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[Bd. 3 S. 28]
Karl August von Hardenberg, 
1750 - 1822, von Karl Griewank

Karl August von Hardenberg.
Karl August von Hardenberg.
Gemälde von Friedrich Georg Weitsch.
[Nach wikipedia.org.]
Als der hannoversche Freiherr Karl August von Hardenberg 1790 vierzigjährig die Leitung der Markgrafschaften Bayreuth und Ansbach übernahm, um sie in kurzem als dirigierender Minister des Königs von Preußen zu verwalten, hatte er bereits eine an Wechsel, Erfahrungen und ehrgeizigen Plänen reiche Amtslaufbahn hinter sich – ein echter Vertreter des kleinstaatlichen deutschen Adels, der, eines fest bestimmten großen Wirkungsraumes ermangelnd, Fürstendienst in den verschiedenen Staaten Europas suchte. Als junger Gatte der Erbin eines reichen holsteinisch-dänischen Adelsgeschlechtes, mit dem Lebenszuschnitt eines Grandseigneurs, hatte Hardenberg in der Verwaltung seines Heimatlandes Hannover früh nach der leitenden Stelle des Ministers beim König von England gestrebt. Im Anschluß an einen durch seine junge Gemahlin verursachten Skandal am Londoner Hofe schied er aus dem hannoverschen Staatsdienst aus und wurde Kammerpräsident beim Herzog von Braunschweig. Nach einigen Jahren wiederum trieben ihn Schulden und Frauenaffären sowie die unbefriedigende Kleinheit des Betätigungsraumes aus dem kleinen Herzogtum fort. Schon das unbewegliche Vetternregiment des hannoverschen Adels hatte ihn des alten Kastengeistes und Ständetums wie der kleinstaatlichen Enge überdrüssig gemacht. Schüler der Kameralisten und Staatsrechtslehrer des achtzehnten Jahrhunderts, wurde er Anhänger eines aufgeklärt-absolutistischen Regimentes, einer großräumigen, einheitlich und energisch von oben geleiteten Staatsverwaltung, die auf staatliche Selbstbehauptung mit starkem Heerwesen, auf Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit und allgemeinen inneren Wohlstand gerichtet war. Neigte er mehr und mehr einem optimistischen Wirtschaftsliberalismus, einem Glauben an die schöpferische Leistung der vom Staate zu fördernden und zu entfesselnden wirtschaftlichen Produktivkräfte zu, so war und blieb ihm doch oberstes Gebot die Wahrung staatlicher Autorität, Ehre und Unabhängigkeit. So wurde es ihm zur stolzen Aufgabe, dem Staate Friedrichs des Großen zu dienen und an der Leitung und dem Ausbau dieses entwicklungsfähigsten deutschen Staates zu wirken, dem er politisch schon lange nahegetreten war.

Wie ein kleiner König schaltete der liebenswürdige und bewegliche preußische Minister in den fränkischen Fürstentümern. Je nach den Umständen energisch und behutsam, setzte er dort mit einer Schar gewandter, ihm ergebener Helfer die Hoheit des modernen Staates gegen altertümliche Ständerechte und territoriale [29] Verschachtelungen durch. Er organisierte ein abgerundetes, sorgfältig und einheitlich rationell verwaltetes Staatsgebiet, soweit die aus dem begrenzten altpreußischen Kreise urteilenden Berliner Minister es irgend zuließen. Anders als diese sah Hardenberg über den geschlossenen Einzelstaat hinaus das Ganze des deutschen Raumes mit seiner vielfältigen Staatenwelt als eine Einheit. Unbeschwert von Überschätzung der ausgehöhlten Reichseinrichtungen, wollte er "Teutschlands wankende Verfassung, Religion und Freiheit" erhalten durch Stärkung der leistungsfähigen deutschen Staatengebilde und durch Vorschieben des preußischen Einflusses im Reich, wozu besonders die Stellung in Franken dienen sollte. Sein Lieblingsziel blieb ein "deutsches Gleichgewicht" innerhalb eines ausbalancierten Europas; aber in den Vordergrund trat ihm dabei mehr und mehr die preußische Machtausdehnung gegen das argwöhnisch beobachtete Österreich. Im Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich suchte Hardenberg die süddeutschen Reichskreise für die Unterstützung Preußens mobil zu machen, und als ihm die Unterhandlung über den preußischen Sonderfrieden übertragen worden war, strebte er in stetem Gegensatz zu der Berliner Politik Preußen eine weitgehende Schirmherrschaft über Deutschland zu sichern, ohne das linke Rheinufer preiszugeben.

Gezwungen zeichnete er den Baseler Frieden; er fand ihn aber erträglich in dem Glauben, daß Frankreich erschöpft sei und Preußen nun die entscheidende Mittler- und Herrscherrolle in Deutschland zufallen würde. Es kam anders: in Berlin beschränkte man sich darauf, für die Neutralität Norddeutschlands zu sorgen, und Frankreich wurde durch seine neuen Waffenerfolge über Österreich Herr des linken Rheinufers und Schiedsrichter in Deutschland. Der Baseler Friede war in seiner Wirkung ein unrühmlicher Rückzug Preußens aus dem gemeinsamen Kampfe gegen Frankreich geworden. Hardenberg trat jetzt für Modernisierung des Reichsverbandes unter Opferung der geistlichen Fürstentümer ein; er bemühte sich in scharfem Kampf gegen die Absichten Österreichs um Vergrößerung und Machtsteigerung Preußens, vor allem im Süden des Reiches. Doch wurde in Berlin wenig auf ihn gehört. Enttäuscht mußte er sehen, wie Preußen mit vergleichsweise bescheidenen Entschädigungen aus dem großen Umsturz des Reiches hervorging, mit seiner scheuen Politik zwischen alle Großmächte geriet und schließlich gar das Eindringen der Franzosen in das norddeutsche Hannover geschehen ließ.

Ein Jahr darauf (1804) wurde Hardenberg selbst zur Leitung der preußischen Außenpolitik berufen, der er bisher nur Hilfsdienste hatte leisten können. Er mußte das Amt, das schon länger Ziel seines Ehrgeizes war, mit den schweren Kompromissen übernehmen, die Bismarck später mit Abneigung gegen das Ministeramt unter dem absoluten Königtum erfüllten. Er begehrte die einzige und "volle Verantwortlichkeit" als Minister, während der König in herkömmlicher Weise ihn nur als dienenden "Ratgeber" ansehen konnte. Gegenüber dem persönlich schlaffen und politisch überbehutsamen Vorgänger Graf Haugwitz wünschte [30] Hardenberg eine aktivere, möglichst auf Landerwerb, auf breitere Grundlagen und bessere Grenzen für den Staat ausgehende Politik, während König Friedrich Wilhelm sich begnügen wollte, den durch unerhörte Kraftanspannung entstandenen preußischen Staat wie ein Privatgut patriarchalisch und unbekümmert um alle Welthändel zu verwalten.

Hardenberg hoffte zuversichtlich, durch überlegene Menschenbehandlung, durch nachdrückliche und schmiegsame Haltung beim König sich und eine kräftigere Politik durchsetzen zu können. Es sollte ihm nur vorübergehend gelingen. Zwischen den beiden sich entzweienden Großmächten Rußland und Frankreich suchte er durch Vermittlung und gute Dienste Vorteile für Preußen zu gewinnen, obwohl er den energischen Einsatz nicht wagen durfte, dessen Notwendigkeit er sah und gelegentlich auch dem König vorstellte. Er wies die unklaren Bündniswünsche des zum Angriffskriege rüstenden Rußland im Sinne des Königs ab, hätte aber gern mit Österreich eine auch auf gemeinsame Reichsreformen gerichtete Vermittlungspolitik verfolgt. Zu spät; da der unerschütterliche Neutralitäts- und Isolierungswille des Königs auf allen Seiten Mißtrauen erweckte und Preußen nichts einsetzen wollte, wurde Hardenberg unversehens zum unselbständigen Handlanger einer politischen Passivität, deren Gefahren er selbst warnend erkannt hatte. Als im Sommer 1805 der Französisch-Russische Krieg ausbrach, in den dann auch Österreich eintrat, war Hardenberg resigniert, auf Verlegenheitsmanöver und verworrene Verhandlungen nach beiden Seiten beschränkt, durch die er Anlehnung und den Erwerb des Landes Hannover erstrebte. Er verhinderte die voreilige Entzweiung mit Rußland, das in Preußen gewaltsam einzumarschieren drohte. Erst durch Napoleons Neutralitätsbruch in Ansbach wurde Preußen und auch der König eindeutig auf die Seite der Ostmächte getrieben. Nun mühte sich Hardenberg um vorteilhafte Anschlußbedingungen, die unter Führung des Kaisers Alexander tatsächlich im Potsdamer Vertrag festgelegt wurden (3. November 1805).

Mit dem Siege über die Gegner der Koalition war Hardenberg zum Minister der "Kriegspartei", zum programmatischen Vertreter des Kampfes für die alte europäische Ordnung geworden; die öffentliche politische Stimmung, die sich wie noch nie in Preußen regte, hob ihn, verlieh ihm größere Festigkeit und stärkte sein Gefühl für die Ehre des Staates wie für die Würde seines Amtes. Er tat alles, die übermäßig langsamen Kriegsvorbereitungen Preußens zu beschleunigen. Doch Napoleons überraschender Sieg und der plötzliche Zerfall der russisch-österreichischen Koalition warfen unversehens alle gewohnten politischen Voraussetzungen um. Hardenberg wiegte sich nun noch einmal in phantastischen Vergrößerungs- und Hegemonieaussichten durch ein preußisch-französisches Bündnis, die er sich immer gern vorgestellt, aber nur für einen äußersten Fall, wie er jetzt eingetreten zu sein schien, verwirklichungsfähig gefunden hatte. Er täuschte sich über die feindselige Verschlagenheit der napoleonischen Politik, und mochte er auch abrücken von der Unterwerfungspolitik des Grafen Haugwitz, den der [31] König ihm mißtrauisch an die Seite gesetzt hatte, so war er doch durch sein leichtherziges Verkennen der Lage nicht schuldlos an der Niederlage der preußischen Politik im Frühjahr 1806. Aber zurückgedrängt von den Fürsprechern einer feigen Friedensseligkeit, die Haugwitz auf den Schild hoben, wußte er alle Schuld von sich zu weisen; er wollte nur noch Vertreter einer anderen, zukünftigen, "entschiedenen" und ehrbewußten Staatsführung sein. So schied er vorläufig aus der Leitung der Außenpolitik aus, von Napoleon als Feind öffentlich gezeichnet, in Wirklichkeit ein Teilhaber der preußischen Fehler und Halbheiten, die er aber jetzt klarer erkannte und nicht gewollt zu haben meinte.

Aus der Demütigung des preußischen Staates erwuchs seit dem Winter 1805/1806 bei den patriotischen Verfechtern einer ehrbewußten Staatsführung, unter Prinzen, hohen Beamten und Offizieren die offene Kritik an den Formen des überkommenen königlichen Selbstregiments, das Friedrich Wilhelm III. tatsächlich nicht auszuüben vermochte, mit Hilfe der sogenannten Kabinettsregierung aber äußerlich aufrechtzuerhalten suchte. Seit Jahren war Hardenberg für die Einsetzung verantwortlicher, einheitlich zusammenwirkender Fachminister und gegen den steigenden Einfluß der den König umgebenden Kabinettsräte aufgetreten. Nach den letzten Erfahrungen nahm er den Kampf gegen sie offen auf im Bunde mit dem Freiherrn vom Stein und mit einer Bewegung, die sich in bisher unbekanntem Tone auf die "öffentliche Stimme" und die Gefährdung der Nation berief.

Stein, von originärer Wucht und Prägung der Gedanken und oft von festigendem Einfluß auf den leichtblütigeren Hardenberg, griff in den politischen Mitteln meistens fehl; sein Vorschlag einer den König einschränkenden kollegialen Beamtenregierung und seine schroffen Formen konnten den Monarchen nur abstoßen. Hardenberg dagegen, der sich immer leicht in persönlicher Überredung durchgesetzt hatte, fand nun auch gegenüber dem König die gewinnende, würdevoll ehrerbietig sich anpassende und mit sicherem Griff das Erreichbare fassende Form. Er wurde zum unsichtbaren Kopf der Bewegung, von deren ungestümen, zum Mißlingen verurteilten Vorstößen er sich vorsichtig zurückhielt, und er führte sie in seiner Weise zum Siege, als nach dem Zusammenbruch von 1806 wieder neue Männer nötig wurden. Hatte er seit seinen Anfängen überall die oberste Leitung erstrebt, so mündeten seine Bemühungen um die Stärkung des Ministeramtes in dem Amte des Premierministers, das er sich beim König errang und ihm annehmbar machte, weil es die königlichen Rechte formell am besten zu wahren schien. Später schlug er zur Vermeidung ausländischer Anklänge für das Amt den Namen des "Staatskanzlers" vor, unter dem es mit ihm verknüpft blieb.

Dieser mit Hardenbergs Person verbundene Kampf um die selbständige Geltung einer verantwortungsbewußten hohen Beamtenschaft schuf die Grundlage für Preußens kommende Umgestaltung. Er führte durch das tiefe Unglück hindurch, das den Staat im Kriege 1806/1807 traf. Hardenberg, der politischen [32] Leitung damals ferngehalten, hatte der zu den vernichtenden Schlachten vom 14. Oktober führenden Politik mißtraut und die dann folgenden Ansätze zum eiligen Friedensschluß mißbilligt. Nachdem Preußen ohne Bundesgenossen von Frankreich geschlagen worden war, forderte Hardenberg mit Entschiedenheit den engen Anschluß an Rußland, dem schon im Sommer 1806 vorzugsweise seine Tätigkeit gegolten hatte. Himmel und Erde müsse man bewegen, schrieb er an Stein, um sich gemeinsam mit den Russen am rechten Weichselufer zu behaupten; der von Napoleon gebotene Waffenstillstand sei schlimmer als der Krieg.

Hardenberg. Marmorbüste von Christian Rauch, 1816.
[32a]      Hardenberg.
Marmorbüste von Christian Rauch, 1816.
Berlin, Nationalgalerie.
Indem auch in König Friedrich Wilhelm III. sich allmählich der Widerspruch gegen einen Separatfrieden befestigte, begann er Hardenberg wieder zur Leitung der Politik heranzuziehen, und als im April 1807 Kaiser Alexander und der König gemeinsam der Kriegführung einen neuen größeren Rahmen gaben, wurde Hardenberg der politische Lenker dieses Bündnisses. Zurückgedrängt auf die letzte Provinz der Monarchie, nahm Preußen jetzt den Gedanken auf, in einem Bunde der europäischen Mächte zur Wiederherstellung der unabhängigen Staatenwelt die drohende französische Universalmonarchie zu bekämpfen, und Hardenberg war sein Wortführer. Er drang darauf, Österreich zur Kriegshilfe, England und Schweden zur Unterstützung zu veranlassen, und formulierte das Ziel: Vertreibung Napoleons aus Deutschland und Italien, Herstellung des Gleichgewichtes der großen Mächte in Europa und einer von Preußen und Österreich gemeinsam geführten Ordnung in Deutschland, wie sie ihm schon früher vorgeschwebt hatte. Die alten Reichseinrichtungen endgültig aufgebend, forderte er anfangs völlige Unterordnung der kleinen deutschen Staaten, dann mit Rücksicht auf das englische Hannover eine freiere Konföderation mit österreichischer und preußischer Militärhoheit. Alle Kräfte setzte er daran, den Beitritt der anderen Mächte zur preußisch-russischen Koalition und wirksame Kampfmaßnahmen herbeizuführen. Nachdem mit Hilfe des russischen Kaisers zum erstenmal die ganze politische Leitung in seiner Hand vereinigt worden war, beschaffte er mit Umsicht und Erfolg in dem armen Rumpflande, das den Kriegsschauplatz hergab, Geldmittel und Verpflegung für den weiteren Kampf und legte bereits den Grund für eine innere Regeneration des niedergeschlagenen Preußens.

Das Erlahmen des russischen Kampfwillens setzte seiner Arbeit ohne preußische Schuld ein Ende. Beim Abschluß des Tilsiter Friedens stürzte Hardenberg als ausdrücklich gefordertes Opfer Napoleons, jetzt auch in den Augen seines Königs der beste Sachwalter und in der allgemeinen Meinung der Vorkämpfer und Märtyrer preußischer und deutscher Unabhängigkeit.

In Riga, wohin er vor dem zürnenden Imperator flüchten mußte, dann in Tilsit lebte der bald sechzigjährige Staatsmann in ehrenvoller Verbannung. Der an großherzige Verschwendung Gewöhnte führte jetzt ein häuslich bescheidenes und befriedetes Leben; mitten im Kriegswinter hatte er als dritte Gemahlin die ehemalige junge Frankfurter Tänzerin heimgeführt, die seit zwölf Jahren als [33] Geliebte um ihn war. Sein Geist stärkte sich an der Sprache der römischen Dichter und Geschichtschreiber, in denen er als Schüler des Aufklärungs-Klassizismus gern lebte. In gesammelter Betrachtung ließ er sein reiches staatsmännisches Leben an sich vorüberziehen; selbstsicher wurde er aller eigenen Leistungen bewußt und verwischte vom Standpunkt der Gegenwart vielfach unbewußt das Vergangene zu seinen Gunsten, voll von dem unauslöschlichen Haß des Politikers gegen alle, die seiner Macht im Wege gestanden hatten. Dabei richtete sich sein Blick unverwandt auf die Ereignisse, mit denen Napoleon nun das Schicksal West- und Mitteleuropas bestimmte, und auf die Mittel für eine Wiederaufrichtung des verkleinerten, ausgesogenen und größtenteils noch besetzten preußischen Staates. Die idealistisch-theoretischen Deduktionen, die das Zeitalter liebte, fanden bei ihm, dem aufgeklärten Staatspraktiker und Edelmann, ihre abgeblaßte Anwendung: nach dem Weltplan der Vorsehung werde das Schwache vernichtet, um neue Kräfte zu weiterem Fortschritt zur Vollkommenheit zu beleben; den "Geist der Zeit" gelte es zu erkennen und zu nutzen. Hardenbergs aufgeklärt-bürokratisches Verwaltungssystem war an sich dem napoleonischen nahe verwandt; jetzt lehnte er sich bewußt an dieses an, wenn er wollte, daß Preußen sich durch "demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung" wieder stärken und zugleich die bonapartistischen und rheinbündischen Staaten im Auge der öffentlichen Meinung übertreffen solle.

Die Reformvorschläge, die er dem König auftragsgemäß übersandte, faßten, mit überlegenem praktischem Blick, leicht und gefällig die Gedanken zusammen, deren Erprobung und Verwirklichung nach der tatsächlichen Lage geboten schien. Ihre große Bedeutung liegt darin, daß sie mit der jetzt von Hardenberg gewonnenen Autorität dem Monarchen zu einer Leitlinie für die Annahme der Reformen wurden, mit denen das aufgeklärt-idealistische Beamtentum der absoluten Monarchie das Volk mündig zu machen und damit die Kräfte des Staates zu vervielfachen gedachte. Es lag in den Voraussetzungen der ganzen Epoche, daß diese Wirkung vor allem von der wirtschaftlichen und rechtlichen Befreiung des Individuums erwartet wurde. Solchem Glauben huldigte getreu seinen alten Neigungen auch Hardenberg, wie der ganze Kreis seiner unter dem Einfluß der idealistischen deutschen Philosophie und Adam Smiths stehenden jüngeren Mitarbeiter. Eine "Verbindung des Volkes mit der Staatsverwaltung" erkannte Hardenberg als notwendig; die von Stein vorgebrachten Selbstverwaltungs-Gedanken nahm er, wenngleich mit mäßiger und vorübergehender Anerkennung auf, immer bedacht auf die Stärke und das Ansehen der zentralen Exekutive. Vor allem wollte er die Einheit des Staates völlig und kraftvoll durchführen und seine äußere Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit sichern; bei Klugheit, Kraft und Konsequenz könne es auch an Gelegenheit zu Rück- und Neuerwerbungen nicht fehlen. Die wiederholten Versuche, Preußen in Napoleons Rheinbund hereinzulocken, hatten keinen heftigeren Gegner als ihn. Und in betontem Gegensatz [34] zu der verbreiteten zivilistischen Geringschätzung des Militärs sah er den Rückhalt des Staates in einer starken reorganisierten Armee, die im Sinne der militärischen Reformer aus dem Soldatenstand einen volksverbundenen Ehrenstand machen sollte. Ein starkes stehendes Heer dachte er sich als Stamm für ein künftiges Volksaufgebot nach dem Vorbild der Französischen Revolution.

Während Hardenberg aus der Leitung Preußens entfernt war, geschah doch in ihr keine große Veränderung ohne sein stilles Mitwirken. Er bewirkte die Berufung und Gewinnung Steins zum leitenden Minister und bestärkte wiederum den König, sich von dem großen Reformator abzuwenden, als dessen Verbleiben den Bruch mit Frankreich vorschnell herbeizuführen schien. Hardenbergs alte Schüler und Mitarbeiter, die in ihm den "großen Mann" verehrten, erhielten auf seinen Vorschlag die wichtigsten Verwaltungszweige, freilich ohne daß seine Wünsche auf stete Beteiligung ganz erfüllt wurden. Als sie aus den wachsenden Schwierigkeiten keinen dem König passenden Ausweg mehr wußten, fielen alle Augen auf Hardenberg als den der Lage allein gewachsenen Ratgeber. König Friedrich Wilhelm legte es darauf an, den alten Minister wieder einzusetzen, und Hardenberg erreichte jetzt in meisterhafter Verhandlung, daß für ihn endlich das Staatskanzleramt mit der Oberleitung über alle Ministerien geschaffen wurde.

So trat er nun das Erbe des von Stein begonnenen Reformwerkes an. Aber wenn Stein in genialer Schau den neuzeitlich-großräumigen Nationalstaat aus deutschem und germanischem Erbe, lediglich unter Benutzung einzelner Formen des revolutionierten Frankreichs schaffen wollte, so begann Hardenberg diese Formen schematisch anzuwenden, wie sie im bonapartistischen Staatssystem konstruiert waren, ja mit unmittelbaren Nachahmungen Frankreichs und des Königreichs Westfalen. Zu Deutschlands Nachteil hat Napoleon ein gemeinsames Wirken der beiden Reformminister, der moralischen Kraft und sachlichen Gründlichkeit Steins mit der überlegenen politischen Geschicklichkeit Hardenbergs verhindert. Die Steuergesetze, die Hardenberg zur finanziellen Leistungserhöhung des Staates ergehen ließ, sollten alle Staatsbürger nach ihren Kräften treffen; aber sie waren Schreibtischarbeit, voll vorschneller, zum Teil auch undurchführbarer, unwirksamer und bald wieder veränderungsbedürftiger Bestimmungen.

Das große Werk der Bauernbefreiung wurde unter Hardenberg vorläufig abgeschlossen. Es erhielt jedoch zugunsten der Großgrundbesitzer eine Form, die bei ausbleibender Gegenwirkung den auflösenden Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts, der Entwurzelung und Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung Vorschub leistete, weil nur ein Teil der Befreiten aus eigener Kraft die gewährte Freiheit bewahren konnte.

Ein entsprechendes Gesicht erhielten auf die Dauer auch andere Maßnahmen Hardenbergs, die sich damals noch mäßig auswirkten, wie die zunächst dem Ausgleich von Stadt und Land dienende Erklärung der Gewerbefreiheit und die Begünstigung der Juden, deren [35] Einbürgerung Hardenberg herbeiführte und von deren Entwicklungs- und Verwendungsfähigkeit für den Staat er eine dem individualistischen Zeitgeist entsprechende hohe Vorstellung hatte.

An Stelle der von Stein angebahnten Kollegial- und lokalen Selbstverwaltung setzte Hardenberg das System eines zentralistischen Bürokratismus. Die Oberpräsidenten fielen zugunsten präfektenähnlicher Regierungspräsidenten; ihnen sollten die Direktoren unterstellt werden für die Kreis- und Lokalverwaltung, deren geplante Umwandlung freilich zugunsten der alten, halbfeudalistischen Kreisverfassung unausgeführt blieb. Und doch ist nicht zu verkennen, daß sich in allem jetzt nach Jahren unsicheren Planens ein starker Wille zur inneren Festigung und Vereinheitlichung des in seiner Existenz bedrohten Staates mit den gerade greifbaren Mitteln durchsetzte. Zu diesem Ziele hatte Hardenberg von Stein inzwischen auch den Gedanken der Volksvertretung übernommen, der ihm vordem durch Erinnerungen an die alten Feudalstände verleidet war. Hatte Stein verantwortlich mithandelnde "Reichsstände" erstrebt, so ließ Hardenberg es zunächst zu gelegentlich befragten berufenen Notabelnversammlungen und zu einer unter Regierungsaufsicht gewählten Staatsschuldenkommission kommen, die als "interimistische National- oder Landesrepräsentation" tagte. Er brachte den König, der Steins Pläne wohl nie gebilligt hätte, zum öffentlichen Zugeständnis beratender Versammlungen. Über die altertümlichen provinziellen Standesvertretungen, deren Rechte die mehr historisch denkenden Reformer nicht zu übergehen wagten, setzte Hardenberg sich unbekümmert hinweg; ihre widerspenstigen Wortführer Marwitz und Finckenstein ließ er mit Gewalt abführen. Die dauernde Nationalrepräsentation sollte künftig der Einheit von Staat und Nation dienen, den Kredit des Staates erhöhen und dahin wirken, "daß durch Erziehung, durch echte Religiosität und durch jede zweckmäßige Einrichtung ein Nationalgeist, ein Interesse und ein Sinn gebildet werde, auf dem unser Wohlstand und unsere Sicherheit fest gegründet werden können".

Seit dem Jahre 1809 war Preußens Existenz vollends von Napoleon abhängig geworden. Hardenberg hatte mit friedlichen Versicherungen, die er an sein Ohr dringen ließ, das Mißtrauen des Imperators zu beschwichtigen gewußt. Unterwerfung unter ihn ebenso wie unzeitigen Bruch und voreilige Opfer zu vermeiden, war das Grundgebot der Außenpolitik, mit der Hardenberg Preußen durch die nächsten Jahre führte. Hardenberg ging nicht mit der Unbedingtheit der Scharnhorst und Gneisenau auf Napoleons Bekämpfung aus. Er war wie sie durchdrungen davon, daß Preußen lieber, und wäre es ohne Bundesgenossen, kämpfend in Ehren fallen als sich aufgeben solle. Aber während sie heroisch unmittelbar auf diesen Kampf ausgingen, wollte Hardenberg dem Staate noch eine ruhige Lebensfrist und eine Zeit der inneren Kräftigung sichern; er kam damit der Neigung des Königs zu hinhaltender Vorsicht entgegen. Er verminderte den mit äußerster Anstrengung hochgehaltenen Heeresetat, um zunächst Kontributionen zahlen zu können; er ließ wieder aufrüsten, als Napoleons Rüstungen [36] gegen Rußland es nahelegten. Er bemühte sich um ein französisches Bündnis, um Napoleons Absichten zu erforschen und eine angesehenere Stellung für Preußen zu erringen; er blieb dabei "im Gefühl" immer der Sache der unabhängigen Staatenordnung treu und riet im Sommer und Herbst 1811, als Napoleon ein ehrenvolles Bündnis ablehnte, dem König den gefahrvollen und unsicheren Anschluß an Rußland, dabei mit unerschöpflicher List zugleich die Franzosen hinhaltend. Noch schien alles umsonst: der König vollzog die Schwenkung nicht rechtzeitig und entschieden, wie Hardenberg und die jetzt hinter ihm stehenden deutschen Patrioten es wollten, und Preußen mußte dem Weltherrscher in demütigendster Form Heeresfolge gegen Rußland leisten.

Erst mit dem Rückzug aus Rußland schlug die Stunde der Waffenerhebung gegen das übermächtige Frankreich. Man kann nicht sagen, daß Hardenberg sie unumwunden ergriffen hätte. Gleich den meisten Diplomaten der alten Schule fürchtete er das Vormachtstreben und die Unzuverlässigkeit der vorschreitenden russischen Macht kaum weniger als die Vorherrschaft Frankreichs. Und er war sehr geneigt, Preußens Ausdehnung wieder im Osten zu suchen, am liebsten mit Übernahme der polnischen Königskrone, die der russische Kaiser für sich begehrte. Da ohnehin der König einen Entschluß scheute, blieb es zunächst bei Verhandlungen nach allen Seiten, vor allem mit Österreich. Aber Ende Januar 1813 warf Hardenberg dieses System über Bord; unter dem Eindruck der von Kaiser Alexander verkündeten Befreiungsmission und unter Scharnhorsts Einfluß trat er für das russische Bündnis ein, durch das nun Frankreichs Übergewicht im Norden gebrochen werden müsse. Die Franzosen bis zuletzt listig täuschend, brachte er in sorgfältiger Ausräumung aller Bedenken schließlich auch den zögernden König zu der Stellungnahme, die durch den stürmischen Aufbruch des Volkes und der Heeresführung wie durch den Vormarsch der Russen gebieterisch gefordert war. Hardenberg veranlaßte den König zum Abschluß des russisch-preußischen Bündnisses, das den Krieg für die Neuherstellung Preußens und Deutschlands eröffnete. Mit den Russen und mit Stein, dem geistigen Lenker ihres Kampfes in Deutschland, arbeitete Hardenberg in gewohnter Frische und Arbeitskraft zusammen für den Befreiungskampf, und stetiger als bisher folgte er nun dem Impulse der großen deutschen Patrioten, die das preußische Volksheer aufbauten und vorwärts trieben. Jetzt wurde auch der große Gedanke der ausnahmslosen allgemeinen Wehrpflicht, wie die Reformer ihn entwickelt hatten, dem Staatskanzler vertrauter, und er half, ihn rasch zu verwirklichen.

Nachdem im Sommer 1813 endlich auch der Beitritt Österreichs zum Befreiungskrieg erreicht war, beschritt Hardenberg die Bahn einer gemeinsamen Politik der beiden deutschen Großmächte mit dem Ziel einträchtiger Wahrung und Beherrschung Mitteleuropas gegen Osten und Westen, die vordem nie durchführbar gewesen war. Die Interessen der Habsburgischen Monarchie hängten sich wie ein Bleigewicht an die norddeutsche Volkserhebung, in der der Wille zur [37] Niederwerfung Napoleons und zur Errichtung eines neuen Deutschlands mächtig war. Hardenberg brachte gegenüber den kleineren norddeutschen Fürsten rücksichtslos das preußische Übergewicht zur Geltung, während er die Süddeutschen aus Rücksicht auf Österreich widerwillig schonte. Andererseits begegneten sich die preußischen Patrioten im kriegerischen Voranstreben, wenn auch nicht im politischen Ziel, mehr mit dem russischen Kaiser, dessen von Österreich argwöhnisch bekämpfte, unklare Ausdehnungs- und Vorherrschaftspläne dem preußischen Staatsmann doch auch für Norddeutschland bedrohlich erscheinen mußten.

Die inneren Gegensätze in der Koalition, noch verborgen in den Monaten der Gefahr und des heroischen Kampfes in Deutschland, traten lähmend hervor, als die große Schlachtenentscheidung von Leipzig den bisherigen Weltherrscher für immer über den Rhein zurückgeworfen hatte. Der preußische Staatskanzler, der in ständiger Verbindung mit der Heimat die Kräfte für den großen Kampf anspannte, hatte zugleich im Hoflager der verbündeten Monarchen und ihrer Staatsmänner den undankbaren Kampf um die Früchte der ungewöhnlichen Opfer und Heldentaten zu führen, mit denen Preußen in diesem Kriege voranging. Metternich, der "Premierminister der Koalition", begann mit dem Angebot eines Verzichtfriedens zu arbeiten; Hardenberg wies es von sich als "tolles Zeug", das sich freilich durch das Vorantragen des Krieges nach Innerfrankreich bald erledigte. Gebunden an einen zwischen kritischem Zaudern und persönlicher Anhänglichkeit an Kaiser Alexander schwankenden König, gezogen von dem unbändigen Siegeswillen des preußischen Heeres, mußte Hardenberg vermitteln zwischen den launenhaft unberechenbaren Eigenwegen des Zaren und den Wünschen Englands und Österreichs, die dem auch von Hardenberg vertretenen Gedanken des europäischen Gleichgewichtes ihre eigene, ein schwaches Deutschland voraussetzende Bedeutung gaben. Das Ergebnis war, daß die Mächte Napoleon den Friedensschluß auf Grund der Grenzen von 1792 anboten, und bei diesen Grenzen blieb es, als nach dem opferreichen Winterfeldzug und dem Sturze Napoleons 1814 der Friede mit den Bourbonen geschlossen wurde.

Mit Nachdruck hatte Hardenberg die Notwendigkeit erfaßt, Preußen künftig die Grenzwacht gegen Frankreich im Rheinland zu übertragen. Für den Oberrhein wollte er die gleiche Aufgabe Österreich zuweisen, das sich ihr indessen allmählich entzog. Die pommersche Küste, das Ziel von anderthalb Jahrhunderten, brachte Hardenberg endlich vollständig in Preußens Hand. Hatte er auf Hannover und die fränkischen Provinzen für Preußen verzichten müssen, so vertrat er nun um so entschiedener die preußischen Forderungen auf Angliederung Sachsens und auf eine erträgliche Ostgrenze. Auf dem Wiener Kongreß suchte er die preußischen Ziele anfangs durch vermittelnde Haltung zwischen den um Polen streitenden Mächten Österreich und Rußland zu erreichen. Da verlangte König Friedrich Wilhelm ein plötzliches einseitiges Umschwenken zu Rußland; Preußen hatte jetzt die Ungunst aller auf sich geladen und mußte zufrieden sein, neben dem [38] leidlich abgegrenzten Posen und dem rheinisch-westfälischen Gebiet die Hälfte Sachsens zu erhalten. Und nun versagte sich auch Österreich vollends den preußischen Wünschen für die Neugestaltung Deutschlands. Mit Stein und Humboldt hatte Hardenberg unter der gemeinsamen Vorherrschaft der beiden Großmächte eine starke deutsche Kriegsverfassung und Mitwirkung des Volkes an der Regierung im Einzelstaat wie im ganzen sicherstellen wollen. Aber der "Deutsche Bund", wie er nach österreichischen Plänen zustande kam, wurde inmitten des neuen Systems der europäischen Großmächte ein aktionsunfähiger Haufe von Einzelstaaten, die zumeist dem Wiener Einfluß zuneigten, um sich preußischen Einheitsbestrebungen zu entziehen.

Noch einmal vertrat Preußen die vernachlässigten nationaldeutschen Ansprüche, als durch den Feldzug von 1815 Napoleon zum zweiten Male niedergeworfen war. Zur Sicherung Deutschlands forderte Hardenberg gemeinsam mit Gneisenau die Abtretung des Elsaß und der französischen Grenzfestungen. Doch mußten sie nach dem Willen des Königs zurückweichen, weil solche Erwerbungen Österreich nicht erwünscht, Rußland und England ungelegen waren; Preußen stand, wie Hardenberg mißmutig schrieb, "allein und konnte, erschöpft an Menschen und Mitteln, die Sache nicht gegen ganz Europa durchsetzen".

"Sie werden den Lohn Ihrer Anstrengungen in Entwicklung der großen Weltbegebenheiten finden, zu welchen Sie rastlos beitrugen", so hatte König Friedrich Wilhelm dem Staatskanzler geschrieben, als er ihn in Paris in den Fürstenstand erhob. Aus dem heroisch-völkischen Aufschwung ging Deutschland nun in eine Epoche erschlaffter Traditionspflege hinein, und dieser Wandel bestimmte auch das fernere Wirken des preußischen Staatskanzlers. In der Neueinteilung und Verwaltungseinrichtung des preußischen Staates seit 1815 hat er noch einmal seine eigentümliche Kraft bewiesen. Wurden historische Grenzen und Sonderrechte dabei unbekümmert mißachtet, so gelang es doch durch die von dem Staatskanzler zur Leitung der neuen Provinzen herangezogenen Männer, in kurzer Zeit aus dem Haufen der Preußen zugefallenen Länder einen einheitlichen modernen Staat zu machen.

Gartensaal im Schloß Neu-Hardenberg. Bibliothek im Schloß Neu-Hardenberg.
[32b]      Gartensaal und Bibliothek im Schloß Neu-Hardenberg in der Mark,
seit 1814 Wohnsitz des Fürsten Hardenberg, 1817 von Schinkel umgebaut.

Daß Preußen in kurzem zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Zollgebiet und zum Ansatzgebiet für einen großräumigen Zollverein gemacht wurde, entsprach Hardenbergs alten Idealen. Immer noch belehrbar für die andringenden Kräfte der Zeit, hatte er sich im Befreiungskrieg vom Bonapartismus abgewandt und der Verwirklichung der in Stein verkörperten Ideen angenähert. Die Verwaltung der Provinzen erhielt durch die Oberpräsidenten wieder eigenes Leben. Zur Auflockerung des königlich-ministeriellen Absolutismus wurde ein Staatsrat gebildet, der freilich geringere Befugnisse als nach Steins Plänen erhielt und von Hardenberg gern umgangen wurde. Die Verfassung mit der "Repräsentation des Volkes", die den alten und neuen Staatsbürgern 1815 versprochen war, wollte Hardenberg nun in organischem Aufbau über eine neue Kreis- und Provinzialverfassung schaffen. Der Weg, auf den Hardenberg den [39] allen völkischen Regungen mißtrauenden und immer wieder zögernden Monarchen brachte, sollte zur Begründung einer zeitentsprechenden deutschen, auf starker Monarchie und individueller Verantwortung der Staatsbürger beruhenden Staatsform und damit zur Festigung Preußens als europäische Macht führen. Doch kam es nicht mehr zur Heranziehung der in der jungen Generation weiterwirkenden völkisch-nationalen Ideale in den Staat, und auch der von Hardenberg erstrebte Ausgleich der freiheitlichen mit den dem König jetzt näher stehenden altständischen Kräften ist damals nicht gelungen. Ihn herbeizuführen, hätte Hardenberg mit seiner in das 18. Jahrhundert zurückweisenden Staatsidee wohl auch dann nicht mehr ganz vermocht, wenn nicht die reaktionäre Wendung eingetreten wäre, durch die das politische Streben der Nation wieder in westlerisch-uneigenständige und staatsfremde Bahnen abglitt.

Grundlage der neuen Ordnung blieb für Hardenberg die Gemeinschaft mit Österreich, für den König die Anhänglichkeit an den russischen Zaren. Neue Versuche eines engeren Bündnisses mit Österreich wurden dem Staatskanzler streng verwiesen. Dagegen brachte die Abwendung des Zaren von den liberalen Verfassungsideen den König in eine Linie mit dem System des starren polizeistaatlichen Legitimismus, durch das Metternich die Staatenwelt des mittleren, ja zeitweise fast des ganzen Europas unter österreichischer Vorherrschaft zusammenhielt. Hardenberg setzte rückhaltlos die Kräfte Preußens für strenge Verfolgung der "Demagogen" und für die Bundesexekution der Karlsbader Beschlüsse ein, teils aus Rücksicht auf die wachsende Revolutionsangst des Königs, teils aus eigener Abneigung gegen ungezügelte Ausbrüche einer Freiheitsgesinnung, die dem gepflegten Aristokraten wohl in den Erhebungsjahren der Benutzung wert, doch innerlich immer fremd geblieben war. Doch den Kampf um die versprochene preußische Verfassung wollte er als unumstößliches Gebot der Zeit weiterführen, wie er auch zwischen dem Verfassungswesen der deutschen Mittelstaaten und den Revisionswünschen Metternichs Preußen vermitteln ließ. Als der preußische König sich 1819 in Teplitz von dem Österreicher zu einer Einschränkung der preußischen Verfassungspläne überreden ließ, versuchte Hardenberg sogar, sich Metternichs geschickt zu bedienen, um Friedrich Wilhelm wenigstens auf ein Minimum der Erfüllung festzulegen. Doch wie Österreich, nachdem es Rußland aus der europäischen Vorherrschaft verdrängt hatte, im deutschen Raume die preußische Gleichberechtigung illusorisch zu machen begann – auch die von Hardenberg erstrebte Bundeskriegsverfassung kam nicht weiter –, so vermochte Hardenberg auch das letzte innenpolitische Ideal, dessen Ursprung noch auf die Erhebungszeit zurückging, gegen Österreich und den Monarchen nicht mehr durchzusetzen.

Auf den europäischen Monarchen- und Diplomatenkongressen dieser Jahre erschien der gealterte Staatskanzler, der schwerhörig und lässig den Einzelverhandlungen oft fernblieb, noch immer als der welterfahrene, kluge Steuer- [40] mann, der Preußens Kurs bestimmte. Er blieb in seiner eleganten und lebhaften Überlegenheit, seiner Aufgeschlossenheit für Menschen, Kunstwerke und nutzbare Wissenschaften eine der glänzenden, traditionsreichen Erscheinungen der Restaurationszeit. Daheim behauptete er, der Minister dreier Epochen, zäh die Prärogative seines Amtes, obwohl er sich mehr und mehr Einzelgeschäfte entgleiten ließ und wachsenden Widerspruch aus dem persönlichen Verantwortungsbewußtsein der Minister erregte. Persönlich in eine fragwürdige Günstlings- und Weiberwirtschaft verstrickt, nicht ohne Grund der Greisenhaftigkeit geziehen, ging der Siebzigjährige trotz allem mit ungebrochener Festigkeit an die großen politischen Aufgaben, mit denen er den Neubau Preußens noch vollenden wollte, so wie ihn damals sein Altersgenosse Goethe ansprach, mit dem er einst als Leipziger Student und am Reichskammergericht zusammengetroffen war: "Freier Geist in Erdeschranken, festes Handeln und Vertrauen." Mit alter Spannkraft hatte er sich durchgesetzt, als Wilhelm von Humboldt gegen den Staatskanzler das hohe Beamtentum, dem durch keinen so wie durch ihn der Weg geebnet war, ausspielen wollte. Doch war es ein Pyrrhussieg: mit dem Sturz von Humboldt und Boyen hatte Hardenberg gerade die Männer der Erhebung verloren, und seine alten Gegner, die Sprecher des halbfeudalistischen Absolutismus, des Provinzialismus und der unbedingten Revolutionsangst, gewannen das Ohr des Monarchen. Es gelang Hardenberg noch, die Regulierung der Staatsschulden und eine Steuerreform durchzuführen, die auch die Finanz- und Steuereinheit im Staate herstellten. Aber die Krönung seines Werkes, die Verfassung mit den Reichsständen, wurde vom König im Frühjahr 1821 abgelehnt. Der Kanzler hatte bis zuletzt zäh und folgerecht um sie gerungen; er glaubte seine Sache auch jetzt noch nicht endgültig verloren; aber die Bahnen des Monarchen hatten sich von den seinen getrennt, die Zügel der Regierung fielen Hardenberg aus der Hand, und als er im November 1822, von dem Monarchenkongreß von Verona kommend, in Genua starb, war er fast ein politisch toter Mann geworden.

König Friedrich Wilhelm hatte den Staatskanzler ausgeschaltet, aber nicht mehr entfernen wollen, treu seinem einst der Königin Luise gegebenen Versprechen, daß nur der Tod sie beide trennen solle. Und Hardenberg mochte zuletzt von dem auch nur scheinbaren Besitz der Macht nicht mehr lassen, an dem alle Zeit sein Dasein gehangen hatte. Gemeinsam hatten König und Kanzler durch beispiellose Erschütterungen hindurch die Substanz des preußischen Staates gewahrt und wieder stark gemacht; jener bei aller Schwäche und Schwankung unerschütterlich gewillt, gerecht und patriarchalisch, doch ohne Einrede den Militärstaat und die Herrschaft über die Untertanen zu erhalten; dieser bei aller leichtherzigen Schmiegsamkeit unablässig bedacht auf die Entfaltung der durch die Zeit gegebenen Kräfte im starken, ausgreifenden Staate unter straffer Machtvereinigung in der Hand der verantwortlichen Regierung. Beide wurzelten in dem aufgeklärten Absolutismus und dem Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts; darüber hinaus entwickelte [41] Hardenberg sich durch erkenntnismäßiges, erst zuletzt erlahmendes Eingehen auf neue Kräfte und Ideen, der um zwanzig Jahre jüngere König durch die religiöse Vertiefung seiner späteren Jahre. Anders als Stein und Bismarck läßt Hardenberg uns die Grenzen zwischen selbsterkanntem Ziel und Anpassung an den Monarchen oft nicht deutlich erkennen. Gerade auf dieser geschmeidigen Anpassung aber beruhte der Umfang wie die Grenze seiner Erfolge. Er war kein Gestalter von Ideen und geschichtlichen Bewegungen wie Stein, aber ein politischer Könner von weitem Blick, dem die Herbeiführung von Taten und von großen Umwandlungen nach Maßgabe der gegebenen Mittel gelang. Fremd den Kräften des Volkstums, oft zerstörend für die dauerhaften Gemeinschaftsbedingungen, wußte er doch vordringende geschichtliche Mächte zu erkennen und anzuwenden; durchgreifend im Abbau zeitgebundener Anachronismen wie großzügig in der Neugestaltung, konnte er den preußischen Staat in Formen einrichten, die ihm für ein an Leistungen reiches Jahrhundert das Gepräge geben sollten. Trotz aller Neigung zu voreiligem Schematismus waren bleibende Grundsätze staatlichen Bauens und Handelns in ihm wirksam: der Wille zur Einheit, zu tätigem Einsatz und zu fester Kraftentfaltung für staatliche Unabhängigkeit und Ehre.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz