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[Bd. 2 S. 79]
Georg Friedrich Händel, 1685-1759, von Herman Roth

Georg Friedrich Händel. Gemälde von Thomas Hudson, 1749.
Georg Friedrich Händel.
Gemälde von Thomas Hudson, 1749.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 149.]
Verlangen nach Selbstverwandlung und Kolonisationsdrang treiben den deutschen Menschen im Leiblichen wie im Geistigen, und bedeutsamer noch im Geistigen als im Leiblichen, über die offenen Grenzen seines Wesens hinaus. Lust, das von außen herandringende Fremde zu empfangen und in sich auszutragen, der Wille, sich des Andersgearteten zu bemächtigen, ihm das eigene innere Gesetz aufzuerlegen, begegnen sich in einer Auseinandersetzung, in der kleine Geister Gefahr laufen sich zu verlieren, den Großen erst ihre ganze Weite, ihre ganze Machtfülle zuwächst. Die deutsche Geistesgeschichte ist voll von Beispielen für die damit gekennzeichnete Tatsache; in einem besonderen Sinn und Ausmaß die deutsche Musikgeschichte. So ursprünglich und tief des deutschen Menschen Fähigkeit ist, sich in Tönen auszuleben: der Gebrauch einer gemeinsamen, die Völker verbindenden Sprache hat ihm, im musikalischen mehr noch als in andern Bereichen, die Auseinandersetzung mit dem Fremden nahegelegt, ja zu einer kaum entrinnbaren Notwendigkeit gemacht. Unter den deutschen Tonschöpfern höchsten Ranges hat keiner diese Notwendigkeit in gleicher Breite erfahren wie Georg Friedrich Händel: er war nicht zum wenigsten dank der persönlichen Gewalt, mit der er das Außerdeutsche an sich riß, der erste, der die deutsche Musik zu europäischer Geltung erhob.

Händels Eintritt in die deutsche Geistesgeschichte fällt in eine Zeit, die dem Deutschen die Auseinandersetzung mit Außerdeutschem nicht im musikalischen Bereich allein aufzwang. Das Ende des siebzehnten Jahrhunderts fand Deutschland wie nie unter kultureller Fremdherrschaft. Für die protestantischen Höfe war französisches, für die katholischen spanisch-italienisches Wesen Vorbild. Die festeste Stütze kultureller Selbständigkeit, ein starkes Schrifttum, mangelte dem Deutschland des Spätbarocks. Nur die Liederdichtung blühte, vorab die geistliche.

Anders war die Lage bei den bildenden Künsten. Italienischem und holländisch-französischem Einfluß zum Trotz war die Baukunst und die ihr eingegliederte Bildhauerkunst und Malerei in den Werken der Generation der Schlüter, Pöppelmann, Prandtauer zu einer eigentümlich deutschen Genieleistung aufgebrochen, die dem architektonischen Zeitstil seine zweckfreieste Prägung gab. Gleichzeitig hatte Leibniz deutsches Denkertum mit verwandter konstruktiver Phantasietätigkeit zum erstenmale, und sogleich ausschlaggebend, in die [80] Entwicklung der europäischen Philosophie eingeschaltet. Ähnliches bereitete sich auf musikalischem Boden vor.

Ihren geistigen Schwerpunkt hatte die deutsche Tonkunst um die Wende des siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert nach wie vor im Gottesdienste der beiden protestantischen Bekenntnisse; dies, obwohl die aufklärerische Bewegung von außen, die pietistische von innen die strengen religiösen Bindungen bereits aufzulösen begannen. Die eigenbürtigsten Gebilde des deutschen musikalischen Schaffens der Zeit (die Formen der Chor- und Orgelmusik, die an den Choral, das geistliche Volkslied, anknüpften) wuchsen noch immer in der Kirche. Darüber hinaus jedoch war das geistliche und noch mehr das lebendige weltliche Musizieren der Umwelt vielfach verpflichtet. Der Süden steuerte bezeichnenderweise vor allem die Form-, der Westen die Farbwirkungen bei. Es sind, neben den Instrumentalgebilden der Sonate und des Konzerts, die ausladenderen Formen des instrumentenbegleiteten Sologesanges (zuvörderst die dreiteilige, je länger desto üppiger ausgestattete Dacapo-Arie), die aus Italien eindrangen; es ist die gesteigerte Orchestertechnik, die man von den Franzosen lernte. Beide, die Orchestertechnik wie die Gesangsformen, hatten sich am tragfähigsten in der Oper erwiesen, in dem noch verhältnismäßig jungen musikalischen Theater, das in Italien in der Richtung auf den leidenschaftlich erregten, doch zugleich virtuos durchgebildeten belcanto vereinseitigt, in Frankreich trotz höheren dichterischen Ansprüchen an das Libretto mit dem Aufgebot von Chor und Ballett der großen Repräsentation zugeführt worden war: erstmals erscheinen hier nationale Neigungen und Gegensätze, die im Wechsel der Zeit, unter wandelbarer Oberfläche sich gleich geblieben sind.

Auch in Deutschland hatte die Oper an einer Reihe von Höfen und, nach venezianischem Muster, in der Hansestadt Hamburg ihre Pflegstätten gefunden. Versuche, die neue Gattung national zu verankern, hatten keine Dauer. Nirgends kamen um die Wende des Jahrhunderts in deutscher Musik die fremden Einwirkungen unverhüllter zutage als in ihr; ganz allgemein hatte die Überfremdung im Vergleich zu den vorausgegangenen Jahrzehnten noch zugenommen. Grundsätzlich schuf die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Außerdeutschen und der mit ihr Hand in Hand gehende Sammel-, geistiger gesehen: Vereinheitlichungstrieb eine der wichtigsten Vorbedingungen des musikalischen Aufbruchs, der dem Aufbruch der bildenden Künste nachfolgte und entsprach. Die für die Kirche angedeutete, doch nicht auf sie beschränkte Lockerung der unmittelbaren Gebrauchszusammenhänge (die sich materiell am greifbarsten kundgab in der fürstlichen ich- und machtbetonten Prunkentfaltung) begünstigte wie im bildnerischen so im musikalischen Bereich die Entwicklung auf eine gewisse Zweckfreiheit hin, auf eine Verselbständigung und damit auf Eigenwuchs und Eigeneinheit des Kunstwerks. Dieser Entwicklung diente nicht zuletzt die Überwindung des Kirchentones, das Fertigwerden der kubischen Harmonik, der Harmonik mit dritter (Schein-)Dimension, in Dur und Moll. Die Musik [81] hatte an ihr einen, ausgesprochen barocken, Eigenraum gewonnen, den es mit neuen melodischen und rhythmischen Spannungen zu durchdringen galt. Es ist die Generation der Händel und Bach, nicht bloß in Deutschland, doch außerhalb schwächer oder spezialistischer vertreten, die auch in bezug auf diese Aufgabe die Zeit erfüllt hat.

Das Genie ist in seiner ursprünglichen Wesenheit aus dem "Milieu" nicht zu erklären. Gleichwohl pflegt zwischen dem Vorzugsmenschen und den Umgebungen, in die er versetzt wird, den Wegen, die er geht, eine schicksalhafte Entsprechung zu walten. Für das Leben Händels ist es kennzeichnend, weit kennzeichnender als die meist überbetonte Vertrautheit mit der großen Welt, die sich dabei und sozusagen nebenher ergab, daß es von vornherein an Orten sich abspielte, an denen das Neue, das in besonderem Sinne Gegenwärtige der Zeit zu Hause war, an denen sich die Vordermänner geistiger und künstlerischer Bewegungen zusammenfanden: Händel, so wenig zeitgebunden er ist, steht innerhalb seiner Epoche als eine durchaus moderne Erscheinung da. Es ist ferner kennzeichnend für das Leben Händels, daß sein Schauplatz überwiegend der germanische Norden, Deutschland und England, gewesen ist: das Händelsche Werk bleibt, bei aller Hinneigung zu südlicher Kunst, zutiefst nordisch bestimmt. Kennzeichnend ist schließlich die Laufbahn. Sie steigt anfangs in steiler Kurve auf; schon der Jüngling erstürmt sich den europäischen Ruhm. Bis in die Mannesjahre gibt es keine ernsten Rückschläge; die Entfaltung ist offen und ungehemmt. Erst die gefestigte, gereifte Persönlichkeit erfährt die Widrigkeit der Realitäten des Daseins, tritt in einen Lebenskampf ein, der bedrohlich wird; es kommt nach heroischem Kräfteeinsatz zu grausamen Niederbrüchen. Spät, an der Schwelle des Alters, endigt der äußere Kampf. Aber die schwerste Prüfung, die Umdunkelung der letzten Lebensjahre, steht noch aus: auch über sie trägt ein menschliches Heldentum, das sich nun ganz nach innen gewendet hat, den Sieg davon.

Halle a. d. Saale: <B>Altes Rathaus mit Händel-Denkmal.
Halle a. d. Saale:
Altes Rathaus mit Händel-Denkmal.
Ansichtskarte, 1905.
[Nach wikipedia.org.]
Georg Friedrich Händel wurde am 23. Februar 1685 geboren, in Halle an der Saale, inmitten des thüringisch-sächsischen Landes, das schon früh ein Sammelbecken deutscher musikalischer Kultur gewesen ist. Dem Blute nach erwuchs er aus diesem Lande nur zu einem Teil. Beider Eltern Vorfahren im Mannesstamm waren aus deutschen Randgebieten eingewandert, die des Vaters aus Schlesien, die der Mutter, vor den Protestantenverfolgungen des Dreißigjährigen Krieges, aus Deutschböhmen; mütterliche Vorfahren der Mutter kamen vom Niederrhein. Beruflich herrschen unter den Ahnen der Mutter, soweit wir Kunde haben, die Geistlichen und Gelehrten vor; die des Vaters waren Kupferschmiede, Röhrmeister, Handwerker also. Der Vater selbst hatte sich zum hochangesehenen Wundarzt heraufgearbeitet, war Hallescher Amtschirurg geworden und stand als Leibkammerdiener in naher Beziehung zu den beiden Höfen, denen, nacheinander, die Stadt zugehörte, zum herzoglich-sächsischen in Weißenfels, zum kurfürstlich-brandenburgischen in Berlin. Georg Friedrich war [82] das zweite Kind aus der zweiten Ehe, die der einundsechzigjährige Georg Händel 1683 mit der fast drei Jahrzehnte jüngeren Giebichensteiner Pfarrerstochter Dorothea Taust geschlossen hatte. Vom Vater erbte er den zähen, hünenhaften Körper, die charakterliche Stärke, von der Mutter, deren Bibelkenntnis gerühmt wird, die Geistigkeit, die Gefühlskraft.

Die Einsicht in das Besondere von Händels musikalischer Veranlagung wird gefördert durch die Feststellung, daß die Familie zwar offenbar musikalisch begabt – die Seitenverwandten beweisen es –, aber im engeren Sinne keine Musikerfamilie war, daß demnach in der Erbmasse das Musikalische nicht handwerklich vorbearbeitet erscheint wie (um das schlagendste Beispiel des Gegenteils zu nennen) bei Händels Altersgenossen Bach. Die Musikfeindlichkeit des Vaters ist seit kurzem als Legende erwiesen; es bedurfte kaum der Überredung, daß er dem Sohn eine angemessene musikalische Erziehung zuteil werden ließ. Der junge Hallesche Marktkirchenorganist Friedrich Wilhelm Zachow wurde mit dem Unterricht betraut. Zachow besaß, auf dem Boden des Kantoren- und Organistentums der Zeit, eine reiche, allem Neuen aufgeschlossene musikalische Bildung, als Komponist eine nicht alltägliche, dramatischem Ausdruck zugeneigte Phantasie und – das Entscheidende – lebendige Lehrbegabung. Händel hat von ihm ein starkes und vielseitiges instrumentales Können, ein gediegenes tonsetzerisches Handwerk und eine überraschend ausgebreitete Bekanntschaft mit zeitgenössischer, deutscher und italienischer, Vokal- und Instrumentalmusik überkommen. Ergänzt wurde der Zachowsche Lehrgang durch die Beziehung zu der Hautboistenkompagnie der Hintzsche – sie begründete Händels Vorliebe für die Oboe, wir verdanken ihr eines der wenigen erhaltenen Frühwerke, die Oboentrios – ferner durch mutmaßliche Besuche in Weißenfels, Leipzig, wohl auch in Berlin, wo eine erste unmittelbare Berührung mit italienischer Kunst stattfinden konnte. Als Anregung spielten daneben zweifellos die Musik- und Theaterneigungen, die Johann Praetorius, der Rektor des Stadtgymnasiums, pflegte, bei dem Schüler eine bedeutsame Rolle.

Dazu kam eine geistige Luft, die durch die Gegenwart von Männern bestimmt wurde, wie der große Aufklärer Christian Thomasius und das Pietistenhaupt August Hermann Francke es waren. Als Händel 1702 nach dem, auf weiteren sozialen Aufstieg gerichteten, Willen des inzwischen verstorbenen Vaters die Hallesche Universität bezog, um juristische Studien zu betreiben, nahm ihn eine Gemeinschaft von starker innerer Bewegtheit auf, in der er wahrscheinlich einer Reihe von Persönlichkeiten begegnete, mit denen ihn das Leben enger verknüpft hat: Telemann und der junge Hamburger Dichter Barthold Hinrich Brockes stehen hier vornean. Lange hielt es ihn in diesem Kreis allerdings nicht. Schon neben dem Universitätsstudium hatte er den Organistendienst an der Dom- und Schloßkirche versehen. Als er, nach abgelegtem Probejahr, davorstand, sich im Amte zu binden, löste er, mit offenbarem Vorbedacht, aus der Enge der Heimat sich los.

[83] Achtzehnjährig, 1703, ging er, wie seine Kupferschmied-Ahnen, auf die Berufswanderschaft. Erste Station war, nicht zufällig, Hamburg. Was der in Händel verpuppte Dramatiker brauchte, fand er, in Deutschland, dort am ehesten. Die 1678 gegründete deutsche Oper hatte um die Jahrhundertwende den Bestrebungen ihrer Anfänge, die im Textlichen religiös-volkstümlich, im Musikalischen verhältnismäßig bodenständig gewesen waren, sich weithin entfremdet; doch hatten die darstellungserzieherische Wirksamkeit Siegmund Kussers und die schöpferische Leistung Reinhard Keisers ihr höchsten künstlerischen Glanz und damit nach außen stärkere Anziehungskraft denn je verliehen. Stand Kusser, der "vollkommene Kapellmeister", vorwiegend in französischer Überlieferung, so war Keiser, ein Komponist von erstaunlichem Einfallsreichtum und nur aus Mangel an Charakter kein Großer, in allen Sätteln gerecht. Zur Zeit von Händels Eintreffen huldigte er den Italienern durch Einführung des gemischtsprachigen Opernbuches: in der Vertonung der neben den deutschen gesungenen italienischen Texte wetteiferte er mit den südlichen Meistern. Von Keiser vermutlich, der kurz zuvor das Theater gepachtet hatte, ließ der Ankömmling sich als zweiten Geiger einstellen; es ist bezeichnend für ihn, daß er nicht allein seine höheren Möglichkeiten zunächst verbarg, sondern daß ihm sichtlich auch daran gelegen war, in der neuen Berufsumgebung von der Pike auf zu dienen.

Die Hamburger Jahre haben Händel geweckt, ihn flügge gemacht. Einen gewissen Anteil daran hat Johann Mattheson, dessen Verdienst – wie sein späteres musikschriftstellerisches Werk erkennen läßt – in erster Linie auf der Fähigkeit zur kunstrichterlichen Reflexion beruhte. Die Gespräche mit ihm, die eine Fortsetzung der in Halle mit Telemann gepflogenen Unterhaltungen bildeten, mögen Händel mitveranlaßt haben, sich Rechenschaft abzulegen über seine Erfahrungen und Eindrücke, zu denen neben der hamburgischen Oper und Kirchenmusik die Kunst des lübeckischen Meisters Dietrich Buxtehude gewiß ein Wesentliches beitrug. Mattheson war es auch, der Händel durch Einführung in das Haus des englischen Gesandten John Wich eine erste Beziehung nach London verschaffte; andere gesellschaftlichen Verbindungen werden sich angeschlossen haben. Man darf Matthesons Einfluß, so wichtig er selbst ihn sah, nicht überschätzen. Händel entzog sich ihm bald; dies die tiefere Ursache jenes glücklicherweise unblutig abgelaufenen Duells, das den Gegenstand für eine der berühmtesten Anekdoten der Musikgeschichte geliefert hat. Nach Matthesons und Telemanns Aussage verfügte Händel, als er nach Hamburg kam, über eine ansehnliche kontrapunktische Fertigkeit, war aber zur Melodie, zur Klarheit und Knappheit der Form noch nicht erzogen. Wie schnell er dem Keiserschen Vorbild abzulauschen begann, was ihm fehlte, zeigt die im Januar 1705 uraufgeführte Erstlingsoper "Almira", ein Werk hoher und vielfältiger Verheißung, das über die im Jahr vorher entstandene, noch etwas unbeholfene Passion (nach Postel) weit hinausführt. Händel hat für Hamburg noch drei, jedoch bloß in ihren Texten erhaltene [84] Opern geschrieben. Bevor die beiden letzten, "Florindo" und "Daphne", öffentlich erklangen, hatte er der Stadt den Rücken gekehrt.

Italien studienhalber aufzusuchen war einem Teil der deutschen Musikerschaft seit gut einem Jahrhundert Lockung und Verpflichtung geworden. Als Händel, zu Ende des Jahres 1706, die Südenfahrt antrat, war er, man muß das betonen, kein unbedingter Verehrer italienischer Kunst, eher mit dem typisch deutschen Vorurteil behaftet gegen ihre angebliche Flachheit: eine beinahe grob offenherzige Äußerung gegenüber dem Prinzen Gian Gastone dei Medici, der ihm bei einem Besuch in Hamburg italienische Musikaliendrucke vorgelegt hatte, bezeugt es. Gleichwohl zog ihn Italien magisch an. Was der Einfluß Keisers angebahnt hatte, vollendete sich hier: eine unerhörte Selbstverwandlung, Selbstentbindung. Händel ist für uns gar nicht mehr denkbar ohne das frühe Insichaufnehmen südlicher Landschaft und südlichen Daseins als der Lebensquellen italienischer Musik, italienischer Kunst überhaupt. Die große Sinnenhaftigkeit seines Wesens, sein fast Goethesches Augenmenschentum, das ursprünglich Vegetative des Schaffenstypus wurden erst durch den Süden ganz zu sich selbst befreit. Erfindung und Empfindung fanden restloseren Einklang; die Sprache vereinfachte und verfeinerte sich zugleich. Die Form wuchs naturhafter; dies hauptsächlich das Ergebnis des Sicheinfühlens in italienische Gesanglichkeit, des Sicheinfügens in die unmittelbar leiblichen Gegebenheiten, die Spannungsmöglichkeiten der Stimme. Man bekommt von der Wandlung den intimsten Begriff vor den italienischen Solokantaten mit Generalbaßbegleitung, die gemeinhin, etwas einseitig, als Opernvorstudien bezeichnet werden. An ihnen hängen zuerst noch die Eierschalen deutscher Gelehrsamkeit; ein interessantes Beispiel ist die großartige Szene der geschändeten Lucrezia. Sie werden, in den mehr lyrischen als dramatischen Stücken, je länger desto geschmeidiger, gewinnen eine jugendliche Süßigkeit, der ein schwermütiger Beiklang, Rest protestantisch-barocker Melancholie, etwas Untergründiges gibt, wie es den südlichen Mustern nicht eignet.

Es gab im damaligen Italien drei musikalische Vororte. Rom war Stätte der Kirchenmusik und dementsprechend der Tradition, Neapel Stätte des Neuen, lebendig durchpulst vom Singen und Spielen des Volkes. Venedig hielt die Mitte; sein musikalisches Gesicht wurde durch die Pflege der Oper bestimmt: seit lange war es die Hochburg italienischer Opernkunst.

Händel wandte sich zuerst nach Florenz, wohin er durch den erwähnten toskanischen Prinzen Verbindungen hatte. Diese Verbindungen und die Wirkung seiner Persönlichkeit, vor allem sein hinreißendes Stegreifspiel auf Klavier und Orgel, halfen ihm weiter; er fand überall Zutritt zu den gesellschaftlich, geistig, künstlerisch maßgebenden Kreisen. Am bedeutsamsten wurde für ihn der Aufenthalt in Rom, wo er, im Hause des Kardinals Ottobuoni, mit der "Arcadia", einem auserlesenen Zirkel kunstbeflissener Männer, in Berührung kam. Drei [85] diesem Zirkel angehörige Künstler haben entscheidend auf ihn eingewirkt: der Geiger Arcangelo Corelli durch seine edle Kammermusik, Alessandro Scarlatti, der größte italienische Opernkomponist der Zeit, durch seine im Süden des Landes verwurzelte, ebenso kräftige wie wohllautende Vokalkunst, der greise Bernardo Pasquini durch seinen klaren Klavier- und Orgelstil. Ihnen gesellte sich Alessandro Scarlattis Sohn Domenico, damals schon ein Cembalist von Namen, der sich mit dem gleichaltrigen Deutschen in friedlichem Wettstreit zusammenfand, und Agostino Steffani, dieser eine der bemerkenswertesten Erscheinungen, die den Weg des jungen Händel gekreuzt haben. Steffani, aus der Generation des Vaters Scarlatti, war zwar gebürtiger Italiener, war als Musiker aber zunächst in Deutschland gebildet worden und dort so gut wie ausschließlich tätig gewesen; als Händel ihn kennenlernte, bekleidete er noch das Amt des Hannoverschen Hofkapellmeisters. Er war nicht bloß ein Komponist von vornehmster Haltung, der früh zum Priester Geweihte hatte sich auch als Diplomat verdient gemacht und wurde als solcher vom Papste mit hohen geistlichen Würden und Obliegenheiten geehrt. Alle diese Künstler waren Händel bewundernd zugetan, der Sohn Scarlatti ihm in herzlicher Freundschaft ergeben.

Der Ertrag der italienischen Jahre – außer den erwähnten Kantaten umfaßt er lateinische Kirchenmusik, zwei Opern, zwei italienische Oratorien, aller Wahrscheinlichkeit nach auch Kammermusikwerke – ist bedingt durch die Örtlichkeiten: Händel richtete zwangsläufig sein Hauptinteresse überall auf die Kunstzweige, denen der jeweilige Aufenthaltsort besonderen Anteil schenkte. In Neapel, der südlichsten Station seiner Reise, horchte er mit gesteigerter Aufmerksamkeit auf die Volksmusik; späte Niederschläge noch verraten es. Von Hier aus fand er, dank der Beziehung zum Kardinal-Vizekönig Vincenzo Grimani, dessen Familie das Theater San Giovanni Crisostomo in Venedig besaß, den Zugang zu einer der ersten Opernbühnen des Landes. Grimani schrieb für ihn im Staatsaktion und Liebesintrige vermengenden Zeitstil ein Libretto um die Gestalt der römischen Kaiserin Agrippina. Das Werk ging kurz vor Neujahr 1710 in Szene. Die umwerfende Fülle, Kraft und Frische der Händelschen Musik errang ihm einen beispiellosen Erfolg; der junge Deutsche wurde zum ernsten Nebenbuhler der einheimischen Musikdramatiker. Jeder andere hätte versucht, auf der Erfolgswelle weiterzuschwimmen: Händel ging nach Deutschland zurück. Wie er, trotz liebevollstem Zureden kirchenfürstlicher Gönner, in Rom sein Lutheranertum verteidigt hatte, war er auch nicht gestimmt, das Südenerlebnis als solches über sich Herr werden zu lassen; die Auseinandersetzung mit Italien war, an Ort und Stelle jedenfalls, abgeschlossen.

Die Brücke zum Norden schlug Steffani; persönlich durch die Mittlerstellung, die er, der eingedeutschte Italiener, als Musiker einnahm, praktisch durch das Angebot der Nachfolge in seinem Kapellmeisteramt. Händel kam in Hannover an einen Hof, dessen geistige und künstlerische Kultur in Deutschland ihresgleichen [86] suchte. Den Ton gab die philosophische Kurfürstin Sophie an, die als Enkelin des Stuarts Jakobs I. ihrem Gemahl Georg Ludwig die Anwartschaft auf den englischen Thron vermittelt hatte; ihrem großen Freunde Leibniz ist Händel in ihrer Umgebung möglicherweise noch begegnet. Das Amt nötigte zur Auseinandersetzung mit dem Neuen, das im Werk Steffanis, mehr noch als in den Opern in der Kammermusik für Gesang, den mustergültigen Sätzen für zwei Stimmen und Generalbaß entgegentrat: mit der eigenartigen Durchseelung, der Ausdrucksvertiefung, die das Italienische hier erfahren hatte, ohne den stimmlichen Notwendigkeiten gegenüber im geringsten läßlicher zu werden. Händel nahm dies Neue begierig auf und bildete es in eigenen Kammerduetten weiter. Durch das vortreffliche Orchester, das er vorfand, ließ er sich zu einem Strauß jugendlich genialer Instrumentalwerke, den Oboenkonzerten, anregen. Da es in Hannover damals keine Oper gab, band der Kurfürst seinen Kapellmeister (vor dessen schöpferischer Kraft er Verpflichtungen fühlen mochte) nicht allzufest an seinen Posten. Schon im Spätherbst 1710 reiste Händel über Holland nach London; hier schrieb er auf einen von dem Opernunternehmer Aaron Hill nach Tassos "Befreitem Jerusalem" verfaßten, von Giacomo Rossi versifizierten Text in nicht mehr als vierzehn Tagen seinen "Rinaldo". Am 14. Februar 1711 kam das Werk heraus mit einem Erfolg, der den venezianischen der "Agrippina" womöglich noch übertraf und, gegen den Widerstand der Nationalgesinnten, Joseph Addisons an der Spitze, die italienische Oper in London durchsetzte.

Mit diesem Erfolg begann Händels englische Epoche, die, alles in allem, zwei Drittel seines Lebens und den weitaus größten Teil seiner öffentlichen Laufbahn in sich begriff; ein Akklimatisationsprozeß, der die Welthaftigkeit seiner Kunst aufs bedeutsamste mitbestimmt hat. Händel kam nach England als der Vertreter italienischer Musik. Er war das bereits beim "Rinaldo", der in wesentlichen Stücken ganz unitalienische Stimmungstöne anschlug, nur in einem sehr bedingten Sinne. In einem ähnlich bedingten Sinne hat er sich in Jahrzehnten anglisiert. Auch in England zog ihn ohne Frage das Landschaftliche, das Atmosphärische an; klares Zeugnis legt dafür ab ein Werk wie das Pastoral "Acis und Galathea", das den verzaubernden Glanz südenglischer Parks unwiderstehlich heraufbeschwört. Es muß schließlich doch ein Heimatgefühl gewesen sein, was in Händel hier aufkam und ihm, von innen heraus, erlaubte, auf englischem Boden Wurzel zu schlagen. Dies Heimatgefühl konnte freilich seine Ursachen nicht bloß im Landschaftlichen haben. Die Möglichkeit der Einbürgerung –1726 wurde sie eine Rechtstatsache – war mitgeschaffen durch Wirkungen, die aus dem Leiblichen ins Geistig-Seelische aufstiegen, Wirkungen, die wir befugt sind, als Ergänzung und Widerspiel zu werten zu der vorwiegend sinnlichen Auflockerung durch das Italienerlebnis. Die größere rassische Nähe des Engländers zum Deutschen spielte eine grundlegende Rolle. Darüber hinaus die gesamte politische und Bildungslage des Landes. Es geht schon aus frühen Äußerungen Händels, [87] vor allem aus der beachtenswerten Widmung der 1720 erschienenen Ersten Sammlung von Klavierwerken an die Nation (nicht an einen Königlichen oder adligen Mäzen), deutlich hervor, daß auf ihn die freiheitliche Haltung des Volkes, sein unter den verschiedenen Regierungen und Regierungsformen gleichgebliebenes nationales Selbstbewußtsein einen durchgreifenden Eindruck gemacht haben.

Kulturell war das England der Königin Anna dank glücklicher wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung europäische Avantgarde. Gegenüber dem Festland setzten die geistigen Umwälzungen – insbesondere auf denkerischem Gebiet machte sich das geltend – vorzeitig ein. Daten sprechen. Die Hauptwerke der Aufklärungsphilosophen Berkeley, Shaftesbury und Mandeville erschienen sämtlich zwischen 1706 und 1711, Popes "Lockenraub", ausgesprochene Rokokodichtung, in der Erstfassung 1712; es sind die Jahre vor und unmittelbar nach Händels Erstauftreten in London. Für das, was ihm England an lebendigen Kulturwerten darreichte, mußte Händel sogleich um so empfänglicher sein, als auch hier, wie in Italien, sich ihm die künstlerisch, intellektuell und gesellschaftlich vornehmsten Kreise rasch erschlossen. Beruflich gab den Ausschlag: London war für einen Musiker von dem europäischen Namen, den er sich erworben hatte, die gegebene Wirkungsstätte; als Weltstadt an sich und vor allem als die Metropole eines Bereiches, dessen eigene Musikproduktion, nach starken und ursprünglichen Leistungen, wie sie namentlich das elisabethanische Zeitalter aufgewiesen hatte, knapp vor der Jahrhundertwende plötzlich erschöpft schien. Henry Purcell, der letzte englische Komponist von Rang, war 1695, mozartisch frühvollendet, gestorben. In seinem Werk, das alle Gebiete musikalischen Schaffens umfaßt, zeigt der Angelsachse eine gewisse Verwandtschaft mit dem Niedersachsen Buxtehude. Beiden gemeinsam ist der nordische Grundklang, der sich am greifbarsten ausprägt in den Kühnheiten ihrer versonnen romantischen Harmonik. Beide sind Vorläufererscheinungen, sofern sie zu wichtigen Entwicklungen angesetzt, jedoch nichts Abschließendes hinterlassen haben. Beide sind am zukunftsreichsten in ihrer kirchlichen Chor-Orchester-Kunst, die volkstümlicher Monumentalität zustrebt; der Engländer konnte diese Richtung um so eher einschlagen, als er für seine Anthems, das Gegenstück der deutschen Kirchenkantaten, textlich sich auf das Bibelwort beschränken durfte. Jenseits der Wirkung, welche die englische Volksmusik, durch ihre kräftige Melodik, ihren gesunden Rhythmus, bei ihm tat, ist Purcells Werk, zuvörderst sein kirchliches, der musikalische Eindruck, an den Händel anknüpfte, sobald er zu Engländern englisch sprechen wollte; daß Purcell seinerseits italienischen Einflüssen unterlegen war, hat ihm diese Anknüpfung noch erleichtert.

Die ersten Londoner Jahre brachten die, wie man früher glaubte, nicht ganz legitime Loslösung von Hannover. Als Händel, der sehr bald bei Hofe vorgestellt worden war, infolge des Beifalls, den eine Ode auf den Geburtstag der Königin gefunden hatte, im Sommer 1713 den offiziellen Auftrag erhielt, zur [88] Feier des Utrechter Friedens das Tedeum zu schreiben, und, nach der Aufführung seines Werkes, aus der königlichen Schatulle ein Jahresgehalt von zweihundert Pfund ausgesetzt bekam, kehrte er in sein Amt nicht mehr zurück. Die Legende berichtet, er habe, nachdem Kurfürst Georg Ludwig 1714 als Georg I. den englischen Thron bestiegen hatte, durch Vorführung der "Wassermusik" sich um Verzeihung für sein Dienstvergehen bemüht. Wir wissen heute, daß dies nicht zutrifft, und schließen daraus, daß wohl auch das Dienstvergehen auf Erfindung beruht. Händel war jedenfalls auch beim neuen König Hofkomponist, mit nunmehr vierhundert Pfund Jahresgehalt, die sich auf sechshundert Pfund erhöhten, als man ihm den Unterricht der Töchter der Prinzessin von Wales, der einstigen Karoline von Ansbach, übertrug.

Zunächst wohnte Händel in London bei einem Musikliebhaber namens Andrews, später beim Grafen von Burlington auf dessen Landsitz in Piccadilly, und hier war es, wo im Austausch mit Pope, John Gay und Dr. Arbuthnot, einem seiner in Zukunft treuesten Freunde, die Tage der römischen "Arcadia" sich ihm erneuten. Daneben verkehrte er viel in musikliebenden bürgerlichen Kreisen: so nahm er gern an den Musikabenden des Kohlenhändlers Britton teil oder saß, nach Orgelimprovisationen auf dem neuen Instrument in der Saint-Pauls-Kathedrale, mit Mitgliedern des Kirchenchors musizierend und bechernd in der Queen Ann's Tavern am Saint Pauls-Kirchhof. Mehrere Opern entstanden in diesen ersten Jahren, von denen die Zauberoper "Amadigi" dem "Rinaldo" als musikalischer Wert am nächsten kommt. 1716 reiste Händel im Gefolge des Königs noch einmal nach Hannover; er komponierte dort vermutlich sein letztes größeres deutsches Werk, die Passion auf den berühmten Brockesschen Text. Aus Ansbach, wohin er über die Heimatstadt Halle fuhr, holte er den alten Universitätsfreund Johann Christoph Schmidt nach England herüber, der ihm als musikalisches und geschäftliches Faktotum bis an sein Lebensende zur Seite stand. 1717 ging er als Kapellmeister (und Nachfolger eines andern Deutschen, Johann Christoph Pepuschs) zum Herzog von Chandos auf dessen Schloß Cannons. Er hatte in dieser Eigenschaft für Kirchenmusik zu sorgen. Damit fand er zum erstenmal seit dem Utrechter Tedeum und Jubilate wieder unmittelbaren Anlaß zur Beschäftigung mit Purcells Psalmkompositionen. Das Ergebnis waren die kraftvollen Chandos-Anthems, die noch spät Stoff für das Oratorium hergaben. An das Ende der Jahre in Cannons fällt zu diesem der erste Versuch, die Masque "Haman und Mardochai", sowie das Pastoral "Acis und Galathea". Den Text zum einen Werk hatte, nach dem Racineschen Klosterdrama, Pope, den zum andern John Gay gedichtet.

Das Jahr 1720 war, laut Händels eigener Aussage, der Abschluß seiner Lehrzeit. Es bedeutete für ihn zugleich das Einrücken in eine minder unabhängige, minder private Stellung gegenüber der Öffentlichkeit. Die fieberhafte Unternehmungslust, die der wirtschaftliche Aufschwung gezeitigt hatte, führte, nach einigen Jahren Opernpause, wie zur Gründung anderer Aktiengesellschaften [89] so zu der eines italienischen Operntheaters auf Aktien. An der Spitze der finanziell Beteiligten stand der König; er zahlte für seine Loge einen besonders hohen Beitrag und übte mittelbar Aufsicht, sofern er den Verwaltungsrats-Vorsitzenden ernannte: das Institut hieß darum, nach Pariser Vorbild, königliche Musikakademie. Händel wurde künstlerischer Leiter und erster Hauskomponist, neben dem man sich jedoch sogleich zwei beliebte Italiener verschrieb, den gewandten Ariosti und den gefälligen, eitel-intriganten Bononcini: erster Anstoß zu Kämpfen, zur Spaltung des Publikums. Mit unwahrscheinlicher Schaffensfreudigkeit, in einem männlich reifen Stil, der die Affektdramatik der spätbarocken italienischen Arienoper so persönlich lebensvoll wie überlegen umfassend ausspielte, warf Händel ein Werk nach dem andern heraus. Die wichtigsten davon – die Texte arbeitete für die Mehrzahl nicht ohne Gewicht der Deutschitaliener Nicola Haym – sind "Radamisto" (1720), "Ottone" (1723), "Giulio Cesare", "Tamerlano" (1724), "Rodelinda" (1725), "Admeto" (1728); vor allem "Ottone" wurde populär. An den Erfolgen hatten starken Anteil die zwar künstlerisch anregenden, doch schwer zu behandelnden italienischen Stars, der Altkastrat Senesino, die Cuzzoni, die später mit Hasse verheiratete Faustina Bordoni. Beim Publikum vermengte sich das Interesse an der Kunst dieser Gesangsgrößen allerdings bedenklich mit dem an ihrem Privatleben, an ihren persönlichen Zänkereien. Für die Opernbesucher war es ein hochwillkommener Skandal, als eines Tags die beiden Primadonnen auf offener Bühne gegeneinander tätlich wurden. Das Theater ging nicht schlecht; aber die kaufmännische Leitung war verantwortungslos. Als die alten Widersacher der italienischen Oper 1728 wieder auf den Plan traten, mit der von Gay verfaßten, von Pepusch mit volkstümlicher Musik ausstaffierten "Bettleroper", einer durchschlagenden Satire nicht bloß auf die Oper, auch auf Walpoles Finanzregime, hielt die königliche Akademie den Stoß nicht aus.

Händel ließ sich nicht entmutigen. Zusammen mit dem wegen seiner grotesken Häßlichkeit stadtbekannten, dennoch irgendwie faszinierenden Schweizer "Grafen" Heidegger, einem Glücksritter, der schon in früheren Opernunternehmungen und auch in der Akademie seine nicht gerade vertrauenswürdigen Hände gehabt hatte, eröffnete er eine Oper auf eigene Rechnung. Er verpflichtete 1729 auf einer Festlandsreise, die ihn vor allem nach Italien führte, andere Sänger, darunter die unschöne, aber hochmusikalische Strada, und nahm die Gelegenheit wahr, sich nochmals gründlich in dem Musiklande umzutun, insbesondere in Neapel die junge, von der Volkskunst befruchtete Oper zu studieren. Die Einwirkung auf sein Schaffen blieb nicht aus; es erneuerte sich in der zweiten Opernperiode in mehr als einer Hinsicht. Das ausladende, reiche und dichte Barock wich einerseits einer rationalistischeren Haltung, wie sie das an der französischen Tragödie ausgerichtete Libretto Metastasios nahelegte – Beispiel dafür ist "Poro" (1731) –, andererseits einem lockereren, schon ins Rokoko hinüberschillernden Stil, der die komischen Elemente der älteren Venezianer wieder aufnahm: bereits "Orlando" [90] (1733) gehört zum Teil hierher, "Xerxes" (1738) und "Deidamia" (1741) sind letzte Ausläufer. Am eindringlichsten in "Alcina" machte Händel außerdem den die Glucksche Reform vordeutenden Versuch, italienische Arienoper und französische Chor- und Ballettoper zu verquicken; der Anstoß dazu kam von der Truppe der Mademoiselle Sallé, die zu einem Zeitpunkt, wo das in Paris noch tollkühn gewesen wäre, in London ohne Reifrock und Perücke Ausdruckspantomimen tanzte.

Neben dieser künstlerischen ging eine mit den Jahren immer ungünstigere äußere Entwicklung einher, die in erster Linie innerpolitische Gründe hatte. Der englische Adel, der auch Georg den II., der 1727 seinem Vater gefolgt war, noch als unerwünschten Ausländer empfand, glaubte in seinem Günstling Händel den König selbst zu treffen und gründete, geführt vom Kronprinzen als dem natürlichen Träger der Opposition, eine Gegenoper, an die Porpora und Hasse berufen wurden, erheblich ernster zu nehmende Rivalen als seinerzeit die Ariosti und Bononcini. Heidegger schlug sich schleunigst zu der gesellschaftlich aussichtsreicheren Gegenpartei. Händel wurde aus dem Haymarket-Theater verdrängt und zog zunächst nach Lincolns Inn Fields, dann in das neue Coventgardentheater. Ein erbitterter Kampf begann. Bis auf die Strada verlor Händel schließlich alle seine italienischen Sänger und mußte mit einheimischen Kräften vorliebnehmen. Er gab trotzdem nicht auf und erlebte den Triumph, seine Gegner zur Strecke zu bringen. Allein auch er selbst war zugrundegerichtet, über und über verschuldet – nur durch Freundesbeistand entging er dem Gefängnis –, seelisch und körperlich am Ende: ein Schlag lähmte seine rechte Seite. Monate verbrachte er in einer an dem mächtigen Manne doppelt beängstigenden Teilnahmslosigkeit, bis er, im Spätsommer 1737, plötzlich sich aufraffte und durch eine echt Händelsche Gewaltkur in den Aachener Bädern wiederherstellte.

Nach dem Zusammenbruch, der einen entscheidenden Lebenseinschnitt bedeutet, wurde das englische Oratorium, schon 1732 mit "Esther", der Erweiterung von "Haman und Mardochai", wiederaufgenommen, 1733 mit "Athalia" und "Deborah" fortentwickelt, zum Hauptgeschäft. "Saul", "Israel" sind die Erstlinge von einundzwanzig Werken der Gattung, die den hohen Mannesjahren, dem Alter angehören. Das äußere Bild dieser Spätperiode hat nichts vom Glanz der Anfänge. Der

Anzeige der Londoner Erstaufführung des ‘'Messias'‘.
[91]  Anzeige der Londoner Erstaufführung des "Messias" in der "Daily Press", 1743.
Adel, die Gesellschaft verfolgten Händel und seine Konzerte nach wie vor mit ihrer Mißgunst. Die Verhältnisse in London wurden für ihn so schwierig, daß er sich ernstlich mit dem Gedanken trug, nach Irland überzusiedeln; den "Messias" hat er, im Frühjahr 1741, in Dublin erstaufgeführt.

1745 erlitt er abermals einen argen Zusammenbruch; allein auch von ihm erholte er sich zu neuen Taten. Hatte er infolge politischer Spannungen seine bevorzugte Stellung eingebüßt, so wurde er nun durch ein politisches Ereignis gerettet. Der Prätendent Charles Edward rückte Ende 1745 mit einem Hochländerheer gegen London vor. Händel komponierte einen Freiwilligenhymnus, rief im "Gelegenheitsoratorium" zum Kampf gegen den Eindringling auf und feierte im "Judas Maccabäus" den [91] Sieg: das Buch des letzteren ist dem Herzog von Cumberland, dem Feldherrn von Culloden, gewidmet. Durch die beiden vaterländischen Oratorien wurde Händel volkstümlich. Die wirtschaftlichen Sorgen wichen; nicht zum wenigsten, weil er bei seinen Konzerten die Subskription aufgab, sie der Allgemeinheit zugänglich machte: es gab eine Zeit entspannterer Tätigkeit. 1750 sah er, auf einer letzten Deutschlandreise, noch einmal die Stätten der Jugend. Da ereilte ihn, von schwerer Melancholie angekündigt, im Sommer 1751 – während der Niederschrift des "Jephta": die Partitur zeigt erschütternde Spuren – der härteste Schlag, die Erblindung. Operationsversuche mißlangen. Nach zwei verzweifelten Jahren erhob er sich abermals. Er nahm die Oratorienaufführungen wieder auf, saß wieder an der geliebten Orgel, ja er komponierte sogar: die Zweitfassung eines der italienischen Jugendoratorien, des "Triumphs von Zeit und Wahrheit", herrliche Ergänzungen zum "Judas Maccabäus", eines der hinreißendsten Orgelkonzerte wurden geschaffen. Unmittelbar nach den Konzerten der Fastenzeit 1759, an denen er noch erstaunlich lebendig teilgenommen hatte, verfiel er in wenig Tagen. Am 14. April, am Morgen des Karsamstags, starb er. In der Westminsterabtei wurde er, gemäß der stolzen Verfügung seines Testamentes, mitten unter den Großen der englischen Geschichte bestattet.


Händel dirigiert eine Oratorien-Aufführung in London. 
Zeitgenössische Zeichnung.
[88b]    Händel dirigiert eine Oratorien-Aufführung in London.
Zeitgenössische Zeichnung. London, Britisches Museum.

[Bildquelle: Mondiale, London.]
[92] Es ist in erster Linie der Händel des Oratoriums, der großen Instrumentalwerke, der überdauert hat. Händels Oper, so klar wir heut ihre persönliche Bedeutung erkennen, war unverwurzelt; sie wäre ähnlich anderswo möglich gewesen. Das Oratorium wuchs auf englischem Boden. Der Anschluß an das französische Klosterdrama stellte die, gattungsmäßig und inhaltlich, entscheidende Chorwirkung bereit, der an die englische Masque halbszenische Darstellung: zwar in Dekorationen, doch ohne sichtbare Handlung. Das für die biblischen Stoffe vom Bischof Gibson erlassene Bühnenverbot war in seinen Auswirkungen stärkste Anregung. Das Drama, in der bis zuletzt nicht aufgegebenen dreiaktigen Gliederung der Oper, wurde durch die konzertmäßige Aufführung aus den Schranken des Bühnenhaften erlöst, konnte den Phantasieraum erfüllen, den ihm die Dichtung vorschrieb, die Musik recht eigentlich erst anwies. Während in der Oper die l'art pour l'art-Absicht nicht völlig dahintenblieb (der Sängervirtuos allein schon begründete das), steht das Oratorium ganz auf der, wenn auch zumeist mittelbaren, Aussprache menschlicher, weltanschaulicher, religiöser Inhalte. Seine geistige Einstellung ist undenkbar ohne die Gefühlswucht und Anschauungsweite, die Milton der religiösen Poesie verliehen hatte; sie ist undenkbar ohne die Blickoffenheit, den Enthusiasmus der großen englischen Aufklärer, Shaftesburys vor allem; sie ist undenkbar ohne die anderen Hörerkreise: es vollzieht sich eine Wendung vom Gesellschaftspublikum des Theaters zum Volke oder, wie Händel gesagt haben würde, zur Nation und damit von der privaten Individualproblematik der Oper zu den neuen, Völkerschicksale erfassenden Stoffen, die im Oratorium wesentlich werden. Wiegt hier Biblisches, Alttestamentliches vor, dann, weil der Nation, die angeredet wurde, von mythischen, geschichtlichen Stoffen nur dies geläufig war. Charakteristische Beispiele sind "Israel in Ägypten", wo das Gottesvolk der Held ist, Soli im Sinn der Oper überhaupt nicht mehr vorkommen, "Judas Maccabäus", wo neben dem Volke nur die Führererscheinungen, der Krieger, der Priester, hervortreten, "Belsazar", wo Untergang und Aufstieg von Weltreichen aus einem Gesichtswinkel betrachtet sind, der das Einzelereignis zum Beleg einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit macht. Antike Stoffe, "Herakles" und namentlich "Semele", stehen der Oper noch näher. Der "Messias" ist ein Sonderfall, kein Drama mehr, eine religiöse Monumentalkantate. Seine englischen Librettisten, nach Pope und Gay die Hamilton, Humphreys, Jennens, Miller und Morell, haben Händel, wofern er nicht, wie beim "Israel", selber zugriff, nicht schlecht bedient, so unterschiedlich ihre dichterischen Fähigkeiten sein mochten. Sie haben insbesondere dem theologischen Zuge Rechnung getragen, der, nach zeitweise offenbar ziemlich weitgehender Beeinflussung durch freigeistige Gedanklichkeit, seit dem "Damaskus" von 1737 in ihm wieder mächtig wurde und sich in der gern überbetonten Altersfrömmigkeit des Erblindeten vererbungsgemäß verfestigte. Das Weltbild, das im Oratorium sich ausbreitet, ist gleichwohl zuinnerst nicht christlich, geschweige denn alttestamentlich-jüdisch. Es ist bestimmt durch [93] heroische Schicksalsgläubigkeit, etwas eindeutig Germanisches also, und trifft darin mit der Religiosität der Puritaner und Miltons genau zusammen. Es ist außerdem bestimmt durch die barock harmonistische Richtung, die Händel geistesgeschichtlich zwischen Leibniz und Goethe einzuordnen nicht nur erlaubt, sondern nötigt.

Dieses Harmonistische, der Drang zum Ausgleich, zur Ineinsbildung prägt auch die musikalische Persönlichkeit und gibt dabei im höchsten gestalterischen Sinne ihr Deutschtum kund. Händel hat von der Ausgangsstellung seines vegetativen Schaffenstyps her wie kein anderer die ausgreifend-aufsaugerische Kraft und im Verein mit ihr die Kraft zur Zusammenfassung, zur Zusammenschau bewiesen, die ein entscheidendes Merkmal der deutschen musikalischen Genieleistung ist. Seine Originalität wird wie an der bannenden Ursprünglichkeit der eigenen Eingebung an der Wirkung erfahren, die bei ihm die letzte Konsequenz seines Aufsaugertumes, das Scheinplagiat, erhält: selbst das unverändert Angeeignete geht in die gewaltigen Gesamtkonzeptionen nicht allein restlos ein, es wird durch die Aneignung unbegreiflich über sich hinausgehoben. Der Reichtum an Motiven, die Kraft der Synthese wiederholt sich auf der Ebene des Ausdrucks, des Darstellerischen. Nichts Menschliches ist Händel fremd, sein Wesen hat eine unerhörte Spannweite: er ist darin der echte Dramatiker. Doch alles steht im Lichte des natürlichen Ethos, der unantastbaren Reinheit der großen Seele. Die private Lebensgeschichte ist bruchstückhaft. Wir haben Zeugnisse von Familiensinn, von Kindesliebe, Zeugnisse von Mildtätigkeit gegen Findlinge, gegen alte, erwerbslose Musiker. Wir haben in anekdotischen Berichten Beweise eines überlegenen, vorm eigenen Ich nicht haltmachenden Humors. Wir hören, daß Händel ein starker Esser und einem guten Tropfen nicht abhold war; die zeitgenössische Karikatur hat sich dessen schonungslos bemächtigt. Wir hören, daß nichts ihn heftiger aufbrachte, als wenn er Mangel an Achtung vor seiner Arbeit verspürte. Aber wir wissen – dies bei einem der tiefsten und feinsten Schilderer des

Georg Friedrich Händel. Gemälde von Philipp Mercier.
[88a]      Georg Friedrich Händel.
Gemälde von Philipp Mercier, 1748.
Halle, Städtisches Museum.

[Bildquelle: Steinle, Bonn.]
Weibes – nichts oder so gut wie nichts von Beziehungen zu Frauen. Zweimal soll eine Ehe in Aussicht gewesen, aber am Verlangen nach Aufgabe des Künstlerberufes gescheitert sein; nicht einmal die Namen der Mädchen sind bekannt.

Die zahlreichen Bildnisse, die wir zum Teil gewiß Händels persönlichem Interesse an Malerei verdanken, sprechen unmittelbarer als die Biographie. Die wunderbar ausgeglichene Gesamtform des erhabenen Hauptes, die große Haltung sind das äußere Gegenbild einer inneren Höhe, einer Herrscherlichkeit ohnegleichen, doch auch eines unverhehlbaren Einsamseins. Die übergängige Zartheit, fast Empfindlichkeit der Gesichtseinzelheiten, der Zug von Schwermut um den herb geschlossenen Mund mildern nur, sie schmälern nicht das Kämpferische der Gesamterscheinung. Es ist ein geistiger Eroberer, den diese Bildnisse zeigen, ein Mann auf Vorposten, ein Kolonisator, der – wie vieles ihn auch mit der zweiten Heimat verbinden mochte – das blieb, was er seinem Blute, seinem Geiste nach war: ein Deutscher.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz