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[Bd. 2 S. 277]
Johann Georg Hamann, 1730 - 1788, von Rudolf Unger

Johann Georg Hamann.ċ
[272b]      Johann Georg Hamann.
Zeitgenössisches Gemälde.
Königsberg, Stadtgeschichtliches Museum.
Unter den großen Persönlichkeiten, die ein Volk im Gange seiner Geschichte hervorbringt, gibt es eine Gruppe, die der knappen Charakterisierung besondere Schwierigkeiten entgegensetzt. Es sind nicht Helden des Willens und Handelns, deren Bedeutung an ihrer offensichtlichen Wirkung auf das Ganze des nationalen Lebens ermessen werden kann, noch Begabungen, die auf einem Einzelgebiete neue Werte hervorbringen. Weder die schöpferische Allseitigkeit der ganz Großen ist ihr Teil, noch auch jene harmonische Ausgeglichenheit des Wesens und der Gaben, die auch ohne volle Genialität in ihrem engeren Kreise befruchtend und aufbauend zu wirken vermag. Vielseitig, aber sprunghaft, in beständiger Unruhe nie sich vollendend und doch gerade dadurch mannigfach an- und aufregend, weniger genial als dämonisch, weder im Leben noch in Werken eigentlich Gestalter, doch aus den Tiefenschichten der Seele und des Volkstums lebend und schaffend und eben dadurch neues, über sie hinauswachsendes Leben und Seelentum entzündend, greifen sie kraft einer inneren Ursprünglichkeit gewaltig in die Entwicklung ihrer Zeit, ihres Volkes, vielleicht der Welt ein, führen neue Wendungen des Geistes oder der Kultur herauf, wecken und spornen durch den geheimnisvollen Zauber ihres Anrufs und ihrer Verkündigung viele Folger. Und wenn ihnen das Geschick günstig ist, geschieht es wohl, daß auch eine wahrhaft große Führernatur sich durch eine solche dunkel raunende Prophetenstimme aufrufen läßt und deren Ahnung, deren seherisches Gesicht gestaltend in die Wirklichkeit umsetzt: zum künstlerischen, staatlichen, weltanschaulichen Werke. In diesem Größeren erst lebt sich dann ihre Sendung fruchtbar und allseitig aus. So geschah es – um nur einige Namen zu nennen: einem Rousseau, einem Kierkegaard, einem Nietzsche – auch Hamann.

"Wenn mich die Eitelkeit, ein Muster zu werden, anfechten sollte, so würde ich der erste sein, darüber zu lachen. Von der Schuldigkeit, ein Original zu sein, soll mich nichts abschrecken. Ein Original schreckt Nachahmer ab und bringt Muster hervor." Der so von sich schrieb, war gewiß kein Vorbild im Geiste seiner Zeit, der Aufklärung, kein "Muster", weder im Leben noch im Schrifttum, zu bequemer Nachahmung für "Schüler" in irgendeinem Sinne. Aber er war allerdings ein Geist von einer damals – und überhaupt – seltenen Ursprünglichkeit, Selbständigkeit und Eigenart. Und so ist ihm geworden nach seinem Glauben: hat das überbildete und unschöpferische Geschlecht seiner Zeitgenossen [278] abgeschreckt, er galt ihnen als Tor oder Sonderling; aber er hat erweckend, aufrüttelnd, befruchtend gewirkt auf Geister von gleicher Ursprünglichkeit und Eigenkraft: auf Herder, Goethe, die Generation des Sturmes und Dranges insgemein, und weiter noch im nächsten Jahrhundert bis auf Baader, Kierkegaard, Nietzsche und die folgenden.

Seinen Ursprung und sein Werden bis zu der entscheidenden inneren und äußeren Krise hat Hamann selbst geschildert mit der hüllenlosen Aufrichtigkeit einer Beichte aus tieferschütterter Seele in den seltsam eindringlichen "Gedanken über meinen Lebenslauf". Väterlicherseits stammte seine Familie aus der Oberlausitz, der Landschaft des großen deutschen Mystikers Jakob Böhme; von der Mutter her aus Lübeck, also aus niederdeutschem Blute. Von seinen Vorfahren ist wenig bekannt: wir wissen nur, daß der väterliche Großvater, Pfarrherr zu Wendisch-Ossig, mit der Tochter eines Pfarrers aus der Nähe von Kamenz, der Geburtsstadt Lessings, verheiratet war, und daß der Vatersbruder und – vielleicht – Pate unseres Johann Georg als Dichter von Kirchenliedern, als Opernlibrettist, namentlich aber als Vollender von Anselm von Zieglers seinerzeit berühmtem Roman von der "Asiatischen Banise" im Schrifttum des ersten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts und als Literat in Leipzig und Hamburg eine gewisse Rolle spielte. Die Mutter, eine geborene Nuppenau, scheint, wie so häufig in unserer deutschen Geistesgeschichte, dem Sohne jene tiefe Innerlichkeit und zarte Reizbarkeit des Gemütes vererbt zu haben, welche nicht selten die ausgleichende Ergänzung des herben Wirklichkeitssinnes niedersächsischen Stammestums bildet.

So ist Hamann unter den geistigen Heroen Ostpreußens im achtzehnten Jahrhundert, rein auf die Abstammung gesehen, der am wenigsten eigentlich ostpreußische. Als er am 27. August 1730 als Sohn des stadtbekannten, allgemein geachteten und beliebten Baders und Wundarztes Johann Christoph Hamann und dessen Gattin Magdalene Elisabeth in dem freundlich am Katzbach gelegenen Kämmereigebäude der altstädtischen Badestube geboren wurde, war sein Vater noch nicht lange in die Pregelstadt eingewandert. Dennoch ist Johann Georg Hamann sein ganzes Leben hindurch, bis auf einige Reisen seiner jüngeren Jahre und die Todesfahrt am Ende seiner Tage, seinem ostpreußischen Vaterlande nicht nur räumlich treu geblieben: auch geistig hat er sich immer als Altpreuße und als Anwalt "unsrer gebückten und erniedrigten Königsburg" gefühlt gegenüber der Abneigung, die Friedrich der Große die östliche Provinz und deren pietistische Bewohner zuzeiten so empfindlich fühlen ließ. Er liebte Geburtsstadt und Geburtsland mit der innigen Neigung wurzelfester, bodenständiger Naturen zu den Stätten der Heimat und Kindheit; und nur um so treuer, je stärker damals beide unter den Unbilden und Nachwehen des verheerenden Krieges mit den Russen, die Königsberg von 1758 bis 1762 besetzt hielten, und den Härten der halb französischen Verwaltung der Folgezeit zu leiden hatten. Wie denn überhaupt die Treue zur angestammten oder anvertrauten Art in jedem Sinne einen [279] Grundzug seiner aus den Tiefenschichten des Lebens genährten Wesensart ausmacht.

Der Geist des in schlicht bürgerlichen Formen heiter geselligen Elternhauses, vom jungen Königsberger Pietismus nicht unberührt, obschon bei weitem nicht so streng bestimmt wie derjenige, in dem wenige Straßen entfernt der sechs Jahre ältere Knabe Immanuel Kant heranwuchs, bildete ein wohltätiges Gegengewicht gegen die Planlosigkeit und Unmethodik der lange in Winkelschulen und unter Hofmeisterwillkür verzettelten Schulerziehung, welche auch die Kneiphöfische Domschule unter dem gelehrten und frommen Salthenius nicht mehr ins rechte Gleis zu bringen vermochte. Fleischliche Versuchungen traten hinzu, unreife Vielwisserei und dann auf der altehrwürdigen Albertus-Universität, die der Jüngling 1746 bezog, schöngeistige Neigungen im Zeitgeschmack des französierenden Rokoko, um sein Gehirn vollends zu einer "Jahrmarktsbude von ganz neuen Waren" zu machen. Von der ursprünglich ergriffenen Gottesgelahrtheit ging der junge Studiosus bald zur Rechtswissenschaft über, ergab sich aber auch dieser nur zum Schein. Er schwamm vielmehr ganz im Strome der vom beginnenden Neuhumanismus beeinflußten modischen Zeitinteressen für Schöngeisterei und elegante Belletristik: "Was mich vom Geschmack der Theologie und aller ernsthaften Wissenschaften entfernte", berichtet er selbst, "war eine neue Neigung, die in mir aufgegangen war, zu Altertümern, Kritik – hierauf zu den sogenannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, Philologie, den französischen Schriftstellern und ihrer Gabe zu dichten, zu malen, schildern, der Einbildungskraft zu gefallen". Noch als Student arbeitete er in diesem Sinne mit seinen Freunden an einer schönwissenschaftlichen Zeitschrift "Daphne" (1750), die nach Art der moralischen Wochenschriften die Geschmacksrichtung etwa Gellerts und seiner Genossen, der "Bremer Beiträger", gegen die strenge Schulregel der von Gottscheds Anhänger Flottwell geleiteten, noch heute bestehenden Deutschen Gesellschaft Königsbergs vertrat.

An die Studienzeit schlossen sich, nach der damaligen Sitte, Jahre der Tätigkeit als "Hofmeister" (Hauslehrer), die Hamann in baltischen Adelsfamilien verbrachte: erst bei dem Sohne einer Baronin Budberg auf Kegeln in Livland, dann bei den Söhnen des Generals von Witten auf Grünhof in Kurland. Mit vielerlei Wissen beladen, doch ohne wahres Können und Verstehen, charakterlich ungefestigt und seelisch schwankend, vermochte der in tieferem Sinne selbst noch Unerzogene, bei allen pädagogischen Neigungen und aller Liebe zu seinen Zöglingen, diese doch nicht wahrhaft zu führen. "Ich ging wie ein mutig Roß im Pflug mit vielem Eifer, mit redlichen Absichten, mit weniger Klugheit und mit zu vielem Vertrauen auf mich selbst und Zuversicht auf menschliche Torheiten bei dem Guten, das ich tat oder tun wollte", lautet sein späteres Urteil über diese Zwischenzeit gärender Unbefriedigung. Abgelöst wurde das einsame Landleben auf den idyllischen Adelssitzen durch die großstädtischen Eindrücke im befreundeten [280] Handelshause der Berens zu Riga, wo der empfängliche und lebenshungrige Kandidat, dessen Naturanlage zwischen derber Sinnlichkeit und hochgespanntem Idealismus zwiespältig geteilt war, nun auch in die praktische Sphäre der ihm schon durch seine Universitätsjahre nahegebrachten Aufklärungsbildung tief eintauchte. Durch seinen Freund Joh. Christoph Berens in die volkswirtschaftlichen und Handels-Interessen jenes merkantilistischen Zeitalters eingeführt, übersetzte er 1756 eine wirtschaftspolitische Schrift des Franzosen Dangeuil unter dem Titel: "Anmerkungen über die Vorteile und Nachteile von Frankreich und Großbritannien in Ansehung des Handels und der übrigen Quellen von der Macht der Staaten" und begleitete sie mit einer eignen "Beilage", in der er sein Idealbild von der Bedeutung des recht erfaßten und betriebenen Handels entwarf, hohe Forderungen an die Bildung des wahren Kaufmanns stellte und, im Gegensatz zur eigennützigen "Familiensucht", dem staatsbegründenden rechten "Familiengeist" das Wort redete.

Allein zur selben Zeit, da wir den jungen Kandidaten und Hofmeister so aufgeklärt zweckhaften Nützlichkeitsbestrebungen – wenn auch idealistisch verklärten – sich hingeben sehen, bereitete sich auch bereits langsam und noch halb unbewußt die große Wandlung in seiner Seele vor. Schon aus dem mannigfach zusammengesetzten und widerspruchsvollen Bilde des Hamann der letzten Königsberger und ersten baltischen Jahre hebt sich allmählich, neben den Zügen einer von französischem Geiste beeinflußten "anakreontischen" Galanterie, ja Frivolität, ein seelischer Bezirk von Empfindsamkeit, Schwermut und Hypochondrie heraus. In der Einsamkeit Grünhofs, wohin er aus Riga noch einmal zurückgerufen ward, verstärkten sich diese dunkleren Züge seines Innenlebens durch die Wirkung der Schwermut englischer Dichter oder Erbauungsschriftsteller, um am Sterbebett seiner Mutter und in dem halbpoetischen "Denkmal", das der trauernde Sohn der Heimgegangenen in frommer Pietät setzte (Juli 1756), einen ersten Durchbruch tieferer Schichten seines Wesens hervorzurufen. Freilich wurden diese zunächst nochmals überlagert und zurückgedrängt durch die neuen Antriebe aus dem aufgeklärten Rigaer Lebenskreis des Berensischen Hauses, in dessen Diensten Hamann im Herbst des nämlichen Jahres eine größere Reise antrat, die ihn über Berlin, wo er die Häupter der dortigen Aufklärung kennenlernte, Lübeck, das ihm durch die Verwandten seiner Mutter lieb wurde, Hamburg, Amsterdam im Frühjahr 1757 nach London führte. Ob der eigentliche Zweck dieser Reise mehr in persönlichen Motiven, der Vorbereitung zum kaufmännischen Beruf, der Anregung durch die neuen Eindrücke zu suchen sei, ob sie sachlichen Zielen handelspolitischer oder gar – was dunkle Bemerkungen des "Lebenslaufs" anzudeuten scheinen – diplomatischer Art dienen sollte, steht dahin. Jedenfalls erwies sich der junge Reisende weder der einen noch der anderen Absicht im geringsten gewachsen. In der fremden Umwelt Londons wurde der jugendlich Unerfahrene, in Geschäften kindlich Hilflose, den Versuchungen der Weltstadt wehrlos Preisgegebene bald von seiner [281] Aufgabe abgedrängt: er stand, den dämonischen Lockungen eines heuchlerischen Verführers mit Not entronnen und vor dem Abgrund der Sünde und des Elends entsetzt zurückschaudernd, in furchtbarer innerer und äußerer Verlassenheit verzweifelnd, dicht vor dem physischen und moralischen Untergang.

Da begab sich an einem Märztag des Jahres 1758 mit dem seinem Gotte so lange Entfremdeten, eitlem Vernunftstolz und selbstischer Weltlichkeit Verfallenen, über inbrünstigem, von Seelennot gesporntem Forschen in der vom Elternhause her altvertrauten, aber nie noch recht verstandenen Heiligen Schrift das solchen auf den inneren Gegensatz gestellten Naturen, in denen ein urtümlicher Drang unwiderstehlich zum Lichte ringt, eigentümliche Erlebnis der "Erweckung", "Bekehrung" und "Wiedergeburt".

Ein solches Erlebnis, wenn es, wie hier bei Hamann, ein wahrhaft seelenerschütterndes und lebenerneuerndes ist, wird im tiefsten Grunde immer Mysterium bleiben und nur ahnendem Nacherleben dessen, der irgendwie Vergleichbares in eigener Seele erfahren hat, sich erschließen. Lassen wir uns daher die Warnung der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" gesagt sein: "Einen Körper und eine Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen", und hören wir vielmehr Hamanns eignen, unmittelbar in oder nach dem Erleben niedergeschriebenen Bericht, der mit seiner unnachahmlichen Sprachgebärde zugleich einen Hauch jener wundersamen Gemütsbewegtheit, in welcher sich der geheimnisvolle Vorgang vollzog, lebendig zu machen vermag: "Unter dem Getümmel aller meiner Leidenschaften, die mich überschütteten, daß ich öfters nicht Odem schöpfen konnte, bat ich immer Gott um einen Freund, um einen weisen, redlichen Freund, dessen Bild ich nicht mehr kannte. Ich hatte anstatt dessen die Galle der falschen Freundschaft und die Unhinlänglichkeit der bessern genug gekostet. Ein Freund, der mir einen Schlüssel zu meinem Herzen geben konnte, den Leitfaden von meinem Labyrinth – war öfters ein Wunsch, den ich tat, ohne den Inhalt desselben recht zu verstehen und einzusehen. Gottlob! Ich fand diesen Freund in meinem Herzen, der sich in selbiges schlich, da ich die Leere und das Dunkle und das Wüste desselben am meisten fühlte. Ich hatte das Alte Testament einmal zu Ende gelesen und das Neue zweimal, wo ich nicht irre, in der Zeit. Weil ich also von neuem den Anfang machen wollte, so schien es, als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde, die mir dieses Buch das erstemal verschlossen hätte. Ich nahm mir daher vor, mit mehr Aufmerksamkeit und in mehr Ordnung und mit mehr Hunger dasselbe zu lesen und meine Gedanken, die mir einfallen würden, dabei aufzusetzen.

Dieser Anfang, wo ich noch sehr unvollkommene und unlautere Begriffe von Gottes Wort zur Lesung desselben mitbrachte, wurde gleichwohl mit mehr Aufrichtigkeit als ehemals den 13. März von mir gemacht. Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. [282] Ich vergaß alle meine Bücher darüber; ich schämte mich, selbige gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben. Ich fand die Einheit des göttlichen Willens in der Erlösung Jesu Christi, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunkt zusammenliefen, die Seele des Menschen aus der Sklaverei, Knechtschaft, Blindheit, Torheit und dem Tode der Sünden zum größten Glück, zur höchsten Seligkeit und zu einer Annehmung solcher Güter zu bewegen, über deren Größe wir noch mehr als über unsere Unwürdigkeit oder die Möglichkeit, uns derselben würdig zu machen, erschrecken müssen, wenn sich uns selbige offenbaren. Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eigenen Lebenslauf und dankte Gott für seine Langmut mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte... Mit diesen Betrachtungen, die mir sehr geheimnisvoll vorkamen, las ich den 31. März des Abends das fünfte Kapitel des fünften Buches Moses, verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte: Die Erde hat ihren Mund aufgetan, um das Blut deines Bruders zu empfangen – Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des Bluts, als die Stimme eines erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich selbiges beizeiten nicht hörte und fortführe, mein Ohr gegen selbiges zu verstopfen; – daß eben dies Kain unstetig und flüchtig machte. Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Tränen, und ich konnte es nicht länger – ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland immer mehr und mehr zu offenbaren.

Ich fuhr unter Seufzern, die vor Gott vertreten wurden durch einen Ausleger, der ihm teuer und wert ist, in Lesung des göttlichen Wortes fort und genoß eben des Beistandes, unter dem dasselbe geschrieben worden, als des einzigen Weges, den Verstand dieser Schrift zu empfahen, und brachte meine Arbeit mit göttlicher Hilfe, mit außerordentlich reichem Trost und Erquickung ununterbrochen den 21. April zu Ende.

Ich fühle gottlob! jetzt mein Herz ruhiger, als ich es jemals in meinem Leben gehabt... Ich überlasse mich seinem weisen und allein guten Willen... Gott hat mich aus einem Gefäß in das andere geschüttet, damit ich nicht zuviel Hefen ansetzen und ohne Rettung versauern und stinkend werden sollte. Alles muß uns zum Besten dienen; da der Tod der Sünde zu unserm Leben gereicht, so müssen alle Krankheiten derselben zur Erfahrung, zum Beispiel und zur Verherrlichung [283] Gottes gereichen... Ich glaube, daß das Ende meiner Wallfahrt durch die Gnade Gottes in das Land der Verheißung mich führen wird...

Ich schließe mit einem Beweise meiner eigenen Erfahrung, in einem herzlichen und aufrichtigen Dank Gottes für sein seligmachendes Wort, das ich geprüft gefunden als das einzige Licht, nicht nur zu Gott zu kommen, sondern auch uns selbst zu kennen; als das teuerste Geschenk der göttlichen Gnade, das die ganze Natur und alle ihre Schätze so weit übertrifft als unser unsterblicher Geist den Leim des Fleisches und Blutes; als die erstaunlichste und verehrungswürdigste Offenbarung der tiefsten, erhabensten, wunderbarsten Geheimnisse der Gottheit im Himmel, auf der Erde und in der Hölle, von Gottes Natur, Eigenschaften, großem überschwänglichem Willen hauptsächlich gegen uns elende Menschen, voll der wichtigsten Entdeckungen durch den Lauf aller Zeiten bis in die Ewigkeit; als das einzige Brot und Manna unserer Seelen, dessen ein Christ weniger entbehren kann als der irdische Mensch seiner täglichen Notdurft und Unterhalts – ja ich bekenne, daß dieses Wort Gottes ebenso große Wunder an der Seele eines frommen Christen, er mag einfältig oder gelehrt sein, tut als diejenigen, die in demselben erzählt werden; daß also der Verstand dieses Buchs und der Glaube an den Inhalt desselben durch nichts anderes zu erreichen ist als durch denselben Geist, der die Verfasser desselben getrieben; daß seine unaussprechlichen Seufzer, die er in unserem Herzen schafft, mit den unausdrücklichen Bildern Einer Natur sind, die in der Heiligen Schrift mit einem größeren Reichtum als aller Samen der ganzen Natur und ihrer Reiche aufgeschüttet sind..."

Es kann sich, wie gesagt, hier nicht darum handeln, ergründen zu wollen, ob das in solch leidenschaftlichem Seelenerguß zum Ausdruck ringende Erlebnis mehr dem pietistischen Bekehrungstypus oder mehr den Erweckungen etwa eines Paulus, eines Augustin, eines Luther oder Pascal entspricht. So gewiß Hamann mit ihm weit über die Enge und Gedrücktheit des kleinbürgerlichen Pietismus seiner Königsberger Erziehung und Umgebung oder überhaupt des Frömmigkeitstypus Speners und Franckes hinauswächst, so gewiß war er doch wiederum nichts weniger als eine Luthernatur. Wie Luther gründete er hinfort sein geistiges Sein und Handeln unverrückbar auf den christlichen Offenbarungs- und Erlösungsglauben und dessen Bezeugung in der Schrift; in Luther, "unserem Kirchenvater", wie er ihn einmal nennt, fand er Nahrung für sein innerstes Leben, Schutz vor dem Zeitgeist des aufgeklärten Jahrhunderts, Stärkung seines erbitterten Widerspruchs gegen die Anmaßungen der bloßmenschlichen Vernunft. Allein für ihn, den durch die Gefühlskultur des Pietismus, die Verstandeskultur der Aufklärung, die Seelenweichheit der Empfindsamkeit, den damals besonders aus England zu uns herüberwirkenden Drang zur unmittelbaren Sinnenwirklichkeit Hindurchgegangenen, seelisch mannigfach Gebrochenen und – bei aller wirklichen oder scheinbaren Ursprünglichkeit – vielschichtig Spannungsreichen konnte die ungebrochene Seelenstärke des Willenshelden Luther und dessen [284] tathafter Glaubenstrutz mehr nur ein Wunschziel bedeuten, aus gegensätzlicher Veranlagung leidenschaftlich umworben, denn unmittelbar aneignungs- und nachlebensmögliches Vorbild. Nur in dem einen und allerdings Wichtigsten zeigt er sich dem Reformator unmittelbar verwandt: darin, daß auch er die letzte Einheit, den ruhenden Schwerpunkt für alle die gewaltsam auseinanderstrebenden Spannungen und Gegensätze seines Wesens nunmehr ein für allemal in dem biblischen Erlösungsglauben fand und festhielt, wie es die eben deshalb ausführlich wiedergegebenen Sätze seiner Selbstschilderung für sein gesamtes ferneres Leben gültig bezeugen. Und sodann darin, daß von hier aus der Kampf für "Golgatha und Scheblimini", d. h. für das gläubige Christentum in lutherischem Sinne, gegen den vernunftstolzen Zeitgeist und die von der westlich-romanischen Aufklärung her drohende Bildungs- und Seelenüberfremdung des deutschen Genius hinfort der eigentliche Inhalt seines Daseins wurde.

Dieses ganze fernere Dasein verläuft nun gleichsam im Zeichen jener Ironie, die der Polemiker Hamann, als eine Art christlicher Sokrates des achtzehnten Jahrhunderts, im Kampfe gegen die Sophistik der aufklärerischen Verstandesüberschätzung so meisterhaft handhabte. Die äußere Tatsächlichkeit seines weiteren Lebensganges nämlich hat nur die Bedeutung eines unscheinbaren, den oberflächlichen Blick täuschenden Gefäßes oder Rahmens für jenen bedeutsamen Inhalt: also Vorgänge wie etwa die Rückkehr nach Riga und sodann, nach Entzweiung mit den aufklärerischen Freunden, in die Heimatstadt; häusliches Leben in freier Muße und weitausgreifenden, vielseitigen Studien; später, nach dem Tode des Vaters und mißglückten Anläufen in der Fremde (Kurland bzw. Darmstadt oder Frankfurt a. M.) festen Fuß zu fassen, seit 1767 Berufstätigkeit in den untergeordneten und kärglich besoldeten Stellungen eines Secrétaire-Traducteur und zehn Jahre später eines Packhofverwalters in Königsberg; Gewissensehe und Familiengründung mit einem brav hausmütterlichen, aber bildungsunfähigen Bauernmädchen; Verblödung des einzigen Bruders; wirtschaftliche Schwierigkeiten bei wachsendem Hausstand (ein Sohn, drei Töchter) und allerlei Unerquicklichkeiten mit Vorgesetzten und Verwandten; wundersame Errettung aus der Not durch das Eingreifen eines fremden Wohltäters; endlich, am 21. Juni 1788, das unvermutet rasche, aber sanfte Sterben bei der "christlichen Aspasia", der frommen Fürstin Amalie Gallitzin in Münster, mitten auf einer größeren Reise, die Hamann und seinen Sohn seit dem Sommer des Vorjahres zu jenem hochsinnigen Spender, Franz Bucholtz auf Wellbergen bei Münster, und zu seinem "Jonathan", dem Philosophen Fritz Jacobi in Pempelfort bei Düsseldorf, dem vertrauten Korrespondenten seiner Spätjahre, geführt hatte.

Man könnte zunächst meinen, das Leben eines Sonderlings und gelehrten, doch verkauzten Kleinbürgers fast im Stile Jean Pauls, der ihm ja auch so besondere Verehrung widmete, vor sich zu haben. Und doch birgt dieser äußerlich mehr als schlichte, fast armselige Lebensgang für den zur Tiefe hinabdringenden, [285] verständnisvollen Blick das gerade in seiner Verhaltenheit seltsam ergreifende Schauspiel eines unablässigen, folgerichtigen einsamen Kampfes gegen den mächtigsten aller Gegner, den herrschenden Zeitgeist. Eines Kampfes, der deshalb wahrlich nicht weniger schwer und erbittert war, weil er von Hamann auf indirekte Weise, mit allen Waffen der Satire, der Ironie, des Witzes, freilich auch wuchtigen Prophetenzornes geführt wurde. Nach der großartigen Hüllenlosigkeit der "Gedanken über meinen Lebenslauf" und der heißen Unmittelbarkeit der "Biblischen Betrachtungen", welche beide jenes entscheidende Londoner Erlebnis bekenntnismäßig-persönlich spiegeln, beginnt mit den "Sokratischen Denkwürdigkeiten" die Autorschaft für die Öffentlichkeit und im Dienste des "unbekannten", neu-alten Gottes des Glaubens gegen den Götzen der aufgeklärten Vernunft. Es ist fast unmöglich, demjenigen, der noch nie eines dieser Schriftchen Hamanns, von denen keines mehr als wenige Bogen umfaßt, zur Hand genommen hat, von Art und Inhalt dieser seltsamen Schriftstellerei eine klare Vorstellung zu vermitteln. Denn ihr Grundwesen ist ja gerade die absichtsvolle Verneinung aller logisch folgerichtigen Gedankenführung und aller begrifflich genauen Ausdruckgebung zugunsten eines, je nach Verständnis, Empfänglichkeit und Stimmung des Aufnehmenden, bald reizvoll anregenden oder in der Tiefe aufwühlenden, bald quälerisch ermüdenden oder neckisch vexierenden stilistischen und inhaltlichen Versteckspiels. Es ist in diesen barocken Sprachmanieren und Gedankensprüngen zweifellos – was man früher oft verkannt hat – ein gutes Stück vollbewußter Kunst wirksam: jener "mimischen Ironie", welche erstmals in den "Sokratischen Denkwürdigkeiten", in Nachahmung des platonischen oder pseudoplatonischen Stiles, so virtuos hervortritt und hohe Wirkungen nach Seite des erhabenen Tiefsinnes wie des satirischen Witzes zu erzielen vermag. Anderseits freilich bekundet sich in der Unfähigkeit, einen Gedankengang straff festzuhalten und klar, folgerichtig durchzudenken und wiederzugeben, doch auch eine gelegentlich fast bis zu kindlicher Hilflosigkeit oder krankhafter Gedankenflucht sich steigernde schizophrene Veranlagung, die der Magus – als "Magus im Norden" begrüßte ihn 1762 der ihm in mancher Hinsicht geistesverwandte Friedrich Karl von Moser, der "Philo" in Goethes "Bekenntnissen einer schönen Seele" – selbst öfters beklagt hat: "Mir wird bei dem, was ich selbst geschrieben, so übel und weh als dem Leser, weil mir alle Mittelbegriffe, die zur Kette meiner Schlüsse gehören, verraucht sind und so ausgetrocknet, daß weder Spur noch Witterung übrigbleibt."

Nichtsdestoweniger durfte sich Hamann, im Blick auf seine Zeitgenossen, der trotz aller Schwächen unleugbaren Größe und machtvollen Besonderheit seiner Autorart zuversichtlich bewußt sein: "Ad oculum et unguem (offensichtlich und handgreiflich) Wahrheiten und Lügen zu demonstrieren, ist meine Sache nicht. Bei mir ist von Sturmwinden die Rede, die man sausen hört, ohne selbige anders als an den Wirkungen sehen zu können, und die in den Lüften herrschen, ohne daß [286] man ihre Gestalt, Anfang und Ende mit den Fingern zeigen kann." Ein solcher Sturmwind sind sogleich die "Sokratischen Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publikums, zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile", die geistsprühende Ouvertüre seines öffentlichen Schriftstellertums (1759): im Gewande ironischen Spottes eine verzweifelt ernste, sarkastisch schneidende Kriegserklärung an den hochmütigen Verstandesdünkel des Zeitgeistes, zugleich aber auch die überlegene Verkündigung genialer Unmittelbarkeit in Erkennen und Leben. Zwei Momente – dies etwa ist der Kerngedanke der phantastischen und doch tief sinnvollen Umwandlung, die unser platonisierender Ironiker hier mit dem Sokratestypus der Aufklärung vornimmt, um ihn zum Träger eigner Strebungen, zum Künder des eignen verstandesgegnerischen Lebensideals zu machen – zwei Momente bilden in ihrem wechselseitigen Bezug die geistige Persönlichkeit des wahren Sokrates, zum Unterschied von den vernunftstolzen und sophistischen Athenern: Unwissenheit und Genie. Während seine Landsleute auf ihre Klugheit und Gelehrsamkeit sich viel zugute taten und selbst mit ihrem Zweifel prunkten, war dem Philosophen sein Nichtwissen zu einer auf Selbsterkenntnis beruhenden Empfindung geworden. Seine Unwissenheit war nicht eine verstandesmäßige, sondern eine sittlich-religiöse; nicht künstliche Lehre wie bei den alten und neuen Sophisten, deren Zweifel nur eine andere Art des Verstandeshochmuts ist, sondern das demütige Bewußtsein der Ohnmacht menschlicher Vernunft und, als praktische Folgerung aus diesem Bewußtsein, die vertrauensvolle Hingabe an die weltüberlegene Weisheit Gottes. Mit anderen Worten: die empfundene Unwissenheit des Sokrates, wie ihn Hamann als sein Vorbild sieht oder sich gestaltet, war die notwendige Voraussetzung und gleichsam nur die antiaufklärerische Kehrseite des fraglosen Glaubens an sein "Daimonion" – seinen Genius: "Was ersetzt bei Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bei einem Shakespeare die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie, ist die einmütige Antwort. Sokrates hatte also freilich gut unwissend sein: er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war als an aller Vernunft der Ägypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte..." Auf den Spuren dieses Sokrates fühlt sich unser christlicher Sokrates selbst zum Kämpfer gegen seine Zeit berufen, und er ist sich auch dessen bewußt, was er als solcher zu erwarten hat: "Wer nicht von Brosamen und Almosen noch vom Raube zu leben und für ein Schwert alles zu entbehren weiß, ist nicht geschickt zum Dienst der Wahrheit. Der werde frühe! ein vernünftiger, brauchbarer, artiger Mann in der Welt, oder lerne Bücklinge machen und Teller lecken: so ist er für (vor) Hunger und Durst, für Galgen und Rad sein Leben lang sicher..."

So folgten sich denn nun fast ein Menschenalter hindurch aus des Magus Feder kleine Schriften mit zumeist recht krausen Titeln, Gelegenheitsschriftchen, [287] wenn man will, in buntem Wechsel und verwirrender Mannigfaltigkeit der Augenblicksanlässe und Zeitbezüge: sämtlich doch beseelt vom selben kampfesfrohen Geiste ironisch scherzender Aufklärungsfeindschaft und tiefernsten Bekennermutes. Man kann sie, der bequemeren Übersicht halber, nach zeitlichen Gruppen scheiden und die Jahre 1759 bis 1763, 1772 bis 1776 und 1779 bis zum Todesjahre Hamanns als Anfangs- und Enddaten der einzelnen Perioden seines schriftstellerischen Wirkens feststellen, ohne doch über den Gehalt des letzteren damit Wesentliches auszusagen. Dessen Charakter bleibt, bei allem Wechsel der Gegenstände und unmittelbaren Veranlassungen, im Grunde immer der nämliche, der in seinen Hauptzügen bereits gekennzeichnet wurde. Immerhin mag man für den ersten Zeitraum ein Vorwalten des Ästhetisch-Literarischen – freilich in Hamanns Sinne verstanden – anerkennen. Hier hebt sich neben den "Soldatischen Denkwürdigkeiten" besonders noch deren "Nachspiel" heraus, die "Wolken" (1761), eine Art satirischer Verteidigung jener in halbdramatischer Form. Sodann die Sammelschrift "Kreuzzüge des Philologen" (1762) und deren Kernstück "Aesthetica in nuce, eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose", das glutvolle Manifest der Reichsunmittelbarkeit des Genius im Gebiete der Kunst, insbesondere der Dichtung, mit dem unvergeßlichen Eingang: "Nicht Leier – noch Pinsel – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Literatur zu fegen... Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der Acker; Malerei – als Schrift; Gesang – als Deklamation; Gleichnisse – als Schlüsse; Tausch – als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens oder Erstaunens saßen sie – und taten ihren Mund auf – zu geflügelten Sprüchen. – Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit... Die Natur wirkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? Sind auch gelähmte Sennadern zur Bewegung aufgelegt?..."

Die zweite Periode der Schriftstellerei des Magus setzt ein mit der Bekämpfung der Herderschen Preisschrift "Über den Ursprung der Sprache" und dem mehrfachen Versuch, den Tiefsinn seiner eignen, an und aus dem göttlichen "Wort" erwirkten und an der johanneischen Logosidee genährten Sprachauffassung den zeitgenössischen Lehren entgegenzusetzen: am wuchtigsten in "Des Ritters von Rosencreuz letzter Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache" (1772). Mit einer späteren Schrift Herders, seines zeitweise von ihm abgeirrten, nun aber reuig zurückgekehrten Jüngers, befassen sich "Christiani Zacchaei Telonarchea Prolegomena über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde des Menschengeschlechts" (1774), die in Form zweier Antwortschreiben an "Apollonium Philosophum", das heißt an Kant, von einem Lieblingsthema Hamanns, gleich dem des Wesens der Sprache, nämlich der Urgeschichte der [288] Menschheit, im Anschluß an Herders Auslegung des mosaischen Schöpfungsberichtes handeln. "Vettii Epagathi Regiomonticolae hierophantische Briefe" (1775) unternehmen sodann eine tiefgründige religionsphilosophische Deutung des Christentums gegenüber dem ungeschichtlichen Rationalismus des damaligen Religionsverständnisses oder ‑mißverständnisses.

Im letzten Jahrzehnt seiner Autorschaft beschäftigten den dauernd mit den innersten Zeitfragen Ringenden vornehmlich die an Kants "Kritik der reinen Vernunft", Mendelssohns "Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" und Lessings Spinozismus für ihn sich knüpfenden sprach- und erkenntniskritischen sowie allgemein religiös-weltanschaulichen Probleme. Der Vernunftkritik hat er eine "Rezension" (1781) und eine "Metakritik" (vollendet Anfang 1784) gewidmet, die er indessen beide nicht veröffentlicht hat, teils aus persönlicher Rücksicht auf seinen "Wohltäter" (durch Förderung bei der Berufssuche) Kant, zum Teil aber auch, weil sie ihm selbst nicht Genüge taten. Die "Metakritik" ist schon als Hauptquelle und Vorbild für Herders gleichnamige Schrift merkwürdig; sie enthält, obwohl in orakeldunkler Sprache, bedeutsame Beiträge zur Kritik und Fortbildung der Kantischen Erkenntnislehre. Dem Streben nach zusammenfassender Aussprache des Ganzen und Wesentlichen seiner Überzeugung endlich, wie es Hamann gegen den Ausgang seines Lebens ergriff, danken "Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten" (1784) und der erst nach seinem Tode gedruckte "Fliegende Brief" ihre Entstehung. Erstere Schrift, gegen Moses Mendelssohns verstandesdürre Auffassung von Judentum und Christentum gerichtet, deutet nochmals in großen Zügen die Grundpositionen der auf das paulinisch-lutherische Heilsverständnis gegründeten Offenbarungs- und Erlösungsfrömmigkeit des Magus an. Der "Fliegende Brief an Niemand, den Kundbaren" aber, zum Teil auf seiner letzten Reise entstanden und in seiner bruchstückhaften Gestalt ein Sinnbild seines gesamten Schriftstellertums, stellt als "Entkleidung und Verklärung eines Predigers" (in der Wüsten) gewissermaßen abschließende Beichte und Testament in einem dar. Mit ihm bricht, mitten im Absatz, Hamanns gesamte Autorschaft ebenso jäh und scheinbar unvermittelt ab, wie sie einst begonnen hatte.

"Geist der Beobachtung und Geist der Weissagung", heißt es am Schlusse des ersten Entwurfs des "Fliegenden Briefes", "sind die Fittige des menschlichen Genius". Das findet vor allem auf Hamann selbst Anwendung. Wenn man unter dem "Geist der Beobachtung" den wirklichkeitsstarken Sinn für das Sinnenhaft-Greifbare, Tatsächliche, Naturhafte, Ursprüngliche, Elementare in Natur, Geschichte und innerem Leben versteht, unter dem "Geist der Weissagung" aber das spezifische Organ für das Übersinnliche, Übervernünftige, Geheimnisvolle, Göttliche in allem Natürlichen, Geistigen und Seelischen, so macht in der Tat die untrennbare Einheit und daraus erwachsene elementare Kraft von sinnenhaftem Trieb- und Affektleben und intuitiver, ahnender Erfassung des Sinnen- und [289] Vernunft-Jenseitigen im Zeichen eines dämonisch sonderartigen, ebenso lebensvollen wie barocken Offenbarungsrealismus den charakteristischen Stil und die geschichtliche Größe dieses wundersamen Geistes aus.

In Hamann stand all den einseitigen und abstrakten Gehirnmenschen der Aufklärung ein vollsaftiger Sinnenmensch gegenüber, dessen Geist durch innere Problematik und infolge des Durchgangs durch die Verstandesmäßigkeit jenes Zeitalters doch aufgelockert genug war, um mit dem abgründigen Zweifel gegenüber der auf sich selbst gestellten Vernunft zu verbinden innige Empfänglichkeit für alle Offenbarungen oder Ahnungen aus der Welt des Übersinnlichen und Übelvernünftigen, für das unmittelbare, persönliche Begegnen mit dem Schöpfer- und Erlöser-Gott der Schrift. Den wesentlichen Inhalt aber und den letzten Sinn all seines Lebens und Strebens hat er selbst mit der symbolischen Devise "Golgatha und Scheblimini", das heißt Christentum und Luthertum, ebenso sinnschwer wie treffend bezeichnet. Betrachten wir die Auseinandersetzung zwischen den Mächten des Pietismus und der Weltzugewandtheit, der aus der Mystik und dem älteren Luthertum überkommenen frommen Innerlichkeit und dem Sinnendrang und der weltlichen Bildung der Aufklärung, zwischen der christlichen Jenseitsgläubigkeit, die seit dem Mittelalter und der Reformationsepoche im wesentlichen ungebrochen bis ins siebzehnte, ja ins achtzehnte Jahrhundert hinein das deutsche Geistesleben beherrscht hatte, und dem seit der Renaissance, seit Spinoza und Shaftesbury allmählich, aber unaufhaltsam vordringenden neuen naturoffenen Alleinheitsgefühl als das tiefste Thema der geistigen und literarischen

Das Grab des Schriftstellers und Philosophen Johann Georg Hamann.
Das Grab des Schriftstellers und Philosophen
Johann Georg Hamann

auf dem Überwasser-Friedhof in Münster.
[Nach wikipedia.org.]
Entwicklung jener tiefaufgewühlten Epoche, so nimmt Hamann eine schier einzigartige, jedoch nicht leicht mit kurzem Schlagwort zu charakterisierende Stellung ein nicht nur zwischen, sondern in gewisser Weise auch über den Zeiten, Parteien, Strömungen: eine überschauende und übergreifende Schlüsselstellung: nach rückwärts einem Luther, ja den großen deutschen Mystikern und den Gotteskündern des frühen Christentums die Hand reichend; nach vorwärts über Herder, den Sturm und Drang und den jungen Goethe, den deutschen Idealismus und die Romantik auf Baader, Kierkegaard, Nietzsche und in unser zwanzigstes Jahrhundert prophetisch vorausweisend. Und welcher Heutige noch dürfte sagen: er habe ihn ganz ergründet?

Auch für uns und unsere Nachfahren gilt vielmehr, so möchte ich glauben, noch das Bekenntnis, mit dem einst sein Zeitgenosse Fritz Jacobi das unausschöpfbar Weiterzeugende seiner geheimnisvollen Erweckungskraft ehrfürchtig-dankbar anerkannt hat: "Du bist mir ein gewaltiges Zeichen!"




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz