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[Bd. 1 S. 503]
Nikolaus Kopernikus, 1473 - 1543, von Robert
Henseling

Nikolaus Kopernikus.
Nikolaus Kopernikus (Koppernik).
Gemälde von unbekanntem Künstler.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 82.]
Kein anderes wissenschaftliches Buch, das eine neue Lehre verkündete, hat so tiefe und so weitreichende Wirkungen angebahnt wie des Nikolaus Kopernikus Werk von den Kreisbewegungen der Weltkörper (De revolutionibus). Als Achtundsechzigjähriger erst gab Kopernikus sein Werk aus der Hand, damit Freunde den Druck betreuten. Als Sterbender empfing er das Buch; es war am 24. Mai des Jahres 1543.

Kopernikus hat eine Vorrede geschrieben, die an den Papst Paul III. gerichtet ist. Darin sagt er: er habe die Darstellung der neuen Lehre nicht nur neun Jahre lang zurückgehalten – wie es Horaz für das Ausreifen eines Werkes forderte –, sondern mehr als dreifach so lange. Kopernikus erklärt sein Zögern. Er behauptet, daß der tägliche Umschwung des Himmels ein Schein sei, der durch die Umdrehung der Erde hervorgerufen wird, und daß der Jahreslauf der Sonne die Folge davon sei, daß die Erde um die Sonne läuft; schließlich behauptete er, daß auch die anderen Wandelsterne die Sonne umkreisen. Das alles widerspreche nicht nur dem Augenschein, sondern scheinbar auch dem gesunden Menschenverstand, und eine solche Lehre müsse all denen übel in den Ohren klingen, die die Erde für die ruhende Weltmitte halten und der Ansicht sind, dies werde durch den Glauben vieler Jahrhunderte als unstreitig wahr erwiesen. Ihm, Kopernikus, gehe es wie den Pythagoreern: er scheue davor zurück, dem Spott der Unverständigen Wahrheiten preiszugeben, die die Frucht heiligen Forscherernstes seien. Aber das Drängen der Freunde habe ihn schließlich bewogen, dennoch hervorzutreten. Die neue Lehre werde den Astronomen ihre Arbeit erleichtern. Sie werde auch dazu beitragen, die Länge des Jahres und des Monats genau zu bestimmen; so helfe die neue Lehre auch zur Lösung einer Aufgabe mit, die der Kirche damals schon seit langem dringlich war: zur sicheren Ordnung der Festzeiten durch die endgültige Verbesserung des Kalenders.

Auch über den Anlaß und die Entwicklung seiner Arbeit spricht sich Kopernikus in der Vorrede aus. Die Sternforscher der Zeit seien über die Grundlagen ihrer Wissenschaft untereinander uneins. Ihre Rechnungen stimmten schlecht zum wirklichen Lauf der Gestirne. Betrachte man die einzelnen Teile ihrer Arbeit, so treffe man auf ein Bemühen, mit höchst verwickelten, ausgeklügelten Annahmen jeder einzelnen Erscheinung am Himmel für sich gesondert gerecht zu werden. Etwas ganz Unleidliches ergebe sich aber, sobald man aus alledem ein Bild vom [504] Gesamtbau der Welt gewinnen wolle, die doch als ein Ganzes um unsertwillen vom besten und gesetzmäßigsten aller Baumeister gefügt worden sei. Kopernikus gebraucht ein Gleichnis: Es geht den Sternforschern so, als wenn jemand ein Menschenbildnis machen wollte, dazu aber Bilder von Händen, Füßen, Kopf und den übrigen Gliedern benutzte, die einzeln betrachtet alle sehr schön sind, die aber an ganz verschiedenen Orten gezeichnet worden sind und durchaus nicht im richtigen Verhältnis zu ein und demselben Körper stehen. Dabei käme eine arge Mißgestalt heraus statt eines Menschenbildes.

Nichts anderes als dieser Zustand der Sternforschung, so erklärt Kopernikus, habe ihn bewogen, nunmehr emsig nachzuforschen, ob nicht schon wissenschaftliche Lehren ausgesprochen worden seien, die die Bewegungen der Weltkörper anders erklären, als es die herrschenden Schulmeinungen tun. Bei mehreren Gelehrten des Altertums habe er die Ansicht gefunden, daß sich die Erde bewegt. So habe auch er sich das Recht genommen, von dieser Annahme auszugehen. Mit vielen und lange fortgesetzten Bemühungen sei es ihm dann gelungen, auf Grund dieser Annahme das wahre Bild von der allgemeinen Verfassung des Weltbaues zu gewinnen. Es sei ein Bild, in dem kein einzelner Teil anders gestaltet werden könne, ohne daß das wohlgeordnete Gefüge des Ganzen zerfalle. Er zweifle nicht, daß geistreiche und gelehrte Sachkenner bei gründlicher Prüfung seinen klaren Beweisen zustimmen würden. Dummdreiste Schwätzer aber, die etwa auf Grund falsch gedeuteter Bibelstellen ihn angreifen sollten, verachte er.


Kopernikus wird die Vorrede im Jahre 1541 geschrieben haben. Er galt zu jener Zeit schon als einer der scharfsinnigsten Astronomen, und die Hauptgedanken seines neuen Weltbildes waren unter den Gelehrten längst bekannt geworden. Zu denen, die sich über den Umsturz der alten Weltansicht entrüsteten, gehörten damals namentlich die Führer des Protestantismus. Melanchthon schrieb im Herbste jenes selben Jahres 1541 in einem Briefe: einsichtige Regierungen sollten gegen derartige geistige Zügellosigkeit einschreiten. In Luthers Tischreden begegnen wir der Äußerung: "Es gehet jetzt also: Wer da will klug sein, der muß ihm etwas eigenes machen, das muß das Allerbeste sein, wie er's machet. Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren! Aber wie die Heilige Schrift anzeigt, so hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht das Erdreich." In Elbing, wo der Protestantismus zeitig Fuß gefaßt hatte, ist um 1531 herum die neue Lehre des ermländischen Domherrn Kopernikus, der im benachbarten Frauenburg lebte, bei einem Fastnachtsumzug öffentlich verspottet worden.

Drei Einwände waren es, die von Melanchthon und den übrigen Gegnern der Kopernikanischen Lehre immer wieder geltend gemacht wurden: Alle Tage könne man sich durch den Augenschein davon überzeugen, daß der Himmel und die Gestirne sich bewegen, die Erde aber feststehe. Tausend und nochmals tausend [505] Jahre lang hätten denn auch alle Männer der Wissenschaft an dieser Wahrheit festgehalten. Etwas anders zu behaupten, stehe obendrein in Widerspruch zu den Lehren der Heiligen Schrift.

Man kann die Geschichte menschlicher Erkenntnis und menschlicher Gesittung als einen unaufhörlichen Befreiungskampf auffassen, in dem zwei Gegner sehr mächtig sind: der ungeprüfte Sinnenschein, den wir so gern uns einleuchten lassen und der den Menschen doch beständig in verhängnisvolle Irrtümer über die Welt, über die andern und über sich selbst verstrickt – und die Scheinautoritäten, hinter denen unsere Feigheit, Faulheit und andere Schwäche Versteck suchen und deren Machtanspruch sich nur auf träge Gewöhnung oder irrenden Glauben stützt. Was Kopernikus leistete, ist einer der mächtigsten Schläge, die in diesem Befreiungskampfe jemals von einem einzelnen geführt worden sind. Es wäre aber falsch, zu glauben, daß die Wucht dieses Schlages sich in den nahezu vier Jahrhunderten seit dem Erscheinen des Buches De revolutionibus bereits völlig ausgewirkt hätte.

Sicherlich gibt es niemanden mehr, der in der Kopernikanischen Lehre eine Gefahr für frommen Glauben erblickt. Das Werk des Kopernikus wird seit dem Jahre 1835 auch nicht mehr in der Liste der verbotenen Bücher genannt, in die es aufgenommen worden war, als die römische Kirche im Frühjahr 1616, in den Tagen Galileis, die Kopernikanische Lehre für schriftwidrig erklärt hatte, bis sie verbessert worden wäre. Mit Zweifeln an der Drehung und Bewegung der Erde plagen sich heute höchstens noch schrullenhafte Sonderlinge. Aber ist es nicht so, daß wir alle sozusagen noch vorkopernikanisch leben? Oder haben wir wirklich aufgehört, die Erde und uns selbst für die Mitte der Welt zu halten, um die sich alles dreht?

Wir glauben ja zu wissen, daß es anders ist, kämen freilich in Verlegenheit, sollten wir die Kugelgestalt der Erde, ihre Drehung und Bewegung einem Zweifler beweisen. Die Erde als eine frei im Weltraum schwebende Kugel und als einen unbedeutenden Begleiter der Sonne zu denken, die Sonne als Stern unter unzähligen anderen Sternen aufzufassen, das geht auch heute noch über die Fassungskraft der meisten Zeitgenossen hinaus. Man läßt sich gefallen, daß es in den Schulen so gelehrt wird. Im übrigen denkt man nicht daran. Welchen Anlaß hätte man auch dazu?

Das Eigentliche aber liegt jenseits des bloßen schulmäßigen Verstehens, ist auch zum Glück nicht durchaus abhängig von ihm. Weltgefühl und Selbstgefühl, Frömmigkeit und Sittlichkeit des Menschen müssen sich wandeln, wenn er allen Ernstes aufhört, den Sternenhimmel für die bloße Umgebung der Erde zu halten und sich selbst für den Herrscher im Weltmittelpunkt – wie es alle Menschheit vor Kopernikus getan hat. Kopernikus war die entscheidende Persönlichkeit, die auf der Wende zwischen zwei Abschnitten der menschlichen Geschichte stand. Die Menschen nach ihm sehen sich auf einem bescheideneren Platze im Weltgebäude und im Weltplan als die Menschen vor ihm. Der Mensch, dem es beliebt, die Erde "Welt" zu nennen, sieht sich nun abgelöst vom Ankergrunde der Weltallsmitte, [506] sieht seine Wohnstätte als ein Schifflein auf den Wogen ungewisser Unendlichkeit treiben. Es gibt für ihn keinen durchaus ruhenden Ort in der Welt mehr, auf den sich alles Bewegen bezöge, das Oben und Unten, Himmel und Hölle. So bricht ihm allmählich auch alte Glaubensform. Er wird eigene Wurzeln in die Tiefe strecken müssen. Es wird mehr Mut und mehr Selbstverantwortung von ihm gefordert werden. Eine neue Demut erwartet ihn, tiefere Schau in das Dunkel des Wunders Welt, eine neue Brüderlichkeit im Angesicht eines Weltenurhebers, den im Räumlichen aller Himmel zu suchen sich das Gemüt des Frommen nun endgültig versagen muß.


Der größte unter den Vorläufern des Kopernikus, Aristarch von Samos, hat schon eintausendachthundert Jahre vor Kopernikus die klare Überzeugung gehabt, daß die Erde sich um ihre Achse dreht und die Sonne umkreist. Sein Zeitgenosse, der fromme Philosoph Kleanthes, war darüber so entrüstet, daß er öffentlich gegen die Gottlosigkeit auftrat, die "den heiligen Herd des Weltalls verrücke". Schon seit dem fünften Jahrhundert vor Christus haben griechische Denker Versuche gemacht, sich vom Sinnentrug des geozentrischen Weltbildes (das die Erde als Weltmitte annimmt) freizumachen. Wenn der heliozentrische Gedanke (daß die Erde und die Wandelsterne um die Sonne kreisen) nicht durchdrang und schließlich völlig vergessen wurde, so lag das hauptsächlich an der Bedeutung, die die Lehren des Aristoteles gewonnen haben. Aristoteles meinte, die Erde müsse notwendig die Mitte der Welt einnehmen, denn sie bestehe aus den schwersten Grundstoffen. Dauernde kreisförmige Bewegung sei an irdischen Stoffen nirgends wahrzunehmen, deshalb könne auch der Erde keine kreisförmige Bewegung zukommen.

Im zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung schuf der Alexandriner Ptolemaios ein großes Lehrbuch, das die gesamte Himmelskunde seiner Zeit umfaßte. Es ist die "Große Zusammenstellung", deren griechischer Name in der arabischen Verstümmelung Almagest im Abendland gebräuchlich geworden ist. Dieses Lehrbuch hat als eine Art wissenschaftliche Bibel bis auf die Tage Kopernikus' und Keplers die Sternkunde beherrscht, fast anderthalb Jahrtausende lang. Nur ein so starker, in sich selbst gefestigter Geist wie der des Kopernikus konnte es wagen, vom Gedanken der doppelten Erdbewegung aus ein Werk zu schaffen, das den Almagest seinem ganzen Umfange nach ersetzen und beseitigen sollte und dies auch zu leisten vermochte.

Völlig im Sinne der Aristotelischen Philosophie erklärt Ptolemaios: Obgleich die Sonne, der Mond und die Wandelsterne bei ihren Umläufen an unserem Himmel mancherlei kleine und auch sehr beträchtliche Abweichungen von der stetigen Kreisbewegung zeigen, so muß man doch von der Voraussetzung ausgehen, daß alle diese Bewegungen nur aus gleichförmigem Fortschreiten in Kreisen zustande kommen, "weil nur diese Bewegungen der Natur der göttlichen Wesen entsprechen". [507] Die kugelförmige Erde, obwohl winzig gegenüber der Sphäre (der Kugelschale) des obersten Himmels (der die Fixsterne trägt), ist dennoch ihrer Natur nach der ruhende Mittelpunkt der Welt; eine Drehung kann der Erde unmöglich zugeschrieben werden, weil dann ihr festes Gefüge sich auflösen müßte und ihre Teile in die Weite der Welt hinausgeschleudert werden würden.

Nikolaus Kopernikus.
[512a]      Nikolaus Kopernikus.
Gemälde von Tobias Stimmer
an der astronomischen Uhr
des Straßburger Münsters.

[Bildquelle: Meyer & Wanner, Straßburg.]
Kopernikus erwidert: Mit welchem Recht dürfen wir von vornherein die unbedingte Behauptung aufstellen, daß gerade der Erde als Weltkörper nicht kreisförmige Bewegungen von Natur und somit ein für allemal innewohnen? Und wenn schon das Gefüge der Erde den täglichen Umschwung nicht sollte ertragen können, wieviel weniger dürften wir dann für möglich halten, daß das unermeßliche Himmelsgewölbe in der gleichen Frist, also mit ungeheuer viel schnellerer Bewegung seiner Teile, kreisen kann, ohne zerrissen zu werden?

Wie in den Grundannahmen, so in allen Einzelheiten stellt Kopernikus die Denkfehler und die Schwächen der überkommenen Lehre ins Licht. Glied um Glied schließt sich die Kette seiner Begründungen aneinander, wieso seine Annahmen ungleich wahrscheinlicher und einfacher sind und zu einem harmonischeren Gesamtbild der Welt führen: daß die kugelförmige Erde sich um ihre Achse dreht und so die Erscheinung eines stetigen täglichen Umschwungs aller Himmelskörper hervorruft – daß die Erdachse mit ihren Bewegungen auch jene kleinen Verschiebungen am Sternenhimmel erzeugt, die man das Rückschreiten des Frühlingspunktes (die Präzession) nennt – daß der Umlauf der Erde um die Sonne es ist, der im scheinbaren Lauf aller anderen Wandelsterne die auffälligen Unterbrechungen des Fortschreitens (die Rückläufigkeiten) bewirkt – daß die Wandelsterne gleich der Erde ihre Bahnen um die Sonne beschreiben – daß man aus den Wirkungen des Erdumlaufs auf den Anblick der Planetenbahnen, das heißt aus den Winkelbeträgen der Rückläufigkeit, berechnen kann, wie groß die Bahnen der einzelnen Wandelsterne im Vergleich zur Erdbahn sind – daß man bei allen Ortsmessungen am Himmel von den Fixsternen ausgehen müsse, als Maß der Zeit aber die ewig gleiche tägliche Kreisschwingung des Erdballs zu benutzen habe.

Das Buch des Kopernikus läßt keine Lücke im Aufbau der Gedanken offen. Manchen Kunstgriff des Rechenhandwerks weiß Kopernikus im Fortgang der Arbeit selbständig zu verbessern. Die Darstellung bezwingt. Es ist kein Wort zu viel und keines zu wenig. Die Redeweise ist ganz und gar sachlich. Sie hat keinen Überschwang. Von der Aufblähung mit großen Worten und übersteigerten Gefühlen und Urteilen – die damals üblich war – hält sie sich ganz frei. Aber die streng gebändigte Leidenschaft des unbestechlichen Wahrheitssuchers erfüllt sie mit einer edlen Wärme.


Die Lehre des Ptolemaios war in jahrhundertelanger Entwicklung aus jener Vorstellung der Pythagoreer hervorgegangen: daß die Bewegungen der Gestirne [508] in himmlischen Sphären (Kugelschalen) erfolgen, die, kristallgleich durchsichtig, um die Erde kreisen. Der Kern seiner astronomischen Bewegungslehre läßt sich vereinfachend so beschreiben: Der obersten Sphäre (dem Fixsternhimmel) ist der tägliche Umschwung eigentümlich. Dieser Umschwung überträgt sich auf alle anderen Sphären. Die Bewegungen der Wandelsterne sind aus gleichförmigen Kreisbewegungen zusammengesetzt. Jeder Planet hat einen Laufkreis (Epizykel) und einen Leitkreis (Deferenten). Die jedem Planeten zugehörende Kugelschale ist, gleichsam von ihrer Innenwand zu ihrer Außenwand, dick genug, daß der Laufkreis im Raum dieser Schalendicke oder Schalenbreite Platz hat; der Leitkreis aber umspannt, in der Planetenschale liegend, deren ganzen Umfang. Während der Planet beständig im Laufkreise wandert, wird der Laufkreis durch seinen Mittelpunkt auf dem tragenden Kreise um die ganze Sphäre herumgeführt. Die zusammengesetzte Kreisbewegung des Planeten, die auf solche Weise zustande kommt, kann man sich mit einem Vergleich deutlich machen: Ein Rad werde in einem Kreise umgetrieben; ein Punkt des Radreifens, dem Planeten entsprechend, beschreibt dann einen Weg, der aus dem Zusammenwirken zweier Kreisbewegungen entsteht, nämlich der Bewegung um die Radnabe und der Bewegung um den Mittelpunkt der Radbahn. Um den Vergleich auf die Planetenbahnen zu übertragen, muß man sich das Rad flachliegend denken, so daß seine Ebene mit der Ebene des Kreises, der den Radmittelpunkt weiterführt, nahezu zusammenfällt.

Je genauer die Bewegungen des Mondes und der anderen Gestirne am Himmel gemessen wurden, desto schwieriger wurde es, sie mit einem Bewegungsgefüge solcher Art zu beschreiben. Schon Ptolemaios konnte mit einem einfachen Kreispaar für jeden Planeten nicht auskommen. Neben anderen Hilfsannahmen mußte er namentlich weitere, kleinere Laufkreise ersinnen, für die jeweils der nächst größere Laufkreis die Rolle eines Leitkreises spielte. Es ergab sich, nach Ptolemaios' eigenen Worten, ein "überaus verworrenes Ineinandergreifen von Umschwüngen". Außerdem mußte Ptolemaios nach dem Beispiel seines großen Vorläufers Hipparch annehmen, daß die Mittelpunkte der Leitkreise keineswegs mit dem Ort der Erde zusammenfallen, sondern daß die Erde mehr oder minder weit von diesen verschiedenen Mittelpunkten entfernt stehe (exzentrisch sei). Im Laufe der Jahrhunderte mußten sich die Astronomen entschließen, immer neue kleine Hilfskreise in das Bewegungswerk dieser Lehre einzuschalten. Aber dennoch wollte die Lehre (die Theorie) und die Vorausberechnung mit ihr nicht zur Beobachtung und zur Wirklichkeit stimmen. Nicht einmal mit der Festlegung des Sonnenjahres, geschweige des verwickelten Mondlaufes kam man so weit zurecht, wie es das Lebensbedürfnis, ein dauernd zuverlässiger Jahres- und Festkalender, erfordert hätte.

So hat denn schon mancher tüchtige Astronom vor und neben Kopernikus gezweifelt, ob man je mit der Ptolemäischen Lehre völlig zurechtkommen werde. Ein Streit kam hinzu. Um 1500 hatten die Humanisten gerade begonnen, in der [509] gelehrten Welt die Kenntnis der unverfälschten Schriften des griechischen Altertums zu verbreiten; man hatte sie bis dahin höchstens in lateinischen Übertragungen aus dem Arabischen, arg verdorben, gekannt. Nun wurde man auf einen Widerspruch zwischen der Lehre des Ptolemaios und der des Aristoteles aufmerksam. Aristoteles aber war im Mittelalter eine kirchlich geheiligte Autorität geworden – so sehr, daß Lehrer an Hochschulen noch bis gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts auf die Philosophie des Aristoteles vereidigt wurden, ehe sie die Lehrerlaubnis erhielten. Aristoteles hatte behauptet, daß die Erde selbst den Mittelpunkt der himmlischen Kreisbewegungen bilden müsse; seit Ptolemaios aber war eine exzentrische Stellung der Erde angenommen worden. So hub ein Streit zwischen den ptolemäisch und den rein aristotelisch Gläubigen an.

Das ist der Zustand der astronomischen Wissenschaft und der Widerstreit der Ansichten gewesen, als Kopernikus heranwuchs. Daraus entnahm auch er den Anlaß zu zweifeln. Aber er wurde der erste, der nicht in Zweifeln befangen blieb, sondern ein klares Nein fand. Und er war es, der ohne viel Aufhebens, in stiller Selbstverständlichkeit, den Entschluß durchführte, den sein Jahrhundert als ungeheuerlich, als tollkühn-vermessen, wenn nicht als ruchlos empfinden mußte, den Entschluß, an die Stelle eines jahrtausendalten wissenschaftlichen Glaubens eine neue wissenschaftliche Wahrheit zu setzen.

Es ging freilich auch bei Kopernikus nicht ganz ohne Hilfskreise nach Art der alten Laufkreise (Epizykeln) ab. Und Kopernikus, in aristotelischem Denken erzogen, vermochte sich dem Bann der philosophisch-religiösen Vorstellung nicht zu entziehen: daß der Vollkommenheit des göttlichen Himmels nur gleichförmige Bewegungen in Kreisen gemäß seien. Auch war es für ihn noch unmöglich, über ein meisterliches Wahrscheinlichmachen hinaus zu schlüssigen, unwiderleglichen Beweisen zu gelangen. Offenbar ist er sich, bei aller Festigkeit seiner wissenschaftlichen Überzeugung, der Mängel in dieser Hinsicht auch durchaus bewußt gewesen. In überlegener Beherrschung seines schwierigen Forschungsfeldes erkannte er die ihm gesteckten Grenzen. Er wußte, daß erst aus vielen neuen, verfeinerten Beobachtungen des Gestirnlaufs – wie sie zwei Menschenalter nach ihm Tycho Brahe gewann – weitere Erkenntnisse hervorgehen könnten. Seinem Schüler Rheticus gegenüber beklagte er, daß seine Lage so viel ungünstiger war als die des Ptolemaios. Der hatte weit zurückliegende gute Beobachtungen des Hipparch, des Timocharis und des Menelaus verwerten können. In den Jahrhunderten vor Kopernikus aber, das ganze Mittelalter hindurch, war die astronomische Beobachtungskunst völlig vernachlässigt worden. Man vertraute blindlings den Lehren der Alten. An ihrer Autorität zu zweifeln, wäre Frevel gewesen. Kopernikus wehrte auch dem Ungestüm des Rheticus, der aus den Beobachtungen gern mehr abgeleitet hätte, als sie ihrem Genauigkeitsgrade nach hergeben konnten. Die Genauigkeit der Beobachtungsangaben des Ptolemaios überschätzte Kopernikus allerdings. So kam er zu falschen Annahmen über unregelmäßige Veränderlichkeit [510] zweier wichtiger astronomischer Größen, der Neigung der Erdachse zur Erdbahn und des "Rückschreitens" (der Präzession). Seine eigene astronomische Beobachtungstätigkeit war nicht sehr ausgiebig, das Klima seines Hauptwohnsitzes Frauenburg auch sehr ungünstig dafür. Sein Beobachtungsgerät war sehr einfach, von ihm selbst angefertigt.

Es mindert die Größe des Kopernikus nicht, daß er einzelne aristotelische Vorurteile beibehielt und daß er Entscheidendes zur Sicherung und zum Beweis der neuen Weltansicht den Späteren, Kepler, Galilei und Newton, überlassen mußte.


Die Zeitverhältnisse und die persönlichen Lebensumstände des Kopernikus waren der Entfaltung eines zur Selbständigkeit veranlagten Geistes günstig. Die kühnen Entdeckungsfahrten auf dem vermeintlichen Westweg nach Indien belebten und weiteten das irdische Blickfeld. Der junge Buchdruck beschwingte den geistigen Austausch. Mannigfache Strebungen suchten das bequeme Hangen am Alten zu überwinden. Von Männern wie Erasmus und Reuchlin ging jugendlich frischer Antrieb aus, den geistigen und künstlerischen Kräften des Altertums unmittelbar gegenüberzutreten. Ein ungeahnt reiches und tiefes, dabei quellstarkes Leben tat sich da auf. Freilich strömte daneben auch verführende Verworfenheit des Spätaltertums in das Denken und Leben der Zeit ein; und begieriger als je schöpften Weise und Toren aus den trügerischen Erkenntnisquellen des verhängnisvollsten Menschheitswahnes, der Astrologie. Im kirchlichen Leben taten leidenschaftliche, auf Säuberung gerichtete Spannungen hervor. Verweltlichung und Käuflichkeit waren allgemein geworden, und die schlimmste Fäulnis drang von oben her vor; in die italienische Studienzeit des Kopernikus fielen die schändlichen Regierungsjahre eines Rodrigo Borgia als Papst Alexander VI., in seinen reifen Mannesjahren sah er das Werden der lutherischen Reformation.

In dem von deutschen Kolonisten gegründeten Thorn geboren, wuchs Kopernikus in einem Siedlungslande auf, in dem Deutsche und Polen vielfältig um den Vorrang wetteiferten und stritten. Von der Lebensmitte an war das ostpreußische Ermland seine Heimat, ein kirchliches Gebiet, das zwischen vier kämpfenden Gruppen eingekeilt und mit ihnen mannigfach verwoben war: der polnischen Landeshoheit, dem um seinen Bestand kämpfenden Deutschen Orden, den auf ihre Vorrechte eifersüchtigen reichsfreien Städten des Gebiets und den um Sonderrechte und Deutschtum besorgten Landstädten (dem eingesessenen Adel). In die aus diesen Verhältnissen entstehenden Wirren hatte Kopernikus oft mitverantwortlich einzugreifen.

Kopernikus kam aus begüterter Familie. Jede Bildungsmöglichkeit der Zeit stand ihm offen. Äußerlich war sein Leben vollkommen gesichert. Er konnte das von Pflichten nicht sehr beschwerte, fast edelmännische Leben eines Domherrn [511] (Kanonikus) eines reichen Domstifts führen. Der Ansporn der "heiligen Armut" – wie sich Kepler einmal, abseits seiner bittern Klagen über Nöte, ausdrückt – trieb ihn nicht voran. Aber Kopernikus erlag der Verführung zu geistiger Bequemlichkeit nicht.


Nikolaus Kopernikus' Vater (und wohl schon der Großvater) verdankte seine Wohlhabenheit Waren- und Geldgeschäften auf Grund weitreichender und bedeutender Verbindungen. Er war von Krakau, das damals noch eine vorwiegend deutsche Stadt war, zu einer Zeit nach dem rein deutschen Thorn ausgewandert, als die Deutschen Krakaus wachsender Bedrängnis durch die Polen ausgesetzt waren. Der Familienname wurde, auch vom Astronomen, in der Regel Coppernic, Koppernigk und ähnlich geschrieben (als Gelehrtenname: Coppernicus, später Copernicus). Der Name deutet darauf hin, daß die Familie, dem allgemeinen deutschen Siedlungszuge ostwärts folgend, aus dem mittelschlesischen Ort Köppernig (Kreis Neiße) nach Krakau gekommen ist. Nach den eingehenden Untersuchungen Leopold Prowes und namentlich Georg Benders ist sicher, daß ein anderer Ursprung nicht in Frage kommt, ferner: daß der Ort zu der Zeit, als es üblich wurde, Familiennamen nach dem Namen des Heimatortes zu bilden, schon seit langem rein deutsch war. Der Ursprung des Dorfes Köppernig freilich ist unbekannt, der Name ist sicher polnisch (er hängt seiner Bedeutung nach mit "Fenchel" zusammen): Koprnih. Die Familie Koppernik verwendet ihn aber stets in ganz unpolnischer, deutscher Schreib- und Sprechweise. Kopernikus hat auch, soweit er sich nicht der lateinischen Gelehrten- und Kirchensprache bediente, nur deutsch geschrieben: in Briefen und einem größeren Gutachten über das Münzwesen. Er war als Studierender in Bologna Mitglied der deutschen Landsmannschaft, obwohl dort auch eine polnische bestand. Anzeichen dafür, daß er sich je als Pole gefühlt hätte, lassen sich nicht nachweisen. Nur an einen Deutschen und deutsch Fühlenden konnte ein Brief gerichtet werden wie jenes Schreiben des Freundes Johannes Scultetus an Kopernikus zu einer Zeit, als dieser die Verwaltung Allensteins und seine Verteidigung gegen drohende Belagerung durch den Deutschen Orden zu leiten hatte; Scultetus ermahnte Kopernikus, bei der Wahl eines neuen Schloßhauptmanns nur ja vorsichtig zu sein, keinesfalls einen Polen zu nehmen und am besten gar keinen Polen ins Schloß einzulassen.

Gleichwohl feiern die Polen Kopernikus als den Ihren.

Auch für die mütterliche Familie nehmen die Polen zu Unrecht polnische Herkunft an. Die Mutter, Barbara, gehörte der wohl aus dem deutschen Westen ebenfalls über Schlesien nach Thorn gelangten und hier hoch angesehenen Familie Watzelrode (Watzenrode) an. Vielleicht war die Großmutter Kopernikus' mütterlicherseits, Käthe verwitwete Peckau, polnischen Geblüts. Aber auch diese Annahme polnischer Forscher hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich.

[512] Über Kopernikus' Leben und persönliche Schicksale haben sich nur spärliche Mitteilungen erhalten. Erst einige Menschenalter nach seinem Tode wurde offenbar, was er in seinem Werke der Menschheit gegeben hatte. Als dann Gassendi (1654) die erste ausführlichere Lebensbeschreibung versuchte, konnte er sich nur an ziemlich spärliche Unterlagen halten, von denen Wesentliches seitdem ganz verlorengegangen ist. Was in neuer Zeit aus Archiven zu Tage gefördert worden ist, sind fast nur Notizen, aus denen ziemlich allgemeine und nicht immer sichere Folgerungen abzuleiten sind.

Kopernikus wurde zu Thorn als jüngstes von vier Geschwistern am 19. Februar 1473 geboren. Mit zehn Jahren verlor er den Vater. Der Oheim Lukas Watzelrode, nachmals Bischof von Ermland, betreute den Bildungsgang Nikolaus' und seines Bruders Andreas.

Achtzehnjährig bezog Nikolaus Kopernikus die Jagellonen-Hochschule zu Krakau, die damals in hoher Blüte stand und weit über tausend Studierende gehabt haben soll. In Krakau, der Heimatstadt des Vaters, wo ihm noch Verwandte lebten, hat Kopernikus vom Herbst 1491 bis zum Frühjahr 1495 der sogenannten Artistenfakultät angehört (in der die allgemeinen Wissenschaften, die "freien Künste" gelehrt wurden). Hier wird er die Grundlage für seine vortreffliche Beherrschung der lateinischen Sprache gewonnen haben. Sicher haben sich ihm bereits hier die entscheidenden Zweifel an der herrschenden astronomischen Lehre herausgebildet. Er hatte ausgezeichnete Lehrer in der Mathematik: Johannes von Glogau, Michael von Breslau, vor allem aber Albert Brudzewski. Den vollständigen Almagest wird er erst viel später in die Hand bekommen haben, zunächst haben ihm die Lehrbücher des Sacrobosco, Peurbachs und Müllers von Königsberg i. Pr. (Regiomontanus) die Kenntnis der Ptolemäischen Lehre vermittelt. Brudzewski wird ihn mit den ersten Zweiflern bekannt gemacht haben: Alfons X. von Kastilien, Oresmius, Albert von Sachsen, Nikolaus von Kues, dem Aristoteliker Averroës. Brudzewski selbst wies namentlich auf die Unstimmigkeiten in der Lehre von den Bewegungen des Mondes hin; und am stärksten wird seine Anschauung von der unendlichen Weite des Fixsternhimmels gewirkt haben. Hier in Krakau ist Kopernikus auch in die astronomische Beobachtungskunst eingeführt worden; die älteste bekanntgewordene seiner Himmelsbeobachtungen fällt ins Frühjahr 1493; sie bezieht sich auf den Mond.

In jenen Jahren warb zu Krakau der jugendliche Laurentius Corvinus für den Humanismus. Schwerlich ist Kopernikus demgegenüber gleichgültig geblieben. Der Streit zwischen Altem und Neuem bewegte die Hochschule stark. Die Verteidiger des Alten (die Scholastiker), für die die ohnehin als streitlustig berufenen ungarischen Studierenden heftig Partei ergriffen, meinten, die Aufnahme griechischer Quellenstudien sei nicht viel besser als Rückfall ins Heidentum. Die Deutschen hielten sich zum Neuen. Als Kopernikus Krakau verließ, war aber der Sieg des Alten entschieden; die Anhänger der freieren Bewegung verließen Krakau.

[513] Für Kopernikus wird ohnehin kein Grund zum Bleiben gewesen sein. Es lag dem Oheim daran, ihn zunächst äußerlich dadurch zu sichern, daß er ihm eine Domherrnstelle verschaffte. Allerdings glückte dies erst nach einigen Jahren, wohl weil die Genehmigung des Kirchenregiments zu Rom zunächst versagt wurde.

Von 1496 bis 1500 finden wir Kopernikus als Studierenden des kirchlichen (kanonischen) Rechts und Mitglied der deutschen Landsmannschaft (der mit alten Vorrechten ausgestatteten Natio Germanorum) an der Universität Bologna. Hier fand er in Dominicus Maria de Novara einen ausgezeichneten Lehrer der Astronomie. Er trat ihm freundschaftlich nahe und nahm an seinen Himmelsbeobachtungen teil. Es beginnen selbständige Versuche zur Verbesserung der Mondrechnung, zur Bestimmung der Länge des Jahres in bezug auf die Fixsterne und in bezug auf die Jahreszeiten. Die entscheidenden Erwägungen über den Umlauf der Erde um die Sonne gewinnen eine vorläufige Form; man darf das aus Notizen in Sterntafeln schließen, die Kopernikus benutzte (und die später mit vielem andern als Kriegsbeute aus Preußen nach Schweden entführt worden sind).

Im Frühjahr des Jahres 1500, das um der glänzenden kirchlichen Jahrhundertfeier willen Ströme von Pilgern nach Rom führte, begab sich auch Kopernikus in die heilige Stadt. Wir wissen nicht, welchen Eindruck die ungeheuerlichen Gegensätze dieses Rom eines Alexander VI., aber auch eines Bramante und Michelangelo, auf Kopernikus gemacht haben. Die einzige Überlieferung ist, daß Kopernikus während seines einjährigen Aufenthalts astronomische Vorträge gehalten habe.

Im Sommer 1501 ist Kopernikus, nun schon seit einigen Jahren Kanonikus des Domstifts Frauenburg, in der Heimat. Er erbittet Verlängerung des Studienurlaubs. Sie wird gewährt, damit die Rechtsstudien abgeschlossen und medizinische durchgeführt werden können. Bereits im Herbst 1501 beginnt das neue Studium zu Padua, der damals berühmtesten Lehrstätte der Heilwissenschaft. Unter den bedeutenden Persönlichkeiten, die hier wirkten, scheinen besonders Lucas Gauricus als Astronom und Marcus Mussurus als Lehrer der griechischen Sprache, vor allem aber Nicolaus Leonicus Tomeus als Vermittler der griechischen Philosophie und des griechischen Schrifttums Einfluß auf die Entwicklung des Kopernikus gewonnen zu haben. Über seine medizinischen Studien wissen wir nichts. Die Würde eines Doktors des kanonischen (kirchlichen) Rechts erwarb er am 31. Mai 1503 zu Ferrara.

1504 endete die Lehr- und Wanderzeit.

Es folgten acht Jahre Aufenthalt im reizvoll gelegenen Schlosse zu Heilsberg, am Bischofssitz. Das Domkapitel hatte Kopernikus zu persönlichen Diensten des Bischofs, seines Oheims, beurlaubt. Das Auskommen mit dem rechtlichen, aber düsteren und höchst eigenwilligen, stark in die politischen Händel verstrickten [514] Manne mag nicht leicht gewesen sein. Doch gewährten die Jahre reichliche Muße; es entstand eine erste, noch unvollkommene Niederschrift der neuen Weltansicht, der Commentariolus, nur für die Freunde bestimmt. Der Gedanke der Exzentrizität ist darin – außer für die Erde – noch nicht durchgeführt, Epizykel spielen eine größere Rolle als später, die Bewegung der Knotenlinien wird noch nicht berücksichtigt, kurz: es ist eine Vorform der neuen Lehre. Erst in den Jahren zwischen 1515 und 1532 entsteht allmählich das Hauptwerk, nicht in einem Wurf, sondern in doppeltem Anlauf; eine der Zeit zwischen 1515 und 1519 entstammende Niederschrift wird von 1523 an umgearbeitet. Aber bis in die letzten Lebensjahre hinein nimmt das Nachbessern und Neudenken kein Ende. Die Handschrift, die man dem Greise endlich abringt, hat so viele Abänderungen, Streichungen und Zusätze, daß sie dem Drucker gar nicht unmittelbar ausgeliefert werden kann. Sachkundige Freunde – wohl Rheticus und Osiander – müssen sie umschreiben.


Frauenburg in Ostpreußen.
[515]      Frauenburg in Ostpreußen,
wo Kopernikus 1512 bis 1543 als Domherr lebte.

[Bildquelle: Georg Massias, Berlin.]
Nach dem Tode des Oheims, Bischofs Lukas Watzelrode, 1512, siedelte Kopernikus für die letzten einundzwanzig Jahre seines Lebens endgültig nach Frauenburg über, zur Kathedrale, deren Kapitelmitglied er damals schon seit nahezu fünfzehn Jahren war. Der Frauenburger Dom ist ein massiger, ernster Backsteinbau. Er gilt als eines der hervorragendsten kirchlichen Bauwerke Ostdeutschlands. Von ihm aus öffnet sich südostwärts ein Ausblick in anmutige, wechselreiche Landschaftsformen; nordwestwärts gibt das Frische Haff einen weiten Meereshorizont frei. Es ist eine Stätte, die der inneren Sammlung und dem Ausreifen großer Gedanken wohl förderlich sein konnte. Kopernikus bezog Wohnung bei und in dem Nordwestturme der Wehrmauer; ein plattformartig erweiterter Teil der anschließenden Mauer konnte als Beobachtungsstätte benutzt werden.

Als Kanonikus hatte Kopernikus in allen Angelegenheiten des Domstifts mitzuentscheiden.

Dem 1260 gegründeten Domkapitel, das aus sechzehn Kanonikaten mit fünf Prälaturen bestand, gehörte ein Drittel vom Gebiet des Bistums Ermland. Der Bischof ging aus der Wahl des Kapitels hervor. Die allgemeine Gesetzgebung hatte das Kapitel im Einvernehmen mit dem Bischof zu regeln, in Dingen minderen Gewichts übte es die Hoheitsrechte selbständig aus. Seit einem Abkommen von 1479 war das Kapitel gehalten, nur eine dem König von Polen genehme Persönlichkeit an die Spitze des Bistums zu berufen. Die Rechtslage war jedoch nicht klar, weil diesem Abkommen die päpstliche Genehmigung versagt worden war. Der König aber strebte sogar danach, die unter seiner Schutzhoheit stehenden Teile des deutschen Preußen in eine polnische Provinz umzuwandeln. Dem Bistum gegenüber wollte anderseits der Hochmeister des Deutschen Ordens sich nicht damit abfinden, daß Ermland als einziges preußisches Bistum sich der [515] Oberhoheit des Ordens entzogen hatte. Im Jahre 1520 führten seine Ansprüche zu offenem Kriegszustande. Auch später, als der Hochmeister den langen Fehdezustand dadurch beendete, daß er (1525) das ostpreußische Ordensland in ein weltliches Herzogtum unter Lehnshoheit des Königs von Polen verwandelte, blieb die politische Lage des Bistums zwischen Polen und Ostpreußen schwierig, zumal Ostpreußen gleich den freien Städten sich der Lutherischen Reformation zugewendet hatte.

Kopernikus nahm schon unter Bischof Lukas häufig an Tagfahrten (Landtagen) und polnischen Reichstagen teil. Auch in der Folgezeit wurde er nicht selten als Vertrauensmann des Kapitels zu Verhandlungen und Tagungen abgeordnet. Von 1516 bis 1519 und wieder 1520/1521 war ihm die Verwaltung Allensteins und der Güter im südwestlichen Ermland übertragen. Es war ein Pflichtenkreis, der dem eines Landrats verglichen werden kann; dazu kam die Aufsicht über die Geistlichkeit des Bezirks. Die Allensteiner Jahre fielen in die Zeit besonderer Spannung zwischen dem Orden und Polen. Ermland, zwischen den streitenden Parteien gelegen, wurde von beiden Seiten her heimgesucht und litt unter räuberischen Einfällen, Brand und Plünderung. 1520, während Kopernikus in Frauenburg weilte, versuchte der Orden erfolglos einen Überfall auf die Kathedrale. Im Winter danach mußte Kopernikus das Schloß Allenstein in Verteidigungszustand setzen. Dann sehen wir ihn mit der Fürsorge für das verwüstete Land beschäftigt, um Wiedergewinnung weggenommener Gebietsteile bemüht, um [516] Ausgleich der Kriegsschäden, um Wiederbesetzung verlassener und zerstörter Bauernhöfe. Er muß sich für das Domstift um wirtschaftliche Einzeldinge, wie Flachsverkauf und Wachspreise, kümmern, muß Streitigkeiten der Kapitelmitglieder um die Verteilung der baren und sonstigen Einkünfte des Stifts schlichten helfen. In den Jahren langsamer Befriedung, 1523, wird Kopernikus eine Zeitlang Administrator des gesamten Bistums, da der Bischofsstuhl vorübergehend verwaist ist. Öfters zwischen 1511 und 1529 finden wir ihn in Domkirchenrechnungen als Kanzler des Domstifts genannt. In den späteren Jahren, etwa von 1531 an, scheinen die Beanspruchungen im Dienste des Kapitels fast ganz aufgehört zu haben; aber Briefe aus dem Jahre 1537 (an den Bischof Johannes Dantiscus) lassen erkennen, daß Kopernikus fortfuhr, lebhaften Anteil am öffentlichen Geschehen zu nehmen.

In den letzten Jahren vereinsamte er immer mehr, und manche Schatten fielen in sein persönliches Leben. In Glaubensdingen war mit neuen Bischöfen ein neuer Geist harter Unduldsamkeit eingezogen. Kopernikus selbst konnte das Vorgehen der Reformatoren nicht billigen, aber er konnte die Andersgläubigen weder verachten noch hassen. Daß er mit einem protestantischen Gelehrten (Rheticus) vertrauten Umgang pflegte, hat man ihm kaum verziehen. Die Gegensätze wirkten auch ins Persönliche hinüber. Kopernikus mußte Verdächtigungen erdulden und ließ sich nötigen, die Betreuerin seiner Greisenjahre, eine entfernte Verwandte, aus seinem Hause zu weisen.

Besondere Aufmerksamkeit wandte Kopernikus seit etwa 1519 einer Sonderfrage des öffentlichen Lebens zu, dem Münzwesen. Einem Wunsche der preußischen Stände folgend, legte er bei einer Tagfahrt zu Graudenz 1522 eine deutsch geschriebene Denkschrift gegen die fortschreitende Verschlechterung der Münze vor und entwickelte darin Vorschläge zu durchgreifender Besserung. Vor allem tue Einheitlichkeit not und der Verzicht auf künstlichen Münzgewinn. Lange Jahre ziehen sich die Verhandlungen hin. Um 1527 liegt eine neue, lateinische Fassung der aus älteren Entwürfen hervorgegangenen Denkschrift von 1522 vor. Aber der Münzberechtigten sind zu viele: der König von Polen, der Deutsche Orden, die Freien Städte. Ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen will nicht gelingen.

Als Arzt hatte Kopernikus großen Ruf. Einige von seiner Hand herrührende Niederschriften von Rezepten haben sich erhalten; sie entsprechen der wissenschaftlichen Zeitmeinung. Sonst wissen wir wenig über diesen Teil der Wirksamkeit des großen Mannes. Der zweite Studienurlaub war ihm mit der ausdrücklichen Begründung gewährt worden, daß seine medizinischen Studien dem Bischof und dem Kapitel zugute kommen sollten. Tüchtige Ärzte waren selten, zumal in so entlegenen Gegenden des Reiches. Noch in den letzten Jahren seines Lebens behandelte Kopernikus mit großer Umsicht den erkrankten Freund Tiedemann Giese, damals Bischof des Kulmer Landes, und auf Wunsch des Herzogs Albrecht einen Edelmann von Kunheim in Königsberg. Dem Bruder Andreas, [517] der pestkrank vom italienische Studium heimgekehrt war und später – der Ansteckungsgefahr wegen von der Gemeinschaft des Kapitels ausgeschlossen – in Italien Rettung suchte, vermochte Kopernikus so wenig zu helfen wie andere.


Nikolaus Kopernikus' Tätigkeit als Mitglied des Frauenburger Domkapitels stellte gewiß hohe Anforderungen an Umsicht und Tatkraft, Erfahrenheit und Weltgewandtheit. Doch tritt diese vielseitige zeitgenössisch-bürgerliche Wirksamkeit ganz zurück gegenüber dem großen Lebenswerk, dessen Bedeutung über Jahrhunderte strahlt. Kopernikus' wissenschaftliche Lebensleistung erschöpft sich fast völlig in den Arbeiten für das Werk von den Bewegungen der Weltkörper. Was daneben noch reifte, ist nicht von Belang.

Einige Jahre vor 1509 hatte Kopernikus die noch unzulängliche erste Fassung des neuen Weltbildes, den Commentariolus, niedergeschrieben. Das Ansehen, zu dem der junge Gelehrte dadurch in weiten Kreisen gediehen war, trug ihm die ehrende Aufforderung des Bischofs von Fossombrone, Paul von Middelburg, ein, er möge dem Fünften Lateranischen Konzil (1512–1517) Vorschläge für die Kalenderverbesserung einreichen. Kopernikus lehnte mit der Begründung ab, die astronomischen Grundlagen der Zeitrechnung seien noch zu unsicher. Gleichwohl fügte er der Ablehnung ein (uns nicht erhaltenes) Schriftchen mit ausführlicheren Erklärungen bei. Als hundertsiebzig Jahre später Gregor XIII. endlich die Reform durchführte, wurde ihr der von Kopernikus angenommene beste Näherungswert zugrunde gelegt, die Gleichsetzung von vierhundert natürlichen (tropischen) Jahren mit der Zeit von vierhundert Jahren des Julianischen Kalenders vermindert um drei Tage.


Der entscheidende Anstoß dazu, letzte Hand an das längst fertige Werk De revolutionibus zu legen und es für den Druck freizugeben, kam von einer Seite her, von der man das am wenigsten hätte erwarten sollen: von einem jungen Mitglied der lutherischen Universität Wittenberg, Joachim Rheticus. Der fünfundzwanzigjährige Professor der Mathematik reiste, wie er aus Polen an seinen Lehrer Schoner in Nürnberg schrieb, im Frühling 1539 eigens dazu nach Frauenburg, um sich zu überzeugen, ob der hohe Ruf des Kopernikus gerechtfertigt sei. Man wußte, daß im Jahre 1533 ein Bericht über die neue Lehre starken Eindruck auf den Papst Clemens VII. gemacht hatte. 1536, nicht lange vor seinem Tode, hatte der Kardinal Nikolaus von Schönberg eine dringliche Aufforderung an Kopernikus gesandt, er möge ihm eine Abschrift seines Werkes zugänglich machen, damit er ihm Förderung gewähren könne.

Kopernikus' menschliche und wissenschaftliche Persönlichkeit ruft die ganze jugendliche Begeisterungsfähigkeit des neuen Freundes wach. Rheticus verweilt [518] lernend mehr als zwei Jahre in Preußen. Die Ansichten seines großen Lehrers, dessen Rang er nur mit dem des Ptolemaios selbst zu messen weiß, überzeugen ihn völlig. Schon im Herbst 1539 schickt er eingehenden Bericht über die Hauptpunkte der Kopernikanischen Lehre nach Nürnberg; im Herbst gibt er den Bericht in Danzig zum Druck, unter dem Titel Narratio prima de libris revolutionum.

Bald nach Rheticus' Heimkehr läßt Kopernikus sein Werk durch Tiedemann Gieses Vermittlung nach Nürnberg gelangen, wo der Druck vor sich gehen soll. Die Handschrift ist später lange verschollen gewesen. Sie wurde erst in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in der Nostizschen Majoratsbibliothek in Prag wiederaufgefunden. Seitdem wissen wir, daß das Werk bei dem schwierigen Zurechtmachen für den Druck nicht nur durch vielerlei

De revolutionibus orbium coelestium.
[518]      Titelblatt der Erstausgabe
von dem Hauptwerk des Kopernikus, 1543.
kleinere Willkürlichkeiten und Änderungen entstellt worden ist, sondern daß auch eine Anzahl wesentlicher Stellen der Handschrift beim Druck ausgelassen worden sind. Einzelnen Abweichungen merkt man an, wie selbst denjenigen, denen der Druck des Buches zu treuen Händen anvertraut worden war, das Herz ob der Kühnheit des Neuen erschrickt. Als Titel hatte Kopernikus anscheinend nur die Worte De revolutionibus gewünscht: "Über die Umläufe" (nämlich: am Himmel, oder: der Weltkörper); die tatsächlich gewählte Form De revolutionibus orbium coelestium, das heißt "Über die Umläufe der Himmelskreise" (der Sphären), braucht keinen ptolemäisch Gläubigen zu beunruhigen. Über eine Eigenmächtigkeit Osianders bei der Leitung des Druckes waren die Freunde so empört, daß Tiedemann Giese am liebsten sofortige Beseitigung in allen Druckstücken erzwungen [519] hätte (wozu es zu spät war): Osiander hat der Vorrede des Verfassers ein eigenes Vorwort an den Leser vorangestellt, in dem die neuen Lehren als bloße, der rechnerischen Zweckmäßigkeit dienende Annahmen (Hypothesen) bezeichnet werden. Daß Osiander dieses Vor‑Vorwort nicht deutlich als fremde Zutat zu dem Werke kennzeichnete, war unrecht. Es geschah freilich in bester Absicht. Man versteht, daß er als lutherischer Geistlicher den Widerstand und die Entrüstung, denen das Buch begegnen mußte, besonders hoch einschätzte. Das wollte er nach Möglichkeit mildern. Es wurde aber mit dem Aufsehen in den ersten beiden Menschenaltern nach Kopernikus' Tode nicht arg. Erst dann hatten viele begriffen, welche Zumutung das neue Weltbild der menschlichen Gedankenträgheit stellte. Erst dann, in Keplers Tagen, kamen Empörung, Kampf und Sieg.

Kopernikus selbst hat seine Lehre nicht als bloße rechnerische Zweckmäßigkeits-Annahme, sondern als die wissenschaftliche Wahrheit gewertet, die sie ist (trotz der Einwendungen, die neuerdings von wirklichkeitsblinden Relativitätsgläubigen eine Zeitlang für geistreich gehalten wurden). Im ersten Teile seines Werkes sagt er, er hoffe das unbegreiflich Scheinende seiner Lehre dem mathematisch Denkenden "klarer als das Sonnenlicht zu machen".


Kopernikus-Denkmal in Thorn.
Kopernikus-Denkmal in Thorn.
[Nach wikipedia.org.]
Kopernikus-Denkmal in Krakau.
Kopernikus-Denkmal in Krakau.
[Nach wikipedia.org.]

Kopernikus-Denkmal in Allenstein.
Kopernikus-Denkmal in Allenstein.
[Nach wikipedia.org.]
Als man Kopernikus den ersten Druck seines Werkes auf das Totenbett legte, hat der nach monatelangem Siechtum an Leib und Seele Gelähmte kaum erkannt, was seine Hand berührte. Er würde milde über die Schwächen der Nürnberger Freunde geurteilt haben. Er war auf das Seine nicht erpicht. In einem Anfangsabschnitt des Buches, der beim ersten Druck ausgelassen worden ist, bekennt er sich selbst als Schuldner: Was er Neues lehre, sei das Geschenk seiner Vorgänger, die zuerst den Zugang zu solchen Untersuchungen eröffnet hätten.

Sähe Kopernikus, wie heute außerhalb seiner deutschen Heimat drei oder vier nationale Wissenschaften darum feilschen, aus welcher Nation seinem Werk das meiste zugeflossen sei, so würde er wohl sagen: Ich weiß das nicht. Aber ich weiß, daß die Wahrheit und die Pflicht, ihr zu dienen, nicht diesem oder jenem gehört, sondern der Menschheit.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz