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[Bd. 4 S. 527]
Reinhard Scheer, 1863-1928, von Adolf von Trotha

Admiral Scheer als Geschwaderchef der Hochseeflotte, 1915.
[520b]      Admiral Scheer
als Geschwaderchef der Hochseeflotte, 1915.

[Bildquelle: Lily Tegtmeyer, Wilhelmshaven.]
Admiral Scheer – geboren am 30. September 1863 – ist im Frühjahr 1879 in die Kaiserliche Marine eingetreten. Er gehört zu den Persönlichkeiten, die, ohne je vorher die See kennengelernt zu haben, aus einer mit den binnendeutschen Verhältnissen durch Generationen verwachsenen Familie, von jugendlicher Begeisterung getrieben, hinausstrebte aus der Enge des heimatlichen Lebens in die weite Welt, wohl unbewußt angezogen von der magischen Kraft des völkerverbindenden Meeres. Die von der Willenskraft eines Bismarck und von der edlen Größe König Wilhelms I. ausgelöste Siegeskraft preußisch-deutscher Einheitskämpfe hatte die ganze Welt in Erstaunen versetzt und in allen deutschen Gauen das deutsche Volkstum mit sich fortgerissen. Die deutsche Uneinigkeit, die man sich gewöhnt hatte in die politischen Rechnungen der Weltvölker und in die europäischen Zusammenhänge als festen Faktor einzusetzen, war von einer wiedererwachten Jugendkraft hinweggefegt, die niemand mehr von dem Volke der Dichter und Denker erwartet hatte. Diese gewaltigen Geschehnisse hatten Denken und Empfinden der heranwachsenden Knaben bestimmend beeinflußt, und als der heranwachsende Scheer anfing, seine Gedanken auf die Wirklichkeit des Lebens zu richten, da stand nicht mehr das alte Deutschland mit seinen kleinstaatlichen Gegensätzen vor ihm, sondern sein Blick war gefangen durch die Macht des wiedererrichteten Kaisertums. Es war für jeden Landsmann wieder zur Ehre geworden, sich als Deutscher zu zeigen, und die achtunggebietende Stellung des Deutschtums wirkte hinaus über den ganzen Erdball in alle Winkel der Welt. Das deutsche Volk kam mit der Frage der Weltgeltung in Berührung, und der lebendige, wagemutige Geist des jungen Scheer wurde von dieser noch neuen, ungeklärten Aufgabe mit ihrer ungeahnten Weite und Größe, mit ihrer abenteuerlichen Färbung im stärksten Maße angezogen.

Die Marine legte damals besonderen Wert darauf, den Offiziernachwuchs möglichst jung einzustellen, um die Kadetten in das ungewohnte und harte Leben an Bord und in die eigenartigen Anforderungen des Segelschiffsdienstes hineinwachsen zu lassen in einem Alter, in dem der Mensch sich neuen Verhältnissen noch leicht anpaßt. Die Schulbedingungen waren daher soweit als möglich heruntergesetzt, indem schon Obersekundareife als ausreichend festgesetzt war. Der junge Scheer ruhte daher bei seiner Lebhaftigkeit auch nicht, bis er von den Eltern den für deren Auffassung ungewohnten Verzicht auf eine abgeschlossene Schulbildung [528] erreicht hatte, und mit fünfzehneinhalb Jahren schiffte er sich mit sechsundfünfzig Kameraden aus allen Teilen des Reiches als Kadett der Kaiserlich Deutschen Marine auf dem Kadetten-Schulschiff SMS. "Niobe", einem reinen Segelschiff, ein.

Wer es nicht selbst durchgemacht hat, kann sich keine Vorstellung davon machen von der Eigenart der Lebensbedingungen auf einem Kriegsschiff und den Anforderungen, die es seelisch und körperlich an den Menschen stellt, damals natürlich in weit härterer Form als heutzutage, wo die von der fortschreitenden Technik auf allen Gebieten geschaffenen Neuerungen ganz wesentliche Erleichterungen mit sich bringen. Immer auf die engste Lebensgemeinschaft mit Vorgesetzten und Kameraden angewiesen, nirgends ein abgeschlossener Raum, in dem man für sich allein ist, jeden Augenblick dienstbereit, indem ein durch den Pfiff des Bootsmannsmaaten durch die Decke weitergegebener Befehl des Wachthabenden Offiziers im Hafen und in See jede Freiheit zerreißt, um den seemännischen Anforderungen gerecht zu werden. Dazu der gänzlich ungewohnte Dienst in der Takelage und in den Booten, der an die körperliche Gewandtheit, an den sicheren Blick und die Entschlußkraft höchste Anforderungen stellt. Je unfreundlicher das Wetter, je schärfer der von Regen begleitete Sturm und die aufgepeitschte See sich dem Schiff entgegenwerfen, um so rücksichtsloser muß die Manneskraft der Besatzung eingesetzt werden, um Herr der Elemente zu bleiben. Dabei kaum ein trockener Fleck unter Deck, während bei dem schwer arbeitenden und schlingernden Schiff auch in der Batterie das Seewasser hin und her flutet. Der Kadett Scheer ist mit diesen Verhältnissen schnell fertig geworden. Seine ganze Veranlagung ließ ihn all das Neue ganz natürlich nehmen. Ein froher, offener Kamerad und doch befähigt mit einer von seiner Begabung her ihm eingegebenen Selbstverständlichkeit, sich auch in diesem engen Zusammenleben seine Stellung nicht nehmen zu lassen.

Die stets wechselnden gemeinsamen Erlebnisse, die draußen auf der freien See besonders stark auf die menschliche Natur einwirken, lassen gerade die jungen Menschen sich eng aneinander anschließen. Heulender Sturm und wild erregte See oder strahlender Sonnenschein über der unendlichen Fläche des Weltmeeres, undurchdringlicher Nebel oder plötzliche Gefahrmanöver des Schiffes, daneben der Besuch fremder Häfen und die Berührung mit anders geartetem Volkstum führen die Besatzung immer enger zusammen und formen das Schiff zu einer Gemeinschaft, die mehr und mehr die Verantwortung fühlt, Vertreter des Deutschtums zu sein, eine Aufgabe, an der jeder einzelne sich mit wachsendem Stolz beteiligt weiß. So ließen die wenigen Sommermonate der Einschiffung auf SMS. "Niobe" den Kadetten Scheer schon fest mit dem Seemannsleben verwachsen und öffneten ihm Herz, Geist und Auge für die Größe des vor ihm liegenden selbstgewählten Berufes.

Nach der dem Seekadettenexamen vorausgehenden theoretischen Ausbildung auf der Marineschule und einem Kursus auf dem Artillerieschulschiff SMS. [529] "Renown" wurde der Seekadett (dem heutigen Fähnrich zur See gleichzusetzen) Scheer auf dem Flaggschiff SMS. "Friedrich Carl" des aus vier Schiffen für den Sommer formierten Panzergeschwaders eingeschifft. So klein die Verhältnisse damals auch waren, boten das Fahren im Verbande bei Tage und bei Nacht, die Gefechtsübungen und schließlich auch eine Besichtigung des Geschwaders durch den Kronprinzen, den späteren Kaiser Friedrich III., verbunden mit einem gefechtsmäßigen Schießen im Geschwaderverbande, eine Fülle von neuen Eindrücken und Berufserfahrungen.

So vorbereitet und in die vielseitigen Anforderungen des Seeoffiziersberufes eingeführt, wurde der Kadetten-Jahrgang 1879 im Herbst 1880 auf der Kreuzerfregatte SMS. "Hertha" für eine zweijährige Reise um die Welt eingeschifft. In der Ausbildung des Seeoffizier-Nachwuchses wurde damals wie jetzt der allergrößte Wert darauf gelegt, die Seekadetten neben ihrer Berufsausbildung durch eine solche große Fahrt über alle Meere in Berührung zu bringen mit den verschiedensten Völkern aller Rassen und Lebensbedingungen. Blick und Verständnis sollte dafür geweitet werden, die Zusammenhänge des Deutschtums über die ganze Welt hin zu verstehen und die ferne Heimat in ihrer Stellung zu den Weltvölkern zu begreifen, um damit die jungen Seeoffiziere an die eigenartige und so verantwortliche Aufgabe heranzuführen, die ihnen später in der Vertretung des Deutschtums unter den oft schwierigsten Verhältnissen anvertraut ist, dabei oft allein auf das eigene Urteil und persönlichen Takt gestellt. Wie jeden jungen Menschen, der zum ersten Male in die Welt hinauskommt, erfaßte auch den Seekadetten Scheer das Weltmeer in seiner Größe und Majestät mit zwingender Gewalt.

Nach kurzer Ergänzung der Ausrüstung des Schiffes in Plymouth und Anlaufen der paradiesischen Insel Madeira wurde in siebenundvierzigtägiger ununterbrochener Fahrt Kapstadt angesteuert. Der Aufenthalt in der von dem eindrucksvoll sich auftürmenden Tafelberg beherrschten Bucht mit ihrer freundlichen Umgebung, die damals noch ganz den Charakter der holländischen Kolonisation trug, wurde durch einen der tückisch hereinbrechenden, für Kapstadt charakteristischen schweren Stürme unterbrochen, wobei SMS. "Hertha" in See beiliegend das Unwetter überdauern mußte, nachdem vor der Gewalt des Orkans drei Ankerketten gebrochen waren. Zur Weiterreise holte das Schiff dann vom Kap der Guten Hoffnung so weit nach Süden aus, bis es, in den Bereich der dort das ganze Jahr über wehenden schweren Westwinde kommend, in ständiger Sturmfahrt den südlichen Indischen Ozean überquerte und nach einundvierzigtägiger Reise vor Melbourne ankerte, um das Deutsche Reich gelegentlich der Weltausstellung zu vertreten, mit der Australien seine Schaffenskraft bei den großen Völkern anmeldete. Über die Inselgruppen des Stillen Ozeans mit ihrer paradiesischen Natur und ihrer von der großen Welt noch wenig beeinflußten eingeborenen Bevölkerung führte die Reiseroute dann nach der ostasiatischen Küste, wo in Japan und China die Häfen angelaufen wurden.

[530] Welche ungeheuren Eindrücke vom Werden, Wachsen und Wirken der Völker auf dem Erdball nahm ein so jugendfrischer und tatenfroher Geist wie der des Seekadetten Scheer in sich auf. Noch vor wenigen Monaten Australien als ein im weiten Maße noch unberührter Erdteil, in dem sich aus dem Zustrom verschiedenartigster europäischer Kräfte, die wertlosen aussterbenden Eingeborenen beiseite drückend, ein ganz neues Volkstum und Staatswesen bildete, ohne Bindung an Überlieferung und Geschichte, ohne mit dem Lande selbst verwachsen zu sein. Und nun in China und Japan in engster Berührung mit Ländern uralter Geschichte und Kultur, wo eine durch mehrere tausend Jahre geheiligte Überlieferung das ganze Leben und Denken dieser gewaltigen Volksmassen bestimmte und der ganz anders geartete Fortschritt europäischer Entwicklung, fremdartig eindringend, die Grundlagen dieser uralten Staaten in Frage stellte.

Es fehlte nicht an besonderer Abwechslung während dieser eindrucksreichen Monate im Fernen Osten. Nicht nur, daß einer der gefürchteten Taifune bei der Überfahrt von Japan nach China dem Schiff mit der ganzen Kraft entfesselter Elemente entgegentrat, wobei nur die seemännische Tüchtigkeit der Führung und die ausgezeichneten Seeeigenschaften von SMS. "Hertha" die Gefahr, auf die Klippen der felsigen Küste geworfen zu werden, überstanden. Es kam sogar zur Durchführung einer Strafexpedition gegen chinesische Seeräuber, die ein deutsches Schiff ausgeplündert hatten, eine Unternehmung, die mit ihren abenteuerlichen Begleitumständen der Unternehmungslust der Besatzung besonderen Anreiz gab. In der Nähe von Nagasaki wurden dann noch Vermessungsaufgaben ausgeführt und über Hongkong und Singapore die weite Heimreise angetreten. Nach Anlaufen der besonders interessanten und später für uns so bedeutsamen Insel Sansibar ging die Fahrt wieder um die Südspitze Afrikas und unter Anlaufen von Plymouth, wo nach der Beschießung Alexandriens durch die englische Flotte gerade große Truppentransporte nach Ägypten sich einschifften, nach dem Heimathafen Kiel. Dort fand Ende Oktober 1882 die große zweijährige Reise ihren Abschluß.

Bestimmend hatte sich in diesen zwei Jahren dem jungen Scheer das Bild der Welt eingeprägt mit den vielgestalteten Kräften der großen und kleinen Völker, von denen jedes in seiner Art bemüht war, sich sein Lebensrecht zu sichern, und darüber hinaus vorwärtsstrebte, um auf irgendeine Art, mit Selbstbewußtsein, Verschlagenheit oder Rücksichtslosigkeit, sich Achtung und führenden Einfluß auf die weltentscheidenden Fragen zu verschaffen. Deutschland, dessen Ansehen und Ehre Scheer in allen Weltteilen hatte mit vertreten dürfen, rückte für ihn auf dem Erdball nach diesen Erfahrungen und Erlebnissen in eine ganz andere Stellung. Die Kraft der so stolz empfundenen Heimat trat von nun an für sein Denken zwischen die Weltvölker. Dort, in den großen Weltfragen, lag ja erst die hohe Aufgabe, die das Deutschtum zu lösen hatte, und klar hob sich die Erkenntnis heraus, daß auf dem Weltmeer die Entscheidung liegt, ob ein Volk ein dienendes oder ein freies Herrenvolk sein wird.

[531] Wie klein werden vor solchen Gedanken die Fragen, die uns in der Enge der Heimat so wichtig scheinen, und wie groß tritt dann die Verpflichtung heraus, die in dem Worte "deutsch" liegt. Aber es mußte dem Seekadetten Scheer auch vor Augen treten, wie unwürdig die Stellung Deutschlands vor der Welt war. Mit seiner gewaltigen, stolzen, wehrhaften Kraft und seiner überall sieghaft vorwärtsdrängenden, schaffenden Tüchtigkeit weckte es überall die staunende, aber meist mit Mißtrauen verbundene Bewunderung aller Völker. Aber nirgends, wo auf dem Erdball SMS. "Hertha" auch geankert hatte, war auch nur ein Fleck zu finden, an dem der Deutsche Eigenrecht hatte. Überall war das Deutschtum außer der diplomatischen Vertretung des Reiches ohne wirklichen Rückhalt gezwungen, sich nach den anderen Völkern zu richten, und die deutsche Seemacht war bei aller Einzeltüchtigkeit so bedeutungslos, daß es unmöglich war, dem Deutschtum in den großen Weltentscheidungsfragen die ihm zukommende Achtung zu sichern.

Daheim, nach bestandenem Offiziersexamen, wurde der Unterleutnant zur See Scheer durch verschiedene Ausbildungs- und Frontkommandos wieder ganz in die langsam vorwärtsschreitende Entwicklung der Marine eingegliedert. Aber schon im Herbst 1884 führte ihn ein erneutes Kommando wieder für zwei Jahre ins Ausland. Im Frühjahr 1884 war das Deutsche Reich durch das bekannte Telegramm des Fürsten Bismarck an den deutschen Konsul in Kapstadt mit dem Entschluß zur Erwerbung von Kolonien vor die Welt getreten, und in schneller Folge entfaltete sich die deutsche Flagge über Togo, Kamerun, Süd-, West- und Ostafrika, auf den Südseeinseln und in Neuguinea. Die im deutschen Kaisertum erkämpfte Einheit mit ihrer belebenden Auswirkung über den ganzen Erdball hatte in den Persönlichkeiten eines Peters, Wissmann und Lüderitz Vorkämpfer gefunden, hinter deren entscheidende Pionierarbeit nun die staatliche Macht des Reiches trat, deren achtungfordernde Vertretung den Einsatz der Marine verlangte. Im Herbst 1884 wurde daher unter dem für eine solche Aufgabe ausgezeichnet geeigneten Konteradmiral Knorr ein Geschwader aus den Kreuzerfregatten SMS. "Bismarck" (als Flaggschiff) und "Gneisenau" und den Kreuzerkorvetten "Ariadne" und "Olga" in Dienst gestellt und verließ Ende Oktober 1884 die Heimat. Der Unterleutnant zur See Scheer war auf dem Flaggschiff eingeschifft, wo er mit vier seiner Kameraden eine kleine, im achteren Zwischendeck über der Bordlast liegende enge Kammer teilen mußte, deren niedrig liegendes kleines Seitenfenster in See überhaupt nicht zu öffnen ging. Als Schlafplatz blieb ihm als einem der Jüngsten nur eine Hängematte im schmalen Gang vor der Kammer.

Was bedeuteten aber diese recht schwierigen äußeren Lebensbedingungen für eine jugendfrisch in das Leben hinausstrebende Natur, wie Scheer sie besaß! Ein stolzes Empfinden beherrschte das ganze Geschwader, ging es doch diesmal hinaus, um vor der ganzen Welt hinter dem Hinaustreten der Einheit des Deutschtums zwischen die Völker den staatlichen Willen des wehrhaften deutschen Volkes [532] in Erscheinung treten zu lassen. Das Vorbild des ritterlich kühnen Geschwaderchefs war besonders dazu angetan, in dem Unterleutnant zur See Scheer die Anlage zum selbstsicheren Anfassen jeder ihm zugewiesenen Aufgabe ohne jede Zaghaftigkeit oder theoretisch abschätzende Zurückhaltung zur Entfaltung zu bringen.

Am 18. Dezember 1884 liefen SMS. "Bismarck" und "Olga" in den Kamerunfluß ein, und am 20. bei drückender Tropensonne wurde das Landungskorps gegen die aufständischen Häuptlinge und deren Gefolgschaft eingesetzt, die, ohne die hinter den Deutschen stehende Macht zu kennen, von Hetzern aufgewiegelt waren, um der deutschen Entwicklung möglichste Schwierigkeiten zu machen. Unterleutnant zur See Scheer führte einen der fünf Züge des Landungskorps. In dem völlig unübersichtlichen, sumpfigen Gelände, das, den Eingeborenen gewohnt, ihnen ausgezeichnete Deckung gab, warf die Gruppe, der der Zug Scheer zugeteilt war, ohne sich durch die erheblichen Schwierigkeiten aufhalten zu lassen, rücksichtslos vorstoßend auf der rechten Flußseite den Feind mit erheblichen Verlusten weit in den Busch zurück und zerstörte seine Deckungen und die Stammesniederlassungen. Aber dann galt es beschleunigt über den Fluß zu setzen und die Joß-Platte, wo die Unsrigen einen schweren Stand hatten, unterstützt von den Bootsgeschützen zu erstürmen.

Nach diesem entscheidenden Schlag gegen unsere Widersacher gab es noch manche Erkundungsvorstöße oder Streifzüge durch Busch und Sumpf in den neuen Tropenkolonien der Westküste durchzuführen, die auch Scheer vor reizvolle, abenteuerliche Aufgaben stellten, bis nach Eintreffen des ersten Gouverneurs von Kamerun, Freiherrn von Soden, SMS. "Bismarck" Anfang Juli 1885 beschleunigt nach Sansibar gerufen wurde. Dort mußte dem selbstbewußten Sultan Said Bargasch gegenüber durch augenfälliges Herausstellen der deutschen Macht die Achtung vor den Erwerbungen des Dr. Carl Peters und vor dem diesem erteilten Schutzbrief des Deutschen Reiches durchgesetzt werden. Kaum war diese Aufgabe, die an Schiff und Besatzung ganz anders geartete Anforderungen stellte, gelöst, so nahm das Geschwader in siebenwöchiger ununterbrochener Fahrt Kurs über Sydney und Neuseeland, um in den neuerworbenen Besitzungen in Neuguinea, auf den Marschall-Inseln und dem Bismarck-Archipel die deutsche Flagge zu zeigen und die Achtung vor der Reichsgewalt sicherzustellen. Nach einem Erholungsaufenthalt in Hongkong erfolgte dann dort die Ablösung der Besatzung und die Heimkehr mittels Dampfertransportes.

Welch großer Unterschied der Eindrücke, die Scheer von diesem Auslandskommando mit heimbrachte gegenüber der Fahrt mit SMS. "Hertha"! Damals das Erleben und Begreifen der Zusammenhänge der großen Welt, ohne daß das Deutsche Reich irgendwo mit einem festen Stützpunkt oder gegründeten selbständigen Recht rechnen konnte. Jetzt auf dieser zweijährigen Reise als Forderung aller Ansprüche des Dienstes der Einsatz für koloniale Erwerbungen in aller Welt, über denen die deutsche Flagge wehte, von den Weltvölkern Achtung [533] fordernd und das deutsche Volk daheim vor neue Aufgaben stellend. Jeder an Bord brachte bei der Heimkehr im Herbst 1886 das stolze Bewußtsein nach Hause, daß er mitgeholfen hatte, die Ehre des deutschen Volkes jenseits des Meeres zwischen den Weltvölkern aufzurichten.

Nur eineinhalb Jahre dauerte der Dienst in der Heimat. Diese kurze Zeit war für die Entwicklung Scheers aber doch von ganz besonderem Einfluß, weil er damals durch eine Kommandierung zum Torpedokursus zum ersten Male mit dieser Waffe in Berührung kam, die, unter dem Einfluß des späteren Großadmirals von Tirpitz stehend, zum Kern und Ausgangspunkt einer neuzeitlichen Umformung der deutschen Marine in der technischen Durchbildung und geistigen Führung wurde, der in seiner weiteren Auswirkung zum planvollen Ausbau einer der Stellung des Reiches würdigen deutschen Flotte führte.

Die in der Torpedowaffe auch den jüngeren Offizieren gegebene weitgehende Selbständigkeit und Größe der Verantwortung, die von hohem Einsatz und offensivem Geist bestimmten Aufgaben in diesem Dienst ergriff Scheer mit größter Lebendigkeit, sie gaben den Grundanlagen seiner Natur den stärksten Antrieb und die beste Entwicklung.

Aber die kolonialen Aufgaben, die das Reich übernommen hatte, verlangten auch eine stärkere Vertretung über See. So führte schon im Frühjahr 1888 ein Kommando als Wach- und Torpedo-Offizier den Leutnant zur See Scheer wieder für zwei Jahre ins Ausland. Mit SMS. "Sophie" wurde die Ausreise angetreten und in Aden das Schiff dem Kreuzergeschwader unter Admiral Dähnhard eingegliedert, das zunächst nach Sansibar in See ging.

Gerade als das Geschwader die Fahrt weiter nach Kapstadt fortsetzen wollte, brach über die Durchführung des zwischen der Deutsch-Ostafrika-Gesellschaft durch Dr. Carl Peters und dem Sultan von Sansibar abgeschlossenen Vertrages ein weit ausgedehnter Aufstand aus. Die Araber an der Küste fühlten ihren bisher so gut wie unbegrenzten Einfluß schwinden und sahen den ergiebigen Sklavenhandel bedroht. Überfälle auf die Stationen der Gesellschaft, Kämpfe jeder Art flammten an der ganzen Küste auf und führten auch zur Ermordung zweier weißer Angestellten. Das Kreuzergeschwader sah sich damit plötzlich vor einer großen Aufgabe, die seine auch für größere Expeditionen in das Innere gar nicht ausgerüsteten Kräfte zunächst bei weitem überstiegen, bis Verstärkungen aus der Heimat hatten herangeholt werden können und später auch eine von Wissmann geführte schwarze Truppe verwendungsbereit war. Die weitere Entwicklung hatte dann im Dezember auch zu einer mit England, Portugal und Italien gemeinsam erklärten Blockade der ganzen Küste geführt, deren Durchführung außerordentliche Anforderungen stellte.

Dreiviertel Jahre bis zum März 1889 stand Scheer mitten in diesen Verantwortungsbewußtsein, Entschlußfähigkeit und auch Nerven und Gesundheit in höchstem Maße beanspruchenden kriegerischen Unternehmungen. Zurückwerfen [534] der Angriffe auf Stationen, Faktoreien und uns treugebliebene Eingeborenendörfer, wobei die Aufständischen mit Fanatismus bis zum Bajonettkampf standhielten und, in festen Gebäuden verschanzt, sich bis zum letzten verteidigten, wechselte ab mit dem schweren Tag- und Nachtdienst zur Unterdrückung des Waffenschmuggels und Sklavenhandels. Da andere Fahrzeuge nicht zur Verfügung standen, mußten die so gut wie möglich ausgerüsteten offenen Schiffsboote, im allgemeinen mit zehntägiger Ablösung, an der buchten- und inselreichen Küste verteilt, in Tropensonne, bei kühlen Nächten oder Regen, oft mit schweren Seeverhältnissen, mit Strom und Brandung kämpfend, immer angestrengt, zur Abwehr bereit, auf Vorposten liegen. Die großen Schiffe deckten währenddessen mit ihrer sehr gelichteten Besatzung die wichtigen Häfen und patrouillierten unterstützend die Küste ab.

Hier war aber wieder für Scheer in solchen selbständigen Aufgaben, die, frei vom täglichen Dienst, im engsten Zusammenleben mit der Besatzung nur mit Willenskraft und Entschlußsicherheit wirklich gelöst werden konnten, die beste Betätigung für seine Anlagen gegeben. Sein glückliches Gemüt, das auch nach dem schärfsten Dienst leicht und selbstverständlich den Übergang zur Ungezwungenheit des kameradschaftlichen Lebens fand, erleichterte das immerhin nicht ganz einfache tagelange Leben im engen, ungeschützten Boot. Sein kühner Wagemut wurde nach einem heißen Kampftage in Daressalam durch Verleihung des Kronen-Ordens vierter Klasse besonders anerkannt.

Aus diesem anstrengenden Blockadeleben wurde SMS. "Sophie" gegen Ende März 1889 plötzlich nach Samoa abgerufen. Dort war bei den noch unklaren Besitzverhältnissen eine ganze Anzahl vor allem amerikanischer und deutscher Schiffe zusammengezogen. Nachdem es im Dezember 1888 zu einem Gefecht zwischen Eingeborenen und unserem Landungskorps gekommen war, ging am 16. März ein schwerer Orkan über die Insel, der fast sämtliche vor Apia zu Anker liegenden Schiffe vernichtete. Von uns war das Kanonenboot "Eber" gesunken, der "Adler" als Wrack auf das Riff geworfen und "Olga" vorübergehend gestrandet. Als die "Sophie" nach beschleunigter Reise vor Apia eintraf, waren die Verhältnisse bereits wieder so weit beruhigt und geordnet, daß der bis zum Dezember dauernde Aufenthalt des Schiffes den ganzen Zauber dieser paradiesischen Insel genießen ließ.

Dieser erholenden Zeit folgte ein Besuch der jungen deutschen Besitzungen in der Südsee, bei dem es noch einen dem Schiff sehr gefährlich werdenden Taifun zu überstehen und die Durchführung einer abenteuerlichen Strafexpedition gegen Kannibalen durchzuführen gab. Danach wurden einige Häfen der chinesischen Küste angelaufen, bis im Juni 1890 die Heimreise mit dem Ablösungstransport dieses ereignisreiche zweijährige Auslandskommando abschloß.

Nach diesen vielseitigen Erlebnissen, die in lebendigster Weise den Blick auf die Weltentwicklung lenkten, deren Einflüssen das Deutsche Reich nach seiner [535] Kraft und Bedeutung sich nicht entziehen konnte oder durfte, trat Scheer nun unmittelbar in die Mitarbeit am Aufbau der Flotte in der Heimat ein. Für die nächsten vier Jahre wurde er zum Torpedo-Versuchs-Kommando kommandiert, wo er nicht nur als Kommandant eines Torpedoboots in dieser vorwärtsstrebenden Waffe an den von Tirpitz, als damaligem Chef des Stabes im Oberkommando der Marine, eingeführten, für die Zukunft grundlegenden taktischen Übungen und Gefechtsaufgaben teilnehmen konnte, sondern wo ihm ein bestimmender Einfluß auf die Entwicklung der Torpedowaffe anvertraut wurde. Nach Besuch der Marine-Akademie wurde Scheer dann im Frühjahr 1895 als Navigationsoffizier auf SMS. "Prinzeß Wilhelm" kommandiert, den ersten, 1887 von Stapel gelassenen Kreuzer, der ohne Takelage nur auf Maschinenkraft konstruiert war.

Aber noch einmal griff das Schicksal in die Laufbahn Scheers ein. Unsere Politik, die sich nach den Erfolgen der Japaner im Chinesisch-Japanischen Krieg dem Einspruch Rußlands gegen den Frieden von Shimonoseki unterstützend zur Verfügung stellte, verlangte dringend eine Verstärkung unseres Geschwaders in Ostasien, das man – wie Scheer in seinen Erinnerungen sagt – nur "als eine Ausstellung überholter Schiffstypen" ansehen konnte. So erhielt die "Prinzeß Wilhelm" kurz nach der Indienststellung sofortigen Befehl zur Ausreise nach Ostasien. Die starke Zuspitzung der Verhältnisse im Fernen Osten gab dem nun folgenden Jahr einen ungewöhnlich interessanten Inhalt.

Im Mittelpunkt die kriegerische Spannung zwischen Japan und China und deren Folgen. Hier das einheitlich zusammengefaßte, von hohem Nationalgefühl beherrschte Land der aufgehenden Sonne, das mit staunenswerter Energie von seiner jahrtausendealten Abgeschlossenheit zum modernen Staat umformte und mit klug angesetzter, undurchsichtiger Stetigkeit der Vormachtstellung innerhalb der gelben Rasse zustrebte. Dort das gewaltige China, das vergebliche Versuche machte, aus seiner staatlichen Schwäche, seiner Schwerfälligkeit und seiner inneren Unausgeglichenheit und den verderbten Methoden seiner Beamtenschaft herauszukommen. Und um diesen Interessenstreit gruppiert die großen Mächte, die, eine gegen die andere mißtrauisch, mit Verschlagenheit und vor keinem Mittel zurückschreckend, nur danach strebten, sich für die Zukunft Vorteile zu sichern und ihre Machtstellung auszubauen. Dazwischen stand Deutschland mit seinem ungeheuer anwachsenden wirtschaftlichen Einfluß ohne jeden Stützpunkt und mit einer Machtvertretung durch nur wenige Schiffe, die in ihrer Überalterung fast lächerlich wirkten.

Für Scheer war dieses Jahr eine außerordentlich wichtige Periode diplomatischer Schulung, besonders wo ihm die im Hafen sehr ungebundene Stellung als Navigationsoffizier im weitesten Maße Gelegenheit gab, nach allen Seiten Beziehungen anzuknüpfen und auszuwerten. Alle Eindrücke fanden sich auf die eine Schlußfolgerung zusammen: das Hinauswirken der einheitlichen Schaffenskraft des [536] Deutschen Reiches in die große Welt verlangt gebieterisch eine seiner Machtstellung entsprechende Flotte.

In die Heimat zurückgekehrt, fand Scheer in der Stellung als Navigationsoffizier des Panzergeschwaders Verwendung. Es war das der bedeutungsvolle Entwicklungsabschnitt, in dem durch die hohe Fachkenntnis und Energie des Geschwaderchefs Vizeadmiral Thomsen das Schießverfahren für unsere Schiffsartillerie durchgebildet und die Grundlage gelegt wurde für die überlegene Leistung unserer Flotte im Weltkriege in dieser Waffe. Gefechtsausbildung, Signalwesen, Schiffs- und Geschwaderführung hatten während Scheers Auslandskommando wieder außerordentliche Fortschritte gemacht, so daß dieses Kommando äußerst anregend und fördernd war.

Inzwischen hatte das persönliche Eingreifen des Kaisers der Marine die entscheidende Wendung gebracht, indem er nach ergebnislosen Reichstagsverhandlungen den damaligen Chef des Kreuzergeschwaders in Ostasien, den Konteradmiral Tirpitz, als Staatssekretär des Reichsmarineamtes nach Berlin berief. Tirpitz griff die hochverantwortliche Aufgabe, gegen den widerstrebenden Reichstag den planmäßigen Aufbau einer deutschen Flotte durchzusetzen, mit größter Tatkraft an, stellte die Volksvertretung, gestützt auf seine seit Jahren folgerichtig durchgeführte Vorbereitungsarbeit, vor ganz neue Gedanken und erzwang den Erfolg mit meisterhafter Sicherheit, zugleich die Flottenbegeisterung im ganzen Volk einheitlich auslösend.

Unter den Offizieren, die Tirpitz sich zur Durchführung dieser gewaltigen Aufgabe vom Kaiser erbat, war auch der Korvettenkapitän Scheer, der nun, bereits nach einem halben Jahr, als Geschwader-Navigationsoffizier abgelöst und im Reichsmarineamt mit der Bearbeitung und Entwicklung des Torpedobootswesens beauftragt wurde. Hier wurde Scheers reiche Erfahrung und sein freies Urteil, das über Schwierigkeiten und kleinliche Hemmungen hinwegging, vor eine Aufgabe gestellt, die seine Fähigkeiten zur vollsten Entfaltung brachte. Nicht nur daß der Torpedobootswaffe nun im großen Aufbau einer Flotte der gebührende Platz gesichert werden mußte, sondern die Zeit verlangte auch in der Entwicklung des Bootstyps und in der Durcharbeitung des Torpedos weit vorausschauende Einflüsse, die Scheer – seiner Art nach – schon rein gefühlsmäßig in die richtige Bahn lenkte. Scheer erwarb sich in dieser Stellung das Vertrauen des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes in so hohem Maße, daß Tirpitz ihn im Frühjahr in die Zentralabteilung, also in seinen nächsten Mitarbeiterstab, berief.

Immer mehr traten bei Scheer hervor sein schneller Überblick über eine gegebene Situation, das unentwegt frische Zufassen und damit das Beherrschen einer schwierigen Lage mit dem Blick auf die notwendige Entscheidung. Diese Entschlüsse entsprangen bei ihm ohne viel Nachgrübeln einfach aus dem, was seine Berufserfahrung in ihm an Richtlinien und Grundgedanken gefestigt hatte. [537] So konnte er bei der plötzlich hervortretenden, vom Kaiser stärkstens geförderten und von Tirpitz kühn aufgegriffenen Gelegenheit, die Flotte im Jahre 1900 durch das zweite Flottengesetz zu verdoppeln, die trefflichsten Dienste leisten.

Im Herbst des Jahres trat Scheer dann unter Ernennung zum Kommandeur der I. Torpedo-Abteilung in Kiel wieder für drei Jahre in die Front zurück. Nach dem ganzen Aufbau dieser Truppe war dies Kommando die selbständigste und vielseitigste Stellung, die ein Offizier in diesem Dienstalter erhalten konnte. Dienst in der Truppe, die immer mit den zu ihr gehörigen Torpedobooten in engster Verbindung blieb, und Indienststellung zur Spezialausbildung dieser ganz auf höchste Offensive eingestellten Waffe und zu Übungen mit den Geschwadern wechselten ständig ab. Eine bessere Schulung und Vorbereitung auf die Führerverantwortung im großen war nicht denkbar, und so war es für Scheer trotz des darin zum Ausdruck kommenden großen Vertrauens eine schwer empfundene Trennung von dieser einzigartigen Truppe, als er im Herbst 1903 als Chef der Zentralabteilung wieder in das Reichsmarineamt berufen wurde, wo er bis zum Herbst 1907 Tirpitz unmittelbar zur Seite stand.

Es waren das vier Jahre höchster Spannung nach außen und nach innen. Die deutsche Wirtschaftskraft wurde in ihrem überwältigenden Vorwärtsdrängen der ganzen Welt immer fühlbarer, und der damit unvermeidlich zusammenhängende vorwärtsschreitende Aufbau deutscher Seemacht lenkte in seiner stetigen Planmäßigkeit die Aufmerksamkeit aller seefahrenden Nationen auf sich. In erster Linie versuchte England, diesem unerwartet starken Konkurrenten entgegenzutreten. Für die verantwortliche Arbeit, die im Reichsmarineamt zu leisten war, wirkte sich in den Jahren, als Scheer dort an einflußreicher Stelle stand, vor allem die von rücksichtsloser Energie beherrschte Persönlichkeit des Lord Fisher, Ersten Seelords der Admiralität, aus, der selbst vor dem Vorschlag an den König nicht zurückschreckte, die deutsche Flotte im Frieden zu überfallen und zu vernichten. Die Schaffung des "Dreadnought"-Typs und die Zusammenziehung der großen englischen Flotte in der Heimat waren der äußere Ausdruck dieser Stimmung.

Aus dieser scharfen politischen Spannung ergaben sich auch innerpolitisch die verschiedensten Zuspitzungen und Kämpfe. Aber das kluge gleichmäßige Vorgehen im Flottenbau, bei dem sich Tirpitz weder von seinem offen hingestellten Ziel abbringen noch sich zu irgendwelchen überstürzten Maßnahmen hinreißen ließ, überwanden diese gefährliche Periode, in der Scheer als einer der ersten Berater des Staatssekretärs bei schwerwiegenden politischen Entscheidungen mitzuwirken hatte.

Im Herbst 1907 übernahm der nunmehrige Kapitän zur See Scheer für zwei Jahre das Kommando des Linienschiffes SMS. "Elsaß" im Verbande des II. Geschwaders. Das Schiff besaß damals in der Flotte schon einen besonderen Ruf, bei allen Gelegenheiten durch besondere Leistungen hervorzutreten. Scheer wußte diese Stellung seines Schiffes weiter zu festigen und zu heben.

[538] Während er seine Anforderungen auf allen Gebieten sehr hoch stellte und es dann nicht leicht war, immer seinen plötzlichen Entschlüssen und Ansprüchen an Personal und den Einsatz der Waffen gerecht zu werden, hatte er sich immer mehr dahin entwickelt, den Untergebenen in ihrem Verantwortungskreis die allergrößte Selbständigkeit zu lassen und Vertrauen in ihre Pflichtempfindung und ihre Zuverlässigkeit freigebig auszuteilen, bis dann, wenn er auf die Brücke trat und das Kommando übernahm, in der so vielseitigen Zusammenarbeit beim Fahren im Verbande oder im Gefechtsdienste jeder die Probe zu bestehen hatte, die dann von ihm fast stets sehr hoch gestellt wurde. Diese selbstbewußte Art der Schiffsführung spornte überall auf das höchste an und erzog ein eigenes Verantwortungsbewußtsein und selbständiges Denken, das die höchsten Leistungen zeitigte. Scharfe Kritik, die im Dienst keineswegs ausblieb, wurde dadurch ausgeglichen, daß nach "Klar Deck!" von dem Kommandanten eine offene Kameradschaft ausging, die das ganze Schiff beherrschte.

Nach der zweijährigen Zeit als Linienschiffskommandant fanden die Fähigkeiten und Erfahrungen Scheers dadurch besondere Anerkennung und Auswertung, daß er zum Chef des Stabes der Flotte bestimmt und damit dem neu ernannten Flottenchef, Admiral von Holtzendorff, als erster Berater zur Seite gestellt wurde.

Es war das wieder ein sehr entscheidender Zeitabschnitt nicht nur wegen der starken politischen Spannungen zwischen den Weltmächten, die mit der Marokko-Frage zusammenhingen, sondern auch weil in der Flotte selbst die moderne Entwicklung der Befehlsmittel und die wachsende Bedeutung der Funkentelegrafie zu allerhand grundlegenden Änderungen in der Befehlsübermittlung und der Gefechtsführung führten. Im Herbst 1911 wurde der nunmehrige Konteradmiral Scheer noch einmal an hochverantwortliche Stelle im Reichsmarineamt berufen, an die Spitze des Departements, das alle militärischen Fragen zu behandeln und zu vertreten hatte. Es war das die Zeit, in der Tirpitz den abschließenden Ausgleich mit England anstrebte und bei uns der Übergang zu den mit 38-cm-Geschützen armierten Linienschiffen der "Baden"-Klasse stattfand. Dies einflußreiche Kommando fand aber schon zu Beginn des Jahres 1913 seinen Abschluß, als Scheer zum Chef des II. Geschwaders ernannt wurde.

Der Weltkrieg wies ihm in dieser Stellung zunächst die Ostsee als Operationsgebiet zu. Wir wissen ja auch heute, daß eine russische Landung an der pommerschen Küste im Kriegsplan der Entente vorgesehen war. Als die großen Pläne russischer Offensive aber zusammengebrochen waren und die russische Flotte von jeder bedrohlichen Unternehmung Abstand nahm, wurde das II. Geschwader, das zwar mit seinen schon damals reichlich veralteten Typen die schwächste Einheit bedeutete, aber durch seine Tradition über das am besten durchgebildete Personal verfügte, auch auf den Kriegsschauplatz der Nordsee herübergenommen.

Ende Dezember 1914 erhielt Scheer dann das Kommando über das III. Geschwader, das aus den neuesten, kampfkräftigsten Schiffen zusammengesetzt war. [539] So rückte er in die wichtigste Stelle der Kampflinie der deutschen Flotte ein, ohne allerdings bei der mit unseligen Hemmungen belasteten Seekriegsführung seine starken Schiffe zum Einsatz bringen zu können. Ende Januar 1916 führte der unerwartete Tod des Admirals von Pohl zu grundlegenden Änderungen in der Kriegsführung im Nordseegebiet. Scheer wurde zum Chef der Hochseestreitkräfte ernannt.

Die Flotte war mit höchster Bereitschaft und mit sicherem Stolz auf ihre Leistungen in den Weltkrieg eingetreten. An keiner Stelle der Front hatte eine andere Vorstellung geherrscht, als daß es in den ersten Wochen zur großen Entscheidung kommen würde. Nun währte der Weltenkampf des Deutschtums schon fast zwanzig Monate. Unsere unvergleichliche Armee hatte mit den gewaltigsten Siegen auf allen Fronten den Kampf tief in Feindesland getragen, die Kolonialtruppen hatten in höchster Opferbereitschaft und heldenmütigem Kampf dem deutschen Namen unvergänglichen Ruhm erworben und unsere Kreuzer draußen auf allen Meeren der Welt die deutsche Flagge kampfstolz bis zum letzten hochgehalten.

Auf dem entscheidenden Kampfgebiet der Nordsee aber hatten vorsichtige Bereitschaft des Feindes und zurückhaltende Staatsführung bei uns es zu einem Kampf der Flotten nicht kommen lassen. Immer drückender hatte dieses Zögern und Zaudern sich auf die Stimmung in der Flotte gelegt, um so mehr, als die verschiedenen Kämpfe der Aufklärungsstreitkräfte den Eindruck hinterließen, daß unseren stets mit unerschrockenem Kampfwillen und höchster Kampfleistung sich einsetzenden Schlachtkreuzern nicht immer der nötige und mögliche Rückhalt gegeben war. Enttäuschung fing an, immer mehr den Glauben zu erschüttern, daß unsere Flotte überhaupt noch einmal Gelegenheit finden würde, ihre Kraft gegen das unser Volkstum mit der unmenschlichen Hungerblockade abwürgende England zum Einsatz zu bringen. Die ganze mit ungeheurer Hingabe geleistete Friedensarbeit, die immer nur den unmittelbaren Kampf vor Augen gehabt hatte, schien vergeblich geleistet zu sein.

Nun wurde unerwartet die hohe Verantwortung für die Führung der Flotte unter diesen schwierigen Verhältnissen Scheer in die Hand gegeben. Ein Besuch des Kaisers in Wilhelmshaven gab dem neuen Flottenchef die willkommene Gelegenheit, seine Überlegungen zum Vortrag zu bringen, und gestützt auf die volle Zustimmung des Allerhöchsten Kriegsherrn, sich von allen Bindungen des einengenden Operationsbefehls freizumachen, nahm er in vollem Erkennen seiner Pflicht die gewaltige Verantwortung vor dem deutschen Volk und der Geschichte sowie auch dem Kaiser gegenüber auf seine Schultern.

Zugleich setzte er sich mit seiner ganzen Energie für die Eröffnung des rücksichtslosen U-Boot-Krieges ein. Er lehnte die immer wieder in neuer Form gegebenen Bindungen dieser einzigartigen Waffe ab. Es galt, den von den Feinden gegen unser ganzes Volk rücksichtslos eingesetzten Vernichtungswillen zu brechen; [540] das konnte nur mit unbeirrt gegen diesen Würgering des Feindbundes durchgeführtem Kampf der U-Boote erreicht werden, die hierzu frei sein mußten von jeder Einschränkung des Gebrauches ihrer Waffe. Scheer scheute hierin auch nicht davor zurück, die U-Boote aus den Kampfgebieten zurückzurufen, als ihnen von der politischen Leitung Hemmungen auferlegt wurden, die im schweren Kampfgebiet um England nach seiner Erfahrung den Einsatz dieser wertvollen Waffe nicht mehr rechtfertigten. Er stellte die U-Boote dann lieber in seinen großen Plan des entscheidenden Flottenkampfes ein. So führte der in Scheer verkörperte Angriffsgeist, nachdem der Flottenchef in verschiedenen kleineren und größeren Unternehmungen die Führung der Flotte in die Hand bekommen hatte, alle Kampfkräfte im Nordseeraum auf den einen großen Tag zusammen, der kommen mußte, weil die gewaltigen Machtfaktoren auf deutscher und englischer Seite durch diesen Angriffswillen, wie durch magnetische Kraft gelenkt, voneinander angezogen wurden.

Die Skagerrak-Schlacht am 31. Mai 1916 ist daher auch in ihrer Entstehung und Durchführung bestimmt von der Persönlichkeit und dem Willen des Admirals Scheer. Wenn bei den wenigen Gelegenheiten, die sich bis Ende Mai ergeben hatten, die Flotte im engen Raum hinter Helgoland zwischen den Minensperren in den verschiedenen Übergängen und Bewegungen durchzuexerzieren, das lebhafte Temperament Scheers in einer Weise zum Ausdruck kam, die sich fast beunruhigend auswirkte, so fiel im Angesicht des Feindes alle Unruhe von ihm ab. Vor der großen Verantwortung hob sich sein scharfer Verstand und klarer Blick, seine schnelle Entschlußkraft und seine hohe Verantwortungsfreudigkeit über alles heraus und gab seiner ganzen Persönlichkeit die selbstverständliche Sicherheit des großen Führers.

Reinhard Scheer.
Reinhard Scheer.
Kalksteinbüste von August Gaul.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 476.]
Als der ungeheure Kampf sich zum Höhepunkt steigerte, als ringsum die schweren Geschosse des Feindes einschlugen und die gewaltigen Wassersäulen der aufgepeitschten See über das Flaggschiff hinstürzten, da wurde es Scheer in der drückenden Luft des schwer gepanzerten Kommandostandes zu eng. Unbekümmert um die gewaltigen Auswirkungen des Kampfes um ihn her trat er frei auf die Kommandobrücke. Sein entschlußstarker Wille verlangte freien Blick. Nur von dem Gedanken zum Angriff beherrscht, gab es für ihn keine Gefahr, wo es galt, der gewaltigen Übermacht des Feindes offen gegenüberzutreten, um unter Ausnutzung der unübertrefflichen Beweglichkeit der deutschen Flotte ihre vor nichts zurückschreckende Stoßkraft mit überraschender Kühnheit dem Feind entgegenzuwerfen. Ob auch der Luftdruck der eigenen 30,5-cm-Geschütze des Flottenflaggschiffs Admiral Scheer vorübergehend zu Boden warf, verließ ihn keinen Augenblick die selbstsichere Ruhe, mit der er in das ständig wechselnde Kampfbild in den entscheidendsten Augenblicken unmittelbar eingriff und so dem Verlauf der Schlacht den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückte und die erdrückende Übermacht der großen englischen Flotte in die Rolle der Abwehr hineinzwang.

[541] So war der siegreiche Kampf der deutschen Flotte vorm Skagerrak die Tat Scheers. Er hat dies durch den auf freie Weltgeltung des deutschen Volkes gerichteten Willen des Kaisers und durch die staatsmännische Kraft des Großadmirals von Tirpitz geschaffene und unvergleichlich durchgebildete Instrument wehrhafter Kraft und deutscher Seegeltung mit unauslöschlichem Ruhm in die Weltgeschichte der großen Seemächte eingereiht.

Reinhard Scheer.
Reinhard Scheer.
Zeichnung von Arnold Busch, 1917.
[Nach Staatsbibliothek Berlin.]
Trotz des Vertrauens, das Scheer sich erkämpft hatte, konnte er aber doch nicht verhindern, daß seinem auf allen Gebieten des Seekriegs vorwärtsdrängendem Willen immer wieder von den verantwortlichen Stellen der Staatsführung Hemmungen auferlegt wurden. Auch die endlich, leider zu spät, im Frühjahr 1917 [542] erreichte Eröffnung des rücksichtslosen U-Boot-Krieges brachte diese hemmenden Kämpfe widerstreitender Auffassungen nicht zu Ende, bis dann Scheer im Sommer 1918, mit besonderer Vollmacht für die einheitliche Führung des gesamten Seekrieges ausgestattet, als Chef des Admiralsstabes in das Große Hauptquartier berufen wurde. Mit größter Energie nahm Scheer sein hochverantwortliches Amt in die Hand. Alle Mittel wurden aufgeboten, den U-Boot-Krieg bis auf das höchste zu steigern und die längst vorbereiteten Pläne, die Flotte gegen den englischen Kanal einzusetzen, zur Ausführung zu bringen.

Die Sperrgebiete für die Durchführung des unbeschränkten 
U-Boots-Krieges.
[541]      Die Sperrgebiete für die Durchführung des unbeschränkten U-Boots-Krieges.       [Vergrößern]

Es war zu spät. Die politische Leitung gab den U-Boot-Krieg und damit die England todbringende Waffe preis. Die Stimmung der durch die Hungerblockade gepeinigten und durch internationale Verhetzung verwirrten Bevölkerung brach zusammen. Das überwältigende deutsche Heldentum des Weltkrieges konnte seine Erfüllung nicht mehr finden. Der Zusammenbruch schien
Reinhard Scheer.
Reinhard Scheer.
Zeichnung von Arnold Busch, 1918.
[Nach Staatsbibliothek Berlin.]
alles mit sich zu reißen, und auch Deutschlands freies Recht auf das Weltmeer, das Scheer mit der Kaiserlichen Flotte des Großadmirals von Tirpitz siegreich behauptet hatte, schien für immer dem deutschen Volk verloren.

Aber schon die unerschrockene Tat des Admirals von Reuter vor Scapa Flow gab Zeugnis davon, daß die Siegeskraft vom 31. Mai 1916 auch die furchtbare Zeit der Verzagtheit und Verwirrung überwinden und niederzwingen würde. Und als der Sieger vorm Skagerrak am 26. November 1928 uns plötzlich entrissen wurde, da wuchs bereits aus dem Geist der stolzen Flotte, die Kaiser Wilhelm II. dem deutschen Volk geschenkt, die Tirpitz geformt und aufgebaut und die Scheer zum Siege geführt hatte, eine neue junge deutsche Seemacht heraus, die in dem ihr aufgezwungenen Rahmen durch Höchstleistung in technischem und seemännischem Können und durch vorbildliches Streben und Auftreten der Welt Achtung abzwingt vor dem Recht auch des deutschen Volkes auf das weltentscheidende Meer.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz