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[Bd. 2 S. 540]
Gerhard von Scharnhorst, 1755 - 1813, von Friedrich von Rabenau

Gerhard David von Scharnhorst.
Gerhard David von Scharnhorst.
Gemälde von Friedrich Bury.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 226.]
In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ist es unruhig in Europa. Unruhig in jeder Beziehung, nicht nur in der Politik. Die Geister der Skepsis, der Aufklärung, der Kritik überhaupt hatten sich an Althergebrachtes und Feststehendes gewagt. Die Folgen der Zeitströmung sind höchst eindeutig. Sie reißen Frankreich in den Strudel der Revolution. In Deutschland hat man endlich, seit 1763, Ruhe. Man will sie bewahren und allen Ernstes den Frieden zum Wohl der Völker nutzen. Da brandet die Welle aus Frankreich über die Grenze herüber. In Preußen hat man sich, Friedenswillen und Friedensbedürfnis allem voranstellend, allzu klug mit dem Baseler Frieden 1795 aus dem Gedränge anstürmender Ereignisse herauszuziehen gewußt. Man wird jedoch des Baseler Erfolges innerlich nicht recht froh. Wer kann wissen, wann man gegen den eigenen Willen doch wieder in die große Politik hineinverstrickt wird. Freilich glaubt man, in der von Friedrich II. übernommenen unnachahmlichen Armee ein Staatsinstrument zu besitzen, mit dem man allen Schwierigkeiten gewachsen sein wird. Es mag die Unruhe der Zeit mit sich bringen, daß man sich trotzdem nicht so ganz sicher fühlt.

In der preußischen Armee wurde schon unter Friedrich Wilhelm II. viel gedacht und gestrebt. Nur daß die Bestrebungen fruchtlos und die Gedankenläufe vergeblich blieben. Ein preußisches Oberkriegskollegium leistete erstaunlich vielseitige Arbeit. Sogar das Kantonreglement von 1792 enthielt den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht, um ihn durch eine Unzahl von Ausnahmen sofort wieder aufzuheben. Nicht nur in Preußen, sondern allerorten war jedoch das Streben sichtbar, wenigstens die geistige Schulung der Offiziere zu heben. So erhob auch seit 1782 in seiner Zeitschrift Die Militär-Bibliothek ein hannoverscher Offizier namens Scharnhorst immer wieder ganz bestimmte Forderungen in dieser Richtung. Andere schrieben auch, so Behrenhorst und Bülow, überwiegend Scharnhorst angreifend. Dieses Zeitalter handelte ja zunächst meist nicht, sondern es schrieb.

Scharnhorst mühte sich mit den militärischen Problemen seiner Tage jedoch nicht nur schriftlich ab. Der vom Vater, dem altgedienten Wachtmeister, ererbte Soldateninstinkt und die Zähigkeit des

Scharnhorsts Geburtshaus Gut Bordenau.
Scharnhorsts Geburtshaus Gut Bordenau.
[Nach museum.do-scharnhorst.de.]
Bauernsohnes, die von der Mutter her kam, trieb zum Handeln, freilich ohne daß sich zunächst Gelegenheit dazu gab. Der Hang des Vaters, auf eigener Scholle zu sitzen, den dieser ein Leben lang durch ein wechselvolles Schicksal hindurchrettete, hätte den Sohn eigentlich zum Bauern [541] machen müssen. Leider prozessierte man in der Familie fast siebzehn Jahre um den alten Hof, um Bordenau. Der Junge hatte nichts als die Erinnerung, dort geboren zu sein. Als er siebzehn Jahre alt ist, gehört endlich der Hof dem Vater. Aber die Erinnerung an die Ungewißheit langer Jahre zittert nach. Der Sohn soll in eine gesicherte Stellung. Er soll auch mehr werden als der Vater. Er ist ja begabt. Also bringt ihn der Vater auf die Offizierschule des Grafen Lippe auf dem Wilhelmstein im Steinhuder Meer. Der Versuch gelingt. Als der Graf 1777 stirbt, reicht es nun eben nicht gerade zu einer bemerkenswerten Stellung, aber doch zum Lehrer an der Regimentsschule des Kavallerie-Regiments in Northeim unweit des Westharzes. Das ist nicht viel, aber es ist das Sprungbrett, um nach wenigen Jahren Lehrer an der Artillerieschule in Hannover zu werden.

Um die Jahrhundertwende trifft ein Gesuch des hannoverschen Majors Scharnhorst um Einstellung in die preußische Armee in Berlin ein. Ein merkwürdiges Gesuch. Ihm beigefügt waren drei Aufsätze, gleichsam um den Wert des Antragstellers darzutun. Der Verfasser muß über die Stimmung in Berlin unterrichtet sein. Er weiß, daß man dort die beste Armee und trotz der Mißerfolge im Herzog von Braunschweig den Besten aller Feldherren zu besitzen glaubt. Der Verfasser weiß aber auch, daß man so seine geheimen Sorgen in Berlin hat. Also sind die beigefügten Aufsätze Reformvorschläge. Harmlose Reformen der Regimentsartillerie, die man der Infanterie besser wegnähme, im Gebrauch des dritten Gliedes und für die Truppenübungen. Genug, um den Verfasser als Mann von Ideen zu zeigen, nicht so reformatorisch, um im Lande behutsamer Beharrlichkeit sofort anzustoßen. Auch sonst ein merkwürdiges Gesuch. Der um Einstellung Bittende stellt Bedingungen: Nobilitierung und Beförderung zum Oberstleutnant. Er hat seine Erfahrungen als bürgerlicher Offizier und Mann der Nichte des Hofküchenlieferanten Schmalz in der etikette-erstarrten hannoverschen Armee.

Scharnhorst gehört zu den ausgesprochen gelehrten Offizieren jener Zeit. Er galt als Autorität auf dem Gebiet der Kriegsgeschichte. Aus Dänemark war infolgedessen bereits ein Ruf zum Übertritt ergangen, den Scharnhorst aber ablehnte. Anfang 1797 kam dann von Preußen aus eine Anfrage.

Dem damals Zweiundvierzigjährigen lag nicht viel am Verbleiben in hannoverschen Diensten. Die fast zwei Jahrzehnte dort waren an Enttäuschungen nicht arm gewesen. Er dürfte nicht gerade von Mißerfolgen sprechen. Aber der Leutnant Scharnhorst war doch ein Außenseiter in dem mit Standesvorurteilen besonders reich gesegneten Hannover geblieben, "dem deutschen China", wie Stein es nannte.

Vielleicht hätte die Ehe ein Ausgleich für manche offenkundige Zurücksetzung im Beruf sein können. Bis zu einem gewissen Grade war sie es auch. Denn diese Ehe war zweiundzwanzig Jahre hindurch, bis Scharnhorst 1804 seine Frau unter den alten Eichen von Bordenau begrub, durchaus friedvoll und harmonisch. Scharnhorst hat nach dem Tode seiner Frau selbst von ihr geschrieben: "Wenn es [542] auf innere Güte des Herzens ankam,... so übertraf sie ihre Mitmenschen, aber sie war selbst dabei nicht glücklich; von trauriger Gemütsart, floh sie alle Freuden." Ein leiser Unterton der Enttäuschung schwingt mit, der Grundton in Scharnhorsts Leben.

Am Schlusse der hannoverschen, gewiß nicht inhaltsleeren Zeit stand eine letzte herbe Enttäuschung. Nach langem Hinhalten über allerlei Formelkram erteilte man ihm in lakonischer Kürze mit genau acht Worten den Abschied.

So kam er denn im Mai 1801 nach Berlin. Mittelgroß, beinah linkisch und eckig, fast etwas nachlässig im Äußeren, mit weichen und bequemen Gelehrtenformen, ganz und gar nicht "stramm". Nichts von der imponierenden Gestalt und dem prachtvollen Herrenauge Blüchers, nichts von dem heroisch anmutenden Format Gneisenaus. Die Nase, die bäuerliche Herkunft verratend, ist etwas grob geraten. Um den schweigsamen Mund ein Zug von Sarkasmus, gemildert durch Resignation. Das Kinn hat die Linie starken Wollens. Und aus den ungewöhnlich ruhigen Augen spricht heitere Güte, tiefes Menschentum und verhaltene Leidenschaft. Man fühlt, hinter der bedeutenden Stirn drängen sich große Gedanken. Man hofft, sie werden in zwingendem Strom über die Lippen kommen, und man ist enttäuscht, wenn er nun unbeholfen, bis zur Unklarheit ungeschickt, mit allzu häufigen Wiederholungen spricht. Noch 1807 schreibt er an Clausewitz: "Ich habe den besten Willen, zu wirken, wo ich kann, ich bin aber nicht dazu gemacht, mir Anhang und Zutrauen durch persönliche Bearbeitung zu verschaffen." Scharnhorst ist in der Tat kein guter Anwalt seiner eigenen Entwürfe. Deshalb gebraucht er so oft das Mittel umfangreicher Denkschriften, überraschend oft selbst in diesem Literaturzeitalter, das so gerne schrieb.

Scharnhorst ist sicher nicht als bewußter Reformator nach Berlin gekommen. Man tut ihm Unrecht, wenn man ihm andichtet, als habe er mit Stein und Gneisenau zusammen das morsche Alte gestürzt. So morsch war dieses Alte keineswegs. Hervorgegangen aus einer traditionell nicht gebundenen Umgebung, fand Scharnhorst sich wohl leichter darein, Vorhandenes zu ändern. Es zu stürzen war kein Anlaß, und der Gang der Dinge in Frankreich lockte auch so gar nicht mehr dazu.

Scharnhorst sah nur eine Aufgabe. Drüben war der Erfolg. Und wer den Erfolg so meisterte wie Bonaparte, der konnte zur Gefahr werden. Um die Gefahr zu bannen, mußte man feststellen, woraus diese verblüffenden Erfolge entstanden. Dies eine hatte als Kernpunkt zunächst Interesse für Scharnhorst.

Das Studium der Feldzüge des großen Königs hatte Scharnhorst eine von der allgemeinen Anschauung erheblich abweichende große Lehre gegeben. Das häufige Ausweichen und Manövrieren entstand aus Rücksicht auf das schwer zu ersetzende Instrument einer überwiegend aus Ausländern, jedenfalls aus Berufssoldaten, gebildeten Armee. Die Operationen konnten auch nicht frei sein von Magazinrücksichten. Dies waren die Fesseln der Zeit. Dahinter aber stand der [543] geniale Feldherr, der trotz der Hemmungen den ethischen Kern jeder Kriegshandlung, die Entscheidung, und deshalb die Schlacht suchte und mit der Umfassung und Konzentration an entscheidender Stelle zu siegen wußte. Seine Nachfolger erhoben die Hemmung zur Kunst, das Manöver zum Siegesrezept; sie mieden die Schlacht.

Wenn ein Mann von so innerer Selbstherrlichkeit wie Friedrich der Große die Bedingtheiten der Zeit nicht abstreifen konnte, so mußte auch Napoleon irgendwie daran gebunden sein. Da er Erfolge und nur Erfolge hatte, mußte er also von den Umständen gefördert werden. Scharnhorst spürt diesen Zusammenhängen nach. Er erkennt, daß der tiefste Antrieb zu den die Welt erschütternden Taten etwas anderes als Änderungen der Gefechtsformen, vielmehr etwas ganz Neues sein mußte. Das ganze französische Volk, von der Revolution in Bewegung gebracht, war am Werke, die Nation war in Waffen.

Die nationale Entwicklung beim Gegner erkannt zu haben ist die grundlegende Leistung Scharnhorsts. Scharnhorst hat diese Erkenntnis auch nicht als eine ungefähre Vorstellung herausgefühlt. Er sieht vielmehr ganz klar, daß ein Volk in seiner Gesamtheit nötig ist, wenn es in kriegerischer Auseinandersetzung seine Zukunft sichern will, daß dazu nirgends mehr ein Berufsheer allein ausreichen wird. Mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit der Gedanken leitet er alles andere von dieser Grunderkenntnis ab. Zuerst vorsichtig, später von den Ereignissen gedrängt. Scharnhorst ist der erste, der das Ruhende wirklich bewegen will.

Und nun vollzieht sich ein ganz eigenartiges Gegenspiel, unbekannt der Mitwelt, unbekannt sogar den beiden Gegenspielern. Zur selben Zeit, als Scharnhorst in seinen Studien erkennt, daß man die nationale Volkskraft lösen müsse, um die Mittel des Krieges von ihrer Unzulänglichkeit zu befreien, steht Napoleon vor einer weltgeschichtlichen Entscheidung. Eben hat England 1802 mit Frankreich Frieden gemacht. Jetzt kann Napoleon entweder Frankreich im Innern festigen oder mit den neuerwachten Kräften die Welt nach seinem Willen gestalten. Er entscheidet, die nationale Kraft Frankreichs über die Grenzen, auch über die "natürlichen" Grenzen hinaus zur Errichtung des Empire, für die imperialistische Idee zu nützen. Wer dem nationalen Frankreich in erfolgreicher Abwehr entgegentreten will, muß die eigenen Volkskräfte entfesseln. Solange das die Gegner Napoleons noch nicht getan hatten, mußte er siegen. Sobald die Gegner es tun, kann ein Ausgleich eintreten, wenn Frankreich selbst auf der Grundlage des Nationalstaates bleibt. Als und weil sich Napoleon im Empire von der nationalen Grundlage des Staates entfernt, geht Kraft und Möglichkeit des Sieges auf die Gegner über. Es kommt nur darauf an, daß dieser Gegner den erlösenden Übergang vom Berufsheer zum Volksheer vollzieht und dann allerdings die neuentstehenden Kräfte auch richtig einsetzt.

Scharnhorst hat diesen Übergang für Preußen eingeleitet. Er hat natürlich im Beginn seiner Berliner Zeit nicht erkennen können, daß er im Begriff stand, den [544] richtigen Weg zu finden, zur gleichen Zeit, als Napoleon den falschen einschlug. Aber er hat es rechtzeitig herausgefühlt. Knapp ein halbes Jahr nach seinem Eintritt in preußische Dienste wurde Scharnhorst dem, wenn man ihn so nennen will, Chef des Generalstabes von Geusau beigegeben, um ihm die Aufsicht über die Berliner Offizierschule abzunehmen. Hier war Scharnhorst so recht in seinem Element. Scharnhorst nahm die Kriegsgeschichte selbst zum Lehrmittel. Er hatte kein fertiges System, aber er hatte, wie Clausewitz von ihm sagte, "die Gründlichkeit der Ansichten als wohlerworbenen Besitz. Er suchte aus dem Alten selbst das Neue hervorgehen zu lassen, um so auf kurzem Wege zu einer naturgemäßen Methode zu gelangen". Scharnhorst lehrte noch als Konzession an die Zeitumstände, nicht immer sei der Zweck der operativen Handlung die Schlacht. Ganz überraschend fanden sich aber schon daneben die Thesen von den großen Zwecken, von der Schlacht, die entscheidend sein soll. Nicht als etwas Fertiges stand Scharnhorsts Lehre da. Sie war es 1806 nicht, sie entwickelte sich 1807 wohl mit Riesenschritten, und sie blieb 1813 zweifellos unvollendet. Aber sie genügte doch als unterstes Fundament eines hundertjährigen Baues.

Reitunterricht auf der Reitbahn der Kriegsakademie, Berlin.
Berlin, Kriegsakademie: Reitunterricht
auf der Reitbahn der Akademie.
[Bundesarchiv, Bild 183-2007-0703-501 / CC-BY-SA. Nach wikipedia.org.]
Die Kriegsakademie hat in der Form, die ihr Scharnhorst gab, nur kurze Zeit bestanden. Aber ihr Geist, der Geist Scharnhorsts, lebte in den Schülern fort, die stärksten Einfluß auf den Gang der kommenden Ereignisse gewonnen haben. Clausewitz, dürftig vorgebildet, fast verzweifelt, lernt von Scharnhorst alles und nennt ihn den Vater seines Geistes. Diesem Lieblingsschüler, der seinem Herzen zweifellos noch nähergestanden hat als selbst Gneisenau, hat Scharnhorst in seinen Beurteilungen nur einen gleichgestellt, den Leutnant von Tiedemann. Rühle und Boyen gehören zu den am zweitbesten Qualifizierten. 1804 hatte Scharnhorst die Genugtuung, daß fast die Hälfte aller neuen Stellen des Generalquartiermeisterstabes an Schüler seiner Akademie vergeben wurde.

Indessen, die Ereignisse wollten dem friedlichen Unterricht so recht keinen Raum mehr lassen. Eine der ersten Auswirkungen des napoleonischen Entschlusses zum Imperium war 1803 die Besetzung Hannovers durch französische Truppen. Preußen ließ das geschehen. Scharnhorst, um dessen alte Heimat es sich handelte, hat es nicht gutgeheißen. Aber er hatte keine Möglichkeit, auf die politischen Entschlüsse einzuwirken.

Die Truppen des "Dämons" Bonaparte in Hannover so nahe zu haben, hielt Friedrich Wilhelm III. mit Recht für eine Gefahr. Er traf also einige militärische Vorsichtsmaßregeln. Zu diesen muß man es auch rechnen, daß Scharnhorst im März 1804 zum Generalquartiermeister-Lieutenant ernannt wurde. Am Ende des Jahres überreichte er Hardenberg wie üblich eine Denkschrift. Das Entscheidende sei: man muß sich auf einen Krieg mit Frankreich gefaßt machen. Napoleon ist nun einmal so. Ändern kann man daran nichts. Kommt es zum Krieg, dann soll man nicht zaudern, vorwärts gehen und an der Weser schlagen. Operativ war der Gedanke sicher richtig; ob er mit der preußischen Armee gegen [545] Napoleon Erfolg gebracht hätte, ist nicht erprobt. Scharnhorst hat an dem dauernden Hin und Her der Entschlüsse nicht teilgenommen, weil er bis in den Hochsommer 1805 überwiegend mit Generalstabsreisen, in unserem Sinne operativen Geländeerkundungen, beschäftigt war. Eine merkwürdige Beschäftigung für diesen seltenen Geist in solcher Zeit. Aber auch eine seltsame Seelenruhe, sich so beschäftigen zu lassen. Wahrscheinlich fühlte Scharnhorst, daß nicht zu raten war. Als er im September 1805 zurückkehrte, war gerade die Entscheidung über das Unding einer bewaffneten Neutralität gefallen.

Napoleon brach diese Neutralität bald und marschierte durch ansbach-preußisches Gebiet. Nach anfangs nebensächlicher, einigermaßen enttäuschender Verwendung war Scharnhorst in wichtigen Quartiermeisterstellen. Er riet und trieb sofort zum Kriege, zum Angriff, der selbst nach der Niederlage Macks bei Ulm gemeinsam mit Österreich noch größte Aussicht auf Erfolg bot. Zweifellos war der Rat damals richtig. Aber fast nur Scharnhorst drängte zum aktiven Entschluß. Er stand mit seinem Drängen derart allein, daß man seinen Namen mit dem Kriegsentschluß gleichsetzte. Der Grund war, daß Scharnhorst den Kaiser nie für unbesiegbar gehalten hat. Man muß bedenken, was das heißt, welches eigene innere Kraftbewußtsein dazu gehörte. Napoleon hatte noch keine Schlacht verloren. Dieser preußische Oberst ahnte, daß der Zenit Napoleons mit der Entschlußüberspannung, die zum Kaiserreich führte, trotz aller kommenden äußeren Erfolge bereits überschritten war. Dieser Unglaube Scharnhorsts an die Unbezwingbarkeit des Gegners machte den Weg erst frei zum späteren Wiederaufstieg. Die Befreiung lag schon in Scharnhorsts Seele fest umschlossen in den Tagen vor der Niederlage Preußens.

Der König, bei dem Scharnhorst vor dem Zusammenbruch Gunst und hohes Ansehen genoß, hat es nie ganz verwunden, daß nach seiner Ansicht gerade Scharnhorst durch sein Drängen zum Kampf das Unglück herbeigeführt hatte. So wie die Dinge sich entwickelten, hielt Friedrich Wilhelm III. die Niederlage für unvermeidbar, und nicht zuletzt deshalb, weil der Krieg in den breiten Schichten der Handwerker und Bauern ausgesprochen unpopulär war. Der König hat recht behalten. Das ist ein gewichtiges Argument gegen Scharnhorst. Vor Austerlitz war die Lage so günstig, daß das Nichteingreifen Preußens zweifellos ein grober Fehler war. Aber Scharnhorst verlangte Krieg auch nach Austerlitz, sogar nachdem Österreich und Frankreich Frieden miteinander geschlossen hatten, schließlich nachdem die preußische Armee demobilisiert worden war. Scharnhorst wußte doch, daß diese preußische Armee etwas altmodisch war, daß sie nicht die Kraft des Volkes darstellte. Ja, das wußte er. Und dennoch hielt er sie für gut, wie sie es in der Tat war. Trotz aller ihrer Mängel brauchte man mit dieser Truppe keine Schlachten notwendig zu verlieren, wenn auch das Siegen nicht leicht sein mochte. Scharnhorst sagte selbst von der Armee: "Mut und Geschicklichkeit, nichts fehlt ihr. Aber sie wird nicht, sie soll nicht, sie kann nicht in der Lage, in der sie ist, in die sie kommen [546] wird, etwas Großes und Entscheidendes tun." Düstere Prophetenworte eines seiner Zeit Vorangehenden, geboren aus dem Zorn des oft Enttäuschten, aber in seinem Kraftbewußtsein nicht Verzichtenden.

Wenn Scharnhorst so urteilte, durfte er trotzdem zum Kriege raten? Er durfte. Denn im Innersten hoffte er wohl, an entscheidender Führungsstelle verwendet zu werden. Am 17. Dezember 1805 hat er Worte an seine Tochter geschrieben, die die ganze Tragik im Innern dieser großen Seele, den fast rührenden Zwiespalt zwischen Sollen und Wollen enthüllen: "Auf alles in der Welt wollte ich gern Verzicht tun, wenn ich nur auf sechs Wochen mit der Armee machen könnte, was ich wollte." Das wird zum Grundton einer Sehnsuchtsmelodie in ihm.

Zunächst dringt Scharnhorst darauf, die Truppe zu vermehren, dann, daß man sie zur besseren Befehlserteilung in Divisionen einteile. Diese alte Lieblingsidee Scharnhorsts taucht hier nur so nebenbei auf.

In dem Streben nach der unabweisbar notwendigen Vermehrung der Zahl, der Vermehrung der Kader, schlägt er vor: die Ausnutzung der Kräfte des ganzen preußischen Volkes durch Errichtung einer Miliz.

An sich war der Gedanke nicht eben neu. Scharnhorsts Lehrer, Graf Wilhelm von Schaumburg, hatte sich bereits darüber Gedanken gemacht, das ganze Volk zur Verteidigung des Gemeinwesens heranzuziehen. Scharnhorst hat niemals sehr viel für Milizen übriggehabt. Es ist grundfalsch, ihm die Absicht zu unterstellen, er habe ein Milizheer an sich für etwas Erstrebenswertes angesehen. Wenn trotzdem gerade die Miliz zu einem der Hauptstücke seines späteren Aufbauwirkens wurde, dann nur deshalb, weil er in der Miliz eine Aushilfe in der Not sah.

Der bevorstehende Krieg wird ein nationaler werden. Ihn will Scharnhorst deshalb mit "Einländern" führen. Von einem solchen Aufgebot in großem Stile erwartet er etwas, nicht von der halben Maßregel einer unbedeutenden Fünfzigtausend-Mann-Miliz. Scharnhorst, und nur er allein vorläufig, sieht, was sieben Jahre später zur Befreiung führt. Demgegenüber macht es nichts aus, daß er zur Stunde die staatliche Unmöglichkeit der Volkserhebung nicht erkennt. Der Gedanke, man könnte die Kraft eines Volkes und nicht nur die Armee eines Staates einsetzen, ist geboren. Das ist der Gewinn dieser Monate vor dem Unheil.

So verkündet schon der April von 1806 den Anbruch einer neuen Zeit. Nur leider bleibt nicht Raum, Neues pfleglich zu entwickeln. Nichts von Scharnhorsts Vorschlägen wird angenommen. Enttäuschung genug. Aber Stein geht es ebenso. Man muß auch zugeben, es ist nicht Zeit, jetzt noch viel zu ändern. Behält man Frieden, dann drängt das ja alles nicht so; kommt Krieg, dann kann man nicht Organisationsprobleme lösen. Scharnhorst wird still, es wird still um ihn. Er arbeitet an einem Plane für die Sommerarbeit der ihm unterstellten Generalstabsoffiziere.

[547] Indessen, die Lage spitzt sich zu. Man erfährt aus Paris, daß Napoleon, um Frieden mit England zu bekommen, bereit sei, ihm Hannover zurückzugeben. Da fürchtet Haugwitz, daß Napoleon mit Rußland und England Frieden macht und dann über Preußen herfällt. Was 1805 politische Einsicht nicht vermochte, bringt 1806 die Angst zustande. Zunächst macht man Anfang August Teile der Armee mobil. Ganze Entschlüsse aber werden sorgfältig vermieden.

Es gibt in der Armee eine starke Partei, die zum Kriege um jeden Preis drängt. An ihrer Spitze der Kommandierende General in Westfalen, von Blücher. In Berlin kommt es zu deutlichen Offiziersdemonstrationen. Der Herzog von Braunschweig, nach Berlin geholt, rät, Bundesgenossen zu suchen und mit denkbarer Schnelligkeit zu rüsten. Wenn dieser dickbäuchige Apoll nur gute Gedanken in die Tat umsetzen könnte! Da holt er sich Scharnhorst. Am 22. August wird dem König eine Denkschrift überreicht, die im wesentlichen Scharnhorst zum Verfasser hat.

Scharnhorst rät nicht zum Kriege. Das kann er wirklich nicht mehr, nachdem alle seine Vorschläge unverwirklicht geblieben waren, nachdem man mit der Tradition der Macht dauernd eine Politik der Ohnmacht getrieben hatte. Scharnhorst nimmt den Krieg mit Frankreich einfach als unvermeidliche bevorstehende Tatsache hin. Zu retten, was noch zu retten ist, das bezweckt sein Rat. Offensiv geführte Defensive mit zwei Armeen an der Weser und in Thüringen; Vermehrung der Kräfte, soweit das noch irgend geht; und dann schnell handeln, schnell. Ob der operative Teil dieser Ratschläge das Unglück noch verhindern kann, steht dahin. Es ist immerhin eine operative Absicht ohne Kenntnis der Feindlage.

Von alledem geschieht so gut wie nichts. Scharnhorst versucht trotz aller Enttäuschungen, organisatorisch zu bessern, was zu bessern geht. Von allen seinen Vorschlägen ist einer der wenigen ausgeführten die Einteilung der Armee in Divisionen.

Friderizianisch war dies preußische Heer nicht mehr zu führen. Das erkannten die andern nicht. Scharnhorst hat es erkannt. Aber seine mit unerhörter Arbeitskraft erreichte Abhilfe, eben die Einführung der Divisionseinteilung und des Truppengeneralstabes, kam zu spät. Sie gewöhnte sich nicht ein, sie setzte sich nicht durch. Statt einer autoritativen Heerführung blieb es bei einer kollegialen, im praktischen Gebrauch noch dazu höchst unkollegialen. Die autoritative Führung mit Hilfe eines Generalstabes ist der Kernpunkt dessen, was Scharnhorst in der Führungstechnik erreichen wollte, bei der Art der maßgebenden Männer und der Kraft des beharrlich Bestehenden aber nicht erreichen konnte. Drüben beim Gegner wurde leider unbedingt autoritär befohlen, wenngleich auch Napoleon keineswegs, wie behauptet worden ist, 1806 einen Generalstab auf moderner Grundlage gehabt hat. Aber daß, wie bei Auerstädt, auf preußischer Seite alles durcheinander kommandierte, das war im Heere Frankreichs allerdings nicht möglich. Der Aufbau des preußischen Führungsapparates war unbedingt noch ein Stück Vergangenheit. Daran lag zum großen Teil das Versagen der Führung, viel weniger an den Führern selbst.

[548] Massenbach haßt den Herzog grimmig, was man ihm schließlich verzeihen könnte, und hat etwas gegen Scharnhorst. Er schaltet Scharnhorst einfach aus. Man muß es zugeben, Scharnhorst ist dieser Lage schlechthin nicht gewachsen. Er überzeugt mit seiner ungelenken Sprechart nicht in der Debatte. Und leider sind es Debatten an Stelle von Befehlen. Der Mann mit der einfachen Herkunft und der großen, abgeklärten Seele ist zu leicht bereit, zurückzutreten. Und hätte ihn ein unbezwingbarer Verantwortungshunger getrieben, er hätte sich höchstwahrscheinlich auch nicht durchgesetzt, weil eben der Begriff autoritativer Führung nicht bestand. Aber er versuchte es auch nicht. Er setzt nicht in höchster Gefahr brutale Gewalt an, um Gehorsam zu erzwingen. Eine jener Hemmungen, denen auch ganz Große erliegen. Hätte er nicht Schwächen, er wäre kein Mensch. Weil er sie hat, wird er um so liebenswerter.

So geht das Unheil seinen Gang. Scharnhorst gibt dringende Ratschläge für Aufklärung, Kräftevereinigung oder mindestens Einheitlichkeit der Gesamthandlung, Stoß in die Flanke des Feindes. Ob namentlich dieser letzte Rat gut ist, bleibt fraglich. Nur die erfolgreiche Ausführung wäre der Beweis. Ende September ausgeführt, konnte er zum Ziele führen, wenngleich nicht mit der Sicherheit, die ihm Clausewitz später voll Verehrung für den Meister zusprach. Alle Vorschläge blieben wirkungslos. Es ist nach dem Kriege festgestellt, daß Scharnhorst bei allen Befehlen vom 10. bis 13. Oktober keine Verantwortung trifft. Eine bittere Feststellung für einen Mann in dieser Stellung. Nicht, daß Scharnhorst das alles mit Gleichmut hingenommen hätte. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Herzog wird empfindlich gestört. Unvermeidlich muß sich diese Störung nachher in der Schlacht auswirken.

Die Niederlage war vielleicht nicht zu vermeiden, sie war, wie Schlieffen urteilt, wohl Führungsfehler. Wie dem auch sei, daß daraus ruhmlose Flucht wird, ist unnötig. Den Versuch, die Gewalt an sich zu reißen, macht Scharnhorst auch jetzt nicht. Es liegt ihm nicht, und es wäre auch vergebens.

Während die Armee in Trümmern hinter die Weichsel geht, während Festungen übergeben werden, weil greisenhafte Kommandanten es so wollen und eine verstaubte Bürokratie ihnen die Mittel nimmt, wesentlich anders zu können; während ganze Armeeteile die Waffen strecken, schlagen sich Blücher und Scharnhorst mit einigen Verbänden nach Norden durch. Die eigenen Schüler, Thile und Boyen, helfen als Generalstabsoffiziere. Mit genauer Not gelingt es, sich der Hohenloheschen Kapitulation bei Prenzlau zu entziehen. Nichts bleibt, als nach Westen auszubrechen. Es geht nicht ohne Kämpfe ab. Wo in ihnen die geballte Energie des Obersten von Yorck führt, gehen sie gut aus. Er macht einen unauslöschlichen Eindruck auf Blücher und Scharnhorst. Am 5. November ist Lübeck erreicht. Tags darauf stürmt Übermacht die Stadt. Auch diese Episode heldenhaften Widerstandes durch Blücher ist zu Ende. Scharnhorst wird gefangengenommen, nach drei Tagen ausgetauscht.

[549] Es ist bezeichnend für Scharnhorst, daß der nächste Schritt, der richtunggebend für sein Leben wird, nicht eigener Entschluß ist. Blücher schickt ihn mit Berichten über das Ende bei Ratkau zum König. Als er den Monarchen in Wehlau erreicht, ist die Lage eine wesentlich bessere, als Scharnhorst voraussetzt. Ein russisches Hilfskorps hat die Weichsel erreicht, Stralsund und ganz Schlesien sind unbezwungen, der König hat den Kleinmut überwunden. Er hat sogar schon von sich aus militärische Reformen begonnen.

Die Lage verschlechterte sich aber bald; die Russen räumten die Weichsel. Lähmender Stumpfsinn erfaßte wieder die Geister. Scharnhorst mußte eigentlich zum Generalquartiermeisterstab, der ziemlich ausgeschaltet in Königsberger Büros brütete.

Der König überhob Scharnhorst der Entscheidung. Er schickte ihn nicht als Generalsstabschef, sondern als Gehilfen, als "Assistenten" zu L'Estocq. Eine fast unmögliche Stellung. Was bei der gänzlichen Gleichgültigkeit L'Estocqs sich vielleicht noch hätte tun lassen, das machten die beiden den Stab beherrschenden Adjutanten unmöglich. Mit der Überheblichkeit fehlender Kenntnisse leisteten sie Scharnhorst Widerstand. Sie sind dadurch der Zukunft von großem Nutzen gewesen. Scharnhorst empfand erneut persönlich, was es bedeutet, wenn ein für seine Aufgabe geschulter Truppengeneralstab fehlt.

Als Bennigsen nach einigem Ausweichen vor dem anrückenden Napoleon am 8. Februar 1807 bei Preußisch-Eylau die Entscheidungsschlacht annehmen zu müssen glaubt, stehen die Dinge nicht gerade zum besten. Es ist zwar noch gelungen, die Russen zu vereinen. Aber bei dem preußischen Korps L'Estocq ist nicht alles beisammen und das Korps ist nicht heran. Zwischen Preußen und Russen hat sich bereits Ney eingeschoben. Er soll nach des Kaisers Willen L'Estocq fernhalten, Davout den linken Flügel der Russen vernichtend schlagen. Beide Aufgaben werden glücken, wenn L'Estocq führt. Das ist nicht der Fall. Es ist nicht klar, aus welchen Anlässen; tatsächlich hat Scharnhorst an diesem Tage über die knappe Hälfte der Truppen L'Estocqs zum ersten und einzigen Male seines Lebens Befehl geführt. Dieses eine Mal verrät allerdings den Mann, der die aus dem Studium der Kriegsgeschichte erworbene Theorie im Wirklichkeitsfalle in die Tat umzusetzen weiß. L'Estocq hätte Ney sicher den Gefallen getan, sich mit ihm herumzuschlagen. Scharnhorst windet sich mit außerordentlich kühnem Marsch an ihm vorbei und erscheint in der Flanke, fast im Rücken der französischen Hauptarmee. Schon hat der Kaiser den Sieg bereits in den Händen, da kommen etwa fünftausend Mann, nicht gerade viel, aber geführt von Scharnhorst, und entreißen ihm den Erfolg des Tages. Gewiß, es ist Glück dabei, so viel Glück nämlich wie bei jedem Schlachterfolg. Aber das Glück ist herbeigezwungen durch eine erstaunliche Lückenlosigkeit Scharnhorstscher Anordnungen während des ganzen Tages.

Die Dunkelheit bricht an, ehe man die Franzosen zum Rückzug zwingen kann. Das zu tun wird die Arbeit des nächsten Tages sein. Da verläßt den russischen [550] Oberbefehlshaber jede Kühnheit; er befiehlt den Rückzug auf Königsberg. Zornig widerspricht Scharnhorst. Er fühlt, das ist sein großer Tag gewesen, und der wird ihm zerstört. Der schönste Erfolg wird eine Enttäuschung.

Bennigsen befiehlt Rückzug nach Königsberg. Für die Preußen mag das angehen. Für die Russen heißt das Verlust der Verbindung nach der Heimat. Wenn der russische Führer das nicht sieht, dann wird der preußische Führer für ihn handeln. Nicht nach Norden, sondern gegen den Befehl nach Osten geht Scharnhorst zurück. Der Mann, dem man am sinkenden Abend einen, seinen Sieg zerstört, rettet mit diesem mitternächtlichen Entschluß das russische Heer. Die Seele Scharnhorsts mochte unbegrenzte Kräfte haben.

Scharnhorst erhält den Verdienstorden. Sonst spricht kein Mensch von ihm. L'Estocq erntet den ganzen Ruhm. Scharnhorst ist es gleich. Erst als der "erschöpfte Greis" nachher Scharnhorst herausfordert, ihn verletzend angreift, da wird es diesem doch zu viel. Er wehrt sich mit einer in persönlichen Dingen bei ihm ungewöhnlichen Schärfe.

Bis in den Mai hinein wird viel entschlußlos gezögert; beraten, ob Fortsetzung des Krieges oder Frieden, der nach des zurückgekehrten Hardenbergs Meinung nur als "französische Provinz" zu haben ist. Das Unglück mehrt sich. Danzig fällt. An der Niederlage von Friedland konnte Scharnhorst nichts ändern. Waffenstillstand und ein Frieden, der kein Frieden war, folgten im Juli. Scharnhorst wollte auch jetzt noch den Verzweiflungskampf. Der Gedanke ehrt diese unbeugsame Seele. Ausführbar war er nicht mehr.


Ein Stück preußischer Geschichte war am Tage von Friedland unabänderlich abgeschlossen, und wenn es eine Fortsetzung geben sollte, so mußte notwendig ein neues, anders gestaltetes Stück beginnen. Das wußte Scharnhorst besser als andere. Er kannte die Fehler, die zur Katastrophe geführt hatten, nur zu gut, und die er nicht kannte, ahnte er. Aber er dachte nicht daran, deshalb die Vergangenheit zu verleumden. "Gerade der Armee", meint Scharnhorst, "...könne man Mangel an Aufopferung nicht zur Last legen." Für das Offizierkorps sprachen die von Scharnhorst selbst bis 1808 gesammelten Verlustlisten. Sämtliche Kommandierenden Generale, so berichtet Scharnhorst der Tochter, und die Mehrzahl der älteren Generale waren verwundet. Mitte Juli 1807 bekundet der König seinen ernstlichen Willen zu Reformen durch Einsetzung der Militär-Reorganisationskommission. So hart der Tilsiter Friede sonst ist, seine Bestimmungen engen die Tätigkeit dieser Kommission keineswegs entscheidend ein. Vorsitzender wird der soeben zum Generalmajor ernannte Scharnhorst. Neben ihm Gneisenau. Im übrigen ist die Kommission nicht glücklich zusammengesetzt. Allerdings wiegt Gneisenau, dessen Name seit seiner Verteidigung Kolbergs auf aller Lippen ist, als Bundesgenosse allein fast das Zwergenvolk der Gegner auf.

[551] In diesen Monaten gewinnt der alte Gedanke Scharnhorsts erneut Gestalt, man müsse die eigenen Kräfte des Volkes wecken, lösen, ja erlösen. Vom voraufgegangenen Jahrhundert hatte man eine heilige Scheu vor der zerstörenden Wucht von Volkskräften geerbt. Nun war die Idee da. Also mußte man nach Mitteln suchen, sie Tat werden zu lassen. In der Kommission entsteht ein höchst abstoßender, mit persönlicher Gehässigkeit geführter Kampf. Scharnhorst bietet seine Stellung an, Gneisenau will ganz den Abschied nehmen. Schließlich gibt der König eine andere Zusammensetzung der Kommission zu.

Was Scharnhorst und Gneisenau fühlten, das erkannte Stein staatsmännisch. 1806 bis 1807 war nicht so sehr eine militärische als eine politische Niederlage. Wollte man, daß das Volk den Staat nicht mehr als etwas Fremdes, sozusagen lediglich als Obrigkeit, vielmehr als seine ureigenste Sache empfand, kurzum, daß es national fühlte, dann mußte man ihm die Verantwortung für diesen Staat mitübertragen.

Wehrpflicht der Gesamtheit war die militärisch unvermeidbare Forderung. Politische Entfesselung der Volkskräfte die Voraussetzung und gleichzeitig das Äquivalent. Mithin lag der Angelpunkt der ganzen Gedankenreihe zunächst beim Staatsmann Stein. Der schaffte auch bedeutsamerweise die Anfänge der sozialpolitischen Voraussetzungen. Steins Absichten knüpfen genau so wie die Scharnhorsts bewußt an Bestehendes an. Er wendet sich daher zunächst Dingen zu, die wie die Aufhebung der Leibeigenschaft ohnehin in der Linie des Humanitätsideals der Zeit liegen. Während jedoch Scharnhorst mit Recht überall aus der Geschichte beweist, daß er nur Vergessenes zu neuem Leben erwecken will, muß Stein gleich zu Anfang eine ausgesprochene Revolution des ersten Staatsbeamten gegen den absoluten König bekennen. Er schlägt vor, die Regierung völlig unverantwortlicher Kabinettsräte durch eine Ministerregierung zu ersetzen. Zur Genugtuung Scharnhorsts erhält Stein Sitz und Stimme in der militärischen Kommission. Das ist neben dem praktischen Nutzen eine programmatische Handlung. Der Friede zwischen zwei damals feindlichen Faktoren des Staatslebens, zwischen dem zivilen Denken und dem militärischen Handeln, beginnt. Das bedeutet eine innere Aussöhnung, aus der neue Kräfte erwachsen können. So zusammengesetzt, wirksam von Lottum, dem Generaladjutanten des Königs, gehindert, macht sich die Kommission erneut an emsige Arbeit.

Es muß versucht werden, das Offizierkorps neu zu gestalten. Scharnhorst schlägt sofort vor, den Eintritt in den Offizierstand nur von zwei Bedingungen abhängig zu machen: von einer Altersgrenze und einem bestimmten Maß von Kenntnissen. Die charakterlichen Voraussetzungen erwähnt Scharnhorst nicht. Sie sind gerade ihm schlechterdings selbstverständlich. Die Beförderung zum Portepeefähnrich soll von einer Prüfung, die Beförderung zum Offizier von der Wahl durch das Offizierkorps abhängen. Hier sind Grundsätze aufgestellt, die [552] noch heute nach fünf Vierteljahrhunderten uneingeschränkt gelten. In diesem Punkt ist Scharnhorst einer der wenigen vollen Erfolge gelungen. Seine Vorschläge werden im August 1808 vom König genehmigt.

Sinnvoll begründet war die Reform des Offizierersatzes nur, wenn die Armee "die Vereinigung aller Staatsbürger" wurde. Dies aber war keineswegs der Fall. Leider war man sich nicht einmal über die Form, der man Inhalt geben wollte, einig. Gegen das stehende Heer wurde heftig Sturm gelaufen. Sogar Gneisenau war im Grundsatz dagegen. Scharnhorst wollte das stehende Heer unter keinen Umständen abschaffen. Er wollte aber doch noch erheblich mehr, als nur seine Mängel beseitigen. Er wollte es, wie er in unermüdlicher Wiederholung immer wieder vorschlug, durch eine Art Miliz ergänzen. Der Feind stand noch im Lande. Sein Übergewicht zum Siege bestand in der eingesetzten Gesamtkraft des französischen Volkes. Mißbraucht, mußte sie drüben nachlassen. Gelang es hier, das ganze Volk in Waffen zu schulen, dann traute Scharnhorst Preußen zu, die Kräfte zur Freiheit zu haben. Äußeres Zeichen unsichtbarer Kräfteverschiebung, das war für Scharnhorst die Wehrpflicht.

Die Absicht war klar, nicht klar war die Durchführung. Das einfachste schien, die waffenfähigen Mannschaften in die Friedenskader des Heeres einzustellen und sie nach einer kurzen Dienstzeit zu entlassen. Für kurz hielt man damals, gemessen am bisherigen lebenslänglichen Zustand, sechs Jahre. Dies Verfahren war für den erschöpften Staat viel zu teuer, und sechs Jahre wollte Scharnhorst keineswegs warten, bis seine Maßnahmen zu wirken anfingen. Die einfache Lösung, dann die Dienstzeit erheblich mehr zu kürzen, lag nicht im Vorstellungskreise der Zeit. Scharnhorst hätte sich damals noch für einen Gegner des von ihm verteidigten stehenden Heeres gehalten, wenn er eine Dienstzeit von Monaten vorgeschlagen hätte. Noch hatte man das Volksheer nicht, noch hatte jeder brave Bürgersmann eine ungemilderte Scheu vor dem Soldatengewerbe. Kriegsdienst wurde noch immer unbedenklich als bürgerliche Strafe angewendet. Also sollte man neben der Armee für Leute, die auf ihren Ruf hielten, vorläufig die Miliz errichten. Tat man dies, dann konnte, vielmehr dann mußte man sich sogar mit recht kurzer Dienstzeit begnügen. Denn lange durfte man Handwerker, Gewerbetreibende und was sie sonst waren ihrem Beruf nicht entziehen.

Es liegt eine eigenartige Inkonsequenz Scharnhorsts in dieser Trennung der Armee und nunmehr echter Miliz. Die Armee sollte aus der Kraft des ganzen Volkes entstehen; sie sollte die Lehrmeisterin der Gesamtnation werden. Das war sie in dieser Trennung kaum. Man muß einräumen, daß hier ein Fehler entsteht, der sich ausgewirkt hat und dessen Folgen erst ein halbes Jahrhundert später durch Vereinheitlichung des Heeres ganz beseitigt wurden. Ob Scharnhorst den Fehler erkannt hat, ist sehr fraglich. Hätte er ihn erkannt, er hätte genau so handeln müssen. Unter den gegebenen sozialen und politischen Umständen war es der einzige, also der richtige Ausweg.

[553] Es waren keine geringen Köpfe, die über die Neuerungen erschraken. Gentz, Vincke, Niebuhr gehörten zu ihnen. Yorck, im Gegensatz zu Stein, Scharnhorst, Gneisenau bedeutsamerweise geborener Preuße, sprach vom Natterngezücht der Reformer. Hardenberg sah in der allgemeinen Wehrpflicht eine Gefährdung der Monarchie. Kein Wunder, daß der König seine Zustimmung versagte. In der Tat eröffnete die Popularisierung der Waffe einen breiten Weg der Möglichkeiten, war eine Revolution im Reich des Moralischen. Die Armeefrage wurde eine soziale und eine Volkserziehungsfrage. Mochte immerhin die Not gebieterisch den allgemeinen Waffendienst fordern, das war zu viel des Neuen auf einmal. Von unwesentlichen Einzelheiten abgesehen, hatten die Reformer Anfang August 1808 den Kampf in der Hauptsache verloren.

Nur ein Erfolg glückte vollständig: die Reinigung des militärischen Strafgesetzbuches von entehrenden Strafen. Wenn der Änderung der Strafbestimmungen die Errichtung der Ehrengerichte für Offiziere folgte, so war das zunächst nur eine notwendige Ergänzung. Und doch bedeuten die Ehrengerichte etwas Wesentliches für sich. In dem Augenblick, in dem die Reformen der Armee die gesellschaftliche Sphäre des Offizierkorps erheblich erweiterten, wahrten ihm die Ehrengerichte den unentbehrlichen aristokratischen Charakter. Beide Maßnahmen, die Aufhebung der entehrenden Strafen und die Einsetzung der Ehrengerichte, waren Hauptstücke des Fundaments eines späteren Baues. Der Geist einer neuen Zeit hielt seinen Einzug. Die Rückwirkung auf die bürgerliche Bevölkerung konnte nicht ausbleiben. Sehr bald wird es nun in der Tat keine Schande mehr sein, Soldat zu werden.

Der Feind hatte eine Verringerung der Armee nicht verlangt. Diese Unterlassung klang wie Hohn. Der Sieger glaubte, den Besiegten wirtschaftlich besser treffen zu können. In der Tat forderte die Geldlage des Staates bis zum April 1808 ganz erhebliche Herabsetzungen des Bestandes an diensttuenden Mannschaften bei den Truppenteilen. In Scharnhorst wehrt sich alles dagegen, daß ihm nicht nur vom König seine Vermehrungsvorschläge abgewiesen werden, sondern daß nun auch noch finanzielle Gründe das wenige Vorhandene verringern. Er suchte nach einer Aushilfe und sah sie schließlich trotz aller Bedenken doch darin, dem Soldaten nur das schlechthin Notwendige beizubringen, ihn nach kurzer Zeit zu beurlauben und dafür Ersatz im schnellen Wechsel einzuziehen. Scharnhorst hatte zu dieser Zeit nicht im geringsten daran gedacht, den Feind zu täuschen. Was er tat, war nicht verboten. In dieser Notlage wollte er lediglich von seiner Grundidee des Volksheeres etwas retten. Daß er dabei wie von selbst die wesentlichen Bestandteile des Milizbegriffes, vollständig verkürzte Dienstzeit und wenn nicht allgemeine so doch erheblich mehr ausgedehnte Dienstpflicht, vereinte, war Tatsache, aber gewiß nicht ursprüngliche Absicht. Wesentlich war, daß der erste praktische Schritt auf dem Weg zur nationalen Wehrpflicht getan wurde.

[554] War hier ein folgenschwerer Anfang gemacht, so sollte ein anderer von Scharnhorst ausgehender Vorschlag ebenfalls jahrhundertweite Auswirkung erhalten: Scharnhorst setzt nunmehr endlich die oft angeregte Errichtung gemischter Divisionen auch für den Friedensstand durch.

Noch sollten aber selbst die bescheidenen Reformanfänge schwer gefährdet werden. Mitten in alle mühsamen Bestrebungen schlug ein schwerer Rückschlag. Bisher besaß Preußen das wesentlichste Hoheitsrecht, den freien Gebrauch der Kriegsmittel. Jetzt wurde ihm auch dies geraubt. Was in Tilsit nicht geschah, kam nun: das Ende der militärischen Freiheit und beinahe das Ende Scharnhorstscher Reformversuche. Preußen durfte fortan nur zweiundvierzigtausend Mann unterhalten, keine Miliz, keine Bürgergarde aufstellen.

Leidenschaftlich geht der Kampf um Annahme oder Ablehnung hin und her. Scharnhorst, Gneisenau sind für Ablehnung. Die Lage ist so verworren, daß selbst Stein sich zum Anraten recht bedenklicher Maßnahmen verirrt. Er und Scharnhorst wechseln außerdem die Rollen. Hat Stein bisher das militärische Werk zu fördern versucht, so tritt Scharnhorst jetzt auf das politische Gebiet über und rät zur Einberufung einer Volksvertretung.

Die Dinge gehen im Oktober 1808 schicksalhaft ihren Gang. Der König ratifiziert. Stein ist nicht zu halten, er muß durch Hardenberg ersetzt werden, Scharnhorsts Stellung ist gefährdet. Gegen eine Sturzflut von Intrigen hält sich Scharnhorst, hochherzig genug, um der Sache willen auch dann noch zu bleiben, als man ausgesprochen gegen seine Ansicht handelt.

Es liegt die ganze Hartnäckigkeit der Bauernnatur darin, ohne Zögern sofort selbst auf der Grundlage des Septembervertrages den Wiederaufbau der Armee zu versuchen. In der Festsetzung der zweiundvierzigtausend Mann lag keine Gefahr. Man hatte sie aus Geldmangel bis jetzt kaum erreicht. Vielmehr bewirkte bezeichnenderweise erst das feindliche Verbot, die gesetzte Zahl später unter Anspannung der äußersten Kraft auszunutzen. Aber der Vertrag setzt die Kader auf zehn Infanterie- und acht Kavallerie-Regimenter fest, weniger als ein Drittel des von Scharnhorst Beabsichtigten. Und die Miliz war ganz und gar verboten. Gerade das war Scharnhorst die Hauptsache. Mit ungewöhnlich kühnem Griff findet er die Aushilfe. Was er von sich aus noch nicht wagte, die Vereinigung von ergänzender Landwehr und stehendem Heer, zwang die Not, zu versuchen. Das Heer selbst sollte nun das Gefäß für die große Idee der Volkswehr werden. War die Zahl der Kader zu klein, so mußte man eben die Dienstzeit noch mehr verkürzen. Kein leichter Entschluß in damaliger Zeit, auf zweiundzwanzig Monate, für Gebildete noch weiter herunterzugehen. Das Diktat des Feindes ließ die Wege zu künftiger Entwicklung finden. Doch das war dem König wieder zu viel Neues und Unerprobtes. Er versagte sich abermals. Das einzige, was blieb, war die Entlassung von monatlich fünf Leuten bei jeder Kompanie und Ersatz durch Rekruten. Nicht viel, aber Rettung des Prinzips.

[555] Der Gang der Dinge hatte gewiß die militärische Leistung sehr erschwert. Das Wirken des Oberkriegskollegiums hatte aber erst recht und mehr als notwendig enttäuscht. Schon Ende 1807 forderte Stein daher die Errichtung eines Kriegsministeriums. Der Staatsmann setzte die militärische Notwendigkeit durch. Es war ein erfreuliches Zeichen beginnender Gesundung, das seine bedeutsamste Wiederholung unter Bismarck findet, wenn der Staatsmann direkt für den militärischen Organisator arbeitet. Ende Juli 1808 war das Kriegsministerium eigentlich schon Tatsache; am 1. März 1809 wurde es auf Scharnhorsts Drängen förmlich eingesetzt, und zwar ausdrücklich als ein Teil des Gesamtministeriums. Für Scharnhorst selbst blieb die gewohnte Enttäuschung nicht aus. Er wurde nicht Minister, nur Chef des Allgemeinen Departements, ausgerechnet sein alter Gegner Lottum Chef der Verwaltung. Nur das Recht, das Kriegsministerium im Ministerrat zu vertreten, hatte Scharnhorst voraus.

Es kommt zwischen dem König und Scharnhorst zu Schwierigkeiten, zu offenkundiger Ungnade, was der Sache schaden muß. Da entwirft Scharnhorst eine seiner wuchtigsten Denkschriften. Er will das Alte auch jetzt nicht verurteilen. Nur daß Preußen seine Streitmittel schlechter benutzt als jeder andere europäische Staat, das schreibt er grimmig. Aber das mag nun gleich sein. Viel wichtiger ist, daß die Kritiker an seinen Vorschlägen über den Einzelheiten die Grundgedanken nicht erkennen. "Man darf die einzelnen Gegenstände nicht ohne das Ganze betrachten; den Geist der Armee zu erheben und zu beleben, die Armee und Nation inniger zu vereinen und ihr die Richtung zu ihrer wesentlichen und großen Bestimmung zu geben, das ist es... Die Richtung der nationalen Stimmung muß auf große heroische Taten eingestellt werden." Wesentliche große Bestimmungen, jetzt 1809, das ist der ganze Scharnhorst. Heroische Tat, das ist der König eben nicht. Ihm schmeckt das alles etwas nach Poeterei. Nur daß man ohne solch Stück Poesie nichts schafft. Gneisenau hat das in die prachtvollen Worte gefaßt: "Keine Herzenserhebung ohne poetischen Schwung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist... Der Mensch muß für eine Idee begeistert werden, damit er etwas Großes leistet."

Wollte Scharnhorst den Geist erneuern, so lag es nahe, daß er sich zunächst wieder der wissenschaftlichen Ausbildung der Offiziere annahm. Drei Kriegsschulen für Fähnriche und in Berlin eine Kriegsschule für Offiziere als Ersatz für die Akademie wurden gegründet, eine Zentralstelle für das Militärbildungswesen geschaffen. Erneute Enttäuschung; nicht er, sondern Diericke erhielt die Zentralstelle. Erneute Selbstverleugnung. Scharnhorst bat um die Leitung der Kriegsschulen. Wirklich nicht zufällig, sondern mit Willen, gestärkt durch die Gabe ungewöhnlicher Geduld, wurde dieser Mann als Leiter und Lehrer zum Wegbereiter der Zukunft.

Jetzt machte sich der Meister des Lehrens daran, zukünftigen Offiziergenerationen praktisches Wissen zu vermitteln. An die Berliner Offizierschule holt er [556] als Lehrer seine besten Schüler aus der Zeit vor Jena, Tiedemann und Clausewitz. Ihre Aufgabe war insbesondere die Schulung für den Generalstabsdienst. Damit setzt erst eine absichtsvolle, nicht zufällige Vorbereitung und, was noch wichtiger war, Auswahl für den Generalstab ein. Am 15. Oktober 1810 begann der Unterricht auf der Akademie, wie sie bald genannt wurde. Der Lehrplan trug dem Zweck der operativen Durchbildung und der Auslese Rechnung. Was gelehrt wurde, wich merkbar ab von den bisher allgemein gültigen Anschauungen. Scharnhorst ließ unumwunden den Entscheidungskampf, die operative Kräftevereinigung und die bewegliche Führung lehren. Scharnhorst bleibt der, der den Anfang gemacht hat, die Kriegführung aus dem Gebiet verzopften Handwerks hinüberzuretten in das Land der frei schaltenden Kunst. Vielleicht hat er das gar nicht gewollt. Scharnhorst war mehr Gelehrter. Er bahnte nur systematisch die Entfesselung der Heerführung an. Je mehr drüben Napoleon sein Heer zur Maschine machte, desto mehr wollte Scharnhorst aus einer ehemals schwerfälligen Maschine ein lebendiges Heer machen. "Der den Geist tötende Mechanismus" soll überwunden werden, erklärt Scharnhorst. Immer wieder die Ursprungsabsicht: Kräfte lösen, erlösen. Dann wird Napoleon bezwingbar. Die kleinste Nebenanordnung mußte diesem Zweck dienen. Das machte Scharnhorst groß.

Eine ungewöhnliche Organisationsarbeit leistete Scharnhorst in den Jahren 1808 und 1809 auch außerhalb des Generalstabes. Die einzelnen Truppengattungen wurden erheblich modernisiert, ihre Ausbildung, insbesondere die Übungsanlagen, neuzeitlichen Anforderungen angepaßt, das Verpflegungsverfahren, die Art der Mobilmachung verbessert, mit großzügigem Plan die Waffenfertigung organisiert, Festungen ausgebaut. Die Verbesserung der Festungen war eine neben seiner Fürsorge für die Artillerie seit 1805 ständig wiederkehrende Hauptsorge. Wieder war es der, wie Scharnhorst selbst gestand, "unbeschreiblich schwierige" Kampf mit dem Detail. Denn die Reformen, gemeinsam mit Gneisenau in Angriff genommen, gingen in alle Verzweigungen des Heeresorganismus.

Während dies alles im Werden und Wachsen war, hatte zunächst das österreichische Unglück des Jahres 1809 seinen Gang genommen. Scharnhorst hielt schon im Februar den Ausbruch des Krieges für unvermeidlich. Er drängte den König, der den Frieden unter allen Umständen wollte, auch diesmal zum Angriff an Österreichs Seite. Österreich trägt im März ein Bündnis an. Noch kommt aber die Koalition nicht zustande. Rußland versagt sich; seine und Schwedens Aussöhnung mit Frankreich scheint dicht bevorzustehen. So bleibt auch Preußen fern nach kurzem, von Scharnhorst verursachtem Schwanken. Damit ist ein offener Konflikt zwischen dem König und seinem militärischen Ratgeber da, der sich zur ausgesprochenen Mißbilligung und kränkender Behandlung Scharnhorsts steigert. Man hinterbringt dem König, Scharnhorst sei gewillt, ihn vom Throne zu entfernen. Der König lenkt dann ein. Aber die Spannung ist für Scharnhorst zuviel. Wochenlang hemmt Krankheit den Unermüdlichen. Es ist vielleicht so, daß der [557] Gegensatz zum König gerade da am schmerzlichsten trifft, wo es fraglich bleiben muß, ob bei Scharnhorst das volle Recht liegt.

Die Siegesnachricht von Aspern reißt Scharnhorst und Gneisenau zu neuem Ansturm auf den König hin. Der weiß genau: Ist es ein wirklicher Sieg, dann will der Österreicher kein echtes Bündnis mit dem Preußen Friedrichs des Großen; ist es kein richtiger Sieg, dann fehlt zum Losschlagen jeglicher Anlaß. Nun, es ist ein Sieg, ein neuer Beweis für Scharnhorsts Ansicht von der Besiegbarkeit des Imperators. Aber es ist ein Sieg ohne Nutzen. Wagram folgt, und damit ist im Juli der Krieg verloren.

Nach der Niederlage Österreichs war zu befürchten, daß sich Napoleon erneut auf Preußen stürzen würde. Im Oktober 1809 war man allgemein der Ansicht, daß es zum Verzweiflungskampf kommen müßte. Indessen, das Unerwartete geschah. Napoleon machte Frieden mit Österreich und griff Preußen nicht an. Freilich, der König und sein Kriegsminister mußten auf Frankreichs Verlangen von Königsberg nach Berlin zurückkehren. Schwerer als bisher liegt des Tyrannen Hand auf Preußen. Krank, voll Enttäuschung, mit dem Haß eines Hannibal im Herzen kehrt Scharnhorst nach Berlin zurück. "Pflichtgefühl hält ihn", nach seinen eigenen Worten, "das begonnene militärische Gebäude zu vollenden."

Das preußische "militärische Gebäude" paßt Napoleon ganz und gar nicht. Ob man es nicht aus Ersparnisgründen abschaffen wolle, fragt er an. Scharnhorsts Antwort ist von einer in dieser Lage unerhörten Kühnheit. Er beantragt bei größter Sparsamkeit eine Erhöhung des Heeresetats um sechshunderttausend Taler. Deutlicher kann man nicht sein, mutiger, trotziger auch nicht. Die Antwort kann den Krieg bringen. Scharnhorst bereitet den Verzweiflungskampf in Anlehnung an die Festungen vor, verlangt Verdoppelung der Friedenspräsenz.

Napoleon stellt ultimativ die Forderung der Zahlung oder der Abtretung von Teilen Schlesiens. Da man nicht zahlen kann, taucht der Gedanke auf, sich mit Nachgeben loszukaufen. Schweren Herzens rät Scharnhorst zur Landabtretung. Land kann man wiedererwerben, eine zerstörte Wehrmacht ist schwer zu erneuern in der Zeit, in der Kampf auf Leben und Tod mit dem Imperium kommen muß, wie Scharnhorst gewiß weiß. Scharnhorst, der oft politischen Rat gab, rät hier nur als Soldat. Dabei entsteht eine ganz merkwürdige Umkehrung der Gedanken. Politisch mochte der Rat des Soldaten richtig sein, militärisch war er falsch. Man hätte Schlesien 1813 nicht entbehren können.

Begreiflich, daß der Rat übel vermerkt, das Verhältnis zum König noch weiter getrübt wird. Es kommt hinzu, daß Napoleon die Entfernung des Generals von Scharnhorst als eine der ihm mißliebigen Persönlichkeiten verlangt. Der mit Scharnhorsts Hilfe zurückgekehrte Hardenberg stützt ihn kaum. Scharnhorst hat mehr Gegner als Freunde. Er will so viel. Das macht unbeliebt. So steht es am 7. Juni von 1810 in den Zeitungen zu lesen: "Se. Kgl. Majestät haben dem Generalmajor von Scharnhorst die wegen seiner geschwächten Gesundheit schon [558] längst erbetene Entlassung von dem Posten als Chef des Allgemeinen Kriegsdepartements gnädigst bewilligt." Rund dreimal so viel Worte als damals beim Abschied von Hannover. Im Grunde die gleiche herbe Enttäuschung. Clausewitz hat sehr viel später berichtet, Scharnhorst habe mit Rücksicht auf Frankreich selbst die Veränderung seiner Stellung herbeigeführt. Das stimmt nur äußerlich. Scharnhorst will einer französischen Forderung, die ihn von seiner Tätigkeit trennen muß, durch einen scheinbaren Rücktritt ausweichen. Was aber wirklich geschieht, ist eine Trennung vom Werk. Das ist zu viel. Mit harten Worten scheidet er vom König, in leidenschaftlicher Erregung spricht er sich zu Freunden aus. Das hindert ihn nicht, in den nächsten Tagen persönlich ganz objektiv die Regelung des Dienstes für sich und seinen Nachfolger auszuarbeiten. Die Pflicht siegt, und sie siegt leicht.

Von allem, was er vor einem Jahre als Vorbereitung der Erhebung vorgeschlagen hatte, war ja das wenigste geschehen. Erfüllt waren eigentlich nur die Forderungen für die Festungen. Wenn er jetzt schied, dann geschah sicher nichts. Hardenberg, obwohl Freund eines Bündnisses mit Frankreich, hatte doch den einen Berührungspunkt mit Scharnhorst, daß er letzten Endes auch die Befreiung wollte. Er wußte: ohne Scharnhorst ging das nicht. Also sicherte er ihm durch Geheimbefehl zu, daß er von seinem Nachfolger Hake über alles zu unterrichten sei.

1810 wird gegen England die Abschließung vollständig von Napoleon ausgebaut. Rußland fügt sich nicht. Da ist eine offene gefährliche Stelle in dem Imperium. Schon 1810 ergehen die ersten Geheimbefehle zum Kriege gegen Rußland. Das verändert die Lage. Preußen muß Durchmarschland, wenn nicht Aufmarschgebiet, werden. Scharnhorst setzt jetzt wenigstens eine merkbare Erhöhung der Krümper durch. Auch das geht nicht ohne Widerstand. Scharnhorsts Einfluß ist so gering geworden, daß er nur durchdringt, weil Hake zufällig gleicher Ansicht ist.

1811 nimmt von Monat zu Monat die französisch-russische Spannung zu. Preußen gelingt eine List. Napoleon selbst verlangt Verteidigung der Ostseeküste gegen England. Das nützt man aus zu Rüstungen und Truppenverstärkungen. Scharnhorst liegen solche Listen. Er besitzt Schlauheit, die niemals zur Falschheit wird, die stets in Ansehung ihrer Zwecke sogar etwas Großartiges behält. Der April bringt eine Ausdehnung dieser Maßnahmen, die einer Mobilmachung gleichkommen, immer unter dem Vorwand des Küstenschutzes, immer nach mühevollem Drängen Scharnhorsts.

Hardenberg will wissen, was Scharnhorst mit den Rüstungen beabsichtigt. Der antwortet offen: sich stellen, als ob man die Neutralität wolle, in Wirklichkeit Frankreich im richtigen Augenblick angreifen. Kein Zweifel, daß alle Aussicht für den Untergang dabei besteht. Aber wenn man die Gesamtkraft der Nation entfesselt und England zu Hilfe kommt, dann "soll man kämpfen, und Gott wird den Sieg geben!" Ja – wenn. Der Staatsmann hat diese gläubige Zuversicht nicht, kann sie nicht haben.

[559] Immer mehr französische Truppen strömen nach Preußen hinein. Ende Juni 1811 sind es über achtzigtausend Mann. Scharnhorst muß sich weiter mit unzulänglichen, mühsam erreichten Verstärkungen begnügen. Da wechselt plötzlich der Kanzler, zögernd auch der König, die Ansicht. Es wird klar, daß Napoleon ein wirkliches Bündnis nicht will, daß vielleicht die Dynastie gefährdet ist. Scharnhorst erlebt den Triumph, daß ein Bündnisangebot nach Petersburg geht, begleitet von einem Feldzugsplan Scharnhorsts.

Die Rüstungen werden verstärkt aufgenommen. Sie werden in die besten Hände, die es geben kann, gelegt. Gneisenau übernimmt die Aufgabe, als Scharnhorst nach dem Osten abreist, um mit dem Zaren den Operationsplan zu vereinbaren. Bis Mitte Oktober ziehen sich die Verhandlungen hin. Dann hat Scharnhorst die Genugtuung, Anfang November durchaus brauchbare Vereinbarungen zu gemeinsamem Handeln nach Berlin zu bringen. Aber eine Vorahnung erneuter Enttäuschung, erneuter Niederlage macht ihn unruhig. Napoleon kann in seinem Rücken kein bewaffnetes Preußen lassen. September und Oktober folgt ein Befehl zum Abrüsten dem andern. Entschieden muß nun werden. Gneisenau schlägt als Antwort Verdoppelung der Rüstung vor. Hardenberg tritt in einer glutvollen, formschönen Denkschrift für das russische Bündnis ein. Da geschieht das kaum Glaubliche: der König entscheidet sich für das Bündnis mit Frankreich. Der König glaubt fest an die Unüberwindlichkeit Napoleons. Einen Vorwurf kann man ihm daraus nicht machen. Goethe und Hegel waren genau der gleichen Ansicht. Wäre es ein Vorwurf, dann hätte Scharnhorst kein Verdienst, anderer Meinung gewesen zu sein.

Noch ein kurzes Zwischenspiel. Wenn man Österreich als Verbündeten in Bewegung brachte, war der König vielleicht doch noch vom französischen Bündnis abzubringen. Scharnhorst geht nach Wien. Metternich ist gegen den General, den er fälschlich für das Haupt des höchst verdächtigen Tugendbundes hält, von vornherein eingenommen. Scharnhorst, mit der ganzen Seele kämpfend, spricht mit einer Beredsamkeit, die er noch nie gehabt hat. Eine heilige Angst erfüllt ihn. Vergeblich. Das Ostbündnis ist erledigt, das preußisch-französische wird Tatsache.

Das Bündnis mit dem Feinde ist eine ungeheure Belastungsprobe gerade für die Besten. Sie gehen, Gneisenau nach England, andere hierhin, dorthin. Scharnhorst kann nicht gehen. Der Glaube hält ihn. "Große Veränderungen stehen in kurzem bevor... Ich werde mich nicht vom Vaterlande entfernen... Wer sein Ziel aus dem Auge verliert, kommt in Gefahr, sich zu verirren." Das Ziel, wie ein Seher sieht er es.

Wäre Scharnhorst gegangen, der König hätte ihn 1813 nicht wieder gerufen. Sie waren sich fremd geworden. Der Kanzler behält Vertrauen zu Scharnhorst. Er erwartet von ihm, der Lage zum Trotz, günstige militärische Maßnahmen. Scharnhorst bleibt konsequent. Er will die Krümper, die ihm stets nur Notbehelf, nicht Zweck waren, nicht opfern, um die allgemeine Wehrpflicht zu haben, die [560] Aushilfe drangeben, um das Eigentliche zu erreichen. Erreicht wird wenig, von der allgemeinen Wehrpflicht so gut wie nichts, jedoch verhindert, daß die Rüstungsfortschritte von 1811 mehr als erträglich abgebaut werden. Dann geht Scharnhorst nach Schlesien, schaltet sich selbst aus. Es bleibt unklar, was er eigentlich ist. Die Generalstabsgeschäfte hat er abgegeben, sein Verhältnis zu Hake ist ohne sein Wissen aufgehoben. Als Inspekteur der Festungen bereist er Schlesien, nicht ohne gelegentlich persönliche Kränkungen zu erfahren. Wenn er trotzdem im Dienst bleibt, so geschieht es aus Pflicht. Eine letzte Pflicht, Pflichten zu zerbrechen, hat diese klare Seele niemals anerkannt. Neben der Tätigkeit des Inspekteurs beginnt er ein Buch über Kriegskunst. Ein Pilger, der Ruhe des Gemütes sucht.


[544a-d]
Brief Gneisenaus an den Staatskanzler v. Hardenberg
13. Dezember 1811

(Berlin, Preuß. Staatsarchiv)

  [Abschrift folgt dem Faksimile.]

Seite 1

Seite 2
[544d]    Brief Gneisenaus an den Staatskanzler v. Hardenberg, 13. Dezember 1811.       ((Berlin, Preuß. Staatsarchiv).)       [Vergrößern]

[544a] Abschrift:

      [Mit Betrübnis habe ich öfters bemerken müssen, wie der König und Andere die Individualität des Generals von Scharnhorst nicht hinreichend aufgefaßt haben. Ich habe daher beiliegendes aus einem militairischen Werke abgeschrieben, einiges von dem meinigen hinzugesetzt, und lege solches Ew. Excellenz vor mit der dringenden Bitte, dieses Blatt zur Kenntnis Sr. Majestät kommen zu lassen.
      Berlin d. 13ten Dezember 1811                   N. v. Gneisenau]

      Häufig ist das Verdienst unseres edlen Scharnhorst verkannt. Man will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man ihn für einen tiefen Denker, mit der Gesammtheit der Kriegswissenschaften vertraut gelten läßt, meint aber, er sei für die praktische Ausführung nicht geschaffen, und gerade diese praktische Brauchbarkeit, wohin sein langes Studium immer gerichtet gewesen, zeichnet ihn in so hohem Grade aus. Immer hat er bei seinen kriegswissenschaftlichen Forschungen allein dahin gestrebt, das praktisch Wichtige herauszuheben und in das Leben übergehen zu machen. So sind seine Schriften, so sein Umgang, so seine Amtswirksamkeit.
      Als einen kompetenten Richter über praktische Brauchbarkeit werden Eure Exzellenz den kürzlich verstorbenen General von Hammerstein gern anerkennen. Ich will hier herausheben, was der alte Krieger, in seinem Bericht über das Durchschlagen aus Menin, eine der glänzendsten Thaten der Kriegsgeschichte, über Scharnhorst sagt. Der Bericht ist an den Generalfeldzeugmeister Clayrfait gerichtet. Nachdem er die Thaten der verschiedenen Waffen und der Einzelnen erzählt, schließt er den Bericht folgendergestalt.

      "Vor allen anderm halte ich mich verpflichtet, nur noch des Hauptmanns Scharnhorst allein Erwähnung zu thun. Dieser hat bei seinem ganzen Aufenthalt in Menin nachher beim Bombardement, und letzlich beim Durchschlagen, Fähigkeiten und Talente, verbunden mit einer ganz unvergleichlichen Bravour, einen nie ermüdeten Eifer und eine bewunderungswürdige Contenance gezeigt, daß ich ihm allein den glücklichen Ausgang meines Plans mich durchzuschlagen verdanke. Er ist bei allen Ausführungen der erste und der letzte gewesen. Ich kann es unmöglich alles beschreiben, von welchem großen Nutzen dieser so sehr verdienstvolle und einem jeden zum Muster aufzustellende Offizier mir gewesen ist. Schließlich ersuche ich Ew. Excellenz, bei abzustattendem Rapport an Se. Majestät dieser sämmtlich genannten Offizier(e) Erwähnung zu thun. Wäre es möglich, möchte ich [544b] für alle Belohnungen erbitten, die sie wahrhaftig verdient haben. Für den Hauptmann Scharnhorst aber erflehe ich auf das dringendste eine Gnade bei Sr. Majestät zu bewirken, da dieser Mann, wenn jemals Jemandem eine Belohnung für etwas Außerordentliches geworden ist, sie jetzt im größtem Maaße verdient."

      So spricht ein grauer tapferer praktischer Kriegsmann, bei Erzählung einer Kriegsbegebenheit, deren Natur einen schnellen Entschluß, praktische Einsicht und schleunige Ausführung in gleich hohem Grade zum Gelingen erforderte, von einem Manne, dem man häufig hier zu Lande nur das Gebiet der Theorie einräumen will, von einem Mann, dem man mich oft gleichsetzen möchte, mich, der ich ein Pygmäe gegen diesen Riesen bin, dessen Geistestiefe ich nur bewundern, nimmer aber ergründen kann.

N. v. Gneisenau
 
Scharnhorst beim Ausfall aus der von französischen Revolutionstruppen belagerten Festung Menin, 1794.
[528b]      Scharnhorst beim Ausfall aus der von französischen Revolutionstruppen belagerten Festung Menin, 1794. Links mit weißem Helmbusch Scharnhorst, in der Mitte der Kommandant General von Hammerstein. Zeitgenössischer englischer Stich.


Inzwischen zieht ein preußisches Kontingent unter französischem Kommando in Rußland ostwärts. Allmählich kommen die ersten Nachrichten vom Umschwung, langsam, spärlich, kaum geglaubt. Am 14. Dezember 1812 weiß man, daß der fliehende Imperator durch Glogau gefahren ist.

Es müßte wohl etwas geschehen. Hardenberg erwägt, mit den vorhandenen dreißigtausend Mann über die Trümmer der französischen Armee herzufallen. Möglich, daß es gelungen wäre, sicher war es nicht. Noch standen über vierzigtausend Franzosen in preußischen Festungen. Also treibt man eine Politik des Abwartens, bei der Unklarheit des russisch-österreichischen Verhältnisses vielleicht ganz gescheit, aber nicht gerade heroisch. Die Neujahrstat des von einer Laune des Schicksals Mitte Dezember 1812 beinah zum Marschall von Frankreich erhobenen Yorck wird als recht ärgerlicher Zwischenfall mißbilligend übergangen.

Anfang Januar 1813 schreibt Hardenberg an Scharnhorst. Dieser drängt als Antwort in einer Reihe von Briefen, mit aller Anstrengung zu rüsten. Mitte Januar wird eine ansehnliche Heeresvermehrung verfügt. Schließlich hat Hardenberg den König so weit, daß er nach Breslau übersiedelt. Am 25. Januar trifft er ein. Am 28. ist Scharnhorst da. Er hat kaum ein Amt, kein Kommando, er ist da. Er drängt und drängt zum Bündnis mit Rußland. Ein aufreibender Kampf ist durchzufechten, um den gefährlichen Versuch einer Vermittlerrolle Preußens zwischen Rußland und Frankreich zu verhindern.

Der Lebensweg Scharnhorsts führt in wenigen Wochen steil zum Gipfel. Die Wende vom Februar zum März 1813 ist der Höhepunkt. Eben noch ein Beiseitegeschobener, jetzt im Vollbesitz der tatsächlichen Macht. Er ist weder Generalstabschef noch Kriegsminister, er ist nichts, und er ist alles. Sein Name ist Preußen. Die Politik ist heroisch geworden, und ihr von leidenschaftlichem Gefühl hingerissener Vorkämpfer ist der sonst so kühle Verstandesmensch Scharnhorst. Der militärische Aufstand, etwas anderes ist es nicht, in Ostpreußen, das Drängen in Berlin, die Gärung in Schlesien, alle Kräfte sammeln sich in seiner Person. Er kann den König vom Throne stoßen, so groß ist jetzt seine Macht. Er braucht [561] nur die Welle der Volkserregung so zu lenken, und sie braust über den Monarchen fort. Zwei Drittel des Volkes, viel schlimmer, zwei Drittel des Heeres sind den Händen des Königs entglitten, sind bereit zu patriotischer Revolution, wenn Scharnhorst es will. Gnädige Fügung, daß der Entschluß des Königs zum Kriege Scharnhorst eine Entscheidung erspart, die getroffen ein Unglück, vermieden ein Fehler, in jedem Fall seelische Vernichtung Scharnhorsts gewesen wäre.

Ob er politisch recht hat, jetzt schon die Entschließung zum Bruch mit Frankreich herbeizuführen, ist dabei fraglich. Man muß zugeben, daß trotz aller mühevollen Vorarbeit Scharnhorsts die Mobilmachung Preußens überwiegend eine ausgesprochene Improvisation mit allen ihren Schwächen blieb. Der Waffenstillstand beweist nachher, daß die Dinge erst Ende August reif sind. Armeeverstärkung und Bundesgenossen brauchen Zeit. Für Preußen wird nichts schlechter, wenn man den äußeren Bruch hinausschiebt. Scharnhorst fragt nicht, ob die Stunde recht sei. Er ist das Schicksal. Also hat er recht. Der innere Grund ist die fast unbewußte Erkenntnis, daß die Begeisterung, die zum Kriege drängt, sich nicht monatelang auf gleicher und ausreichender Höhe erhalten läßt. Es ist trotzdem gar nicht zu bestreiten, daß Preußen mit unzulänglichen Kräften, von wenigen russischen Truppen unterstützt, ein erstaunliches Wagnis ziemlich allein beginnt. Es muß so sein. Wäre es anders, Preußen hätte niemals das Recht erworben, bestimmend auf deutsches Werden einzuwirken. Indem Scharnhorst Preußen auf diesen Weg treibt, wird er zum Wegbereiter des Deutschen Reiches.

Der Februar bringt weitere Heeresvermehrungen, den Freiwilligenaufruf, neue, der Lage angepaßte Bestimmungen über den Offizierersatz und die Aufhebung aller Ausnahmen der Kantonpflicht. Mitte März wird das Landwehrgesetz verkündet, später folgt die Errichtung des Landsturms. Das ist zwar nicht der Form, aber der Wirkung nach die allgemeine Wehrpflicht. Scharnhorst hat endlich gesiegt.

Es ist, als ob das Schicksal kurz vor dem dunklen Ende noch einmal alles Licht schenken wollte. Heimliche Blüten einer tiefen Neigung Scharnhorsts zu Friederike Hensel, der jungen Bonne seiner Enkelkinder, ranken sich um das große Geschehen. Es ist aber nur, als ob das Leben schenken wollte. Es schenkte nicht, auch diesmal nicht.

Ende Februar ging Scharnhorst nach Kalisch, um mit den Russen die gemeinsamen Operationen und die etwas heikle Frage des Oberbefehls zu besprechen. Da der Umschwung im Schicksal Napoleons von den Russen ausging, konnte man nicht anders, als einem Russen, dem Fürsten Kutusoff, den Oberbefehl und gleichzeitig die Führung der sogenannten Hauptarmee zu geben. Den Befehl über die beiden anderen Armeekorps erhielten ein Russe, Wittgenstein, und ein Preuße.

Es lag nahe, den gegenwärtig einflußreichsten General, Scharnhorst, erst kürzlich zum Generalleutnant befördert, wenigstens mit der Führung dieses Korps zu betrauen. Er wäre aber Partei geworden, wenn man ihn zum Befehlshaber des preußischen Kontingents machte, und hätte es hinnehmen müssen, daß [562] andere Posten mit gefährlichen Nichtkönnern alter Schule besetzt wurden. Um dies zu verhindern, versagt er sich selbst den größten Wunsch und verzichtete zugunsten Blüchers. Am 21. März schrieb er an die Tochter Worte, die in ihrer schmerzlichen Entsagung ergreifend sind: "...Ich will nichts von der ganzen Welt; was mir wert ist, gibt sie mir ohnehin nicht. Könnte ich das Ganze kommandieren, so wäre mir daran viel gelegen, ich halte mich in aller Beziehung ganz dazu fähig. Da ich aber das nicht kann, so ist mir alles gleich..." Der Verzicht war die reinste, edelste und darum größte Tat in Scharnhorsts Leben. Titanentrotz bewies sie nicht. Die Stunde uneingeschränkter Macht war wieder vorüber. Es bleibt für Scharnhorst nur die Stellung eines Chefs bei Blücher.

Als man am 2. Mai bei Großgörschen der langgezogenen Heeressäule Napoleons in die Flanke fiel, da war Scharnhorst völlig eine Nebenfigur, eine für den höchsten Generalstabsoffizier in Preußen schier unbegreifliche Rolle. Rühle hat es ganz offen eine Degradation genannt. "Da es uns", berichtet Clausewitz, "nicht vergönnt war, auf die Führung des Gefechtes einen bestimmenden Einfluß zu üben, so blieb uns nichts übrig, als mit dem Säbel in der Faust zu wirken." Vergönnt freilich nicht, aber auch nicht im geringsten zu erzwingen versucht. Was bei Jena falsch, jedoch menschlich verständlich blieb, wurde im Mai 1813 bei dem vor wenigen Tagen noch mächtigsten Offizier Preußens zum Rätsel. Als ob eine mystische Macht ihn dahin drängte, wo das Ende wartete.

Am Fuß verwundet, mußte Scharnhorst das Schlachtfeld noch vor Einleitung des Rückzuges verlassen. Er legte der Wunde keine große Bedeutung bei, nahm sie aber zum Anlaß, ins Hauptquartier nach Dresden zu gehen und dort mit aller Kraft die Beschleunigung der Heeresvermehrung, der Ausnutzung seiner jahrelangen Mühen zu betreiben. Sein ist das Werk, kein anderer kann es so fördern wie er.

Noch bleibt ein Letztes zu tun: der Anschluß Österreichs. Einhundertneunzigtausend Mann waren inzwischen so gut wie zugesagt. Bange Frage, ob sie kommen werden, nachdem eine nicht gewonnene Schlacht den Feldzug eingeleitet hat. Scharnhorst entschließt sich, selbst nach Wien zu reisen, und entscheidet damit über sein Leben. Am 14. Mai erreicht er Prag. Dort wird er durch einen Wink Metternichs aufgehalten, der in ihm noch immer ein Individuum mit exzentrischen Plänen, das Haupt einer rebellierenden Clique sieht. Ende Mai verschlimmert sich die Wunde. Tage der Unruhe folgen. "Wenn mir jetzt und hier", so schreibt er an Müffling, "der Tod beschieden sein sollte, so scheide ich schwer; denn ich habe nur den Untergang der edelsten Sache vor Augen und weiß doch, daß sie endlich siegreich hervorgehen muß. Das möchte ich gern erleben." Endlich hat er die Gewißheit des österreichischen Beistandes. Bald darauf überfällt ihn tiefe Betroffenheit über den Abschluß des Waffenstillstandes, fast gleichzeitig wiederholt sich Anfang Juni die Todesahnung.

Scharnhorsts Grabdenkmal auf dem Invalidenfriedhof in Berlin.
[563]      Scharnhorsts Grabdenkmal
auf dem Invalidenfriedhof in Berlin.
1826 nach Schinkels Entwurf errichtet.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
Am 28. Juni tritt eine plötzliche Verschlimmerung ein. Grolman berichtet am Bette Scharnhorsts über den künftigen Operationsplan mit den Österreichern. [563] Nun ist alles getan, der Weg ist frei. Die Gewißheit des Sieges ist das Abschiedsgeschenk dem fliehenden Leben. Langsam umflort sich das Auge. Ein letztes, zartes Wort gilt der fernen Geliebten. Dann ist es zu Ende.


Scharnhorst war, wie er bezeichnenderweise von sich selbst schon vor Auerstedt der Tochter schrieb, Napoleons "tätigster Gegner". Der Kampf gegen das Imperium, der Glaube an die Besiegbarkeit Napoleons und das Streben nach Entfesselung der nationalen Kräfte ist das Dreigestirn, das allem Handeln Scharnhorsts leuchtete. Ihm ist er über alle Mißerfolge und Fehler mit einer ungewöhnlichen Beharrlichkeit gefolgt. In diesen drei entscheidenden Dingen liegt Scharnhorsts Größe begründet. Die Mitwelt hat seine wuchtige Charaktergröße gespürt, die Nachwelt weiß, daß er den Baugrund schuf, auf dem andere das Gebäude der Zukunft errichteten. Scharnhorst lebte in einer Zeit zwischen einer endenden und einer beginnenden Epoche, und er war dazu

Berliner Eisenplakette von F. Posch, um 1813.
[568a]    Gerhard Johann David von Scharnhorst.
Berliner Eisenplakette von F. Posch, um 1813.
Berlin, Hohenzollern-Museum.
verurteilt, alles Problematische eines solchen Abschnitts zu tragen. Er wandelt an den Ufern der Zeit. Ihn kennzeichnet schon das Bedeutende einer neuen Periode. Das sittliche Große, das Heroische, Altruistische hebt ihn bereits über Napoleon und seine Zeit hinaus. Gneisenau hat ihn einen Riesen genannt. Er war ein Riese an Kraft, Lebensströme in seinem Volk zu wecken, und ein Riese im Glauben an Preußens Zukunft.

Kein strahlender Erfolg steht am Ende, manche bittere Enttäuschung schließt die einzelnen Abschnitte ab. Unvollendet blieb das meiste. Ein winziges tödliches Beinahe ist immer in seinem Leben. Und dennoch ist sein Leben bei allem unverkennbaren Wehmutsanklang übersonnt von der stillen Heiterkeit eigener Größe. Es ist wie Schuberts letzte Sinfonie, die Unvollendete: resignierendes Erkennen menschlicher Begrenztheit, gedämpftes H-moll, durchglüht vom gläubig-heiteren Motiv des zweiten Satzes; die ewige Melancholie als das Erhabene, das ist der Grundton in Scharnhorsts Leben.

[Dem Lebensbild Scharnhorsts von Friedrich von Rabenau liegt eine größere Arbeit des gleichen Verfassers in dem Werk: "Von Scharnhorst zu Schlieffen" (bearbeitet von Generalleutnant a. D. Friedrich von Cochenhausen), Verlag E. S. Mittler & Sohn, Berlin, 1933, zugrunde.]




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