[Bd. 1 S. 387]
Da nahm der deutsche Maler-Biograph Joachim von Sandrart in der Deutschen Akademie (1675) sich seiner an. Als Schulbub sah er bei dem Enkelschüler des Meisters Mathis, Philipp Uffenbach, einen Klebeband mit Zeichnungen des Matthaeus von Aschaffenburg. Uffenbach hatte diese von seinem Lehrer Grimmer, dem Schüler des großen Malers, erworben. Der aber hatte die edlen Handrisse aus der Hand der Witwe empfangen. Hier mag sich der junge Sandrart, wir würden heute sagen: stilkritisch, geschult haben. Jedenfalls befähigte ihn die Kenntnis von der löblichen Qualität der Blätter, als Sachverständiger aufzutreten. Nicht ohne Selbstgefälligkeit berichtete er, daß er in Rom, als er den Papst malte, einen fälschlich Dürer zugeschriebenen Johannes, der überaus andächtig die Hände zusammenschlug und das Haupt erhob, als ob er Christus am Kreuz anschaute, richtig als Grünewald bestimmt habe. Noch einmal durfte Sandrarts Kennerauge sich erweisen. Das sogenannte Kleine Kruzifix (heute in Privatbesitz), das er beim Herzog Wilhelm von Bayern sah, fügte er dem Werk ein. Der Herzog hat es sehr geliebt, ohne zu wissen, von wem es war, und ließ sogar von Raphael Sadeler einen Kupferstich danach anfertigen. Hier hätten wir so etwas wie ein erstes Denkmal, das dem Genius geweiht wurde. Als ein anderes könnte die Aufschrift "Matthaeus Grünewald Aleman fecit" betrachtet werden, [388] die Sandrart in Rom auf Geheiß des Papstes auf die Rückseite des ebengenannten Bildes setzen mußte. Hier erscheint zum ersten Male der Name Grünewald. Allein unsere Erwartung, Näheres nun von Sandrart über das Leben Grünewalds zu erfahren, wird gröblich enttäuscht. Kein Wort, wo er geboren, keine Silbe über seinen künstlerischen Werdegang. Nicht einmal, daß dieser Mathis von Aschaffenburg Hofmaler zweier Kurfürsten von Mainz war, wurde Sandrart bekannt. Er klagte: dieser ausbündige Mann sei derart in Vergessenheit geraten, "daß ich nicht einen Menschen mehr bei Leben weiß, der von seinem Tun nur eine geringe Schrift oder mündliche Nachricht geben könnte". Wie kam er aber zu dem Namen Grünewald? Eine willkürliche Erfindung ist bei dem verehrungsvollen Bemühen Sandrarts nicht anzunehmen, eher dürfte eine Verwechslung mit Hans Baldung Grien vorliegen, den er Hans Grünwald nannte. Dagegen erfahren wir vieles von Grünewalds Werken, von drei verlorengegangenen Altären im Dom zu Mainz, die 1631 im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden fortgeführt wurden. Vergessenheit, Entheimatung – und wir sind vorbereitet, auch dies noch zu hören – Untergang des Schiffes mit den Bildern. Dem Schicksal des Malwerkes – weiß doch selbst Sandrart nichts von dem Isenheimer Altar – galt sein Bemühen: "seine Würdigkeit an den Tag zu bringen, sonst würde das schöne Gedächtnis in wenig Jahren ganz völlig erlöschen." Das Finale dieses Satzes aber erhebt sich noch einmal zu einem düsteren Klang. Es handelt sich um den Menschen Grünewald: er habe ein eingezogenes, melancholisches Leben geführt und sei übel verheiratet gewesen. Den etwas reichlich allgemeinen Umriß dieser menschlichen Existenz hat selbst unsere Zeit nicht aufgehört, zu deuten und zu mißdeuten. Man legte dem Worte "melancholisch" unsere Auffassung unter und schloß aus den Bildern auf eine pathologische Natur. Ein Blatt aus der Geschichte seines Ruhmes soll ein Jahrhundert später nicht unerwähnt bleiben. Wenn auch nicht von Goethe selbst, so ist doch die Anzeige über die Gemälde in Isenheim (1781), die sein Jugendgenosse Franz Lerse erscheinen ließ, voll jener Begeisterung, aus der Goethe wenige Jahre vorher seinen Gesang an die deutsche Baukunst in Straßburg angestimmt hatte. "Einer dieser selbstschöpferischen Großen Größter ist Dürer" heißt es vom Schöpfer des Isenheimer Altars, denn das Genialische, wenn auch im "schrankenlosen Schweifen", durchpulste die Sehnsucht jener Sturm-und-Drang-Zeit. Wiederum ein Jahrhundert später. Die Stimme kam ebenfalls aus dem Elsaß, und nationale Gefühle wollten auch hier ihr Recht, denn das Elsaß war wieder deutsch geworden. Ein Kunsthistoriker sichtete das Feld (Woltmann, 1872), und der Isenheimer Altar wurde "ausgegraben". Jetzt hieß der Meister zum ersten Male wieder Grünewald. Durch H. A. Schmieds große Biographie (1904) aber ist die Teilnahme erst allgemein geworden. Auf dieser Grundlage hat [389] dann die Forschung des 20. Jahrhunderts oft allzu sorglos weitergebaut. Wie auch immer: ein großer deutscher Mensch von wahrhaft symbolischer Kraft wurde für das nationale Bewußtsein zurückerobert, das größte Malgenie der Deutschen und einer der bestrickendsten Seelenkünder erkannt. Die Flamme der Begeisterung für ihn drohte oft das eigene Haus anzuzünden. Aber er wurde wahrhaft durchlebt, denn die Kunst des Tages war ihm innerlichst verwandt. "Grünewald und wir" war die Losung. Reflexe drangen bis in die Archivräume, und aus dem Staub der Akten stieg ein neuer Grünewald empor (Zülch, 1917). Es wurden gewonnen der neue Umriß einer mehr bürgerlichen Existenz, eine Vermehrung der Arbeitsstätten und Werkdaten. Allein für das, was wir zu wissen begehren, zu gestaltlos. Eine Lücke blieb: der junge Grünewald. In diese Lücke wurde ein wahrer Wust von Konstruktionen hineingestopft. Mögen die Manen des Künstlers Vergebung gewähren. Tatsache ist: Mathis Gothart-Nithart war sein Name, Würzburg seine Geburtsstadt, Halle der Ort seines Todes. Mit dem neuen Namen hat sein Monogramm – ein verschlungenes MG mit abgetrenntem N – seine Auflösung gefunden. Obwohl nicht immer beide Namen gleichzeitig genannt werden, wird man doch Gothart als Vatersnamen den Vorzug geben und Nithart (Neidhart) als Beinamen, obwohl der Name in Würzburg häufiger vorkommt. Wenn nicht ererbt, so dürfte der Spitzname doch immerhin auf das Wesen eines Sonderlings hinweisen. Den Ort, Würzburg, nicht das Datum seiner Geburt erschlossen die Akten. Wie alt aber war der Meister des Isenheimer Altars, als er sein Hauptwerk schuf? Für die, die das Geburtsdatum bis auf 1455 zurückverlegen wollen, hätte Grünewald an der Schwelle des Greisenalters dieses Altarbild geschaffen. Das Verhältnis zu den anderen Arbeiten jedoch berechtigt zu dem Urteil: es steht in der Mitte des Lebenswerkes und sein Schöpfer in der Mitte des Lebens selber. Um 1475/80 wird das Datum der Geburt seinen rechten Platz haben. Was konnte dem Lehrling Würzburg geben: bestenfalls einen Werkstattbetrieb nürnbergischer Prägung. Mehr nicht. Die Frage nach dem Werden seiner künstlerischen Persönlichkeit bleibt somit offen. Es wird sich herausstellen, daß sein ganzes Wirken zwischen Würzburg und Mainz sich abspielte. Wenn Einflüsse Dürers bemerkt werden können, so ist dafür wohl mehr das Allgemeingut seiner Graphik als ein besonderes Verhältnis beider Künstler heranzuziehen. Mit der Kunst Hans Holbeins d. Ä. und besonders mit seinem bedeutendsten Werke, dem Dominikaner-Passionsaltar aus der Predigerkirche vom Jahre 1501 in Frankfurt, sind wir aber ganz in der Nähe eines verwandten Geistes. Unter der Farbenglut und Erfindungskraft dieser Passionen möchte man Grünewald erste wegweisende Erlebnisse sammeln sehen; wohl auch geneigt sein, ihn unter Umständen als Gesellen mit am Werke zu finden. Jedenfalls führt uns das erste Werk Grünewalds, das uns bekannt ist, der Altar in Lindenhardt (1503), zurück [390] zu dem Stil des Frankfurter Werkes von Holbein. Der Auftrag zu dem Lindenhardt-Altar kam über Aschaffenburg, und ein Jahr später wird er uns schon als Meister mit Gesellen in Seligenstadt bei Aschaffenburg genannt. Dort war er ansässig, die Akten nennen ihn über zwanzig Jahre hinüber in größeren Abständen, die auf längere Abwesenheit des Meisters hindeuten. Als Werkplatz für einen Altarmaler mag dieser wichtige Wallfahrtsort Seligenstadt mit seinem kirchlichen Leben und kirchlicher Kunstübung nicht unausgiebig gewesen sein. Nach Seligenstadt weisen uns aber auch die letzten Worte des Sterbenden, die dem adoptierten Sohn Andreas galten, den er dort als Tischlerlehrling zurückgelassen hatte, als er, ein Halbverbannter, 1526 den Mainkreis verlassen mußte. Achtzehn Jahre lang war Grünewald Hofmaler am erzbischöflichen Hof in Mainz. Es fällt uns schwer, den "ausbündigen" Mann in der Rolle des "Dieners" zu sehen. Der Erzbischof Urich von Gemmingen war 1508 bis 1514 sein erster Herr. In diese Zeit aber muß der Isenheimer Altar fallen. Sein Herr hätte ihn also freigegeben für diese "Nebenarbeit", auf Jahre nach dem Elsaß beurlaubt? Wir erfahren, daß im Antoniterkloster Roßdorf, oberhalb Seligenstadts, zu dieser Zeit der Generalpräzeptor des Ordens der Antoniter residierte. Wenn er bei seinen Ordensgenossen in Isenheim die Anregung zum Auftrag gegeben hat, woher nahm er die Berechtigung und was mußte Grünewald inzwischen geschaffen haben? In seinem Nachlaß wurde ein Vertragsbrief gefunden mit einem Meister Mecheln aus Altkirch im Elsaß. Sind wir nicht auch hier in der Nähe des Isenheimer Altars? Sollte es der Vertrag über den Schrein oder die Holzplastik sein, die das Innere des Schreins besetzt hat? Sie wäre also dann bei seinem Weggang aus Isenheim, ja vielleicht bei seinem Tode noch nicht fertig gewesen? Nach 1514 wurde er Hofmaler des Erzbischofs Albrecht von Brandenburg. Bei diesem großen Herrn muß sich die bürgerliche Lebenshaltung Grünewalds beträchtlich erhöht haben. Drei rote Hofkleider befinden sich in dem Nachlaß des seltsamen Künstlers. Dürer läßt uns von fern die Gestalt ahnen. Am 23. Oktober 1520 war Dürer Augenzeuge der Krönung Karls V. in Aachen. "Da hab ich gesehen all herrlich Köstlichkeit, dergleichen keiner, der bei uns lebt, köstlicher Ding gesehen hat." Dort schenkte er dem Mathis für die beträchtliche Summe von zwei Gulden Kunst. Erschien also hier unser Grünewald im Gefolge seines Herrn, des Kurfürsten von Mainz, in roten Hofkleidern im Festzug? Dann dürfte das reichliche Geschenk an den Hofmaler des Mannes, den auch Dürer "seinen gnädigsten Herrn in Mainz" nannte und dem er aus freien Stücken sein Porträt in Kupfer stach und schenkte, nicht ganz belanglos sein. Albrecht genoß Leben, Kunst und auch Religion mit jener naiven Selbstsicherheit, die die ästhetische Lockerung durch den Humanismus deutlich werden läßt. Es wäre denkbar, daß Albrecht an Grünewalds Kunst mehr der Rausch der Farbe als das Abgründige des Ausdrucks fesselte. Stimmt jedenfalls dazu nicht sein [391] Spruch: domine, dilexi decorum domus tuae? Kannte er denn auch seinen Maler unter dem roten Hofkleid? Wenn je ein Schluß vom Werk auf den Menschen erlaubt ist, so bei der Ausdruckskunst Grünewalds, wo jede Form von persönlichstem Gehalt erfüllt ist. Wie vertrug sich sein Kreuzigungsmysterium mit der kindlichen Religiosität Albrechts, dessen Liebe dem Schmucke des Gotteshauses galt? Und doch könnte man aus den vorreformatorischen Freiheitsgefühlen der beiden wohl einen Zusammenklang heraushören. Die sittliche Wucht Luthers verfehlte ja nicht ihren Eindruck auf den Kirchenfürsten, der seine bevorzugte Residenz in Halle hielt. Aber der Bauernkrieg schreckte Albrecht davon ab, weitere Gedanken zu hegen. In Aschaffenburg, wohin er sich aus dem protestantisch gewordenen Halle zurückzog, mag er seinem Maler nähergekommen sein. Doch nur für kurze Zeit. Noch 1524/25 erhielt Grünewald größere Zahlungen aus der Mainzer Hofkasse. Dann kam der Bruch; er wurde 1526 als Hofmaler entlassen. Albrecht ging gegen die Neugläubigen vor. Sollte sich darunter auch sein Hofmaler befunden haben? Von einem Übertritt zum Protestantismus zu reden ist zum mindesten verfrüht. Es gab wohl Protestanten, aber noch keinen Protestantismus. Aus seinem Nachlaß fällt ein Licht auf diesen tragischen Abschluß. Neben den roten Hofkleidern werden auch genannt: "Die 12 Artikel des christlichen glaubens", "27 predig Luthers ingebunden" und in einem zugenagelten Lädchen: "Das neu testament ingebunden und sunst viel schartecken luterisch". Auch die letzten beiden Jahre, die Grünewald nach seinem Abgang vom Hofe in Mainz durchlebte, entbehren des inneren Konfliktstoffes nicht. Als Wasserkunstbaumeister trat er in Frankfurt auf. Als solchen rief ihn die Stadt Halle, als solcher arbeitete er für Magdeburg. Sollten in den Tagen der Bilderstürmer auch für ihn Zweifel an seinem eigenen Werk entstanden sein? Leider hat er in Halle nicht viel ausgerichtet, wie die Urkunden vermerken, denn am 1. September 1528 wurde er beim Rat der Stadt als verstorben gemeldet. Den Nachbarn, die dem Fremdling in seiner letzten Stunde zur Seite standen, berichtete er von seinem Testament, das er vorsorglich bei seinem Fortgang von Frankfurt bei seinem Freund Hans von Saarbrücken verwahrt hatte. Dorthin ging auch sein Nachlaß. Er wurde vom Freunde in Truhen und Laden versiegelt für den Adoptivsohn Andreas in Seligenstadt, mit Zetteln versehen, die die Aufschrift trugen: Mathis Neithart Maler von Würtzburg. Später vergriff Hans von Saarbrücken sich an dem Gut des Mündels, um das Andreas prozessieren mußte. Das ist, was zufällig durch einen traurigen Nachruhm und modernen Forschungseifer als Lebensrahmen des großen Meisters gelten darf. Dieser umschließt ein Leben von ungefähr fünfzig Jahren, von denen kaum fünfundzwanzig Jahre auf das uns bekanntgewordene Werk entfallen. Die geistige Persönlichkeit aber und die inneren Werte ihres Seins und Werdens entsteigen jenem Werk mit einer beispiellosen Entschiedenheit. Bei einem Mann, an dem Natur und Geist [392] Wunder getan (Sandrart), müssen wir allerdings unsere Vorstellung von Entwicklung nur sehr vorsichtig einschalten. Eher wäre es hier am Platze, von einem instinktsicheren Wachstum zu reden, das sich selbst, des heimlichen Reichtums unbewußt, entfaltet. Die Bewußtseinsmomente jedenfalls scheinen dieser Natur fremder als der Dürers gewesen zu sein. Alles mutet daher auf den ersten Blick völlig einmalig an; man glaubt, es noch nie gesehen zu haben. Eine Persönlichkeit, deren Werk an Inhalt und Gehalt, an Auffassung und Gestaltung, an Form und Farbe immer wie am ersten Tag erscheint, kann man die mit dem Schulbegriff des "letzten Gotikers" umschreiben? Sollte dieses ganz ursprüngliche Genie dazu bestimmt gewesen sein, die letzten Trauben einer überalterten Rebe zu keltern? Gewiß war er einer "neben der Zeit", ein überzeitlicher Unzeitgemäßer. Mit dem Mute seiner eigenen Meinung und dem Rechte, das mit ihm geboren ward, war er aber ganz ein Kind der Zeit, der Renaissance: Wiederwachsung nannte sie Dürer.
Grünewald war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, als der geschichtliche Blick ihn sichtet. In dem schon genannten Lindenhardt-Altar (1503) fanden wir ihn in der Gefolgschaft Holbeins d. Ä. Die Note ist anziehend; als Revolutionär aber tritt dieser ausbündige Mann uns keinesfalls entgegen. Wie unausgeglichen ist all das Überkommene! Bis man bemerkt, daß all dies Nichtgereifte doch auf einem eigenen Erlebnisgrund fußen muß, denn in irgendeiner Bewegung, einer Kopfwendung, dem Griff einer Hand zeigt sich eine Feinfühligkeit, die gänzlich abseits der Gepflogenheiten des ausgehenden 15. Jahrhunderts steht, dem seine Jugend und Lehre angehört hat. Das erregte Erfassen des Augenblicklichen ist es, was diese vierzehn, in zwei schmale Tafeln hineingedrängten Nothelfer uns näherbringt. Bei weitem kunstsicherer, fester auf dem Boden der Überlieferung und gänzlich im Stoffkreis des 15. Jahrhunderts befangen, tritt uns Grünewald in der Verspottung (München) entgegen. Alles derbe und recht laute Äußerungen, wie man sie gewohnt war und wie man sie bei diesem Thema liebte; laut auch die Farbe. Dramatische Massenszenerie war, wie auch später, nicht sein Fach. Monologe, Dialoge, das waren seine Hauptrollen. Mit diesen tritt er unerwartet in der Kreuzigung zu Basel vor uns hin. Hier stürmte seine Genialität seiner Zeit weit voraus. Wie ein Ausdruck überhitzten Temperaments, wie eine Wallung, aller Bindungen ledig, dringt die fiebernde Glut seiner religiösen Phantasien auf uns ein. Gewiß liegt diese Steigerung etwas in dem Inhalt des Bildes. Denn hier erklingt zum ersten Male das Leitmotiv seiner Kunst: die Klage um den Tod. Achtmal hat er, angeregt durch die starke Bildkraft, dieses Thema behandelt. Bis in die letzten Stunden seines eigenen Lebens begleitet ihn die Klage um den Herrn. Erwähnt doch das Nachlaßverzeichnis ein Täfelchen mit der Kreuzigung Christi. Die religiöse Stimmung ist vollkommen vorreformatorisch. Wir spüren den heißen Atem aus der Zelle des Augustinermönches in Erfurt. Der eigentliche, [393] ganz persönliche Grünewald setzt ein, jene Fähigkeit, von der Inwendigkeit eines Vorgangs einen Begriff zu geben, d. h. an die Stelle der Handlung ihre Ausstrahlungen zu setzen. Der Schmerz trifft die Menschen an der Wurzel ihres Seins, so daß der Wille die Herrschaft über den Körper zu verlieren droht. Es entsteht bei aller Leidenschaftlichkeit eine kontemplative Neigung, sich diesem Zustand hinzugeben, eine Sehnsucht, die erst in der inneren Vermählung mit dem Gegenstand ihre Erfüllung findet. Zugleich aber schlägt dieser mystische Klang auch schon die hinreißende Wucht seiner symbolischen Sprache an. Die eindringliche Gebärde des Hauptmanns, der seinen Glauben hier bekennt, läßt ihn zum einzigen Vertreter der Menschheit unter dem Kreuz neben den beiden Nächsten, Maria und Johannes, emporsteigen. Grünewalds Hang, Gedanken und Empfindungen symbolisch auszuformen, schlägt hier mit erstaunlicher Wahrheit durch. Völlig neu ist auch die Formgebung. Ganz deutlich, außerhalb aller Stilbildung, wird die Freiheit, die Form rein nach dem Ausdruck zu stimmen. So scheinen die Gestalten des Zusammenhangs mit dem Ganzen vollständig zu spotten. Es ist, als ob jede ihr eigenes Gesetz in sich trage. Ihre Proportion, ihre Farbigkeit, alles dies bedeutet vorerst nur etwas für sie, nämlich die letzte Wahrheit des Innern deutlich zu machen. Jeder kann alles in Anspruch nehmen. Diese Glut der Teilnahme hätte zu einer völligen Anarchie der Bildgefüge des Meisters führen können, hätte nicht die malerische Vision Ausgleich und Einheit geschaffen. Allein die Formgesetze dieser malerischen Phantasie sind nicht so leicht zu begründen. Irrationell, entziehen sie sich nur zu gern dem begrifflichen Zwang. Man glaubt, nun hätte der Weg nach Isenheim freigelegen für ihn. Es ist nicht zu leugnen, daß wir bei der Basler Kreuzigung in die zeitliche Nähe seines Hauptwerkes gekommen sind. Etwas mangelte aber doch seiner Gestaltungskraft, um den Mut zu diesem großen Format vor sich selber zu rechtfertigen: die plastische Anschauung. Was ist dem Isenheimer Altar vorausgegangen? Eine größere Tätigkeit muß angenommen werden; sie ist uns heute unbekannt. Überdies, die Ernennung zum erzbischöflichen Hofmaler in Mainz (1508) forderte ebenfalls ihre Berechtigung und Bewährung. Zwei kleinere Altarflügel mit den Heiligen Laurentius und Zyriakus, heute im Stadel (Frankfurt), weisen auf eine neue, vorwärtstreibende Phase seiner Entfaltung. Sie gehörten zum Heller-Altar in Frankfurt, für den Dürer das Mittelstück, die Himmelfahrt Mariä (1509), malte. Grünewald ward die Aufgabe, zwei Stellflügel den Außenflügeln des Altars anzufügen; auf diesen fand er Arbeiten der Dürer-Schule vor: Heilige, grau in grau gemalt, als Nachahmung plastischer Figuren. Grünewald hatte dieselbe Aufgabe. Sie läßt, da nur das Licht, ohne Farbe, die Modellierung übernimmt, den Durchbruch einer neuen, gefestigten Anschauung klar zutage treten. Es ist kein Zweifel, der plastische Kern der Figuren hat sich gestärkt. Mit diesem Sinn zugleich wird der Reichtum eines unerhört wandlungsfähigen Helldunkels deutlich, das seine späteren Koloraturen ermöglichte. Allein [394] seinem eigenen heimlichen Schatz war dieser Reichtum entnommen. Jedenfalls lag es seiner Natur nicht, wie Dürer sich auf das Problematische drängen zu lassen. In künstlerischen Nöten und mit zähem Bemühen brachte Dürer die Mitteltafel dieses Heller-Altars zustande. Durch sie wollte er mit nationalem Bewußtsein für eine große deutsche Malerei werben. Italien hatte ihm den Sinn erschlossen. Sein schwacher Erfolg auf diesem Gebiet ist uns bekannt. Wenige Jahre später löst Grünewald die Aufgabe, eine große deutsche Malerei zu schaffen, im ersten Anlauf. So entstand der Isenheimer Altar, das größte Malwerk der Deutschen an äußerem und innerem Ausmaß, die Sixtinische Decke der deutschen Kunst.
Grünewald stand jetzt in der Reife der Dreißiger. Er hatte in sich selber festen Fuß gefaßt. Wieviel gäbe man darum, zu wissen, wie sich die klärende Kraft in ihm genährt hat! Gewiß, die Niederschrift der Gesichte hatte nichts eingebüßt. Nur schüttete das Gefühl seine Glut jetzt in das haltbarere Gefäß großer Menschlichkeit. So entstand eine freie Monumentalität, der deutschen Kunst unbekannt und unbekannt geblieben; denn das Maß der Kraft band sich nicht an ausgleichende Stilprinzipien romanischer Richtschnur, die später immer wieder für dieses Streben verpflichtet wurden. Mit einem Wort: diesem größten deutschen Altarwerk fehlt die prunkende Erhabenheit kirchlicher Malerei, wie sie im Süden entstanden war. Alles, Geist und Form, ist hier unrepräsentativ. Sein Maß kann also doch wohl nur in seiner eigenen inneren Gesetzmäßigkeit gereift sein. Nicht die "Schaubarkeit", sondern die Mitteilungskraft des inneren und äußeren Geschehens, ganz gleich, ob Geist oder Form, das ist es, was dieses Werk so wesentlich nordisch macht. Es ist ein Wandelaltar, der sich zweimal öffnet, mit Stellflügeln und Predella. Neun große Gemälde ergeben sich aus dieser Anordnung. Die Außenansicht zeigt die Kreuzigung, die zweite, innere Ansicht drei Bilder: Verkündigung, Menschwerdung und Auferstehung Christi. Die dritte Ansicht zeigt in den Seitenflügeln die Versuchung des Antonius und dessen Besuch bei Paulus in der Wüste. Die Mitte nimmt Holzplastik von unbekannter Hand ein. Der Bedeutung des Gegenständlichen, ihrer symbolistischen Einkleidung hat sich auch der ästhetisch gestimmteste Besucher nie entziehen können. Der Wunsch, eine leitende Idee hinter dem Werke zu suchen, hat aber vielfach dazu geführt, das Temperament Grünewalds zu eng an kirchliche Liturgie zu knüpfen. Jedenfalls kann man sich diese schöpferische Kraft nicht recht im Sammeln von Quellen rationaler Dogmatik denken. Mit dem Beweis, den [395] Pfarrer Feuerstein erbrachte, daß die Offenbarungen der heiligen Birgitte die motivische Grundlage abgegeben haben, durfte man wahrhaft aufatmen. Hier finden wir Grünewald in der Nähe eines kongenialen Geistes. Die gesteigerte Vorstellungswelt, die aufreizenden Träume dieser nordischen Seherin des Mittelalters, einer schwedischen Königin, müssen ihn mächtig angesprochen haben. Getragen von dem Geist und der Forderung, lebendige Religiosität in der Innensichtigkeit des Gefühls zu üben, haben sie der vorreformatorischen Zeit (1502 waren sie in Nürnberg deutsch herausgekommen) viel bedeutet. Die bildnerische Kraft Grünewalds überdies muß sich an der sinnlich-übersinnlichen Heftigkeit der Schilderung, dem poetischen Schwung und der Farbenpracht der Sprache erhitzt haben. Die innere Verwandtschaft beider aber zeigt der mystische Grundton und die Fähigkeit irrationalen Erlebens. Die tiefgründige Geistigkeit der religiösen Schau des Isenheimer Altars hat die künstlerische Freiheit, vor allen Dingen die Anschauung, nicht eingeschränkt, d. h. die Symbolik hat sich nicht in leere Abstraktionen verloren. Tiefe des Gefühls und Schönheit der Erscheinung streben nicht auseinander. Allen Gepflogenheiten, nicht nur seiner Zeit, enthebt sich die Größe dieser religiösen Dichtung, der Kreuzigung. Der Ton über die Klage um den Tod ist niemals so hoch angeschlagen und die Häßlichkeit als Symbol aller Leiden dieser Welt nie so eindringlich herausgestellt worden. Man muß Grünewalds Einbildung alles zugute halten, um der ganz einzigartigen Gegenwartskraft willen. Wo wäre ein Schmerz wie der der übermenschlich leidenden, ohnmächtig umsinkenden Mutter in den hilflosen Armen des Jüngers Johannes, wo eine im wilden Wahngeschrei verzweifelnde Magdalena wie diese Magdalenerin! Den sinngebenden Inhalt des Schmerzensmythus aber erklärt der lange, auf Christus weisende Finger Johannes des Täufers: "Es tut not, daß er wachse und ich kleiner werde." Ist das der Notschrei über die schwindende Gläubigkeit der Zeit? Vor einem dunklen Himmel über müde fließender Landschaft lodert dieses Drama in Flammen auf, beherrscht von dem fahlen, grünlichen Riesenleib Christi. Aufbau, Form, Farbe, alles ist hier ausdruckbetont. Die Größenmaßstäbe wechseln in schnellstem Tempo, spottend allem ausgleichenden Nebeneinander. Mit diesem Grünewald, dem Romantiker des Schmerzes, dem, der uns unmittelbar ans Herz greift, deckt sich aber keineswegs die Summe seiner Künstlerschaft. Wurde der Altar an Festtagen aufgeklappt, dann bot sich dem Blick das Hohelied menschlichen Glücks, verkörpert in der Gestalt der Frau, deren Leben wie nie ein anderes die Wonnen mütterlichen Daseins erfahren durfte. Grünewald zieht hier das volle Register. Farben scheinen den Bildraum zu sprengen, ihr Ausdruck droht Atmosphäre und malerischen Stil zu mißachten. Was hier an Liebe in der rein menschlich beglückten Frau mit dem großen, hell erglänzenden Gesicht und dem Kind auf dem Arm gelebt wird, überstrahlt doch bei weitem die Mütterlichkeit Dürers, der hierfür den Weg gezeigt hatte. Den Abglanz himmlischer Freuden hat [396] Grünewald in die irdische Form menschlicher Idylle ohne jedes geschichtliche Beiwerk gefaßt: ein reifer schöner Sommertag, begleitet von den Lichtfluten überirdischer Mächte. Der zweite Teil des Bildes, malerisch ganz in Gegensatz hierzu gestellt und den Bildraum blockierend, ist erst aus dem Schlußgesicht der Birgitte, dem tiefsten, was von der Überzeitlichkeit der Jungfrau verkündet worden ist, verständlich: das Geheimnis der Menschwerdung Christi, uranfänglich im Rate Gottes beschlossen, prädestiniert in der Vorzeitlichkeit der "ewigen Jungfrau". Das Finale der Auferstehung, der linke Seitenflügel, beschließt diesen Mythus mit einer beispiellosen Flammenapotheose. Wir werden Zeugen der Erneuerung des Gottes: wie das Fleisch wieder Geist ward. Seine irdische Bahn ist vollendet. Grünewald entnimmt für diesen Hymnus seine Darstellungsmittel der Lichtwelt, in die der Gott eingeht, begleitet von Sonnenmächten und Sternenheeren. Wie eine Feuergarbe fährt Christus empor, nach sich ziehend einen Mantel, der von gelb bis purpurrot erglüht, bis die Gestalt, überblendet von einem Kugelmeteor, ihre irdische Schwere verliert. Alles wird hier zur Stütze einer Vergeistigung, die ohne Beispiel ist.
Grünewald war ein Vierziger geworden. Nun wuchs er in die letzte Phase seines Stils hinein. Die Wandlung wird deutlich in der Kreuzigung (um 1520) in der Galerie von Karlsruhe; auch sie erscheint wie ein Sprung, so plötzlich erstieg er diese letzte Stufe. Völlig neu ist die gestraffte Bewußtheit in der Sparsamkeit der Mittel. Auffassung wie Formgebung werden von ihr beherrscht. Der Gegenstand, das Leitmotiv seiner Kunst, erlaubt uns ja die Vergleiche mit denselben Darstellungen von Basel und Isenheim. Die Wucht der plastischen Erscheinung will uns fast niederschlagen. War es im Isenheimer die malerische Vision, die den einzelnen Teil in das Ganze zurückriß, so hier die Straffung einer neuen Flächenkomposition. Zum erstenmal hat Grünewald die Symmetrie des religiösen Bildes bewußt geübt. Durch sie wird die dumpfe Monotonie einer neuen, ins Große erhobenen Menschlichkeit für die nordische Kunst geschaffen. Eine heroische Note wird angeschlagen, das Drama von Isenheim wird hier zum Epos.
Die weltweite Kraft seiner künstlerischen Sprache ist heimatlichem, mainfränkischem Boden entsprossen. Sie formte sich in einer Zeit, als deutsches Innenleben zu einer großen Wende bereit war. Ob noch gotisch oder schon Renaissance, besagt bei seinem Werk wenig. Die Bewertung seiner Kunst fällt sicherlich nicht zusammen mit der schicksalhaften Gegensätzlichkeit in dem Verhältnis von Form und Ausdruck, das bei dem Namen Dürer immer wieder aufgeworfen wird. Zwar kann nicht geleugnet werden, daß auch die Wesenszüge von Grünewalds Stil der Zeit entstammen. Nur daß das Grundwasser, das sie nährte, noch nicht durch falsche Umlagerung abgeleitet wurde. Das ist es, was über das Interesse an der Einmaligkeit seines Werkes hinaus die Frage nach den hintergründigen Beziehungen nicht hat ruhen lassen. So kam es, daß man über das Nationale zum Volklichen strebte und in ihm so etwas wie einen Prüfstein sah für die Stellung zu deutscher Art und deutscher Kunst. Und doch war gerade diese Offenbarung nationaler Grundkräfte die eigenwilligste und unabhängigste, ja einseitigste der deutschen Kunst. Nur der eigenen Anschauungskraft vertrauend, ohne jede tiefere Problematik, prägte dieser Geist seinen Stil. Mit einer seltenen Selbständigkeit, ohne äußere Einwirkungen, überließ er sich dem Wachstum, das allein von der jeweiligen Aufgabe ihm zugeführt wurde. Wie gut muß das Gewicht zwischen den verstandesmäßigen und den instinktiven Faktoren in ihm verteilt gewesen sein, daß alles nur im Werklichen reifte! Und doch hat er die Grenze der Kunst mächtig erweitert. Hat doch wesentlich durch seine Gestalt sich der Glaube an das Irrationale in der deutschen Kunst wieder gestärkt. Die irreführende Meinung, er müsse nach alledem so etwas wie ein romantisierender Schwärmer gewesen sein, ist wohl längst abgetan. Seine höchsten Erleuchtungen treten aus der Anschauung als vollkommen klare Gebilde heraus, und der symbolische Grund ihres Gehaltes vermag den künstlerischen Genuß nicht zu beengen. Ursprünglich und frei fließen seine Gefühle, den Gegenstand ganz erfüllend. Alles, auch die [398] tiefste mystische Schau, sollte im Irdischen verankert sein. Seine Menschen sind keinem Typus entnommen, sondern voll sinnlichen Daseins und fähig, der Gestaltung der Leidenschaften die gegenwartskräftigste Verdeutlichung zu ermöglichen – immer ausdrucksbetont, nie abstrakt. Wenn das aufwühlende Leben die Gestalten unmittelbar erfaßt und seine entstellenden Zeichen in Gesicht und Haltung der Glieder einschreibt, möchte man meinen, Grünewald teile das Interesse Lionardos, die Ableitung der Physiognomik aus den Gedanken darzutun. Der eine Hinweis auf die Modellzeichnung des Johannes (Berlin, Kupferstichkabinett) zur Kreuzigung in Karlsruhe aber genügt, um klarzulegen, wie ursprünglich und individuell sein Ausgangspunkt ist. Stets war seine visionäre Schau für die Anschaulichkeit bereit, alles am Wege des Lebens aufzugreifen und gelten zu lassen, was sich nur irgend in den Sinn des Gegenstandes einfügen ließ. Das Glücksgefühl, das die Isenheimer Madonna in der Menschwerdung durchströmt, schaltet nicht die sorgliche Handhabe aus, den Kopf des übermütigen Kindes am Hals, der schwächsten Körperstelle der Neugeborenen, zu stützen. Die ausdrucksbetonte Form hat auch die viel angemerkten Rücksichtslosigkeiten seines Naturalismus gefordert. Die Spannungsverhältnisse dieses Gefühlsmenschen glühten mächtig im inneren Erlebnis auf und strebten nach letzter Eindringlichkeit der Gesichte. Hierin war Grünewald den Sehern der Mystik verwandt. Wie dort Ursächlichkeit und Logik sich selber ausschalten, so wollen auch Gestaltung und Ausmaß bei ihm nicht mit der Zahl gemessen sein, sondern als sinnverstärkender Ausdruck verstanden werden. Wie neben dem Riesen am Kruzifix in Isenheim das halbwüchsige Mädchen Magdalena kniet, greift über Geschlechts- und Altersunterschiede hinüber in das Reich der Symbolik. Am nächsten aber kommt man seiner Anschauung, wenn man der Suggestion seiner Farbe sich zu entziehen vermag und den Blick allein für die Form mit ihren zeichnerischen Mitteln freilegt. Daß er Linie und Modellierung nicht handhaben werde, um einen nüchternen Befund über ihr gegenseitiges Verhalten in der Bewegung oder um die besonderen Merkmale an ihrer Oberfläche festzuhalten, darf man nach der bisherigen Kenntnis dieses Spiritualisten voraussetzen. Die Feinfühligkeit jedoch, mit der er die geistigen Kräfte der Bewegung bloßlegt, ist wahrhaft aufregend. Ihr zu folgen, wie sie gleitet oder sich staut, wie sie auf- und untertaucht und alle Regungen des Innern augenblicklichst aufnimmt, als wandle sich das Leben selbst und wir spürten den Atem der Dinge, ist in der deutschen Kunst einmalig und nur dem Sfumato des Lionardo vergleichbar. Man muß verstehen, daß sein ganzer Linienapparat nur die Beschleunigung der Bewegung zum Zwecke hat und seine Helldunkelmodellierung mit ihren Abstufungen des Lichtes und des reflektierten Schattens, die auch die verlegensten und widerspenstigsten Flächen prismatisch zu brechen vermögen, ganz im Dienst dieser Vergeistigung gebraucht wird. Man muß hier einen Blick auf seine Zeichnungen werfen. Grünewald ist durch und durch Rhythmiker. Tempo wie [399] Intervall können oft atembeklemmend wirken. Die Veränderlichkeit, die Reizbarkeit der Dinge hat es ihm angetan. Lippen und Augenlider, das sind die empfindlichsten Reizstellen für seine geistigen Kurven. Nirgends dringt die Linie auf Festigung der Form. Sie umspielt, lockert auf, überrieselt die Begrenzungen, so daß jede Starrheit unmöglich ist. Es gibt im Werke Grünewalds keinen abgerundeten Blick, der uns von vorn träfe. Nicht einmal in dem Selbstbildnis, das er den Zügen des Sebastian am Isenheimer Altar anvertraut hat, sticht uns ein Spiegelblick. Man denke hier an Dürer! Wie Grünewald vom Umriß her sich seine Kurven eingeben ließ, das zeigen dann noch deutlicher seine Hände. Er baut die Bewegung nicht vom Gerüst des Knochens auf, wie er andrerseits aber auch nicht ornamentalem Zierrat verfällt. Wie reif und voll seine individualisierende Anschauung im Safte steht, können besonders diese Formen zeigen. Dem gleichen Gefühl unterliegt die Behandlung der Haare, nur daß hier etwas wie Überlieferung mitspricht. Ist doch die Pracht rollender Locken ein Lieblingsthema der deutschen Holzschnitzerei vom Ausgang des 15. Jahrhunderts und darüber hinaus. Nur daß bei Grünewald die sinnliche Fülle an der Erfassung des individuellen Gehalts der Figur und ihrer Ausdrucksbestimmung in einem ganz andern Sinne teilnimmt. Die alten Formulierungen erfahren bei der Magdalena des Isenheimer Altars eine Steigerung, die mit den entsagenden Linien des Kopftuches der Maria in einem Blickfeld zusammen noch einmal mit einem Schlage die unerhörte dramatische Regie dieses Künstlers vergegenwärtigt. Die Rhythmik seines Gewandstils läßt sich in noch höherem Grade ihr Thema und Tempo vom Gegenstand vorschreiben. Der stofflichen Qualität seiner Gewebe gegenüber nimmt er einen fast kennerischen Standpunkt ein. Sein Freund Hans, dem er in Frankfurt sein Vermächtnis übergeben hatte, als er seine letzte Wanderung antrat, war ein Seidensticker. Brokat zeigt nun allerdings nur sein lieblichstes Geschöpf, die Madonna in Stuppach. Doch mag die Werkstatt dieses Freundes das Feingefühl für den individuellen Gehalt der Stoffe und ihre besonderen Bewegungsmöglichkeiten, ganz abgesehen von der Pracht ihres Reichtums, unterstützt haben; das hastige Gebreche dünner Stoffe in Plisseefalten und das schwadenhafte Dahinziehen von Massen weicher Gewebe sollen hier nur als die Endpunkte dieses Reichtums angemerkt sein. Nirgends läßt sich ein anderer Name in der deutschen Kunst mit einer so überwältigenden Anschauung der Farbe, auch nur annähernd in gleichem Maße verbinden. Dazu kommt, daß eine wundervoll lasierende Temperatechnik auch den lichtgeblendeten Farben noch ihre durchsichtige, schimmernde Tiefe erhält. In der Frage, ob mehr um des Ausdrucks oder der Schönheit willen, wird man sich hier bei der Farbe zum ersten Male mehr auf die Seite der liebenden Sinne stellen. Für die Instrumentierung ihrer Melodien und Dissonanzen folgen sie inneren einmaligen Gesetzen, die darzulegen sprachliche Begriffe nicht ausreichen. Nur das eine darf gesagt werden: Wenn überhaupt der Gebrauch der Begriffe der Vision und Intuition für den werkstattlichen Haushalt künstlerischer [400] Darstellungsmittel wie Form und Farbe zulässig erscheint, so nur dann, wenn von der Farbe bei Grünewald die Rede ist. Ihre orchestrale Macht überläuft uns mit zauberischer Gewalt. Aus seiner malerischen Vision stießen alle Bestandteile, die er für seinen Bildaufbau benötigt, der nur aus farbiger Helldunkeltönung verständlich ist. Sie ist der Grundstoff aller Erscheinungen in seinem Werke. Sie leitet die Verbindungen zwischen den verlorensten Teilen der Bildfläche ein, deckt Flächen zu, die der plastische Sinn für die Vergegenwärtigung des Raumes gern bestellt sehen möchte, und bereitet oft fast spielend die Umwelt vor, auf der die Innenwelt seiner Gesichte sich heimisch fühlen soll. Mit dieser Sehweite ist er ein ganz großer Landschafter geworden. Nicht nur in dem Sinne, daß ein beseelender Zug jede Körperlichkeit erfaßt und in ihrer Besonderheit erschöpfend prägt. Hierin gibt Grünewald dem Dürer zwar nichts nach, nur hat er sich der Absichtlichkeit entschlagen. Auch nicht in dem Sinne, daß ein pantheistischer Zug, der alle Dinge in die Allräumlichkeit der Welt einwebt, vorherrsche. Diese Beseelung zu einem Ganzen durften wir bei seiner Anlage voraussetzen. Auch das ist es nicht, was seine besondere Stellung innerhalb der deutschen Landschaft rechtfertigt, daß so etwas wie eine Stimmungslandschaft im modern romantischen Sinne durch Farbklänge entsteht. Gewiß, er hat das Licht als Nordländer zuerst als eine magische Naturkraft empfunden, mit ihm gejubelt und geklagt. Entscheidend aber ist, und das berührt das Nordische wesentlich, daß Natur und Mensch sich gleichgestimmt sympathetisch zueinander verhalten, ja daß der Mensch seine egozentrische Stellung im Weltbild aufgibt und selber, kosmisch gebunden, Landschaft wird. Spricht nicht Nietzsche einmal von der Seele als einer Landschaft? Nur ein Beispiel, das ausnahmsweise nicht der bei Grünewald vorherrschenden Dämonie dunkler Gewalten entnommen ist. Es ist der Besuch der beiden Heiligen Antonius und Paulus in der Wüste (Isenheimer Altar). Die freudige Fülle dieses belebten Ganzen ist die Vervielfältigung vollblütiger Individualitäten, ob Mensch, Baum oder Tier. Von Stimmung im modernen Sinne, etwa als Einsamkeit der Wüste, kein Wort! Und doch, welcher Frieden! Das wäre sein "Hieronymus im Gehäus"! Die Einmaligkeit, mit der dieses Genie seinen Werkstoff geprägt hat, reißt uns immer wieder von der sachlichen Anschauung fort zu den inneren Vorgängen, zu den Hintergründen, mit einem Wort, zu seiner Persönlichkeit. Volkstümlich wie die Dürers kann sie wohl nie werden. Dazu bedarf es eines Werkes, das wie das des Nürnbergers in der Graphik vor aller Augen lag und liegt, oder jenes Nimbus, dessen Licht aus der geistigen Quelle Dürerscher Selbstbekenntnisse gespendet wird. Alledem gegenüber bleibt das äußere Geschick von Grünewalds irdischem Dasein stumm. Was wir suchen, ist der religiöse Kern seiner Persönlichkeit. Das erwähnte Selbstbildnis am Isenheimer Altar kann hierfür als Zeuge kaum herangezogen werden; zugegeben, daß der Blick eigenen Fernen zuzustreben scheint. Selbst sein ganzes Werk, das seine Fähigkeit leidenschaftlicher Hingabe und [401] überschnellen Erglühens bei leisester Berührung offenbart, das ganz dem Grunde des eigenen Erlebens entsteigt, vermag doch nur ahnen zu lassen, wie das Innere dieses Mannes beschaffen gewesen sein muß, der sich in dem Maße den Visionen der Birgitte hingeben konnte. Denn dies setzt nicht nur eine starke Bildhaftigkeit voraus, sondern muß auf Spannungsverhältnissen einer im gleichen Sinne sehnsüchtig verlangenden Seele beruhen, eben einer großen Religiosität. Indem er sich der nordischen Seherin anvertraut, fühlt er seine Seele im Schoß der großen Kirche geborgen, weist er den eigenen Gesichten einen Rahmen an, der sie nicht in die Gefahr kommen lassen kann, ihn selbst zu sprengen und dabei das Geschick des äußeren Daseins zu reizen. Wie hätte auch sonst die Kirche ihm ihre Altäre überlassen können, wenn er sie benutzt hätte, um unerträgliche Dinge zu sagen! Die Schreckensmonologe seiner Christusgestalt hat erst das "bittersüße Geschwätz vom Schönen" (Herder) späterer Zeiten in Verwirrung zu bringen versucht. Und trotzdem. Eine persönliche Note seiner Seelenhaltung klingt immer wieder an. Eine hohe religiöse Bewußtheit, nur seiner Seele entsprungen. Ihre Subjektivität entspringt dem allgemeinen Bedenken gegen die Glaubenshaltung der Zeit, das sich von Jahr zu Jahr mehrte. Wenn die Auffassung richtig ist, daß die Stuppacher Madonna auch als Braut der Kirche Christi (im Hintergrund erscheinen Chor und Seitenschiff des Straßburger Münsters) gelten darf, auf deren Reformierung Birgitte mit ernstem Drängen hingewiesen hatte, könnte man in ihr das letzte äußere Zeugnis der inneren Verbundenheit Grünewalds mit der Altgläubigkeit sehen. Sie würde dann am Vorabend großer religiöser Veränderungen wie eine Mahnung vor der Entladung des Gewitters an der Pforte der Wittenberger Schloßkirche angesehen werden können. Wo liegt der innere Durchbruch, der Grünewald zu den Schriften Luthers führte, die sein Nachlaß enthielt? Welche Erkenntnis ging voran? Sicher nur eine, die die äußeren Verhältnisse betraf. Das religiöse Genie, und das war er, bleibt immer seiner inneren Gesetzmäßigkeit verpflichtet. Mit den "Aposteln" trat Dürer als Ethiker der neuen Lehre zur Seite. Grünewald bleibt mit dem "Kreuz", das er unfertig hinterläßt, der Überzeitlichkeit des Glaubens verbunden.
|