumschlag über Danzig fiel auf
5,5 Millionen Tonnen, im Jahre 1933 auf 5,4, 1935 auf 5,1,1936 auf 5,6.
Und das alles trotzdem Danzig inzwischen unter großen Opfern seinen
Hafen durch den Ausbau der Holzlagerplätze, durch den Bau eines
Massengutbeckens mit modernsten Erzverladebrücken und
Umschlagseinrichtungen für Kohle um nicht weniger als sechs Millionen
Tonnen auf insgesamt 15 Millionen Tonnen jährlicher
Leistungsfähigkeit gesteigert hatte. Was war denn geschehen? Blockade?
Ein Krieg? [436] Sanktionen? Nichts
von alledem! Nur ein Nachbarhafen war im Laufe weniger
Jahre - unterstützt durch Staat und französische
Banken - so groß und stark geworden, daß er Danzig
überflügelte: Gdynia, das ehemalige kleine deutsche
Fischerdorf Gdingen, heute der größte Hafen der Ostsee, das
"Hamburg Polens", mit einem Umschlag von 7,7 Millionen Tonnen im
Jahre 1936. Im Eilzugstempo waren hier Hafen, Stadt und Handelsflotte erbaut,
mit dem Hinterlande verbunden durch den Schienenweg nach den
oberschlesischen Bergwerken, auf der durch Tarifvergünstigungen die
Kohle billiger an die Ostsee gelangt als auf dem Wasserwege über die Oder
nach Stettin. So war Danzig, die alte Handelsstadt, ins Hintertreffen gekommen,
geschlagen durch ein früher kaum beachtetes Fischerdorf, das
plötzlich 100 000 Einwohner hatte.
Ob das immer so bleiben wird? Vielleicht nicht! Einmal wird Danzig immer
wieder darauf hinweisen können, daß es ja vom Reiche getrennt
wurde, um für Polen als Hafen zu dienen, daß ihm ferner im Vertrag
von Versailles eine möglichst weitgehende Ausnutzung des Hafens
zugesichert ist. Es ist auch fraglich, ob ein Land mit 4000 Kilometern
Landgrenze und nur 100 Kilometern Seegrenze auf die Dauer drei Viertel
seines Warenverkehrs über die Seegrenze wird leiten können, ob ein
Land, das von Ost-West-Verkehrslinien durchzogen wird, auf die Dauer sich
einseitig auf einen Nord-Süd-Verkehr verlegen kann, besonders dann, wenn
zu Deutschland wieder normale Handelsbeziehungen bestehen. Das sind
Schicksalsfragen für Danzig. Auf seiner Seite ist das Recht und vor allem
die Gunst der Lage an einem Strom, der weit in das Hinterland führt und
heute nicht einmal reguliert ist. Auf der anderen Seite ist die Macht eines jungen
Staates, der um Geltung und Gedeihen ringt, reiche Geldgeber hat und aus
außergewöhnlichen Ereignissen der Politik Nutzen ziehen konnte. Es
ist ein Glück für beide Häfen, daß man in Gdingen und
in Danzig gleich einsichtsvoll ist: Im Januar des Jahres 1937 ist ein
Übereinkommen erzielt worden, nach dem beide Häfen von beiden
Seiten aus zollpolitisch und hafentechnisch völlig gleich behandelt werden
sollen.
Danzigs Schicksal ist beschlossen in das Schicksal des Deutschen Ostens. Wir
wollen das Land zwischen Memel und Weichsel nicht vergessen, das Land der
Wälder und Seen, der Dome und der festen Schlösser, der Haffe und
der Nehrungen. Wir wollen es lieben und an seine Unvergänglichkeit
glauben wie seine große Dichterin:
"Wenn in Deines Werdens Kreislauf einging die Hülle, die ich aus ihnen
und Dir empfing - heimkehren wird in die Klarheit über Dir,
höher als das Flugzeug Deiner jungen Söhne, höher als Storch
und Seeadler im Frühlingslicht werde ich steigen. Niederblicken werden ich
auf Dich, geliebtestes Land. Grün wie ein buntes Tuch wirst Du unten
liegen, gehalten an den Zipfeln von Memel und
Danzig - Namen, wie Lerchenlied noch einmal herhallen. Aus grüner
Weidewiese, aus grünen Feldern und dunklen Forsten, von lehmigem
Hügel, aus roter Stadt, von blitzendem Hafen und blauem See wird das
Arbeitslied Deiner Kinder aufsteigen wie Bienensummen. In Meeresbläue,
im Schoß der Niederung liegst Du, blickst auf zu dem weißen Gefirn
über mir, das mich auftrinkt - Heimat, geliebtes Kind meines
Herzens - immer und ewig!" (Agnes Miegel.)
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