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[Bd. 2 S. 290]
Johann Gottfried Herder, 1744 - 1803, von Josef Nadler

Johann Gottfried Herder.
[300a]      Johann Gottfried Herder.
Gemälde von Anton Graff, 1785.
Aus dem Freundschaftstempel
im Gleimhaus zu Halberstadt.
Das ostpreußische Städtchen Mohrungen, halbwegs zwischen Elbing und Tannenberg in sanfte Hügel eingebettet, durch Wälder und Seen weltabgerückt, von einer ehrwürdigen Backsteinkirche und einem wunderschönen alten Rathaus behütet, ist Herders Heimat. Sie bedeutet Lebensgemeinschaft mit dem gesamten baltischen Raume, mit Königsberg und Riga, mit Deutschen und baltischen Kleinvölkern aller Zungen, mit lebendig fortwirkenden Urzeiten und einer Zukunft, die gelebt sein wollte. Herders Dasein und Werk hat diese rätselvolle und bedrängende Raumgemeinschaft in ihrer ganzen Breite und Tiefe ausgeschöpft. Mohrungen bedeutete in gewaltigen Schicksalswenden deutschen Ordensstaat, Herzogtum Preußen, Königreich Preußen. Und es hat unter den Deutschen dieses Raumes wenig Wissende gegeben, die sich mit dem Schwung und mit dem Tiefblick Herders in die geschichtliche Bedeutung dieses staatlichen Wandels von fünf Jahrhunderten versenkt haben. Er stand dem Deutschen Ordensstaat mit der Ablehnung seiner zeitgenössischen Landsleute gegenüber und nahm wie diese die allrussischen Vorbewohner in sein Ahnenbewußtsein auf. Der Staat, den der letzte Hochmeister und erste Herzog Albrecht von Hohenzollern in Preußen geschaffen hatte, hat mit seiner ganzen Ideologie einer christlich-protestantischen Fürsorge für die Landeskinder aller Zungen Herders Denken entscheidend beeinflußt, wenn er sich davon auch vielleicht keine klare Rechenschaft gegeben hat. Die Erhöhung dieses Albertusstaates in der preußischen Krone von Königsberg hat niemand klüger und warmherziger als eben Herder aus der Zeitlage und in die Zukunft gedeutet. Zu wievielen Zweifeln und Einwänden ihn auch der von Berlin organisierte brandenburgisch-preußische Gesamtstaat herausforderte: der heimatliche Albertusstaat mit seiner eigentümlichen landschaftlichen, volkhaften, eigenrechtlichen Besonderheit war immer der Boden, auf dem Herder gestanden hat. Mohrungen bedeutete schließlich innerhalb Ostpreußens nicht niederdeutsche, sondern mitteldeutsche Heimat. Mohrungen gehört zu der binnenpreußischen Landschaft, die ihre Bauern und Bürger aus Mitteldeutschland, vor allem aus Schlesien empfangen hat. Es ist daher für Herders Erbgut unwichtig, ob sich die schlesische Einwanderung seines ersten bezeugten Vorfahren urkundlich nachweisen läßt oder nicht. Keiner von den einprägsamen Wesenszügen Herders, die schnell fertige Art, die leicht gereizte, zu jähen Umschwüngen neigende Gefühlslage, der Hang zur Schwermut, das schauhafte Vermögen, gepaart mit Schärfe des Gehörs, die [291] Unfähigkeit zu begrifflichem Denken, die geschwisterliche Einheit von Weisheit und Anmut, die ganze musische Grundhaltung, keiner von diesen Zügen weist auf eine niederdeutsche oder wenn man will nordische Natur. Sie alle zusammen verkörpern den Menschenschlag, der im mittleren Deutschland von Thüringen bis Schlesien zu Hause ist.

Herders Leben in seiner Anlage und in seinem Ablauf gleicht einem Seelendrama, das unter nur wenigen aber unter den bedeutendsten Rollenträgern und auf den eindrucksvollsten Szenen gespielt wurde. Es ist das große geistige Drama des achtzehnten Jahrhunderts der Deutschen. Herder traf zu Königsberg auf die untereinander vertrauten und entzweiten ostdeutschen Denker Kant und Hamann, trat zwischen beide und schließlich von Kants auf Hamanns Seite. In Straßburg begegnete er Goethe und wurde an diesem so zum Lehrer, wie er selber der Schüler Hamanns war. Zu Weimar verlor er Goethe an Schiller, den Schüler Kants, trat zum letzten Waffengange mit Kant an und gewann an Hamanns wie an Goethes Stelle Johann Paul Friedrich Richter zum Freund und Kampfgenossen, der zu Hamann stand wie Herder und Goethe, der Goethe ebenso wie Schiller und Kant aus den gleichen Gründen bezweifelte wie Herder. Das war mehr als eine rein persönliche und wechselseitige Vertauschung der Plätze unter den größten geistigen Männern ihres Zeitalters. Das war eine geistige Entscheidung unter den Deutschen, der Umschwung einer Epoche, und Herder hat ihn zwischen Hamann und Kant hindurch sowohl auf Goethe zu wie von Goethe weg ausgelöst.

Herders Geburtshaus in Mohrungen, Ostpreußen.
[291]      Herders Geburtshaus
in Mohrungen (Ostpreußen).

[Bildquelle: Georg Massias, Berlin.]
Herder kam aus dem Volke, aus der bescheidenen Stube eines Lehrers und Kantors. Und was er nach Königsberg mitbrachte, war eine sehr dürftige Bildung, dafür aber eine sehr persönliche Frömmigkeit, ein Herz, das von der Waldnatur seiner Heimat gesättigt war, und ein Lesehunger, der kaum gestillt werden konnte. In dieser Stadt, die sich damals unter allen deutschen mit den größten geistigen Dingen trug, wurde ihm das seltene Glück, daß er an einer so trefflichen Anstalt wie dem Collegium Fridericianum zugleich Schüler und Lehrer sein durfte. Er hat sich hier zu dem ungemeinen Lehrvermögen entfaltet, das später weder gegenüber seinen jüngeren Freunden noch in der Schule und in der Aufsicht über [292] das Schulwesen eines ganzen wenn auch kleinen Landes versagte. Das Schicksal lenkte die Schritte des jungen Menschen schon in seiner ersten Königsberger Zeit seit 1762 zu den beiden Männern, die zusammen damals und weit über ihre Zeit hinaus Summe und Inbegriff dieser Stadt waren. Immanuel Kant, in jenen Jahren noch selbst ein Suchender, hat als akademischer Lehrer Herder in die Fülle des schulmäßigen Wissens eingeführt. Soweit das Philosophie heißen konnte, war es die Metaphysik von Gottfried Wilhelm Leibniz und seiner deutschen Ausleger, aber auch die Erfahrungsphilosophie der Engländer und Franzosen, Gedankenmassen, die bereits durch den schottischen Denker David Hume in neue Bewegung zu kommen begannen. Wichtiger als das wurde für Herder der Gedanke Kants, daß die Philosophie zur Anthropologie werden müsse, zu einer Wissenschaft vom Menschen, in deren Mittelpunkt die Kunde vom Volk stünde. Johann Georg Hamann ergriff mit der hadernden Liebenswürdigkeit seines Wesens, mit seiner hurtigen Belesenheit und dem stammelnden Tiefsinn seiner Rede in Herder den ganzen Menschen. Hier begegneten einander bei allem Widerspruch der Lebensart zwei Geistesverwandte, wie sie eine glückhafte Stunde nur allzuselten zusammenführt. Gegen Kants Denkschule übte Hamann den neuen Jünger in der gefährlichen Kunst des schauhaften Durchblicks. Hamann wurde Herders Vermittler zum englischen Geiste. Unter Hamanns Handführung und in Hamanns damaligem Blatte, den "Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen", lernte Herder schreiben. Aber weder "Lehrer" noch "Freund" vermögen das Verhältnis auszudrücken, in dem die beiden fortan durch ihr ganzes Leben gestanden sind.

Alle Fähigkeiten in Herder sind durch Hamann aufgeweckt und mit unverlierbaren Vorstellungen gespeist worden. Herder wiederum, der die Gabe des Wortes auf eine seltsame unerschöpfliche Art besaß, hat der dunklen Weisheit, die Hamann nur schwerverständlich über die Lippen brachte, als getreuer Dolmetsch erst den Sinn der Deutschen erschlossen. Hier waren Geben und Nehmen, Offenbaren und Verkünden, Erschaffen und Gestalten zu einer einzigartigen geistigen Ehe vermählt. Und man kann es fast Eifersucht nennen, was Kant und Hamann um diesen gemeinsamen Schüler gegeneinander empfanden, solange er noch ohne sichtbare Wahl zwischen ihnen stand. Vielleicht gab das Gefühl, Herder schließlich an Hamann verloren zu haben, Kants späteren sachlichen Einwänden gegen Herders Denkart jene Schärfe, die aus dem Herzen kommt und menschliche Wärme hat. Herder wurde von Hamanns Hand, ohne daß die es eigentlich wollte und wußte, aus dem Hintergrunde gelenkt, da er 1764 mit den beiden Lehrern die enge Szene Königsbergs verließ und den größeren Schauplatz betrat, der Riga hieß. Die mehrjährige russische Herrschaft in Ostpreußen und das rege deutsche Leben in Lettland ließen diesen Ortswechsel nicht als Klimawechsel empfinden. Der ehemals gemeinsame Freund Kants und Hamanns, der Rigaer Staatsmann Johann Christoph Berens, nahm Herder in seine Hut. Herder war als Lehrer der Domschule nach Riga gekommen, und an der Schule machte er zunächst seine großen [293] inneren Fortschritte. Daß alles auf die Sprache des Lebens und nicht auf den Bücherton ankomme, daß alles Lernen dem Leben dienen müsse, war weltmännisch gedacht und eher in der Art Kants. Wenn aber Herder seine Schüler vom Hören auf das Lesen und erst vom Lesen auf das Schreiben zu führen suchte, so war in solchen Grundsätzen Hamanns Lehre zu spüren. Und als die Rigaer für Herder, um ihn nicht an einen Ruf aus Petersburg zu verlieren, in einer Vorstadtkirche eine neue Kanzel stifteten, entfaltete sich in Herder völlig Hamanns Geist. Denn er predigte nun weder als Dichter und Staatsredner noch als Schauspieler und Weltweiser, sondern als Redner Gottes "groß im Stillen". Nach der Königsberger geistigen Schule Kants und Hamanns bedeutete die Rigaer Schule des Lebens für Herder unschätzbar Neues: zwischen Deutschland und Rußland einen weiten Überblick über die Völkerwelt von der Ostsee südwärts und landeinwärts; Einsicht in den leicht faßlichen Organismus eines Staatswesens von bürgerlicher Selbstverwaltung; von vielerlei Gegensätzen geweckt die antike Vorstellung vom Vaterland, das gleichbedeutend mit Freiheit ist; aber auch mehr als in Ostpreußen ein zunehmendes volksdeutsches Bewußtsein; und schließlich jenen weltmännischen Schliff, ohne den die Bahn nicht zu durchschreiten war, die sich eben hinter dem Rücken Herders öffnete, als er im Sommer 1769 zu Schiff Riga verlassen hatte. Es war als Urlaub gemeint und wurde ein Abschied.

Die große Szene im Leben Herders und Goethes, in der deutschen Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, ist die Begegnung zwischen Herder und Goethe Herbst 1770 in dem Straßburger Gasthof Zum Geist. Keines der geläufigen Worte reicht aus, um das, was wir Zufall und Notwendigkeit nennen, an dieser Begegnung auszudrücken. Herder war als Reisebegleiter des Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm von Holstein-Gottorp und Goethe als Student der Hochschule in Straßburg. Die Seereise von Riga nach Frankreich, der Aufenthalt in Paris, die langsame Fahrt von Eutin nach Straßburg, die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Karoline Flachsland hatten Herder an Gedanken und Erlebnissen ungemein bereichert und menschlich zur vollen Reife gebracht. Und wenn ihn auch das Augenleiden, das er in Straßburg heilen wollte, nicht in die beste Stimmung versetzte, so war Herder doch weder vorher noch später so in Form und in solchem Maße er selber wie in diesen Straßburger Wochen.

Was sich im östlichen Königsberg von Hamann zu Herder begeben hatte, das begab sich nun im westlichen Straßburg von Herder zu Goethe. Nach seiner Frankfurter Krankheit und Heilung befand sich Goethe in einem solchen Zustande innerer Bereitschaft, daß sich unter der Berührung mit Herders Geist alle Fähigkeiten seiner Natur aufschlossen und in eine neue Richtung, in die seine, wendeten. Hamanns Rolle als Meister hatte Herder und Herders Rolle als Schüler hatte Goethe übernommen. Dieser Rollentausch von Hamann zu Herder und von Herder zu Goethe, der zugleich die drei Stufen zur vollen Höhe des achtzehnten Jahrhunderts bezeichnet, setzte die drei Männer untereinander in ein fast mystisches Einverständnis der [294] Seele. Denn nicht nur, daß durch Herder fortan Hamann die Entwicklung Goethes mit Teilnahme verfolgte und daß Goethe bis in seine letzten Jahre Hamann sich aus der Ferne nahe fühlte, Hamanns Schriften wie einen Schatz hütete und immer wieder sich an ihnen bereicherte: was Herder in Straßburg an Goethe vermittelte, war im wesentlichen Hamanns Gedankengut. Und so wiederholte sich die geistige Zeugung Hamanns in Goethe, wie sie einst in Herder geschehen war. Wenn Herder in Straßburg Goethe in Hamanns Anschauungen vom Wesen der Sprache einführte; wenn er ihn im Sinne Hamanns lehrte, daß Dichtung eine Welt- und Völkergabe sei; wenn er Hamanns Deutung und Wertung des Volksliedes an Goethe weitergab; wenn er nun selber Goethe an England heranführte, wie Hamann ihn ehedem in englisches Wesen eingeweiht hatte; wenn Herder, Hamann weiterdenkend, Goethe an die echten Quellen der Antike verwies und ihm die Ureinheit von Sprache, Dichtung, Mythus deutlich machte: so ist all dies Einzelne und Gegenständliche nicht einmal das Wichtigere. Denn wie hier aus der Fülle einer Persönlichkeit der ganze Mensch des anderen ergriffen und zum Reifen gebracht wurde, dieses Erziehungswerk in seiner umwandelnden Tiefenwirkung, in seiner alles durchdringenden Gesamtheit gab den Ausschlag und ist das große Ereignis des deutschen achtzehnten Jahrhunderts. Für Herder aber war dieses Straßburger Zwiegespräch mit dem ebenbürtigen Jüngeren der einsame Gipfel seines Lebens, durch den die Harmonie seiner Königsberger Lehrjahre und die Kämpfe seiner Weimarer Meisterschaft ihren Sinn, den einen und gleichen, empfangen.

Herder mit seiner Frau am Frühstückstisch.
[295]    Herder mit seiner Frau
am Frühstückstisch.
Silhouette, um 1790.
Der Lehrer Hamann hatte ihn nach Riga geleitet. Der Schüler Goethe brachte ihn nach Weimar. In Königsberg hatte Herder sich, seines Zieles noch ungewiß, auf Riga vorbereitet. Der Ort seiner Vorbereitung auf Weimar war das kleine Fürstenstädtchen Bückeburg. Hier wurde er im Frühjahr 1771 Oberprediger, und hierher holte er sich im Mai 1773 in Karoline Flachsland seine Frau. Die Bückeburger Zeit stellte innerlich manches in Frage, was bereits gesichert schien. Sein Glaubensleben nahm fühlbar mystische Züge an. Und zu seinen bisherigen literarischen Arbeiten nahm er nun andere vor, die mit seinem Beruf zusammenhingen. Da wurde er 1776 als Oberpfarrer nach Weimar berufen. Stadt und Land boten ihm einen Wirkungskreis, der seinen vielfältigen Gaben entsprach. Er konnte sich als Seelsorger und Schulmann entfalten. Und da Weimar rasch in die Mitte des geistigen Lebens der Deutschen rückte, fand er einen freien Spielraum auch für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten. Aber lebensgeschichtlich wird die Weimarer Szene von jener Verschiebung der Gestalten beherrscht, die Herder schließlich einsam auf seiner Seite machte. In Königsberg war er, der weit Jüngere, zwischen seinen beiden Lehrern emporgewachsen und hatte dazu beigetragen, sie auseinanderzudrängen. In Weimar fügte sich ein weit Jüngerer ins Spiel, und was ein schöpferischer Dreibund zu werden schien, verengte sich zu einer Zweimännerfreundschaft, die ihn ausschloß. Goethes rasche Reife und der Ausgleich des Altersunterschiedes mit den zunehmenden Jahren verwandelte das [295] alte Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler in eine ebenbürtige Freundschaft, in der eher Goethe der Gebende wurde. Sie ergänzten nun einander auf eine schöne Weise, Goethe mit seinem Vertrauen in die Erfahrung, mit seinem Denken vom Besonderen ins Allgemeine, mit seinem Gesamtbilde einer Naturwelt, deren rastlose Selbstgestaltung immer neu erlebt wurde; Herder mit seiner schauhaften Erkenntnis, mit seinem ableitenden Verfahren, mit seinem Gesamtbilde einer Menschenwelt, die sich im Gesetz ihres Werdens erschloß. Das währte so ein Jahrzehnt. Und es schien zu einem steten Nebeneinander auszudauern. Aber die italienische Reise Goethes und unmittelbar darauf 1788 die Herders, jenem ein beglückendes und abermals verwandelndes Erlebnis, diesem unfruchtbar und ohne Gewinn, löste den Gleichklang der Geister. Der Schüler von einst bog aus der nordisch-gotischen Welt, in die der ehemalige Lehrer immer tiefer hineinschritt, weit ab in die südlichen Gefilde einer heiteren Antike. Der Ausbruch des französischen Umsturzes, dessen Gedanken – freilich nicht dessen Taten – Herder billigte, den Goethe aus dem Grunde seines Wesens ablehnte, vermehrte die Fälle wechselseitiger Gegenmeinung. Herders wiederholte Rückkehr zu theologischen Arbeiten ließ für Goethe kaum mehr etwas übrig, an dem er freundschaftlich teilnehmen konnte.

In diese Spannungen trat 1794 mit Schiller der Dritte. Schiller war gegenüber Herder um ebensoviel jünger, als Hamann vor Herder an Lebensjahren vorausgehabt hatte. Doch Schiller war längst über das Alter hinaus, da man Schüler ist. Herder arbeitete zunächst an Schillers "Horen" mit. Doch mit seinen [296] altdeutschen und nordischen Studien fand er bei Schiller ebensoviel Widerspruch wie dieser mit seiner Forderung nach einer überzeitlichen Kunst jenseits des Tages bei Herder. Indessen das Letzte lag am tiefsten. Schiller war Schüler gewesen, doch der Schüler Kants. Herder aber hatte sich mit seinem Lehrer Hamann immer weiter von Kant fortentwickelt, nicht von dem jungen Kant, der sein Lehrer gewesen war, sondern von dem reifen Kant der "Kritischen Vernunft", dem eben Schiller in die Schule geraten war. Mit diesem Kant stand Herder nun im Kampfe. Wie konnte er da des Schülers schonen, Schillers? So kam es 1796 zum Bruch zwischen Herder und Schiller, und also zwischen Herder und Goethe. Aber welcherlei Persönliches immer den Sinn dieser Umgruppierung auf offener Szene verdunkeln mag, der Sinn ist dieser: Die in Königsberg langsam angedeutete Entscheidung zwischen Hamann und Kant, zwischen Offenbarungsglauben und Vernunftwissen, zwischen philosophischem Realismus und philosophischem Idealismus, wurde nach Weimar hinübergespielt, indem an Hamanns Stelle dessen Schüler Herder trat. Sie reifte um die Jahrhundertwende aus, indem neben Kant nun auch Schiller ins Gefecht gegen Herder trat. Goethe entschied sich für Schiller und zog sich unter die Zuschauer zurück.

Doch es ging um weit mehr als um Kants Metaphysik und was davon durch Schiller Grundbestand der klassizistischen Ästhetik geworden war. Es ging um die Behauptung, um Bestand und Verwirklichung der neuen deutschen Welt, die Hamann durch Herder heraufgeführt hatte, die Herder einst durch Goethe zu verwirklichen geglaubt hatte. Es ging um das ewig schaffende Wort, wie es in Sprache, Mythus, Dichtung der echten Volkheit irdische und zeitliche Gestalt annimmt. Herder sah in Goethes Entwicklung seit dessen italienischer Reise einen Abfall von der hohen Kunst in die seichte, verbuhlte Alltäglichkeit einer theatralischen Scheinkultur. Das Werk Goethes, in dem Herder alles Verwerfliche, Falsche, Abtrünnige zusammengefaßt sah, war "Wilhelm Meister". An Goethes Stelle und in Hamanns Geiste fand Herder einen letzten Freund in Johann Paul Richter, der nun um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert mit seinem Roman "Titan" diese ganze von Hamann und Herder abgefallene Welt züchtigte. Ihm erschien der Weimarer Klassizismus als innerlich unwahre, die Tat lähmende, der Jugend gefährliche Ausschreitung des nackten und dem Leben feindlichen Geistes. Herder aber schloß 1803 die Augen, ohne zu wissen, daß er die Zukunft für sich hatte, daß in der Romantik die geistige Nachkommenschaft von ihm und von Hamann her die Führung in Deutschland ergriff, ohne zu ahnen, daß Goethe in seinen letzten Jahrzehnten zu dem gemeinsamen Straßburger Erlebnis zurückkehren und sich im Sinne von Hamanns und Herders Volksliedauffassung um eine Dichtung aus der wahren Volkheit bemühen werde.

Der schöpferische Ertrag dieses mäßig gelebten und voll ausgenützten Lebens war hoch. Er gründete sich auf verhältnismäßig wenige, aber ungemein fruchtbare Gedanken der Jugend und stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Es war ein Werk [297] ohne geschäftige Vielseitigkeit auf vielen Gebieten, von gedrängter Fülle auf wenigen, doch von da nach allen Seiten ausgreifend. Es kommt selten vor, daß ein Mensch so wie Herder sich mit dem ersten Werk einen Lebensarbeitsplan von solcher Weitsicht entwirft und ihn mit gleicher Folgerichtigkeit bis an den letzten Tag, der ihm gegönnt ist, durchführt. Dieser literarische Erstling Herders war die Doppelschrift aus seiner Rigaer Zeit: "Über die neuere deutsche Literatur" (zwei Sammlungen 1767 und in zweiter Auflage 1768) und "Kritische Wälder" (drei Sammlungen 1769). Man erkennt unschwer, wie hier Lehre und Beispiel beider Lehrer wirksam waren, Kants analytisches Verfahren und Hamanns auf Geist und Wesen der Dinge dringendes nachschaffendes Vermögen. Es war aber auch ebenso deutlich zu spüren, daß Hamanns Mitgabe bereits überwog. Das Thema der Literaturschrift hieß bereits: Sprache als Grundlage der Literatur und das Verhältnis der deutschen Literatur zu den ihr gemäßen fremden. Schon hier ist aus Hamanns Anregungen der Kerngedanke von der ursprünglichen Einheit von Sprache, Mythus, Dichtung entwickelt. Schon hier ist Herder von der morgenländischen Dichtung gefesselt, und schon hier wird die entscheidende neue Vorstellung vom Volkslied erläutert. Die "Wälder" sind eine kunstwissenschaftliche Schrift. Sie gründet im Sinne Hamanns die Kunstlehre auf die Physiologie und Psychologie der menschlichen Sinneswerkzeuge. Sie erörtert Wesen und Aufgabe der Geschichte als Geschehen, Forschung und Darstellung. Sie arbeitet schon mit dem Begriff Klima und Generation. In beiden Schriften aber erscheint zum erstenmal die lateinische Sprache als die Verderberin der deutschen Geistesentwicklung. Von diesen beiden Rigaer Schriften her öffnet sich der dreifache Weg, den Herder mit seiner Lebensarbeit ausgeschritten ist: Sprache, Geschichte, Dichtung.

Sprache war für Herder anfänglich gemäß der Anschauung Hamanns das geoffenbarte göttliche Wort, das Wort vom Anbeginn. So ist es denn auch zu verstehen, wenn Herder zunächst dem Sprachproblem von der Bibel her nachsann. Seine "Archäologie des Morgenlandes" (1769) und seine "Unterhaltungen und Briefe über die älteste Urkunde" (1771) waren so gemeint. Seine umwälzende Straßburger "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (1772) hat die Frage dann auf ihre weltliche und verstandesmäßige Seite gewendet. Wie kommt der Mensch zur Sprache? Herders Antwort lautete: Weder durch göttlichen Unterricht noch durch menschliches Übereinkommen, sondern durch seine menschliche Natur, die ihn zuerst durch sein geistiges Vermögen die Merkmale der Dinge unterscheiden läßt und die ihn dann nötigt, diese Merkmale durch Töne zu bezeichnen. Aber mit dieser Antwort, die gemäß der Bibel eine örtlich begrenzte und einmalige Sprachfindung annahm, hatte Herder sich eine neue Frage gestellt. Wie werden aus dieser einen Ursprache die vielen Sprachen der Völker? Durch die Entwicklung des Menschengeschlechtes selber, durch seinen Gesellschaftscharakter, durch seine Spaltung in verschiedene Gruppen, durch räumliches Beisammenbleiben und durch räumliche [298] Trennung. Herders Schrift, in seiner eigenen geistigen Fortbildung von unabschätzbarer Bedeutung und Wurzel aller seiner weiteren Arbeiten, legte den Grund zur modernen Sprachforschung und Sprachphilosophie. Die Schrift setzte aber auch in dem Überzeugungsverhältnis zu Hamann und zu Kant die ersten persönlichen Grenzen. Diese Verneinung des göttlichen Wesens der Sprache mußte Hamann wie einen Abfall von seiner Lehre empfinden. Die drohende Spannung wurde von beiden Seiten ausgeglichen. Hamann milderte seinen ersten abwehrenden Angriff, und Herder machte, was den Offenbarungscharakter der Sprache anlangte, Zugeständnisse in seinem neuen Buch "Älteste Urkunde des Menschengeschlechts" (1774), das die Bibel zwar als reines Literaturwerk erläuterte, aber doch zur buchstäblichen Treue gegenüber dem geoffenbarten Wort zurückkehrte. Und im Geiste Hamanns war die Gedankenfolge gedacht, daß die göttliche Uroffenbarung mittelbar durch die Mythen und Religionen der Völker alle Zeiten und Räume hindurch gewirkt habe. Mit Kant aber konnte es, da Herder bis zu diesem Punkte vorgeschritten war, keinen Ausgleich mehr geben. Mit den entwicklungsgeschichtlichen Abschnitten der Sprachschrift und mit den Hinweisen auf die fortwirkende Uroffenbarung in der "Ältesten Urkunde" war der Ansatz zu der geschichtsphilosophischen Reihe seiner Arbeiten gegeben. In dieser Richtung verfolgte Herder nun seinen Weg weiter.

Diese seitliche Verschiebung der Wegrichtung erfolgte in dem gleichen Bückeburger Jahr 1774 mit der kleinen Schrift "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit". Sie war zunächst im Sinne Hamanns eine Kampfschrift gegen das aufgeklärte, ungläubige achtzehnte Jahrhundert. Hier wurde zum ersten Male der Vorwurf erhoben, den fortan Generation um Generation immer lauter weitergab, der Vorwurf gegen die Mechanik und gegen eine Zeit, die noch kaum die erste Maschine kannte. Und hier fiel das Wort, das dann Arndt mit lodernder Leidenschaft wieder aufgriff, das Wort, daß die Herrschaft des Denkens den Trieb des Lebens schwäche. Indem aber Herder nach einem hellen Gegenbilde zu dem dunklen des achtzehnten Jahrhunderts suchte, stieß er auf das Mittelalter, und so wurde aus einer Anklage der Gegenwart eine Verteidigung jener Vergangenheit, die damals noch völlig außerhalb des Verständnisses des protestantischen Deutschland lag.

Die Schrift war aber weit mehr als beides, als Anklage und Verteidigung. Sie war ein umfassender Arbeitsentwurf für die nun zu schreibende Menschheitsgeschichte. Herder wiederholte sich zu neuem Gebrauch die frühen Gedanken von der Gleichheit im Ablauf der Altersstufen beim Menschen, bei Völkern, bei der ganzen Menschheit. Und er erinnerte sich nun in seiner Bückeburger Frömmigkeit an den frommen Satz Hamanns, daß der Mensch das Werkzeug Gottes zu unerkannten Zwecken sei. Und so entwarf er sich in rohen und noch unfertigen Linien eine geschichtliche Skizze der Menschheitsentwicklung. Kleine Arbeiten, zu denen ihm gelegentliche Preisaufgaben Anlaß wurden, vertieften ihn in Einzelheiten und bemerkenswerte Themen der deutschen Geschichte, [299] so "Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden" oder die lateinisch geschriebene Abhandlung über die Ursachen des raschen Niederganges des Karolingischen Hauses. Aus religiösen Untergründen erhielt sein geschichtliches Denken manchen Zuwachs, so durch die Vorstellung von der Seelenwanderung und durch "Maran Atha" (1779), "Das Buch von der Zukunft des Herrn". So erschien denn 1784 bis 1787 Herders mächtige geschichtsphilosophische Anthropologie, der Inbegriff seiner Lebensarbeit, die "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Das Werk ist Erträgnis der Lehrzeit bei Hamann und Kant. Und es steckt in ihm die ganze Fülle der europäischen Wissenschaft seiner Zeit, die Herder mit Hamannscher Belesenheit genützt hat. Die Straßburger Sprachschrift und die Bückeburger Geschichtsschrift sind in den "Ideen" mit allen ihren Keimen zu einem wahren Weltbaum aufgegangen.

[296a-d]
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
von Johann Gottfried Herder

Zwei Seiten vom V. Kapitel des 18. Buches in Herders Handschrift
(Berlin, Staatsbibliothek)

  [Abschrift folgt dem Faksimile.]

Erste Seite

Zweite Seite
[296d]  Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder.
(Berlin, Staatsbibliothek.)       [Vergrößern]

Der vierte Teil der Ideen, zu dem das 18. Buch gehört, erschien 1791. Die gedruckte Fassung der hier wiedergegebenen Stelle ist erheblich kürzer als der Entwurf, der aus dem Jahre 1782 stammen dürfte. Die gestrichenen Sätze wurden anderweitig verwertet, denn sie geben für Herder ungemein charakteristische Gedanken wieder.

[296a] Abschrift:

Nordische und Slavische Reiche.

      Die Geschichte der nordischen Reiche, die bis ins achte Jahrhundert dunkel u. fabelhaft ist, hat mit der Griechischen u. Römischen dennoch den Vorzug, daß sie gleichsam auf eigenem Grund u. Boden anfängt u. durch Sagen u. Lieder wenigstens die alte, ungemischte Denkart ihres Volks erklärt. Dem chronologischen Geschichtsschreiber sind freilich diese Quellen nicht zureichend; dem Philosophen u. Geschichtsschreiber der Menschheit aber sind sie ungleich werther, als ihm jede trockne Chronik sagen könnte. Durch sie erhalten wir nicht nur von der Religion und Sprache, sondern auch von den Neigungen u. Sitten der Nation, von ihrem Zustande in der Regierungsform, den Künsten u. Geschäften des Lebens so ursprüngliche, lebendige Begriffe, daß man es kühn wagen darf, diese Lieder u. Sagen, als Beiträge zur Geschichte der Menschheit betrachtet, der Mythologie der Griechen, Römer, Indier u. Sineser weit vorzuziehen, weil sich aus ihnen die Denkart nicht Eines Volks, sondern fast aller Völker Europa's erkläret. So schätzbar die Nachrichten der Römer von Galliern u. Deutschen sind: so geben sie uns dennoch kein philosophisches Gemählde. Hätten wir alte Sagen u. Lieder der Vasken, Galen, Kymren, Deutschen, der Lappen, Finnen, Esthen, Kuren, Preußen u. aller weitverbreiteten Slavischen Völker, wie wir sie durch die einzige Insel Island aufbewahrt, vom Gotischen Stamm u. den drei nordischen Königreichen haben, wie gewißer u. reicher wären wir über den gesamten Zustand dieser Völker. Statt also mit Klagen über den Mangel an historischen Denkmalen anzufangen, wie es der Geschichtsschreiber dieser Nationen thun muß, fängt der Philosoph der Menschengeschichte, dem einige frühere Jahrhunderte wenig gelten u. eine Reihe von Königen nichts gilt, die nordische Geschichte mit Freuden an, weil er in ihr den Stamm gewahr wird, aus welchem mit der Zeitenfolge die ganze Denkart dieser Nationen erwachsen.
      Aus den nordischen Sagen u. Liedern lernen wir also, den fremden Ursprung des Volks ungerechnet, daß vor allen andern die Stämme Deutscher Völker so tapfer waren: denn ihre Begriffe von Ehre, vom Werth des Mannes und des Weibes, von der Art, wie man Gott gefalle u. sowohl hier als nach dem Tode [296b] glücklich werde, mußten dergleichen Thaten erzeugen. Wir lernen aus ihnen, wie bei allen rauhen Sitten, im harten Klima dieser Völker, so edle Gesetze, so mancherlei Künste zum See- und Landesgebrauch, nicht nur erfunden werden konnten, sondern erfunden werden mußten, weil z. B. Mann und Weib, Alt und Jung, Freund u. Feind, Richter und Rechtfrager, Fürst und Gefährte, der Beschützer u. der Beschützte so u. nicht anders gegen einander gesinnet waren. Und da diese Gedichte u. Sagen mit dem Himmelsstrich, unter welchem sie galten, mit den Denkmalen, die hie u. da übrig sind, ja selbst mit den spätern Gesetzen und allen Begebenheiten der gewißern Geschichte so ganz übereinstimmen, daß jene diese, diese jene bestätigen u. erklären: so wäre zu wünschen, daß alle merkwürdigen Reste dieser alten Zeit mit so kritischem u. philosophischem Fleiß herausgegeben würden, als wir der freilich angenehmern Mythologie der Griechen Jahrhunderte lang gewidmet haben. Denn die Griechische Mythologie hangt nicht lange so sehr mit großen Ereignissen und Einrichtungen der Völker zusammen, als diese Sagengeschichte. Traurig also, daß auch hier schreckliche Unglücksfälle, am meisten aber die Barbarei christlicher Priester so vieles Licht ausgelöschet haben, das uns über alle Deutschen Völker Europas leuchten könnte.
      Da die nordischen Reiche von keinem fremden Volk bedränget wurden: (Denn welche Nation hatte, nach der großen Wanderung in die schöneren südlichen Länder, Lust, diese Weltgegend zu begehren?) so ist ihre Geschichte sehr einfach u. natürlich. Wo die Nothdurft gebietet, lebet man auch lange der Nothdurft gemäß; und so blieben die Einwohner des Landes lange im Zustande der Freiheit u. Eigengehörigkeit, ohne Zusammendrang und ohne gebietenden Scepter. Berge und Wüsten trenneten, das Meer, die Seen u. Flüsse, Wälder Wiesen u. Felder nährten sie; und was sich im Lande nicht nähren konnte, wagt sich auf die See und suchte anderweit Beute u. Nahrung. Daher hat sich in diesen Gegenden so lange die...
 
"Geschichtsphilosophie", das trifft im Grunde auf Herders Werk nicht zu. Denn es ist in Wahrheit ein Werk der Erfahrungswissenschaft. Herder gab auf induktive oder, mit Kant zu reden, auf synthetische Weise das ganze unbegrenzte Bild des Menschen in seinem menschlichen Kosmos. Das Schicksal der Menschheit kann nur aus dem Buch der gesamten Schöpfung gelesen werden. Und daß der Mensch ein Gewächs der Natur ist, daß die Gesetze der Geschichte also höhere Naturgesetze sind, eben das zeigte Herder, indem er wie einen Stufenbau den kosmischen und irdischen Wohnraum des Menschengeschlechts, die Geschwisterschaft des Menschen mit den übrigen Erdengeschöpfen, indem er den Organismus des Menschen, seinen Beruf zur Humanität und zur Unsterblichkeit darstellte und die Stufenleiter wie unterhalb so oberhalb des Menschen ahnen ließ. Er versuchte eine Rassenkunde des Menschen. Unter dem Antriebe der beiden großen Bildungskräfte der Menschheit, Natur und Kultur, ließ er in einem großartigen Weltgange die Entwicklungsgeschichte der Menschheit sich abrollen vom Morgenlande, von den Griechen und Römern her in das neue christliche Europa und in die festgefügte Hierarchie des Mittelalters. Mit der Völkerkunde Europas [300] aber, in der Herder keines der kleinsten Völker vergaß, wog er die verbrauchten und die erneuerungskräftigen geschichtlichen Mächte des Erdteils gegeneinander ab und stellte so Europa eine Prognose, die im neunzehnten Jahrhundert selber diesen Erdraum an vielen Stellen in Bewegung brachte. Und nun vom Anblick des gesamten menschlichen Kosmos wahrhaft wissend geworden und darum gerecht, von der nahenden Jahrhundertwende zu einer Rechenschaft gedrängt, konnte er zu jener Bückeburger Geschichtsschrift zurückkehren und abermals fragen: Was ist es mit dem achtzehnten Jahrhundert? Die Antwort fiel in seiner freien Schriftenfolge von 1801 "Adrastea", die er nach der Doppelgöttin der Wahrheit und Gerechtigkeit nannte. An den drei Kulturkreisen, dem französischen Ludwigs XIV., dem englischen unter Wilhelm und Anna, dem nordischen unter August von Polen und Karl XII. von Schweden sichtete Herder die gesamte geistige Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts nach Wirkung und Gültigkeit.

Titelblatt des von Herder herausgegebenen Bandes ‘'Von Deutscher Art und Kunst'‘.
[299]      Titelblatt des von Herder
herausgegebenen Bandes
"Von Deutscher Art und Kunst".
Herders dichterisches Werk hatte in seinen Sprachanschauungen die Wurzel und empfing durch seine geschichtlichen Arbeiten Sinn und Bedeutung. Herder war einer der größten Erzieher zur deutschen Nation. Alle seine Dichtungen sind ein Werk dieser Erziehung. Seine beiden Rigaer Schriften untersuchten in dieser ausgesprochenen Absicht die Bedingungen, die für die Bildung einer Nationalliteratur und für die Schule in fremden Literaturen gelten müssen. Dieser Absicht dienten die immer wieder aufgenommenen literarhistorischen Arbeiten, die Sammlung "Von Deutscher Art und Kunst" (1773) gemeinsam mit Goethe und Möser, die Untersuchungen zur Kunstpsychologie und Kunstlehre, die am Kunstwerk mit Vorliebe die Wechselwirkung zwischen Schöpfer und Empfänger erläutern. Aber Herder wußte in solchem Maße um das Wesen des Erziehens und Bildens, daß er alle Kraft in das Vorbild des Geschaffenen legte.

Herder war ein Dichter. Aber er war es auf besondere und fast einzige Art. Er war Lyriker und er war es ausschließlich. Dafür zeugen freilich die eigenen Gedichte nicht, die bis auf die Parabeln und Paramythien nur Persönlichkeitswert haben. Aber gerade die Paramythien, die in freiem schöpferischem Spiel aus Motiven der alten Mythe neue Gebilde von anmutiger Zartheit und feinem Tiefsinn schufen, weisen auf die besondere Gnade seines dichterischen Wesens. Es ist schwer, dafür einen Ausdruck zu finden. Weder Nachdichtung noch Übersetzung sind das rechte Wort dafür. Was er in die Hand nahm, wurde wieder neu, sofern es vor Alter unansehnlich war, wurde im Ohr vertraut, sofern es sonst in einer fremden Sprache redete, wurde vollkommen, sofern es vordem unfertig war, und wem immer es gehören mochte, durch die Berührung dieser Hand wurde es völlig ihr Eigentum. Herder war kein Nachtöner, er war ein Neutöner, mochte er nun wiederherstellen oder übersetzen. Erweckt wurde ihm dieses Vermögen durch das Volkslied. Herder hat die Frage Ursprache – Urdichtung von neuem und nun aus der letzten Tiefe mit seinen Arbeiten über das Volkslied aufgegriffen. Hier ist das östlichste seiner Erlebnisse. An den Merkmalen der ursprünglichen Sprache, wie sie ihm aus dem Munde der [301] Letten und Esten entgegenklang, wurde ihm deutlich, was Volkslied eigentlich ist. Und an den Liedern Ossians, mochten sie nun unecht oder echt sein, klärte sich ihm die Poetik des primitiven Liedes ab. Lebendigkeit, Sinnlichkeit, lyrische Handlung, das Musikalische und Tanzmäßige, Gegenwart der Bilder, Gleichnis der Worte, Silben, Buchstaben, kraftvoller Gang der Melodie erkannte nun Herder als die artbildenden Merkmale des Volksliedes. Und die zwei Bände "Volkslieder", mit denen er 1778 und 1779 ein umfassendes Liederbuch aller Völker und Zeiten herausgab, sind nicht einfach eine besitzmäßig unbeteiligte Sammlung fremden Gutes. Sie sind sein Eigentum so gut wie irgendein Werk seinem Schöpfer gehört. Herder hat dieses Werk im wörtlichsten Sinne künstlerischen Sprachgebrauchs "geschaffen", indem er es aus der Zerstreuung des Nichtvorhandenseins ins Dasein rief und indem er die Sammlung als ein Ganzes und in vielen ihrer einzelnen Gebilde mit seinem Wort geprägt hat. So hat Herder die altgriechische Anthologie nachgedichtet, so aus dem Bestande der römischen Lyrik vor allem Horaz, so aus der rabbinischen Dichtung ausgewählte Stücke. Und in gewissem Sinne ein Gegenstück zu den Volksliedern war das große lyrische Buch "Terpsichore" (1795 und 1796), die das lyrische Werk des besten Barockdichters Jakob Balde in stilvollen deutschen Versen wiedergab und zusammen mit Übertragungen aus dem europäischen Humanismus, aus der neueren Lyrik der Italiener und Engländer die werdende Weltliteratur der Bildungsdichtung anschaulich machte. Abschluß und Krone dieser neugestaltenden Dichtung waren die Romanzen vom "Cid" (1803), die über eine französische Zwischenfassung hinweg mit untrüglicher Witterung Vers und Ton der spanischen Romanze trafen und mit ihrer eigenartigen Mischung mittelalterlicher Heroik und moderner Empfindung eine ganz neue Schöpfung wurden.

Völlig frei aber und aus Eigenem wies Herder mit seinen lyrisch-dramatischen Dichtungen in die Zukunft. Kantate und Oratorium waren ihm aus der Kunstübung des achtzehnten Jahrhunderts geläufig, und er hat einige schöne Dichtungen dieser Art geschaffen. Sie führten ihn zum musikalischen Drama, dem er mit seinem "Brutus" und "Philoktetes"(1774) und mit seiner "Ariadne" (1803) näherzukommen suchte, dessen Kunststil er wiederholt umschrieb und voraus entwarf und dessen Vollender – Richard Wagner – er in ergreifenden Sätzen der "Adrastea" als den noch unbekannten Meister der Zukunft vorausahnte. Mit einem Stück dieses Stiles, "Admetus' Haus", schuf er sich selber und seiner Frau das Mysterium des Opfers füreinander und des Todes, als sich der Schatten des Abschiedes schon auf ihn zu senken begann.

Mit drei Schriften aus seinen letzten Jahren hat Herder seine Stellung in der Zeit und gegenüber der Zukunft bezeichnet. Es waren Kampfschriften sowohl gegen Kant wie gegen die neuen Verbündeten Goethe und Schiller. "Vom Geist des Christentums"(1798) bezeugte, wie weit Herder schon durch seine volksdeutschen Arbeiten der letzten Jahre im germanischen Gedanken vorwärtsgedrungen war. Da hieß das Christentum eine Lehre nicht der Schwärmerei, sondern der [302] Begeisterung. Da wurde vor der empfindsamen Überschätzung der ersten Juden- und Römerkirche gewarnt. Da wurde Trennung von Staat und Kirche gefordert. Da fiel das Wort, in Sprache wie in Gebräuchen müsse der alte Judaismus der Kirche germanisiert werden. "Die Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft" (1799), eine freundschaftliche Anleihe bei Hamann, ging aus der Abwehr zum Angriff gegen Kant vor. Mit dem Hinweis darauf, daß der Mensch aus der Ganzheit seiner Natur denkt, daß alle Begriffe vor der Vernunft durch die Sprache aus der Erfahrung gewonnen werden, wurde Kants Idealismus überhaupt bestritten und der Versuch "hinter die Erfahrung zu transzendieren" als unmöglich abgewiesen. "Kalligone" (1800) wandte sich gegen die Ästhetik Kants ebenso wie gegen die Schillers, gegen die Überschätzung der Form, des Verstandes und der Sittlichkeit in Sachen der Kunst, gegen die Trennung des Erhabenen vom Schönen. Herder bestimmte das Schöne als wirklichen Ausdruck des Seins, nannte Form und Inhalt, Erhabenes und Schönes eine untrennbare Einheit, feierte die Natur als vernunftvolle Künstlerin, den Menschen als höchstes Kunstgeschöpf und bezeichnete die Kunst als das Streben des Menschen, die Natur sich und sich der Natur harmonisch zu machen.

Herders umfassende Tätigkeit als Denker, Dichter, Seelsorger und Schulmann wurde von einem Punkte aus bewegt. Er hat erkenntnismäßig von der Sprache her den Vorstellungen von Volk, Geschichte und Dichtung einen neuen und endgültigen Sinn gegeben. Damit bewirkte er die Umwälzung der Erfahrungswissenschaften durch seine "Ideen", gab er der Geschichte, der Erdkunde, der Anthropologie die neue entscheidende Richtung, begründete er die Sprachphilosophie, die geisteswissenschaftliche Literaturgeschichte und Volkskunde. Für die Kunstlehre ergab sich daraus ein neuer Grundbegriff der Kunst und des Künstlers, eine Neugliederung der Kunstgattungen von den Sinnen her und aus der geistig-leiblichen Natur des Menschen, Lyrik als bewegte Ausdruckskunst, die kunstwissenschaftliche Begründung des Musikdramas und der Kritik als eines nachschaffenden Kunstwerkes. Für die deutsche Geistesgeschichte folgte eine Umwertung entscheidender Epochen, so des Mittelalters und des Barocks.

Zeitgeschichtlich wirkte Herders Leistung sich aus in der Verdeutlichung und Verbreitung von Hamanns Ideen, in der Wegleitung Goethes und Grundlegung der Romantik, in der Sicherung der naturhaften und ursprünglichen Lebenskräfte gegen die unbefugten Ansprüche der Vernunft und des Geistes, wie sie als Gefahr in Kants Denkweise lauerten. Für die Nation aber brachte Herders Lehre, daß das Volk der Nährboden aller Kulturvorgänge sei, daß in den Mundarten der wahre Sprachgeist ströme, daß alles Geschehen seine Kraft aus dem Volk und seiner Heimat ziehe, den ersten Umschwung zu sich selber. Herder hat in einem Zeitalter neuandringender Fremde und beginnender Übergeistigung das gesunde Gleichgewicht zugunsten der sinnlichen und ursprünglichen Natur des Menschen wiederhergestellt, den Deutschen auf seine Volkheit und auf die nordländischen Wurzeln seines [303] Wesens zurückgeführt. Herder ist für das östliche Mitteleuropa und für das deutsche Volk ein Mann des Schicksals. Denn seine "Ideen" haben sehr viel mitgeholfen, die Völker baltischer, slawischer und magyarischer Zunge aus ihrem nationalen Schlummer aufzuwecken.

Abendgesellschaft bei der Herzogin Anna Amalie von Weimar.
[300b]      Abendgesellschaft bei der Herzogin Anna Amalie von Weimar; ganz rechts Herder.
Aquarell von Georg Melchior Kraus, um 1790. Weimar Bibliothek.

[Bildquelle: van der Smissen, Darmstadt.]

Gipsbüste von Gottlieb Martin Klauer, 1783.
Johann Gottfried Herder.
Gipsbüste von Gottlieb Martin Klauer, 1783.
Berlin, National-Galerie.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 204.]
Herders persönliche Gestalt ist uns in nicht wenigen Bildnissen und Büsten aufbewahrt: im Schattenriß und in behaglicher Häuslichkeit mit seiner Frau; das Bild beherrschend im Kreise der Weimarer Hofgesellschaft und mit seinen Reisegefährten in einem italienischen Villengarten; von Anton Graffs Hand als Vierzigjähriger, der Mann der "Ideen", lebendig und geistvoll; als Fünfzigjähriger von der Hand Johann Friedrich Tischbeins, überlegend und sicher, aus der Zeit der beginnenden Spannungen mit Goethe und Schiller; Büsten von Martin Klauer und Alexander Trippel aus den achtziger Jahren. In der freien Schöpfung Gerhard von Kügelgens, die nach Herders Tode entstanden ist, dem bedeutendsten Versuch, Herders Geistnatur geschichtlich herauszuarbeiten, hat Karoline Herder ihren Mann am getreuesten wiedererkannt. Wir möchten an die letzte Urkunde nach dem Leben glauben, an die Zeichnung Anton Graffs. Sie zeigt den Kopf eines Menschen, der das Leben hinter sich hat, in dessen Zügen die angeborene Güte und Liebenswürdigkeit nach den Kämpfen der letzten Jahre wieder reiner heraustreten, ein mehr beseelter als vergeistigter Kopf, aus dem zwei wissende, aber gute Augen leuchten.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz