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Die politische Besitzergreifung

Hermann von Wissmann

Die erste deutsche Kolonialtruppe kämpft und siegt

Der zur Unterdrückung des Sklavenhandels und zum Schutz der deutschen Belange in Ostafrika als Reichskommissar ernannte Hauptmann und Forschungsreisende Wissmann ritt am Morgen des 8. Mai 1889 aus den engen Gassen der fast menschenleeren Hafenstadt Bagamojo zum Exerzierplatz hinaus, wo seine Truppe mit Sonnenaufgang bereitstehen sollte. Sein scharfes Auge überflog die Aufstellung. Die fünf Sudanesenkompanien standen stumm und eisig bei ihren Gewehren, der Scharfschützentrupp der vierzig deutschen Unteroffiziere unterhielt sich leise, die fünfzig eingeborenen Askari und die Mannschaften der drei kleinen Geschütze machten ebenfalls einen ganz guten Eindruck. Aber die Sulukompanie da, die Kerls schnatterten aufgeregt durcheinander, und jetzt fingen wahrhaftig zwei von ihnen einen Kriegstanz an! Der Soldat in Wissmann runzelte die Brauen, der Afrikaner in ihm aber lächelte und beruhigte jenen mit dem Gedanken, daß man diese noch kaum gedrillten Wilden gewähren lassen müsse, um ihnen die Kampfesfreude nicht zu nehmen.

Jetzt ritt der Adjutant an den Führer heran: "Herr Reichskommissar, die Boote der Marine setzen eben erst von den Schiffen ab, es wird noch eine Stunde dauern, bis die Matrosen marschbereit stehen."

Wissmann murmelte etwas und rief: "Wenn sie doch nur wegbleiben wollten, wir schaffen es mit unseren Leuten ganz allein. Aber der Admiral will natürlich für die Marine auch [195] etwas Lorbeer pflücken. Hätte ich ihm doch nur keine Mitteilung gemacht, daß ich heute Buschiris Lager angreifen will! Schickt er da noch gestern abend spät den Korvettenkapitän und läßt mir 200 Matrosen zur Unterstützung anbieten. Ich lehne natürlich dankend ab und erkläre, daß meine Truppe völlig ausreiche und ich seit zehn Jahren mit afrikanischen Verhältnissen vertraut sei. So streiten wir eine Stunde lang hin und her, bis mir der Herr sehr kühl eröffnet, der Admiral werde, ich möge wollen oder nicht, am nächsten Morgen um sechs Uhr zu meiner Unterstützung 200 Mann landen."

Der Adjutant verzog sein Gesicht, als ob er Essig verschluckte. Er sagte: "Und der Korvettenkapitän steht im Range höher als Sie, Herr Reichskommissar."

"Hab ich mir natürlich auch gesagt, bin ja nur Hauptmann. Kann ihm auf dem Marsch und im Gefecht keine Befehle erteilen, sondern muß ihn ergebenst ersuchen. Und passen Sie auf, das bringt uns noch irgendwelche Nachteile. Ich will bekennen, ich habe einen Augenblick überlegt, ob wir nicht schon früher, bei Nacht und Nebel abrücken sollten, aber es schien mir dann doch richtiger, unser ohnehin schon etwas gespanntes Verhältnis zur Marine nicht noch stärker zu belasten, nur damit wir allein den Ruhm des Siegers erwerben. Der alte Seebär von Admiral hat allerhand Verdienste und meint es bei aller Schroffheit ja schließlich gut."

Endlich landeten die Boote, und die Matrosen setzten sich unter Führung jenes Korvettenkapitäns zum Exerzierplatz in Bewegung, so daß die Truppe in Marschordnung zu einem antreten konnte. Voran als Spitze die fünfzig Askari und hinter ihnen Wissmann mit seinem Stabe; dann zwei Kompanien unter von Gravenreuth, hinter denen die drei kleinen Geschütze kamen; jetzt die vierzig deutschen Unteroffiziere als Scharfschützenkorps und hinter ihnen die 200 deutschen Matrosen unter Hirschberg; sodann wieder zwei Sudanesenkompanien unter Schmidt, weiter eine Sudanesen- und eine Sulukompanie unter von Zelewski; zuletzt Träger und Irreguläre. Ohne die letzteren waren es zusammen gegen 900 Mann.

[196] Wissmann klopfte das Herz bis zum Halse, als er um sieben Uhr den Befehl zum Abmarsch gab. Er war sich bewußt, daß hier die erste deutsche Kolonialtruppe ins Gefecht zog und daß das ganze Schicksal seiner Sendung von diesem Tage abhing. Die Truppe entbehrte noch jeder richtigen Schulung, der Feind war tapfer und grausam, sein befestigtes Lager mußte erst aufgespürt werden, denn man hatte noch keine genaue Nachricht über seine Lage erhalten können. Aber man würde es schon schaffen, nur keine Sorge, es war ja nicht sein erster Zusammenstoß mit Arabern und Negern.

Der Marsch ging zunächst eine Stunde lang durch verödete Felder und an zerstörten Häusern und Hütten vorbei, dann über welliges Land, aus dessen hohem Grase vereinzelte Bäume und Büsche aufragten. Am Himmel zogen weiße Wolken und spiegelten sich in den Wasserlachen der Niederungen, denn man war noch in der Regenzeit. Nach anderthalb Stunden Marsch meldete die Spitze, daß sie Buschiris Boma auf 700 m Entfernung dicht vor einem Walde von Kokospalmen zwischen Büschen gesichtet habe.

Wissmann ließ die Spitze halten und die Kolonnen aufschließen. Dann gab er Befehl, daß von Gravenreuth mit seinen beiden Sudanesenkompanien und den drei Geschützen als Zentrum vor der Vorderseite der Boma haltmachen und daß dahinter die Matrosen als zweites Treffen Aufstellung nehmen sollten. Schmidt mit zwei Sudanesenkompanien und den Unteroffizieren hatte sich links, von Zelewski mit der Sudanesen- und Sulukompanie rechts in die Flanken der Boma vorzuschieben, mit dem besonderen Auftrage, ihre Aufmerksamkeit der Rückzugslinie der Verteidiger zuzuwenden und diese an der Flucht zu hindern.

Wie sich später herausstellte, war die Boma sehr stark befestigt. Sie war ein großes Viereck mit pallisadengekröntem Erdwall und tiefem Graben, innen mit Flachdachhäusern und Spitzhütten bebaut. Die Besatzung war dem Angreifer zahlenmäßig ungefähr ebenbürtig und bestand überwiegend aus Arabern und Beludschen, die sich zäh verteidigten und erst nach [197] schweren Verlusten wichen. Sie waren fanatische Mohammedaner und überzeugt, daß sie den Islam gegen verächtliche Ungläubige, ihr Dasein als Sklavenhändler gegen unberechtigte Unterdrückung verteidigten. Ihr Führer, der Araber Buschiri, hatte sie aufgehetzt und galt unter der arabischen und negerischen Bevölkerung des Küstengürtels als eine Art Glaubensheld. Er war mit großer Grausamkeit gegen alles vorgegangen, was Europäer hieß oder sich zu den Europäern hielt.

Langsam rückte das Zentrum vor. Auf 400 m Entfernung bemerkte Wissmann, daß ein großer weißer Maskatesel, Buschiris Reittier, von seinem Weideplatze zur Boma geleitet wurde. Ha, das war ja für Buschiri die Möglichkeit, rasch zu entkommen, aber die wollte er ihm versalzen. Anerkannt guter Schütze und Jäger, legte Wissmann die Büchse an, zielte kurz und ließ fliegen – der Reitesel sprang getroffen hoch und wurde schnell abgeführt. Erstaunliches Bild: der junge Feldherr eröffnet den Kampf durch einen wohlgezielten Schuß!

Jetzt aber begaim die Pallisade Feuer zu speien, und auch ihre drei alten Vorderladerkanonen quälten sich etliche Schüsse ab. Da das Feuer zu hoch ging, ließ Wissmann die Sudanesen sprungweise noch weiter vorrücken, und auch die Geschütze wurden vorgezogen, weil sie wegen ihrer niedrigen Bauart in dem hohen Grase nicht zum Richten gelangen konnten. Der junge Hauptmann freute sich, eine wie eiserne Feuerdisziplin die von ihm selber in Ägypten angeworbenen Sudanesen hielten. Die Granaten der Geschütze saßen gut und richteten in der Umwallung einigen Schaden an, brachten auch Buschiris alte Böller zum Schweigen.

Jetzt aber trat etwas ein, was Wissmanns Plan, zunächst mit seinen beiden Flügeln die Boma rechts und links zu umfassen und dann erst mit dem Zentrum den Hauptsturm zu unternehmen, durchkreuzte. Der Korvettenkapitän erkannte dies nicht, oder er wollte den Haupterfolg des Tages für die Marine buchen, jedenfalls ließ er Wissmann mitteilen, er werde in das Feuergefecht eingreifen und die Sudanesen mit sich fortreißen. Wissmann, der, ganz vorne stehend, keinen Augenblick [198] lang Übersicht und Ruhe verlor, erkannte sehr wohl, daß es zum Sturm noch zu früh war, denn sein rechter Flügel (von Zelewski) lag noch mit Arabern, die ihm entgegengetreten waren, im Kampfe und konnte deshalb nicht schnell genug vorwärtskommen. Deshalb bat er den Korvettenkapitän dringend, noch zu warten, aber dieser ließ sich nicht mehr halten, sondern schob sich in die Schützenlinie von Gravenveuths Sudanesen ein. Aus diesem Nebeneinander von Deutschen und Afrikanern zweier verschiedener Waffengattungen und selbständiger Truppenteile ergab sich sofort ein blindeifriger Wettbewerb, an den Feind zu kommen. Da blieb Wissmann nichts anderes übrig, als das Signal "Seitengewehr pflanzt auf" blasen zu lassen, dann ein letztes rasendes Schnellfeuer auf die Boma, und in wildem Rennen ging es, Weiße und Schwarze, Schutztruppe und Marine durcheinander, über die letzten 300 m Entfernung gegen den feuerspeienden, pulverqualmverdunkelten Wall. Schmidt und von Zelewski eilten jetzt gegen die beiden Seiten der Boma, da sie keine Zeit mehr zu finden glaubten, deren Rückseite zu umfassen. Zum ersten Male in der Geschichte stürmte eine deutsche Truppe unter deutscher Flagge und mit deutschem Hurra auf afrikanischer Erde.

Der erste, der sich durch eine von den Granaten gerissene Lücke durch die Pallisaden drängte, war Leutnant Sulzer von Gravenreuths Sudanesen, als zweiter überkletterte Leutnant zur See Schelle den Zaun, freilich um drinnen sofort den Heldentod zu sterben. Dann begann ein furchtbares Würgen und Morden in den Lagergassen und Hütten, deren jede einzeln gestürmt werden mußte, denn die Araber und Beludschen setzten sich wie wilde Tiere zur Wehr. Zuletzt fing ein Teil aber doch an zu weichen, und vielen von ihnen gelang es, in den Palmenwald zu entkommen. Die nachgeschickten Verfolger kehrten bald zurück, da es zwecklos war, den Fliehenden, die sich zwischen den Bäumen sofort zerstreuten, weiter nachzusetzen.

Die Befestigung der Boma wurde sofort zerstört, ihre Häuser und Hütten nach afrikanischer Sitte in Brand gesteckt. Buschiri war zwar entkommen, aber sein Ansehen blieb seit- [199] dem bei den Eingeborenen erschüttert, und viele Anhänger fielen von ihm ab; noch im gleichen Jahre wurde er gefangen und gehängt. Die junge Wissmanntruppe hatte sich glänzend bewährt und zusammen mit der Marineabteilung nur 12 Tote gehabt, während der Feind 106 Tote zurückließ.

Tragikomisch entwickelte sich der noch am selben Tage angetretene Rückmarsch. Während die farbigen Truppen und ihre großenteils in Afrika schon bewährten weißen Offiziere frisch zurückmarschierten, litten die Matrosen unsäglich unter der Marschanstrengung in der feuchten Tropenhitze. Viele von ihnen mußten von Schwarzen getragen werden, und Wissmann selber bot dem Korvettenkapitän sein Reitpferd an, das dieser seufzend annahm. Wissmann und sein Adjutant blickten sich lächelnd an.

 
Vom Kadetten zum Afrikaforscher

Während wir uns bisher mit Afrikareisenden beschäftigt haben, die ihrem Leben eine wissenschaftliche Richtung gaben, wenden wir uns jetzt solchen zu, für welche die Wissenschaft nur eine Nebenrolle spielte oder in gar keiner Weise in Betracht kam. Konnte Barth überhaupt noch keine Beziehung zum Kolonialgedanken haben, so hat Schweinfurth nur theoretisch mit ihm zu tun gehabt, und auch für Rohlfs und selbst für Nachtigal hat der deutsche Kolonialgedanke erst in ihrer letzten Lebenszeit eine größere Rolle gespielt. Aber jetzt gelangen wir zu wirklichen Kolonialpionieren, denen es mit dem deutschen Kolonialreiche blutiger Ernst ist, die mehr und mehr ihre Gedankenwelt auf ein solches einstellen und die ihr Leben dafür ohne Besinnen in die Schanze schlagen. Der eine, Adolf Lüderitz, gründet aus kaufmännischem Denken heraus Südwestafrika, der andere, Carl Peters, gründet, anfangs wohl von Geltungsbedürfnis getrieben, Ostafrika. Der dritte, Hermann Wissmann, beginnt als Forschungsreisender im Stile der älteren Entdecker, wird dann aber Kolonialpionier, wenn auch in kongostaatlichen Diensten, und sichert schließlich durch siegreiche Niederwerfung des Araberaufstandes Ostafrika dem Reiche. Der letzte endlich, von [200] Lettow, verteidigt diese selbe Kolonie mehr als vier Jahre lang mit einer Handvoll Leute gegen erdrückende Übermacht. Weder Lüderitz noch Peters noch Lettow haben in Afrika wissenschaftliche Zwecke verfolgt, und auch Wissmann ist bald von solchem Streben abgekommen. Der wagende Geschäftsmann Lüderitz wie der ehrgeizige Abenteurer Peters und ebenso die beiden hervorragenden Kolonialsoldaten Wissmann und von Lettow – alle vier sind Zeugen deutscher Unternehmungslust und Leistungshaftigkeit, aber auch deutschen Dranges und Zwanges, in Übersee jenen Lebensraum zu schaffen und zu erhalten, der unserem Volke in Europa fehlte. Dem geistigen Anspruche der ersten Reihe von Reisenden fügen sie den politischen Anspruch Deutschlands auf freie Bahn in Afrika hinzu.

Hermann Wissmann kam am 4. September 1853 als ältester Sohn eines Regierungsrates in Frankfurt a. d. O. zur Welt. Da im gleichen Augenblicke draußen die Wachtparade den Präsentiermarsch spielte, so rief der Vater aus: "Du, Lieschen, aus dem Jungen wird was Großes werden." Der Vater wurde oft versetzt, zuerst nach Langensalza, dann nach Erfurt, sodann nach Kiel und zuletzt nach Berlin ins Ministerium.

Hermann war ein lebhaftes und begabtes Kind und deshalb aller Leute Liebling, die ihn das kleine hübsche Lockenköpfchen nannten. Unter seinen Spielgefährten zeichnete er sich bald durch ausgelassene Munterkeit und Waghalsigkeit aus, weshalb er oft ihr Führer wurde. In Kiel kam er mit dreizehn Jahren aufs Gymnasium; hier hatte sich der kleine Altpreuße gegen die Hänseleien der Neupreußen mit Wort und Faust zu wehren, aber er setzte sich schließlich durch.

Im Jahre 1869 nach Berlin versetzt, starb der Vater sehr bald darauf. Der Sechzehnjährige kam nach Neuruppin in Pension und aufs Gymnasium. Mit den Wissenschaften war es bei ihm nicht sonderlich bestellt, mit Erdkunde und Geschichte ging es, und im Turnen war er noch besser, aber sonst...

Als der Siebziger Krieg ausbrach, meldete er sich, knapp siebzehn Jahre alt, freiwillig, wurde jedoch zu seinem Schmerze [201] als zu jung zurückgewiesen. Nun aber stand in ihm felsenfest, was wohl die aus altadliger Offiziersfamilie stammende Mutter schon manchmal gewünscht hatte: du mußt Offizier werden. Um dies zu beschleunigen, trat er sofort in das Kadettenkorps ein. Hier sagte ihm die Beschränkung seiner freien Zeit zwar nicht recht zu, aber um so besser gefiel ihm der männliche Ton und das militärische Element. Sein Übermut brachte ihn allerdings mehr als einmal in Arrest. Es folgten die Fähnrichsprüfung und der Eintritt in das Füsilierregiment Nr. 90 in Rostock. Nach Besuch der Kriegsschule wurde er 1874 zum Leutnant befördert.

Die Leutnantszeit in Rostock währte sechs Jahre lang. Er war seinen Leuten im Turnen, Fechten und Schwimmen ein Vorbild. Derb aber freundlich, streng aber gerecht packte er die Rekruten an und flößte ihnen durch seine Gutherzigkeit Vertrauen ein. Doch so stramm er im Dienst war, so wild schlug er außerhalb seiner über die Stränge, daß er bald den Spitznamen "der tolle Wissmann" erhielt. Gleich im ersten Jahre gab es ein Pistolenduell mit einem bekannten Raufbolde, der dabei schwer verwundet wurde. Die Folge waren vier Monate Festung auf der Zitadelle zu Magdeburg, wo es dann besonders hoch herging. Im zweiten Jahre rettete er drei Menschen vom Ertrinken, was ihm die Rettungsmedaille und den Kronenorden eintrug. Im dritten Jahre, oder war es im vierten, verhaftete er nachts, als er lärmend von einer Kneipe heimkehrte, einen Herrn, der ihn zur Ruhe ermahnte und behauptete, er sei der Polizeipräsident. Leider konnte der Herr seine Behauptung nicht gleich beweisen, weshalb er zur nächsten Militärwache mitgehen mußte, von wo der Leutnant Wissmann ihn seiner eigenen Polizeibehörde zuführen ließ. Der Regimentskommandeur dürfte von dem tollen Wissmann oft nicht sehr erbaut gewesen sein, soll aber eines gewissen Verständnisses für seine Sonderart nicht ermangelt haben. Von seiner militärischen Tüchtigkeit jedenfalls war er offenbar überzeugt, sonst hätte er ihm nicht die Ausbildung der Einjährigen, großenteils Studenten, anvertraut.

[202] Aber es sollte alles ganz anders kommen, als Vorgesetzte und Kameraden, ja als Wissmann selber gedacht hatte. Im Jahre 1879 nämlich lernte der Leutnant in Rostock den Afrikareisenden Dr. Paul Pogge kennen und erlangte im Umgang mit ihm die plötzliche Erkenntnis, daß der Militärdienst allein ihn nicht völlig ausfüllte und daß sein Sehnen nach einer Betätigung als Afrikaforscher ging. Was er früher beim Lesen von Reisebeschreibungen schon immer dunkel geahnt hatte, das wurde ihm nunmehr Gewißheit, und er lag Pogge an, ihn auf seiner nächsten Reise mitzunehmen. Und jetzt geschah das Unerwartete – der wilde Leutnant setzte sich auf die Hosen und begann seine Wissenslücken auszufüllen. Auf der Seemannsschule hörte er Astronomie und Meteorologie, an der Universität belegte er Zoologie und Geologie, übte sich in topographischen Aufnahmen und eignete sich sogar bei verschiedenen Handwerkern gewisse Fertigkeiten an. Einen Oheim, früheren Mitschüler des Kriegsministers, spannte er erfolgreich für seinen Wunsch ein, auf zwei Jahre beurlaubt zu werden. Mit einem Worte, aus dem tollen Leutnant wurde in Frist eines halben Jahres ein ernster Mann, der ein erstrebenswertes Lebensziel vor Augen sah und an diesem über sich selber hinauswuchs.

Die Afrikanische Gesellschaft, damals von Gustav Nachtigal geleitet, bewilligte dem Dr. Paul Pogge und seinem Begleiter Hermann Wissmann 20 000 Mark, damit sie von Angola aus in das Lundareich vordringen und von einer dort zu errichtenden Station aus Vorstöße nach Norden in den großen und vollständig unbekannten Bogen des erst kurz vorher von Stanley entdeckten Kongostromes ausführen konnten. Wissmann fiel dabei die Aufgabe der Routenaufnahme zu.

Im Dezember 1880 in dem Hafen São Paulo de Loanda angelangt, begab Pogge sich mit seinem Begleiter sofort ins Innere nach Malange, wo die Trägerkarawane zusammengestellt und das Ende der Regenzeit abgewartet werden sollte. Die Ausrüstung war, um das Reisegeld zu schonen, sehr dürftig, selbst auf Zelt, Bett und Moskitonetz war verzichtet worden. [203=Karte] [204] In Malange bekam Pogge ein schweres Zahn- und Kieferleiden, das im Verein mit Malaria und Ruhr seine Leistungsfähigkeit stark herabsetzte und später auf der Reise oft ganz ausschaltete, so daß Wissmann, obwohl Neuling in afrikanischen Unternehmungen, bald viel selbständiger wurde, als eigentlich vorgesehen war.

Erst Anfang Juni 1881 wurde der Vormarsch angetreten. Von Kimbundu aus wanderte man durch unbekanntes Land, erreichte den Kassaistrom, kam in das Land der Baschilange und über den Lulua in das der Lubuku, wo ein längerer Erholungs- und Studienaufenthalt genommen wurde. Weiter ging es zu dem sagenhaften Munkambasee, der sich als viel kleiner denn erwartet herausstellte, sodann in das Land der Bassonge und zum Sankuru- (Lubilasch-) Strome. Endlich Mitte April 1882 wurde der obere Kongo oder Lualaba bei Njangwe erreicht, von wo Stanley seine Bootsfahrt den Kongo hinab angetreten hatte und wo die äußerste Station der arabischen Sklaven- und Elfenbeinhändler der Ostküste war. Mit der Strecke von Kimbundu bis Njangwe war ein gewaltiges Stück Innerafrika, schräg über sieben Längenkreise und quer durch den Süden und Osten des Kongoflußnetzes reichend, zum ersten Male der geographischen Erkenntnis erschlossen worden, aber man darf nicht vergessen, daß dies Pogges geistige Leistung war, während Wissmann mehr durch Tatkraft seinem fünfzehn Jahre älteren Lehrer in afrikanischen Dingen unter die Arme griff.

In Njangwe trennten sich die beiden Gefährten, Pogge kehrte in das Gebiet seiner eigentlichen Aufgabe, ins Lundareich zurück, Wissmann aber wandte sich Anfang Juni 1882 zur Ostküste. Er war fast mittellos, besaß nur wenig Träger, bekam Ruhr und hatte keinerlei Arzneimittel bei sich. Mit Mühe erreichte er das Westufer des Tanganjikasees, vermochte hier aber doch dessen zum Kongo führenden Ausfluß genauer zu untersuchen. Über den See nach Udschidschi gelangt, wanderte er durch die verrufene Landschaft Uha, besuchte den berühmten Häuptling Mirambo, der ihn gut aufnahm, lernte in Tabora [205] den einflußreichen arabischen Händler Tippu Tip kennen, mit dem er sich ebenfalls gut zu stellen wußte, und langte Mitte November 1882 in der Küstenstadt Saadani, kurz darauf in Sansibar an – fast in Lumpen, mit langen Haaren, mehr einem Wegelagerer ähnelnd. Auf seinen Wunsch erhielt er aus Berlin einen Kredit von 20 000 Mark, so daß er seine in Njangwe und Udschidschi bei arabischen Händlern gemachten Schulden bezahlen und sich neu ausstatten konnte. Ende Dezember erreichte er Kairo, wo er einen längeren Aufenthalt nahm, um dem deutschen Winter aus dem Wege zu gehen. Eine angeborene asthmatische Veranlagung, dazu Malaria und Ruhr hatten ihm viel zu schaffen gemacht und sollten ihn in Afrika auch später noch genug quälen. Erst im April 1883 war er wieder in der Heimat, wo er zuerst der Afrikanischen Gesellschaft Bericht erstattete.

Mit dieser seiner ersten Reise (1880–1882) wurde Wissmann der erste Deutsche, der das tropische Afrika durchquerte, und der erste Europäer überhaupt, der es von West nach Ost durchwanderte; freilich hatten die Engländer Cameron und Stanley es kurz vorher von Ost nach West durchzogen. Pogge und Wissmann hatten zusammen nicht mehr als 30 000 Mark verbraucht, waren allerdings auch sehr bescheiden gereist. —

Wissmann hatte sich schnell den Ruf eines tüchtigen Afrikareisenden erworben, obwohl er sich gar nicht die Zeit nahm, sein Reisewerk auszuarbeiten; dieses erschien vielmehr erst 1889, betitelt Unter deutscher Flagge quer durch Afrika. Schon ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr ging er wieder nach dem dunklen Erdteil, und zwar diesmal im Auftrage Leopolds II., Königs der Belgier und Herrschers des Kongostaates, der eine Festlegung des Laufes des Kassai wünschte, des größten linken Nebenflusses des Kongo. Da der König reiche Mittel zur Verfügung stellte, so vermochte Wissmann, damals erst einunddreißig Jahre alt, die Expedition glänzend auszustatten und vier Deutsche als wissenschaftliche Mitarbeiter einzustellen; es waren dies L. Wolf als Anthropologe, C. von François (der spätere Besieger Hendrik Witboois) als Topo- [206] graph, F. Müller als Meteorologe und H. Müller als Zoologe und Botaniker.

Die Gesellschaft ging Mitte November 1883 von Hamburg ab und langte Mitte Januar 1884 in Loanda an, von wo man landein wieder nach Malange vorrückte; hier traf Wissmann seinen afrikanischen Lehrer Paul Pogge, der todkrank aus dem Lundareiche zurückkam, um kurze Zeit darauf in Loanda zu sterben.

Von Malange brach die Expedition, diesmal mit 320 Trägern, Mitte Juli 1884 nordostwärts auf; zum Überschreiten der zahlreichen Ströme führte sie ein Stahlboot mit. Nach Überfahren der Flüsse Kuango und Kongollo gelangte man Mitte Oktober an den Kassai und ging weiter bis zum Lulua, wo im Lande der Baschilange die befestigte Station Luluaburg angelegt wurde.

Ende Mai 1885 trat die Expedition in Booten die Fahrt zum Kongo an. Der Lauf des Kassai wurde dabei von der Einmündung des Lulua an bis zu seiner Mündung in den Kongo befahren und unter vielen Gefechten mit anwohnenden Negerstämmen als ein gewaltiger Strom festgestellt, dessen Breite zwischen 300 und 15 000 m wechselt. Auch die Einmündungen des Sankuru und Kuango, die Pogge und Wissmann auf der ersten Reise weiter oberhalb überschritten hatten, wurden festgelegt. Nach einer Fahrt von sechs Wochen liefen die Boote in den Kongo ein und fuhren nach Leopoldville weiter.

Mit dieser zweiten Reise von 1884/85 hatte Wissmann dem europäischen Handel ein Netz wichtiger Wasserstraßen erschlossen, auf denen Gummi und Elfenbein in großen Mengen ausgeführt werden konnten. Die Gewässerkunde des südlichen Kongobeckens, vorher ganz unbekannt, war jetzt in großen Zügen festgelegt worden. Wissmann, zuletzt kaum noch transportfähig, begab sich zur Erholung seiner wieder stark angegriffenen Gesundheit nach Madeira. Zur Ausarbeitung seines Reisewerkes fand er auch jetzt wieder nicht genug Zeit; es erschien erst 1888 und trug, mit Beiträgen von Wolf, François, [207] und Müller versehen, den Titel Die Erforschung des Kassai.

Als Wissmanns Flottille in den Kongo einlief, hörte er von dort lebenden Engländern, daß das Deutsche Reich inzwischen Kolonien in West- und Ostafrika erworben habe. Er freute sich hierüber unsäglich und erhoffte, bei dem Mangel an erprobten Afrikanern, auch für sich Mitarbeit am Werke des Kolonialaufbaus. Von Madeira aus schrieb er an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm und bot seine Dienste zur Verwendung in einer der jungen Kolonien an. Aber zu seiner schmerzlichen Enttäuschung erhielt er den Bescheid, daß dort vorläufig noch keine Verwendung für ihn bestehe – eine im Belange der Sache recht unverständliche, leider aber nicht untypische Entscheidung. Wer an der richtigen Stelle nicht einen guten Freund hat, der mag noch soviel wert sein, er wird nicht zum Zuge kommen. Da war einmal ein Orientkenner von Ruf – aber das ist eine andere Geschichte.

Wissmann blieb nichts weiter übrig, wollte er nicht gleich wieder in den Kasernendrill zurückkehren, als sich fernerhin dem Dienste Leopolds II. zu widmen. Der König, großzügig wie immer, ließ ihm die Wahl zwischen der Verwaltung des ganzen inneren Kongostaates von Stanley-Pool aufwärts oder der Fortführung seiner Forschungs- und Erschließungsarbeiten im Süden des Kongobeckens. Wissmann zog die letzte Aufgabe vor, weil er dabei keinen Vorgesetzten vor der Nase und also völlig freie Hand hatte.

Mitte März 1886 fuhr er mit einem Flußdampfer von Leopoldville ab, bog in den Kassai ein und gelangte bis nach Luluaburg hinauf; unterwegs stellte er durch Messungen fest, daß nicht der Sankuru, wie manche meinten, sondern der Kassai der Hauptfluß dieses Netzes ist. Der Sankuru war übrigens inzwischen von seinem früheren Mitarbeiter Wolf mit einem kleinen Dampfer befahren worden. Die Station Luluaburg, unter dem Gefährten seiner zweiten Reise, dem Schiffszimmermanne Bugslag stehend, fand er in erfreulicher Entwicklung.

[208] Mit Wolf zusammen befuhr er den Kassai von der Luluamündung aus im Stahlboote noch ein Stück weiter aufwärts, bis große Wasserfälle, die Wolf Wissmannfälle taufte, Halt geboten.

Ende November 1886 verließ Wissmann Luluaburg endgültig und wanderte auf einem Wege, der z. T. von dem auf der ersten Reise verfolgten abwich, ostwärts nach Njangwe am oberen Kongo, wobei er unterwegs das Zwergvolk der Batua entdeckte. In Njangwe wurde er diesmal von den Arabern, die sich durch den Kongostaat schon in ihren Sklavenjagden beeinträchtigt fühlten, recht unfreundlich aufgenommen, ja es wurde ihm der beabsichtigte Marsch nach Sansibar verwehrt. So wich er südlich aus, anfangs auf dem Tanganjika fahrend, dann zum Njassasee marschierend, und reiste auf diesem, dem Schirefluß und Sambesi nach der Hafenstadt Kilimane in Portugiesisch-Ostafrika, wo er Anfang August 1887 ankam.

Auf der Rückfahrt nach Europa lernte er in Sansibar Carl Peters kennen, der ebenso wie die übrigen Angestellten der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft froh und stolz am Bau der jungen deutschen Kolonie Ostafrika arbeitete. Wissmann, der die arabischen Sklavenhändler vom tiefsten Innern her besser kannte, warnte vor möglichen Gefahren, traf aber taube Ohren.

Wieder mußte der Forscher sich in Ägypten und Madeira erholen, hier sogar besonders lange, da er durch Sturz vom Pferde schwer verletzt wurde. Auch das über diese dritte Reise von 1886/87 verfaßte Werk Meine zweite Durchquerung Äquatorial-Afrikas erschien erst später, nämlich im Jahre 1890.

 
In und um Deutsch-Ostafrika

Wissmann weilte im Jahre 1888 wiederum nicht lange in der Heimat, aber in dieser Zeit trat eine entscheidende Wendung in seinen Verhältnissen ein: das Reich rief ihn! Während er noch mit dem Emin-Pascha-Komitee über Teilnahme an der von Carl Peters ge- [209] planten Expedition zur Aufsuchung Emins verhandelte, traf in Deutschland die Nachricht vom Aufstande der Araber gegen die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft ein.

Der Binnenhandel Ostafrikas bis in das Kongogebiet hinein wurde von arabischen Kaufleuten beherrscht, die zum Sultanat Sansibar gehörten und ihren Hauptgewinn in Sklavenjagd und Sklavenhandel fanden. Als sie sich durch die Antisklavereibewegung und durch die Tätigkeit der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in ihrer Bewegungsfreiheit und ihrer Gewinnsucht beeinträchtigt fühlten, wiegelten sie die Küstenneger auf und fielen über die Faktoreien und Missionen der Europäer her, sengend und plündernd, mordend und Greuel verübend. Auch die indischen Handelshäuser an der Küste fürchteten als Geldgeber der Araber, daß sie durch deren Geschäftsverluste um ihr bei diesen angelegtes Geld kommen würden, und unterstützten deshalb insgeheim die fremdenfeindliche Bewegung. Die Negerhäuptlinge aber, die den Arabern Sklaven, Elfenbein und Gummi lieferten, waren ebenfalls um ihr Auskommen und außerdem um ihre Selbständigkeit besorgt. Diese wirtschaftlichen Belange gewisser handelbeherrschender Gruppen waren die treibenden Kräfte der Bewegung, und die große Masse der Neger schloß sich der von jenen ausgegebenen Losung an, denn welches Volk sieht gern eine Fremdherrschaft in seinem Lande? Selbstverständlich war auch der arabische Sultan von Sansibar, dem das Küstengebiet staatsrechtlich immer noch gehörte, der Aufstandsbewegung im geheimen zugeneigt. Wieweit englische Einflüsse, die ja 1884 der Hissung der deutschen Flagge auf dem Festlande sehr entgegengearbeitet hatten, jetzt auch noch beteiligt waren, und sei es nur durch Lieferung von Waffen und Schießbedarf, mag hier unerörtert bleiben.

Gegen die Vernichtung deutschen Lebens und Gutes sowie gegen die Beschimpfung der deutschen Flagge einzuschreiten, war für das Reich ein zwingendes Gebot der Selbstachtung und seines Ansehens in der Welt. Da die Ostafrikanische Gesellschaft selber ihre Belange nicht zu schützen vermochte und da auch der Sultan von Sansibar dazu weder in der Lage noch [210] willens war, so mußte das Reich seine Macht einsetzen. Dies geschah anfangs nur durch eine Blockade der Küste mit etlichen Kriegsschiffen unter Führung des Admirals Deinhardt, wodurch die Ausfuhr von Sklaven und die Einfuhr von Kriegswerkzeug unterbunden werden sollte; der Erfolg war, trotz Mitwirkung einiger englischer Kriegsschiffe, bescheiden. Es wurde schnell klar, daß der Aufstand sich nur durch Landtruppen unterdrücken ließ.

Aber wer sollte der Führer des Unternehmens sein? Dr. Carl Peters kannte zwar die Verhältnisse in Ostafrika, wo er ja die deutsche Flagge gehißt hatte, gut, und an seiner Energie war nichts auszusetzen, aber er war kein Soldat. Blieb also der Oberleutnant Wissmann, der zwar besser im Innern als an der Ostküste Afrikas Bescheid wußte, der sich aber als Expeditionsführer und Kolonialorganisator bestens bewährt hatte und dazu auch Soldat war. Freilich verfügte auch er nur über sechs Jahre aktiver Leutnantszeit, und die lagen schon wieder neun Jahre zurück. Trotzdem war er der beste Mann, den Deutschland für den Zweck besaß, und Bismarck entschloß sich Anfang 1889 ganz richtig, Wissmann, der schnell zum Hauptmann befördert wurde, zum Reichskommissar "für die Maßregeln zur Unterdrückung des Sklavenhandels und zum Schutz der deutschen Interessen in Ostafrika" zu ernennen. Wissmann erhielt volle Selbständigkeit der Entschlußfassung, die Oberaufsicht über die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft und das Recht, eine Polizei- und Schutztruppe anzuwerben und auf seinen Namen zu verpflichten. Zur Durchführung gedachter Maßnahmen bekam Wissmann einen Kredit von 2 Millionen Mark, eine Summe, die ihm sonderbarerweise ausreichend zu sein schien, die aber schließlich auf 9,5 Millionen Mark erhöht werden mußte.

Wissmann, damals erst sechsunddreißig Jahre alt, war sich der Bedeutung seiner Sendung voll bewußt, denn in seine Hände war jetzt Deutschlands koloniales Ansehen in der Welt gelegt. Zuerst ging er daran, eine Truppe, für die keinerlei Stamm vorhanden war, aufzustellen. In der Ansicht, daß weiße [211] Soldaten in Masse in den Tropen nicht lange verwendungsfähig bleiben würden, beschloß er, in der Hauptsache nur Farbige anzuwerben. Dies waren größtenteils Sudanesen, und zwar entlassene Soldaten der ägyptischen Armee, die sich in Ägypten brotlos herumtrieben, kleinerenteils aber Sulus aus Portugiesisch-Ostafrika. Dazu nahm er für das Offizier- und Unteroffizierkorps eine Anzahl deutscher Kameraden mit, die zu diesem Zweck aus dem Heeresverbande des Reiches entlassen wurden.

Als der junge Reichskommissar Ende März 1889 in Sansibar eintraf, fand er als Besitz der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft nur noch die fast menschenleeren Hafenplätze Bagamojo und Daressalam vor. Seine Truppe brachte er schnell auf einen Bestand von 81 Deutschen und 872 Farbigen, von denen 600 Sudanesen und 100 Sulus in sieben Kompanien eingeteilt wurden. Die Artillerie setzte sich aus 13 kleinen Geschützen zusammen, von welchen aber die meisten unbeweglich waren. Die infanteristische Bewaffnung bestand aus der Jägerbüchse Modell 71, einem einschüssigen Hinterlader. Die Truppe war, abgesehen von den Sudanesen, ganz unausgebildet, und die Deutschen, meist Neulinge auf afrikanischem Boden, waren mit der Behandlung von Negern nicht vertraut. Aber diese Wissmanntruppe wurde die Keimzelle jener kleinen Kolonialarmee, mit welcher der General von Lettow ein Vierteljahrhundert später das Schutzgebiet so erfolgreich verteidigt hat.

Wissmann hat in fünf militärischen Unternehmungen und innerhalb der kurzen Zeit eines Jahres den Aufstand niedergeschlagen und das Küstengebiet wieder unter deutsche Gewalt gebracht. Zuerst griff er, wie eingangs (S. 194) erzählt, am 8. Mai den Araberführer Buschiri an, der unweit von Bagamojo eine befestigte Boma besaß und dadurch die ins Innere führende Haupthandelsstraße sperrte. Durch schnelles Zupacken und kühnes Draufgehen schlug er Buschiri in die Flucht und stellte damit in einem Tage das Ansehen des deutschen Namens wieder her. Außerdem hatte er erkannt, daß er sich auf seine Truppe verlassen konnte, besonders wenn er sie erst besser aus- [212] bildete. Sodann besetzte und eroberte er die Küstenplätze Saadani, Pangani und Tanga.

Die zweite Unternehmung war, in Verfolg des über Buschiri erstrittenen Sieges, im Herbst von Bagamojo auf der großen Karawanenstraße gegen Mpapua gerichtet. Von einer befestigten Boma aus, die er dort anlegte, konnte die Straße gesichert und die unruhigen Stämme der Umgebung im Zaume gehalten werden. Buschiri selber, der noch mehr Vorstöße machte, wurde erst später von einem Dorfhäuptling, der den auf seinen Kopf gesetzten Preis verdienen wollte, nach Pangani ausgeliefert und wegen seiner Missetaten gehängt.

Eine andere Unternehmung richtete sich Ende 1889 gegen den mächtigen Negerhäuptling Bana Heri, den Sultan von Useguha, der sich inzwischen Saadanis bemächtigt hatte. Anfangs Januar wurde seine schwer aufzufindende Boma trotz erbitterter Verteidigung erstürmt. Bana Heri ward erst im April 1890 gefangengenommen, wegen seines ritterlichen Verhaltens aber nicht wie Buschiri gehängt, sondern sogar in deutschen Dienst genommen, in dem er sich dann mit leidlicher Zuverlässigkeit bewährte.

Der letzte Schlag richtete sich Anfang Mai 1890 gegen den Süden der Küste, wo die Hafenplätze Kilwa und Lindi erobert wurden, während Mikindani sich ohne Kampf ergab.

Als Zwischenziel schob sich in die blutige Unterdrückung des Aufstandes der friedliche Kampf um Emin Pascha ein. Dieser traf Anfang Dezember 1889, von seinem "Retter" Stanley geführt, aus dem Innern in Bagamojo ein. Er war Gouverneur der ägyptischen Äquatorialprovinz, die aber durch die Mahdibewegung seit Jahren von Ägypten abgeschlossen war, so daß über Emins Schicksal keine Kunde nach Europa drang. Deshalb waren zwei Rettungsexpeditionen ausgesandt worden, eine englische unter Stanley und eine deutsche unter Peters. In Wahrheit handelte es sich dabei nicht allein oder nicht so sehr um rein menschliche Barmherzigkeit, als vielmehr um kolonialpolitische Unternehmungen; wer Emin Pascha sagte, meinte Äquatorialprovinz. Nachdem nun Stanley bei dem Ren- [213] nen als erster durchs Ziel gegangen war, erhob sich in Sansibar ein stiller Kampf darum, Emin für den deutschen oder englischen Kolonialdienst zu gewinnen. Hierbei siegten schließlich Peters und Wissmann, während Stanley unterlag. Aber greifbaren Gewinn hat das Reich doch nicht davon gehabt. Emin, im Mai 1890 von Wissmann zum Viktoriasee ausgesandt, tat dort für die junge Kolonie nicht viel, ja er wandte sich sogar, entgegen seinem Auftrage, über die Westgrenze in das Gebiet des Kongostaates, wo er nichts zu suchen hatte und wo er dann der Rache der Araber, die er nicht zu behandeln verstand, erlag.

Wissmann selber begab sich Ende Mai 1890 in Urlaub nach Deutschland und wurde hier mit großen Ehren aufgenommen. Schon im November des vorhergehenden Jahres zum Major befördert – er war nur ein Jahr lang Hauptmann gewesen – erhielt er jetzt den erblichen Adel und natürlich eine nicht geringe Anzahl Orden.

Sonst aber sah er sich einer Lage gegenüber, die seinen künftigen ostafrikanischen Plänen sehr wenig günstig war. Bismarck, der ihm den Auftrag als Reichskommissar erteilt hatte, war inzwischen verabschiedet worden, und sein Nachfolger Caprivi hatte für Kolonien nichts übrig. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug am 1. Juli 1890 die Nachricht vom Sansibarvertrage ein, in welchem Caprivi den Engländern Uganda und Witu sowie die Oberherrschaft über die Inseln Sansibar und Pemba gegen die Rückgabe Helgolands auslieferte. Wissmann erlaubte sich Caprivi gegenüber eine bescheidene Kritik vom kolonialpolitischen Standpunkte aus und wurde seitdem von ihm sehr kalt behandelt. Außerdem setzte eine heftige Kritik des Auswärtigen Amtes gegen die Geschäftsführung der Wissmanntruppe ein, einmal, weil sie den Voranschlag von 2 Millionen Mark um das fast Fünffache überschritten hatte (kein Mensch in Deutschland hatte vorher eine Ahnung, was ein großes afrikanisches Unternehmen verschlingen würde), und andermal, weil von den verbrauchten 9,5 Millionen Mark 10 000 Mark nicht belegt werden konnten. Erst im Jahre 1895 [214] ließ sich das Auswärtige Amt vor dem Reichstage zu einer Ehrenerklärung für Wissmanns Untadelhaftigkeit herbei und gestand, daß der winzige Fehlbetrag wahrscheinlich auf Kursschwankungen der Rupie zurückzuführen sei. Wissmann persönlich verscherzte sich Caprivis Wohlwollen weiter noch dadurch, daß er den gestürzten Kanzler in Friedrichsruh besuchte, weil er sich moralisch verpflichtet fühlte, seinem Auftraggeber persönlich Bericht zu erstatten.

Ende November 1890 kehrte Wissmann, der immer noch Reichskommissar für Ostafrika war, dorthin zurück. Er fand alles friedlich und in guter Entwicklung vor. Am 1. Januar 1891 hißte er in Verfolg des Sansibarvertrages in den Küstenplätzen die deutsche Reichsflagge, während die des Sultans von Sansibar niedergeholt wurde. Sodann beruhigte er noch in harten Kämpfen das Gebiet des Kilimandscharo und legte die feste Station Moschi an.

Und nun? Was geschah weiter? Am 1. April 1891 wurde der Reichskommissar Major von Wissmann, Ritter hoher Orden, durch Caprivi seines Postens enthoben – um zum Gouverneur ernannt zu werden, nicht wahr? Nein, weit gefehlt, Gouverneur wurde ein Herr, der Ostafrika noch niemals gesehen hatte und der sich denn auch so wenig bewährte, daß er nach fünfviertel Jahren wieder abberufen wurde.

Wissmann, von seiner Übergehung tief gekränkt, verließ Ostafrika, das er dem Reiche zurückgewonnen hatte, sofort, nachdem er die Geschäfte dem neuen Gouverneur übergeben hatte.

Für einen willensstarken, fähigen, ehrgeizigen Mann gibt es nichts Schlimmeres, als von seinem Werke, seiner Schöpfung durch fremden, durch höheren Eingriff getrennt zu werden, besonders dann, wenn er sich sagen muß, daß weniger leistungsfähige Männer ihm vorgezogen wurden. Was fängt solch ein Mann mit seiner Zeit an? Er versucht die entscheidenden Stellen aufzuklären, und wenn das nicht hilft, macht er sich Beschäftigung, die freilich nur ein kümmerlicher Ersatz sein kann.

Wissmann, erst siebenunddreißig Jahre alt und doch schon [215] eine weltgeschichtliche Persönlichkeit, war am 1. April 1891 zum Reichskommissar zur Verfügung des Gouverneurs ernannt worden – eine Verlegenheitslösung und Kaltstellung zugleich, zumal der Gouverneur sich hütete, seinen Vorgänger nach Ostafrika zu ziehen. Da kam Wissmann auf den Gedanken, zur Begründung der deutschen Stellung im Südwesten des Schutzgebietes und zur Unterdrückung des dort noch immer unangetasteten Sklavenhandels einen kleinen Dampfer zum Njassasee zu bringen. Mit reichlichen Mitteln versehen, die durch Sammlung aufgebracht waren, führte er 1892/93 den nach ihm benannten Dampfer vom Sambesi an seinen Bestimmungsort und legte am Nordende des Njassasees die Station Langenburg an.

In die Heimat zurückgekehrt, erhielt er von der Universität Halle den Dr. h. c. und beschäftigte sich mit Aufsätzen kolonial-militärischen Inhaltes, die er 1895 in Buchform unter dem Titel Schilderungen und Ratschläge zur Vorbereitung für den Aufenthalt und den Dienst in den deutschen Schutzgebieten herausgab. Im November 1894 heiratete er die Tochter des Kölnischen Kommerzienrates Langen, der als Vorsitzender des Deutschen Antisklavereikomitees die Dampferexpedition durch namhafte Geldbeträge ermöglicht hatte.

Plötzlich aber wandelte sich die Lage für Wissmann durch die allen unerwartet plötzliche Entlassung Caprivis Ende Oktober 1894. Dessen Nachfolger, der rechtlich und unparteiisch denkende Fürst Hohenlohe, bot dem Kolonialhelden, dem er sehr wohlwollte, den Posten des Gouverneurs von Ostafrika an!

Im Juli 1895 trat Wissmann die Ausreise nach Daressalam an, wo er voller Freude empfangen wurde, da jeder einsah, daß hier ein altes Unrecht gutgemacht wurde. Leider aber hat Wissmann dort kaum ein Jahr gewirkt, dann mußte er im Mai 1896, angeblich wegen seiner angegriffenen Gesundheit, in Urlaub gehen. Er hatte die Sicherheit der immer noch sehr unruhigen Kolonie gefestigt, hatte eine ganze Anzahl Aufständische geschlagen und manche zweckentsprechende Verord- [216] nung erlassen. Unangenehm empfand er die Einengung seiner Kommandogewalt durch den Kommandeur der Schutztruppe.

Mitte Mai 1896 verließ er sein Ostafrika in trüber Stimmung, ahnend, daß er es nicht wiedersehen werde. —

In der Heimat im Sommer 1896 angekommen, wurde er auf sein Ersuchen als Gouverneur z. D. mit dem Range eines Rates erster Klasse in den einstweiligen Ruhestand versetzt und der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes zugeteilt. Er zählte erst dreiundvierzig Jahre.

Seine Gesundheit besserte sich bald, aber eine aktive Verwendung hat Wissmann sonderbarerweise weder im Kolonial- noch im Heeresdienste mehr gefunden. Er kaufte sich ein großes Gut zu Weißenbach bei Liezen im Ennstal an der Nordgrenze der Steiermark. Hier in den nördlichen Kalkalpen trieb er Ackerbau und Viehzucht und besonders eifrig die von ihm seit jeher so geliebte Jagd. Einige wenige Male fand er Gelegenheit, der Reichsregierung koloniale Ratschläge zu erteilen. Besonders wirkte er für Wildschutz in den afrikanischen Tropenkolonien, der auf einem hauptsächlich von ihm angeregten internationalen Kongreß zu London im Jahre 1900 beschlossen wurde.

Im Jahre 1897 unternahm er eine Jagdreise nach Sibirien, besonders in den Altai, 1898 eine solche nach Südwest- und Südafrika. Über seine Jagderfahrungen schrieb er das Buch In den Wildnissen Afrikas und Asiens, das W. Kuhnert reich bebilderte.

Das stille Leben eines Gutsherrn dürfte den tatkräftigen Mann nur wenig ausgefüllt und befriedigt haben. Im Winter 1900 auf 1901 sah er Afrika zum letzten Male, und zwar in Tunisien.

Am 15. Juni 1905 hat er abends neun Uhr, auf einen Rehbock ansitzend, durch einen Schuß aus dem eigenen Gewehr einen plötzlichen Tod gefunden, seines Alters erst zweiundfünfzig Jahre – trauriger Ausgang eines heldischen Lebens. Seine sterblichen Überreste wurden in Köln, dem Geburtsorte seiner Frau, mit militärischen Ehren bestattet. Zu Lauterberg im Harze [217] und in Daressalam wurden ihm Denkmäler gesetzt. A. Becker, C. v. Perbandt, G. Richelmann, R. Schmidt und W. Steuber veröffentlichten 1906 eine ausführliche Lebensbeschreibung.

 
Das Charakterbild

Man wird nicht leugnen können, daß Barth, Rohlfs, Nachtigal, Schweinfurth, Mauch tatkräftige Männer waren, aber sie waren doch nicht Tatmenschen in dem Sinne, daß die Tat bei ihnen in allem voranstand, vielmehr blieb sie ihnen stets Helferin geistigen Vorhabens. In Wissmann aber überschattet die Tat alles andere, und der Verstand ist ihm nur Diener des Handelns. Ihm kam es nicht so sehr darauf an, das geistige Wissen um Afrika zu vermehren, ihm ging es darum, militärische Leistungen durch afrikanisches Wissen im Werte zu steigern. Nicht die Festlegung und Befahrung des mittleren und unteren Kassai galt ihm als schönste Tat seines Lebens, sondern das war die Niederwerfung des Araberaufstandes, für die ja auch kein anderer Deutscher soviel militärisches und afrikanisches Können aufzuweisen hatte. So steht er in unserer Erinnerung nicht so sehr als Forschungsreisender, obwohl die Durchquerung des südlichen Kongobeckens und die Lösung des Kassaiproblems hochachtbare Leistungen waren, sondern als Kolonialsoldat, als Deutschlands erster großer Kolonialsoldat, der eine schlagkräftige Eingeborenentruppe aus dem Boden stampfte, mit ihr die aufständische Araber- und Negerbevölkerung des ganzen Küstengürtels in kurzer Frist besiegte, damit das schon verloren scheinende Schutzgebiet für uns rettete und die militärischen Richtlinien für die Weiterentwicklung des Landes und seiner Schutztruppe schuf. Der beste Kenner des innerafrikanischen Sklavenhandels wurde auch sein Überwinder. Wissmann war der vielseitigste der deutschen Afrikareisenden, denn er hat sich als Forscher und Kolonialorganisator, als Heeresschöpfer und Feldherr bewährt, und dies alles in recht jungen Jahren, zusammengedrängt zwischen sein siebenundzwanzigstes und siebenunddreißigstes Lebensjahr.

Hermann von Wissmann
[zwischen S. 192 u. 193]      Hermann von Wissmann
Wissmann entstammte ostelbischen Offiziers- und Beamten- [218] familien, von denen die der Mutter, einer geborenen Schach von Wittenau, zum pommerschen Adel gehörte. Der Vater hatte ein sehr nordisches, aber etwas kränkliches Gesicht, er ist ja auch früh gestorben. Die Mutter war wesentlich robuster, hatte ein breites Antlitz, dunkle Augen und, freilich auf einem Altersbilde, eine große vornüberhängende Nase. Hermann Wissmann selber, von dem zahlreiche, wenn auch stark retuschierte Bilder vorliegen, erweist sich als nordisch-fälischer, anscheinend dunkelblonder Mensch, nur seine Augen waren braun und standen zwischen verdickten Lidern etwas vor, so daß eine kleine Beimischung andern Blutes nicht von der Hand zu weisen ist. Das Gesicht wird als frei und offen, in Leutnantsjahren als ausgesprochen keck, später als zusammengerissener oder auch nachdenklicher geschildert, auf manchen Bildern zeigt sich um den Mund ein Zug, der auf Erlebnisse durch Intrigen und auf dadurch gewonnene Vorsicht und Mißtrauen hinzudeuten scheint. Nach etlichen Berichterstattern trug sein Antlitz einen energischen und zugleich fröhlichen Ausdruck, die großen braunen Augen wirkten lebendig und beherrschend, das Mienenspiel war ununterbrochen in Bewegung, die Stimme von lebhaftem Tonfall. Die Gestalt war kräftig und gewandt, der Gang elastisch, die ganze Konstitution schien unverwüstlich zu sein und sich jede Anstrengung zuzumuten, jeder Schonung entraten zu können. In späteren Jahren, von Mitte Vierzig an, wurde Wissmann sehr dick. Und trotz allem, der gewaltig gewölbte Brustkorb dieses muskelstarken, unerschrockenen Mannes litt von Jugend auf an Bronchialasthma, das ihm namentlich in den Tropen und auf Bergen arg zusetzte. Dazu bekam er immer wieder Malaria und Ruhr, die selber zu kurieren er sich gewöhnt hatte. Die Krankheitszustände, die nach jeder Reise längere Erholungsaufenthalte auf Madeira oder in Ägypten nötig machten, setzten ihm auf Reisen oft so stark zu, daß er vor besonderen Anstrengungen oder Unternehmungen Morphium nahm, um den Anforderungen gerecht zu werden. In späteren Jahren kam als Folge von mehrmaligem Gelenkrheumatismus ein Herzleiden dazu.

[219] Die Grundlage von Wissmanns Gefühlsleben war eine frohsinnige Natürlichkeit und Unbekümmertheit, die sich mit einer nicht selten verblüffenden, unvorsichtigen Offenheit gab. Dieses schlichte, freimütige, ganz ungekünstelte Empfinden, das kein Großtun kannte, liebte ein offenes Wort und nannte die Dinge beim richtigen Namen. Er hatte das Herz auf dem rechten Flecke und den Mund auf der rechten Stelle. Ebenso wie er uneingeschränkt zu loben verstand, so konnte er auch seine Mißbilligung in harten Worten ausdrücken, mochte es sich um bewiesene Unfähigkeit oder begangene Rohheit handeln. Anständigkeit der Gesinnung galt ihm hoch genug, um nach der Niederschlagung des Araberaufstandes den inzwischen gestürzten Bismarck zu besuchen, obwohl er sich sagen mußte, daß er sich Caprivis Wohlwollen dadurch verscherzte.

Sein Verhältnis zum Leben war lange Jahre das eines überschäumenden Übermutes. Als Leutnant trieb er die tollsten Streiche, segelte grade bei recht stürmischem Wetter und ging keiner Gefahr aus dem Wege. Der sonnige Frohsinn des Kindes schäumte über und wandelte sich in ausgelassenes Anpacken der schnell verrauschenden Tage. Es entwickelte sich ein derb herzhaftes Verhältnis zu den Menschen, das nie den Untergrund freundlich-heiterer Gutherzigkeit verlor und alle, die mit ihm zu tun hatten, für ihn einnahm. Er war stets ein fesselnder Unterhalter und munterer Gesellschafter, der einem guten Tropfen nicht aus dem Wege ging und Humor zu entwickeln verstand. Nach seiner ersten Durchquerung Afrikas telegraphierte er aus Sansibar an die Mutter: "Ik bün all hier" – die Worte des Swinegels gebrauchend, der den Hasen überlistete. Und als er Emin Paschas Art schnell und sehr genau erkannt hatte, sagte er, um ihn auf die Probe zu stellen: "Pascha, wenn ich Sie recht freundlich bitte, mir meinen Koffer hinunter zum Boote zu tragen, Sie tun es." Und Emin verzog sein semitisches Gesicht, spreizte die Hände auseinander und erwiderte: "Nu, warum sollte ich nicht, Herr Kommandant?"

Daß Wissmanns Gefühligkeit auf einer tiefen Gläubigkeit ruhte, beweist die Tatsache, daß er vor Antritt seiner ersten [220] Afrikareise mit Mutter und Schwester das Abendmahl nahm. Seiner Familie stand er stets mit zärtlicher Liebe gegenüber, seinen Freunden hielt er die Treue, sein Vaterland liebte er so heiß, daß er selbst nach seiner Kaltstellung mehrere verlockende Auslandangebote ausschlug. Wie heiß sein Gefühl aufwallen konnte, ersieht man daraus, daß ihm, als er seinen Offizieren 1891 von seiner Absetzung als Reichskommissar und von den gegen ihn erhobenen Anfeindungen der Linkspresse Mitteilung machte, die Tränen aus den Augen schossen. Das erschütternde Bild eines Mannes, den seine Regierung trotz aller seiner Verdienste preisgibt.

Er war ein Mann ohne kastenmäßige Einengung, großzügig und nie kleinlich, derb aber gerecht. Ein Mann, der bei allem Tatsinn ein feines Einfühlungsvermögen in fremde Völkerseelen besaß und Araber oder Neger wie nur einer zu behandeln verstand. —

Wissmanns eigentliche Stärke erweist sich in seinem Willen zur Tat. Er war ein ausgemachter Tatmensch, der ohne lange Überlegung blitzschnell zupackte, energisch handelte und dann bis zu Ende durchschlug, denn er machte nie halbe Arbeit. Er besaß eine Überfülle von Kraft und Tatlust, die immer erneut nach Entladung drängte und im Soldatendienste des Friedens keine Befriedigung fand. Mit dieser Tatkraft paarte sich eine ungemein schnelle Entschlußkraft, die auf eine plötzlich eintretende Lage ohne Zaudern durch Gegenhandlung zeichnete. Pogge kennenlernen und den Entschluß zu Afrikareisen fassen, war dem Sechsundzwanzigjährigen eins. Und als am fünften Marschtage der ersten Reise einer der Träger die anderen in einer großen Rede zur Forderung höheren Lohnes anstacheln wollte, da machte der angehende Afrikareisende den schwarzen Hetzer durch eine gewaltige Ohrfeige mundtot, was sofort alle Lacher auf seine Seite brachte und der Expedition viel Geld ersparte. So machten Tat- und Entschlußkraft Wissmann zu einer ausgesprochenen Führernatur, als welche er schon in den Knabenjahren auffiel und als welche er sich auf Forschungsreisen und als Überwältiger des Araberaufstandes bis [221] an sein Ende erwiesen hat. So umgänglich und liebenswürdig er war, spaßen ließ er nicht mit sich, und verblüffen ließ er sich ebensowenig. Dies trat schon bei dem Kinde hervor, denn als die Mutter dem kleinen Hermann drohte, er werde nicht in den Himmel, sondern in die Hölle kommen, da antwortete er trotzig und schlagfertig: "So baue ich mir dort ein Haus." Trat in Afrika die Gefahr an ihn heran, dann blieb er vollkommen eisig und bei Besinnung und machte, selbst über Aufforderung der eigenen Schwarzen, nicht gleich von der Waffe Gebrauch, wenn ein Negerstamm in kriegerischem Aufzuge heranstürmte – allwomit er meistens auch Erfolg hatte. Dabei war er von Natur äußerst kampffreudig und einsatzbereit, was durch sein Pistolenduell und die Rettung dreier Ertrinkender ja schon der Leutnant bewies. Ging es nicht anders, so zögerte er keinen Augenblick, sein Leben in die Waagschale zu werfen, und er hat dies in Afrika unzählige Male getan. Er besaß einen ausgeprägten Willen zur Selbstbehauptung. Das zeigte sich in dem Kinde als Trotzkopf, in dem Leutnant durch tolle Streiche, in dem Afrikaner dann als Herr über Schwarze. Als der Gymnasiast in Kiel gegenüber seinen neupreußischen Klassenkameraden einen schweren Stand hatte und die Mutter dies dem Direktor melden wollte, wehrte er sich heftig dagegen mit den Worten: "Mutter, das wirst du mir doch nicht antun und so etwas petzen." Lieber ließ er sich von der Übermacht wieder verprügeln, als daß er etwas von seinem trotzigen Ich aufgegeben hätte. Im Konfirmandenunterricht verblüffte er den Pfarrer durch die Hartnäckigkeit, mit der er den Satz nicht anerkennen wollte, der Mensch könne nicht aus eigener Kraft selig werden. Von den Alten fesselten ihn auf dem Gymnasium eigentlich nur die Spartaner, und er suchte es ihnen in Abhärtung und Kriegssinn gleichzutun, und sobald er es nur halten konnte, begann er mit des Vaters hinterlassenem Fechtgerät zu pauken.

Bei aller Entschiedenheit des Wollens und Handelns bewahrte Wissmann doch, solange es nur anging, stets die verbindliche Form, die seiner Gutherzigkeit eigen war. Mit großer [222] Geduld lernte er schon auf der ersten Reise die langen Palaver der Neger anhören, ohne aufzubrausen oder, was vielleicht noch schlimmer gewesen wäre, ohne des lieben Friedens willen schnell nachzugeben. Sein Wille war stark und seine Besonnenheit groß genug, um sich jeder neuen Lage anzupassen und ihr die beste Seite abzugewinnen. Auf der ersten Reise bewog er die Bassonge, als sie ihn nicht über den Lubilasch gehen lassen wollten, durch ein in der gewünschten Marschrichtung abgebranntes Feuerwerk, ihn ziehen zu lassen. Als er die Schutztruppe aus dem Nichts zu schaffen hatte, da fand er sich schnell in diese ihm neue Tätigkeit mit klarer Klugheit und ungemeiner Arbeitskraft, die kein Ermüden kannte und äußerst schnell zum Ziele kam. Und als er dann den gefährlichen Bana Heri von Useguha überwältigt und gefangen hatte, da knüpfte er ihn nicht auf, sondern nahm ihn in deutsche Dienste, weil er sich davon Nutzen versprach. —

Wissmann war ein gut begabter Mann, ohne doch überragende geistige Befähigung zu besitzen. Er lernte als Knabe leicht, sobald ihn der Stoff sachlich fesselte, und neigte dann mehr zu innerem Verstehen als zu mechanischem Auswendiglernen; Geschichte und Erdkunde waren neben Turnen die einzigen Fächer, die ihm Vergnügen bereiteten, während Latein, Griechisch und Mathematik Schreckgespenster für ihn waren. Auch später las er gern und sammelte eine ansehnliche Bücherei.

Auf Forschungsreisen betätigte er sich anfangs hauptsächlich durch Routenaufnahmen. Die Landschaft blickte er vornehmlich mit den Augen des leidenschaftlichen Jägers an, wobei er die Eigenarten von Natur und Menschheit schnell und richtig erkannte. In seinen Reisewerken aber ist er über eine flüchtige Ausarbeitung seiner Tagebücher nicht hinausgekommen. Zu eingehender Verarbeitung seiner Beobachtungen ins Wissenschaftliche, gar ins eigentlich Geographische nahm er sich nie die Zeit, der allerletzte Grund freilich mag Mangel an tiefergehendem Wissen und geistiger Schöpferkraft gewesen sein. In keinem seiner Bücher findet sich ein Versuch, einen größeren Raum in geographischer Synthese darzustellen. Selbst [223] in seinem letzten Lebensjahrzehnt, als es doch nicht mehr an Zeit gebrach und das Hinstürmen von Erfolg zu Erfolg beendet war, hat er diesem Mangel seiner geistigen Produktion nicht abgeholfen. Ein Mann von tieferer Geistigkeit hätte sich damals an tüchtigen Buchwerken wieder aufrichten können. Aber Wissmann, der Mensch der äußeren Tatleistung, war zu sehr auf das Urteil der Welt und besonders der regierenden Kreise eingestellt, als daß er in philosophischer Gelassenheit an seinem inneren Gehalt Genüge hätte finden können.

Akili tenâschera, den Mann mit dem zwölffachen Verstande, nannten ihn die Araber und Neger Ostafrikas. Er war es in der Tat für alle afrikanischen Verhältnisse, bei denen es auf übersichtliche Ordnung und Inordnungbringung ankam, aber auf höherer geistiger Ebene genügt eben bloßer Verstand nicht zu außergewöhnlicher Leistung.


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Hermann von Wissmann. Gemälde von Rosa Behm.








Unsere großen Afrikaner
Das Leben deutscher Entdecker und Kolonialpioniere

Ewald Banse