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Die geistige Besitzergreifung

Gustav Nachtigal

Eine denkwürdige Flucht

Der angehende Afrikareisende Dr. med. Gustav Nachtigal benutzte einen erzwungenen längeren Aufenthalt in Mursuk, um in das noch niemals von einem Europäer betretene und selbst von den Arabern gemiedene Gebirgsland Tibesti einzudringen. Er hatte mit einem der einflußreichsten Edelinge der Tibbu, namens Arami, einen Reisevertrag abgeschlossen, wonach dieser ihn nach Tibesti führen und wohlbehalten nach Fesan zurückbringen sollte. Schon auf dem Hinwege erbettelte Arami, wonach seine Habgier Verlangen trug, denn er wollte noch vor Betreten des [115] Hauptortes Bardai, wo eine Art Sultan hauste, möglichst viel von dem Besitze des Reisenden an sich bringen. Nachtigals Befürchtungen wurden immer größer, als sie sich diesem entlegenen Orte näherten und als Arami es vorzog, die kleine Karawane erst bei Nacht hineinzuführen, damit sie sicher bei seiner Wohnung anlange.

Aber das Bauernvölkchen von Bardai empfing die Fremden mit brüllendem Geschrei und geschwungenen Waffen, die Männer trunken von Dattelschnaps, die Weiber mit ihren Zungen gellende Rufe ausstoßend.

In seinem vor Aramis Palmblatthütte aufgeschlagenen Zelte verbrachte der Forscher dreieinhalb schreckliche Wochen. Während dieser Zeit kämpften zwei Parteien in endlosen Beratungen um ihn. Die ortsansässigen Bauern wollten, da sie von seinem Besitze nichts erwarten durften, wenigstens das Leben des Christenhundes, die Edelinge von der Westseite des Gebirges wollten nur seine ganze Habe, und der Sultan, ein uralter gebrechlicher Mann, erboste sich über die ihm gemachten Geschenke, denn sie waren ihm zu dürftig, und er argwöhnte nicht mit Unrecht, daß die Edelinge schon vorher aus dem Fremden das meiste und beste herausgezogen hatten.

Nachtigal, von seinem italienischen Diener und seinen vier Schwarzen umgeben, mußte tagelang anhören, wie um sein Gut und Blut gestritten wurde. Er mußte hilflos zusehen, wie die Leute sein Gepäck wieder und wieder durchwühlten, um sich zu vergewissern, daß er tatsächlich kaum noch hatte, was ihre Habgier reizte. Als auch der Sultan dies getan hatte, ging er ernüchtert fort mit den Worten: "Ich habe das leere Holz gesehen und gehe nach Hause. Jener Mann hat das leere Holz gebracht, ich habe hier nichts mehr zu tun." Mit dem Worte Holz bezeichnete er verächtlich die Kisten.

Und wieder hockten ein paar Dutzend Kerle da, auf den Fersen kauernd, die dunklen Gesichter hinter blauen Schleiertüchern verborgen, in der Rechten Lanze, Speer und Wurfeisen aufrecht auf die Erde gestemmt. Sie schrien viel und laut durcheinander und spritzten zischend den Saft des grünen Tabaks [116] vor sich hin, den sie ebenso leidenschaftlich wie ihren Dattelschnaps genossen. Sehr wortreich, ungemein gewandt und äußerst scharfsinnig brachte jeder seine Ansichten, Einwände, Ansprüche vor, sich bis zu überlautem Schreien steigernd, und doch mit stets unbewegten Gesichtszügen. Hatte einer der Redner sich einmal des Wortes allein bemächtigt, dann hockte er wohl da, zeichnete mit dem Finger verschlungene Linien in den Sand und blickte starr vor sich hin, wobei aber die Worte unaufhörlich hinter seinem Schleier hervorquollen.

Und hungrig, durstig, schwankend zwischen Angst und Hoffnung, saß der Forscher in seinem Zelte und ließ sich vom obersten seiner Leute, dem alten Mohammed el Gatruni, der schon Barth und Rohlfs gedient hatte, das Würfelspiel um seinen Kopf ins Arabische übersetzen. Er mußte zusehen, wie sie paar- oder gruppenweise die Häupter zusammensteckten und unheimlich heisernd miteinander flüsterten, wobei sie bezeichnende Blicke auf ihn warfen. Mußte wahrnehmen, wie sie sich in immer noch ausschweifenden Hoffnungen ergingen und gar nicht begreifen konnten, daß ein Fremder mit so wenig Hab und Gut sich in ihr Land wagen mochte. Diese armseligen, zerlumpten, nie richtig satt werdenden Menschen gebärdeten sich, als gebührten ihnen alle Schätze Fesans, ja Tripolitaniens, nein der ganzen Türkei.

Tag und Nacht sah der Reisende sich an sein Zelt gefesselt, unter dessen dünnem Leinendache die Hitze eine grauenerregende Höhe erreichte und die Fliegen ihn zu Tode peinigten. Zweimal hatte er es gewagt, sich ein paar Dutzend Schritte weit zu einem Palmenschatten hinauszustehlen, um in ihm erquickende Ruhe zu finden. Aber jedesmal hatten Kinder ihn aufgestöbert und sofort einen furchtbaren Steinhagel eröffnet, der ihm schmerzhafte Verletzungen beibrachte. Allmählich rückten Halbwüchsige dicht vors Zelt, spien hinein und schleuderten wohl auch eine Lanze durch die Leinwand. Es wurde immer offenkundiger, daß es darauf abgesehen war, die Fremden zu reizen, damit sie, sich zur Wehr sehend, Anlaß gaben, ihnen mit einem Anschein Rechtens den Garaus zu machen.

[117] Und Nachtigal saß in trübem Sinnen da, blickte in das palmgrüne Hochtal von Bardai hinein und auf die kahlen, malerisch geformten Felsberge Tibestis, sah eine unbekannte, nie betretene, nie erforschte Welt vor sich ausgebreitet und durfte keinen Schritt hineinwagen, bloß weil diese verblendeten Wilden an ihm nicht genug Geld verdienten. Wer jetzt noch zu ihm kam, forderte Zeug oder Piaster, um wenigstens etwas Vorteil zu erlangen, und malte ihm als Strafe seine baldige Ermordung aus. Einer bot dem Edeling Arami sogar ein Kamel an, wenn er ihm Nachtigal und den weißen Diener verkaufen würde. Und grade wie es zehn Jahre später Gerhard Rohlfs in Kufra geschah, auch diesmal gab es nur einen einzigen Menschen, der Mitleid hatte! Zweimal kam ein Mann von weither, der dem Gefangenen Wassermelonen brachte und sein Los bedauerte.

Dafür aber wurde es jetzt dem "Gastfreunde" Arami allmählich zuviel, Nachtigal und seine Leute mit Datteln zu verpflegen – etwas anderes gab es überhaupt nicht. Anfangs hatte er morgens und abends Datteln und Wasser geliefert, nunmehr brachte er solche nur noch abends, so daß die Qualen des Hungers sich ins Unerträgliche steigerten. Aber obwohl der Deutsche dem Tibbu, sooft er ihn sah, wegen heimlicher Flucht zusetzte, wollte dieser noch nichts davon wissen, da es gegen seinen Stolz ging, wenn es ihm nicht gelingen sollte, die Leute von Bardai dahin zu beeinflussen, daß sie ihn mit den Fremden am hellen Tage ziehen ließen. Endlich nach drei qualvollen Wochen begann er einzusehen, daß er den Sinn seiner Landsleute nicht ändern konnte, und willigte in die Flucht.

Eines Nachts wurden heimlich ein paar Kamele mit den Resten der Habe sowie mit Wasser und Datteln beladen, und um ein Uhr, als der Mond im letzten Viertel aufging, leise abgerückt. Die Schatten der Tiere huschten gespenstisch über die zackigen Felsen, aus deren Schlüften das schrille Kläffen der Klippschliefer drang. Mühsam schleppten sich und kletterten die des Gehens ungewohnt gewordenen Männer über Sand und Stein, über Krume und Kies. Tagsüber verbrannten und [118] dursteten sie, nachts froren sie und hielten sich gegenseitig durch Klappern der Zähne wach. Die bloßen Füße rissen über den spitzen Steinen auf und bluteten, der spärliche Vorrat an Datteln schrumpfte schnell zusammen, und an Wasser gebrach es meistens auch. Am lautesten jammerte der Piemontese, der an Plattfüßen litt.

Am Westrande des Gebirges von Tibesti gab es bei ausreichendem Wasser etliche Tage Erholung. Aber hier wollte Arami sich von ihnen trennen, und er benutzte dies als Grund, den Reisenden einer letzten und gründlichen Schröpfkur zu unterziehen. Am liebsten hätte er die ganze Habe an sich gerissen, aber einiges wurde ihm mit Mühe doch noch vorenthalten. Er prahlte, daß er die Gäste einen Monat lang fürstlich bewirtet, daß er ihnen das Leben gerettet, ja daß er ihnen zur Flucht verholfen habe. Das stimmte ja schließlich, aber Nachtigals Dankbarkeit wurde durch seine unablässige und unverschämte Bettelei und Erpresserei jetzt endgültig erstickt. Der Piemontese riet zu Gewalt, und auch Nachtigal war so voll Gift und Galle, daß er am liebsten die Gewehre hätte sprechen lassen, doch er bezwang sich, denn er hatte einen der vier Tibbu als Führer bis zum Gebirge Tümmo an der Südgrenze Fesans nötig, und er wollte späteren Forschern das Eindringen in Tibesti nicht erschweren.

Dann stand ihm noch die Überraschung bevor, daß von seinen vier Kamelen, die er auf der Hinreise an einem gewissen Orte gelassen hatte, nur eins zurückgebracht wurde, während die anderen angeblich gestorben waren. So mußte er drei neue Kamele um vierfachen Preis – gegen Schuldschein – mieten. Ja, der als Führer bis Fesan dienen sollte, ein Mann namens Kolokomi, versuchte sogar noch mit einem beladenen Kamele durchzubrennen, was Nachtigal mühsam verhinderte.

Doch auch diese Tage bedingter Ruhe gingen vorüber, Arami und seine beiden Genossen verschwanden, und Nachtigal war mit seinen Leuten und dem letzten Tibbu allein. Er atmete erleichtert auf, trotzdem immer noch zweieinhalb schwere Wochen der Wüstenwanderung vor ihm lagen. Tagsüber rastend, um [119] weniger unter Hitze und Durst zu leiden und um nicht von streifenden Tibbus gesehen zu werden, marschierten sie vorwiegend nachts, stets elf bis vierzehn Stunden, nur selten durch ausreichenden Schlummer erquickt, da der Hunger sie nicht fest schlafen ließ.

Endlich zog auch Kolokomi ab, da er sich nicht nach Fesan hineinwagte, und zeigte ihnen in der Ferne die dunkle Zackenlinie des Tümmogebirges. Mit pochendem Herzen und klopfenden Schläfen, die verbrannte Haut schmerzend und die Zunge als dicken Klumpen in der Mundhöhle, bei jedem Schritte stöhnend und fast schreiend, so schleppte der Forscher sich über Sand und Stein, durch Sonnenglut und Nachtkälte, an den Skeletten umgekommener Sklaven vorbei – immer mehr an der Rettung verzweifelnd. Ein Kamel nach dem andern fiel aus und blieb in der Wüste liegen, so daß sie auch die Wasserschläuche noch selber schleppen mußten. Nachtigal trug einen alten Pariser Sommerüberzieher über dem bloßen Leibe und die zerfetzten Reste einer Hose an den Beinen. Der Piemontese hatte sich mit seinen unförmigen hohen Wasserstiefeln und einem baumwollenen Lendenschurze bekleidet, zwei der Schwarzen wankten vollkommen nackt dahin. Man war übereingekommen, daß, wer nicht mehr weiterkonnte, liegengelassen werden sollte – es ging hier um Leben und Tod, und für Mitgefühl war kein Raum mehr.

Als sie endlich, nach dreieinhalb Wochen leidvollsten Marsches, die Oase von Tedscherri erreichten, da fielen sie über die erste beste Palme her und plünderten sie, denn es war glücklicherweise die Zeit der Dattelreife gekommen. Und dann tranken und aßen sie sich in dem Orte toll und voll, so daß keinem ein langwieriger Magen- und Darmkatarrh erspart blieb.

Dieses war die erste Expedition, die unter schwarzweißroter Flagge ins tiefste Innere Afrikas eindrang. Und ihr Führer war ein Mann, der mit ganz bescheidenen Mitteln, mit unbeirrbarer Zähigkeit und mit klügster Menschenkenntnis jede Schwierigkeit zu überwinden, jedes Hindernis zu unterlaufen verstand. Er auch ist es gewesen, der später als erster Beauf- [120] tragter des Reiches die schwarzweißrote Flagge in unseren westafrikanischen Kolonien hißte.

 
Entwicklung

Gustav Nachtigal unterscheidet sich sowohl als Mensch wie als Forscher sehr scharf von Heinrich Barth und von Gerhard Rohlfs. Er war nicht trockner Gelehrter wie Barth und nicht unbedarfter Abenteurer wie Rohlfs, er suchte auch nicht wie jener eine vorher gefaßte Idee durch Reisen zu unterbauen oder wie dieser schlechthin den Ruhm eines Afrikareisenden zu erwerben. Nein, er kam, ungeachtet aller Sehnsucht nach Innerafrika, doch rein zufällig in die Laufbahn des Entdeckers und Forschers, aber er wußte sich erstaunlich schnell darin zurechtzufinden und auf Grund einer guten Allgemeinbildung sowie kraft seiner wissenschaftlich und künstlerisch gleich stark entwickelten Begabung die allerbesten Einzel- und Gesamtschilderungen afrikanischer Verhältnisse zu schaffen, die wir überhaupt kennen.

Charakterlich wie geistesgeschichtlich liegt hier ein Sonderfall vor, wie ihn die Geschichte der Entdeckungen nicht zum zweiten Male bietet. Ein wegen seiner kranken Lungen an die Küste Nordafrikas geschickter, mittelloser Arzt, der sich eine Reihe von Jahren ärmlich durchgeschlagen hat, wird durch baren Zufall auf die Bahn des Forschungsreisenden gebracht, auf welche er sich nie vorbereitet hat, und meistert die seiner harrenden Aufgaben – die ihm aber keineswegs aufgetragen waren, sondern die er sich selber steckte – mit vollendeter Sicherheit. Er macht gute Kartenaufnahmen, er gibt eingehende Schilderungen der durchwanderten Landschaften, der angetroffenen Völker nebst ihrer Geschichte und Sprache. Und er begnügt sich nicht damit, wie Barth und Rohlfs, seine Tagebücher in lesbare Form zu bringen, o nein, er behandelt am Ende jedes Reiseabschnittes sowohl das Land wie das Volk in ausgezeichneten Monographien zusammenfassend und abschließend. Nach Beendigung der sechs Jahre währenden, fast immer nahezu mittellos zurückgelegten Reise durch Sahara und Sudan arbeitet er sich erst in den ganzen Aufgabenkreis der [121] Geographie und ihrer Hilfswissenschaften ein, ehe er sein Werk zu schreiben beginnt. Und es ist freilich das beste Werk wissenschaftlichen Afrikaschrifttums geworden, sachlich getreu und künstlerisch eindringlich – ein Genuß für jeden, der die Schwierigkeiten des Schaffens aus dem Nichts heraus zu werten und die Schönheit einer großartigen Komposition zu würdigen versteht.

Gustav Nachtigal wurde am 23. Februar 1834 in dem altmärkischen Kirchdorfe Eichstedt im felderreichen Flachtale der Uchte nördlich von Stendal unterm hohen Strohdache geboren. Er war das zweite von vier Kindern des dortigen Pfarrers. Der Vater starb schon 1839 im Alter von nur vierunddreißig Jahren an Tuberkulose – auch zwei der drei Söhne starben früh daran – allworauf die Mutter mit ihren Kindern nach Stendal übersiedelte, wo sie in bescheidenen Verhältnissen lebte.

Gustav war als Kind schwächlich und schüchtern, gradezu ängstlich; irgendeine Begabung trat anfangs nicht hervor. Wußte er mit seinem Aufsatze nicht voranzukommen, so eilte er zur Mutter, die als klug geschildert wird, und sagte zu ihr: "Mutter, gib mir Gedanken" – eine Ausdrucksweise, die für ein Kind durchaus ungewöhnlich ist.

Erst vom fünfzehnten Jahre an entwickelte der Gymnasiast sich körperlich und geistig besser, wurde ein bildhübscher Junge mit dunkelblondem Lockenkopfe und sprühenden Augen, den jeder gern hatte und der sich jetzt auch in der Schule hervortat. Vom erdkundlichen Unterricht blieb ihm später eine große Wandkarte Afrikas in Erinnerung, aus deren gewaltiger Leere ihn der unförmige Tschadsee geheimnisvoll anblickte, und der Knabe träumte sich dorthin und begehrte jenen See einmal mit eigenen Augen zu schauen. Oder er wünschte sich, später Leibarzt des Beïs von Tunis zu werden. Beides sollte tatsächlich in Erfüllung gehen.

Mit sechzehn Jahren machte der Knabe seine erste Reise, und zwar nach Köln, wo ihm ein Bruder des Vaters lebte. Dieser gewann ihn schnell lieb und wandte ihm von da an seine Aufmerksamkeit zu, finanzierte später auch seine Übersiedlung nach Afrika. Im Alter von achtzehn Jahren kam die erste ernst- [122] hafte Liebe über den jungen Mann; das Mädchen starb aber bald, und Nachtigal verwand den Schmerz darüber nur schwer.

Es ist uns wenig Nachricht über seine Jugendjahre erhalten geblieben, da ja der Vater schon in Nachtigals fünftem, die Mutter in seinem zweiunddreißigsten Jahre starb, als er noch völlig unbekannt war; beide Eltern haben ebensowenig wie der Sohn selber Aufzeichnungen über sein Leben hinterlassen.

Nach der Abschlußprüfung ging Nachtigal im Herbst 1852 auf Universitäten, um Medizin zu studieren, wozu er die für damals sehr lange Zeit von zehn Semestern benötigte. Denn er war ein flotter Student, ja er trieb es in den ersten Semestern reichlich wild, ergab sich mehr dem Kneipen und Ulkmachen als dem Kollegbesuche und wütete, wie sich später herausstellen sollte, auf seine Gesundheit los. In Ansehung des sehr mageren Geldbeutels der Mutter bezog er zuerst das Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin, die sogenannte Pepinière, allwo junge Mediziner zu Militärärzten ausgebildet wurden. Der kasernenmäßige Zwang gefiel dem Studenten so wenig, daß er seiner Mutter anlag, ihn als freien Studenten studieren zu lassen. Besorgt gewährte sie ihm seinen Wunsch und ließ ihn nach Halle ziehen, von wo er später nach Würzburg und zuletzt nach Greifswald ging. In Halle sofort bei den Palaiomarchen oder Altmärkern aktiv geworden, lernte er das richtige Couleurleben in wünschbarstem Ausmaße kennen. Bergschänke und Rabeninsel, Giebichenstein und Döhlau streifte er in Mütze und Band ab und machte feucht-fröhliche Bootsfahrten auf der Saale. Seine Hauptstärke waren die Bierreden, die er in vorgerückter Stunde vom Stapel ließ und in denen er sich, angefeuert vom Beifall der Zuhörer, von einem Witz zum andern steigerte. Mit Vorliebe trat er dabei als Abgesandter eines Negerstammes auf, dem er, gleichzeitig Europäer, etwa eine Forderung des Korps Palaiomarchia überbrachte. Es soll überwältigend gewesen sein, und – allen unbewußt – Afrika spukte doch immer in seinem Kopfe herum.

Als das ältere Semester, der inaktive Korpsbursch Nachtigal, [123] in Greifswald erschien, da kam leider an den Tag, daß es mit seiner Wissenschaft recht schlecht bestellt war. Dem jungen Professor der Pathologie Niemeyer fiel der hübsche und intelligente Kopf des fremden Studenten auf, er holte ihn aus der Masse heraus und forderte ihn auf, einen Kranken zu untersuchen – es wurde sofort offenbar, daß der Mensch keine Ahnung hatte. Aber der Professor hatte nun einmal eine Vorliebe für ihn gefaßt und gab sich Mühe mit ihm, ja machte ihn, zu Nachtigals Schrecken, sogar zu seinem Assistenten. Nach einiger Zeit sagte er ihm eine glänzende Zukunft als Arzt voraus. Im Herbst 1857 promovierte Nachtigal zu Greifswald, im Wintersemester 1857/58 machte er das Staatsexamen. Der Titel der Dissertation ist uns nicht überliefert worden.

Jetzt wandte er sich nach Köln, wo er liebe Verwandte hatte, und trat beim Infanterieregiment 30 ein, um Militärarzt zu werden. Im Jahre 1859 wurde er zum Assistenzarzt befördert und dem ebenfalls dort stehenden Infanterieregiment 32 zugeteilt. In dieser Stellung verblieb er bis Ende August 1861 und schied dann aus dem Militärdienste aus, da eine vielleicht durch das wilde Studentenleben ausgelöste Lungentuberkulose ihm die Ausübung des Dienstes unmöglich machte. Die Krankheit verschlimmerte sich mit Blutstürzen bald so sehr, daß er sich nach Untersuchung durch seinen Lehrer Professor Niemeyer veranlaßt sah, ein wärmeres Klima aufzusuchen. Sein Oheim gab ihm die Mittel dazu. —

In trübster Stimmung kam Nachtigal, jetzt achtundzwanzig Jahre alt, im Oktober 1862 nach der kleinen Küstenstadt Bona in Algerien. Er glaubte, daß sein Aufenthalt in Afrika ein halbes Jahr dauern würde – es wurden aber dreizehn Jahre daraus. Die Sorge um seinen bedenklichen Gesundheitszustand quälte ihn ebenso wie der Gedanke an seine völlig ungewisse Zukunft; dazu kam, daß er sich daheim mit einer aus Rußland stammenden Dame verlobt hatte, die ihm jetzt mitteilte, daß sie die Verlobung von sich aus auflöse. So wollte es mit seiner Genesung nicht vorwärtsgehen. Doch war es ihm unmöglich, das Leben eines Nichtstuers zu führen, vielmehr [124] beschäftigte er sich ein wenig mit der französischen und arabischen Sprache, sammelte Meerestiere, las Bücher über Nordafrika und suchte in das Wesen der fremden orientalischen Welt einzudringen.

Als sich seine Genesung immer mehr hinauszog, gedachte er, um seinem Oheim nicht länger auf der Tasche liegen zu müssen, die ärztliche Praxis auszuüben, doch erkannte er sehr bald, daß er damit in Bona nicht weiterkommen werde. Deshalb entschloß er sich auf den Rat eines englischen Judenmissionars hin, im Juni 1863 nach Tunis überzusiedeln.

In Tunis hat Gustav Nachtigal vom Juni 1863 bis zum Dezember 1869 gelebt. Es war ein jämmerliches Leben, denn die Praxis, die er sofort auszuüben begann, hat ihm immer nur wenig oder gar nichts eingebracht. Namentlich der Anfang war schwierig, mußte er sich doch, des Arabischen noch nicht mächtig, einen Dragoman halten und den Armen, die nichts zahlten, noch die Arzneimittel dazu schenken. Aber trotz der unangenehmen Winterkälte und der Luftfeuchtigkeit des Küstenklimas besserte sich sein eigener Gesundheitszustand jetzt zusehends, auch lernte er Italienisch und Englisch und vervollkommnete sich im Arabischen. Vor allem aber legte er in diesen sechs Jahren den Grund zu seiner vollendeten Kenntnis des orientalischen Lebens und bildete sich zu einem hervorragenden Kenner der arabischen Volksseele aus. Ohne eine solche würde er die großen Schwierigkeiten, die seiner auf der späteren Reise harrten, sicherlich nicht überwunden haben.

Trotz manchem, was er an dem Leben in Tunis auszusetzen hatte, verhielt er sich aber gegenüber dem oft geäußerten Wunsche der Mutter, in die Heimat zurückzukehren und dort sich als Landarzt niederzulassen, durchaus ablehnend, denn er fühlte das Zeug zu weit Besserem in sich und erwartete in unklarem Ahnen von Afrika irgend etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches und Großes, das zuletzt doch einmal kommen konnte und kommen mußte.

Im August 1864 trat eine Veränderung seiner Verhältnisse ein. Damals war eine Empörung gegen die Mißwirt- [125] schaft des Beïs ausgebrochen, und Nachtigal schloß sich dessen Truppen als freiwilliger Militärarzt an. Als solcher, natürlich ganz schlecht bezahlt, hat er fast ein ganzes Jahr lang das Lagerleben eines kleinen orientalischen Heeres mitgemacht, das im Lande umherzog, um die Aufständischen einzuschüchtern und vor allem Steuern einzutreiben. Wenn er nicht Verwundete oder Kranke zu behandeln hatte, ritt er ein wenig aus oder lag in seinem Zelte, von Hitze oder Kälte, von Fliegen oder Langeweile gequält – eine gute Vorübung für ähnliche unendlich lange Monate auf seiner späteren Forschungsreise.

Nach Tunis heimgekehrt, wurde Nachtigal vom Beï empfangen und mit der Offiziersklasse des Nischam Iftichar ausgezeichnet. Der allmächtige Wesir ernannte ihn zum Marinearzt, freilich ohne Gehalt, und zog ihn in seine nähere Umgebung. Diese Ehre war nicht ohne Dornen, denn sie bedeutete endloses ödes Herumhocken in den Vorzimmern. Erst als ihm die Heilung eines Sohnes des Wesirs von schwerer Krankheit gelungen war, erhob der Wesir ihn zu seinem Hausarzte, womit sich Nachtigals Privatpraxis hob, besonders im Gefolge einer schweren Choleraepidemie, die über Tunisien hinwegzog. Der Beï beförderte ihn nunmehr sogar zu seinem Leibarzte – aber natürlich wieder ohne Gehalt.

Doch das Heimweh nach Deutschland quälte ihn jetzt immer stärker, besonders auf die Nachricht vom Tode der Mutter hin. Endlich gelang es ihm im Jahre 1868, wenigstens vorübergehend nach Deutschland zu kommen. Der Beï von Tunis schickte nämlich eine Gesandtschaft an europäische Höfe, um eine Anleihe für sein zerrüttetes Land zu erlangen, und Nachtigal wurde der Gesandtschaft als Dolmetscher beigegeben. Er sah sich in der Heimat um, ob er sich dort in der Augenheilkunde vervollkommnen und dann als Augenarzt niederlassen könne. Es war ihm klargeworden, daß er in Tunis niemals auf einen grünen Zweig gelangen werde.

Nach Tunis zurückgekehrt, gab ihm ein Hungertyphus, der hier inzwischen sein Wüten begonnen hatte, viel Arbeit, so daß er nicht so schnell, wie er gehofft hatte, nach Deutschland über- [126] siedeln konnte. Aber er war dazu fest entschlossen. Den erkrankten Wesir in dessen Landhause zu Karthago behandelnd, saß er auf den Trümmern der alten punischen Stadt, blickte auf ihre beiden Hafenbecken und zerquälte sich danach, mehr zu leisten "als der große ärztliche Haufe".

Er ahnte nicht, daß die ganz große Gelegenheit schon vor der Tür stand. Die Krankheit des Wesirs, soviel sie ihn langweilen mochte, wurde tatsächlich der Anlaß, daß er nicht so früh nach Deutschland abreiste, um nicht dem außerordentlichen Zufall und Glücksfall seines Lebens aus dem Wege zu gehen.

Während er sich darauf vorbereitete, Tunis endgültig zu verlassen, traf im Dezember 1868, auf der Fahrt nach Tripolis begriffen, der Afrikareisende Gerhard Rohlfs in Tunis ein. Er hatte Auftrag, zur Überbringung der vom Könige von Preußen dem Sultan von Bornu zugedachten Geschenke einen geeigneten Mann, und sei dieser ein verläßlicher Eingeborener, ausfindig zu machen. Rohlfs hat Tunis Anfang Dezember 1868 berührt, ist aber nur eine Nacht geblieben und hat Nachtigal dort nicht kennengelernt. Dagegen machte er im Gasthofe die Bekanntschaft des Orientreisenden Heinrich von Maltzan und erzählte ihm von seiner Aufgabe, einen Mann zu suchen. Erst kurz danach erinnerte sich Maltzan, im Vorzimmer des Beïs einen deutschen Arzt Dr. Nachtigal kennengelernt zu haben, sprach mit ihm und schrieb nach Tripolis, wo Rohlfs inzwischen angekommen war, daß Nachtigal geneigt sei, die Geschenke nach Bornu zu bringen. Rohlfs holte sofort auf dem Drahtwege die notwendige Genehmigung der preußischen Regierung ein und forderte dann Nachtigal zu schleuniger Abreise auf. Dieser fuhr kurz vor Altjahr 1868 aus Tunis ab und langte Anfang Januar 1869 in Tripolis an. Dies ist, entgegen den üblichen biographischen Angaben, der wirkliche Verlauf der Angelegenheit, wie ihn Rohlfs selber in seinem Buche Von Tripolis nach Alexandrien (S. 80) schildert. So ist tatsächlich Maltzan, nicht aber Rohlfs der Entdecker Nachtigals! Dieser selber stellt die Angelegenheit nur sehr beiläufig und unklar dar.

[127]
Sahara und Sudan (1869–1875)

Gustav Nachtigal war knapp fünfunddreißig Jahre alt, als er seine große Forschungsreise antrat, die einzige seines Lebens, die dafür aber fast sechs Jahre dauerte. Er hatte schon mehr als sechs Jahre Morgenland hinter sich, sprach gut Arabisch und verstand sich auf die Lebensgewohnheiten und Anschauungen der Araber. Er war durch Krankheit geläutert, durch schwierigsten Daseinskampf unter ungünstigen Verhältnissen gehärtet, und dazu beseelte ihn die sichere Erwartung, zu Größerem berufen zu sein und nunmehr endlich die eigentliche Linie seines Lebens gefunden zu haben. Er hatte Geduld gelernt und die schwierige Gabe erlernt, nichts zu überstürzen, sondern den richtigen Augenblick abzuwarten, zu erkennen und dann voll Energie zu benutzen, um das Ziel mit unerschütterlicher Zähigkeit zu verfolgen. Die tunisische Leidenszeit hatte ihm Selbstbeherrschung verliehen und ihm dazu Vertrauen in die eigene Kraft geschenkt, ohne daß er auch nur im geringsten dieserhalb seine Bescheidenheit gegen Übermut aufgegeben hätte. Seine Lungen waren vollkommen gesund, aber er sah älter aus, als seine Jahre erwarten ließen, und die ersten grauen Haare drängten sich schon hervor.

Und doch fühlte er sich für den Beruf eines Forschungsreisenden, was das Wissenschaftliche anlangt, gar nicht vorbereitet. Es war ihm klar, daß er keine einzige Naturwissenschaft ausreichend beherrschte und von Geologie überhaupt nichts wußte; selbst von der Kunst großer Überlandreisen mit Kamelen verstand er nichts. Zeit zu irgendwelcher geistigen Vorbereitung blieb auch nicht, und die Ausrüstung mit Beobachtungsinstrumenten, in deren Gebrauche Rohlfs ihn schnell unterrichtet haben mag, war sehr bescheiden.

Aber man darf eines nicht übersehen: die ihm gestellte Aufgabe war durchaus keine wissenschaftliche, sondern bestand nur in der Überbringung der preußischen Geschenke nach Bornu! Wenn Nachtigal sich mit dieser rein karawanentechnischen Aufgabe, die auch der alte Fesani Mohammed el Gatruni hätte erledigen können, nicht begnügt hat, so ist das allein sein per- [128] sönliches Verdienst, und wenn er trotz bitterster Geldnot die größten Entdeckungen machte, so ging das weit über seine Pflichten hinaus und muß als das höchstpersönliche Geschenk seines nordischen Leistungswillens an die Kulturwelt gewertet werden.

Tripolis war in jenem Januar 1869 äußerst fesselnd durch die Anwesenheit des berühmten Afrikareisenden Gerhard Rohlfs, des angehenden Afrikareisenden Gustav Nachtigal, der ebenfalls berühmten holländischen Afrikareisenden Alexandrine Tinne und des ihr vom Gymnasium zugelaufenen Knaben Adolf Krause, der später Ruf als Erforscher der Sudansprachen erlangte und den der Schreiber dieser Zeilen vierzig Jahre später in Tripolis als älteren, einsamen Mann gesehen hat. Kurz nach der Abreise dieser Deutschen kam auch Heinrich von Maltzan nach Tripolis, um sich dort etliche Monate aufzuhalten. Keiner der Beteiligten hat die Abende in einem Landhause am Rande der Oase von Tripolis jemals vergessen.

Nachtigals Reise begann in Tripolis am 18. Februar 1869 und endete am 10. August 1874 zu El Obeïd im Lande Kordofan, wo schon ägyptische Behörde war. Von hier an hat Nachtigal nicht mehr beobachtet, sondern ist über Chartum und Dongola durch erforschtes Gebiet nach Kairo gereist.

Die Reise zerfällt in folgende Abschnitte: Karawanenreise auf bekannter Straße von Tripolis nach Mursuk im Februar und März 1869; anschließend mehr als zweimonatiger Aufenthalt in Mursuk. Sodann vom 6. Juni bis 7. Oktober die gefährliche Expedition in das noch völlig unbekannte Gebirgsland Tibesti. Hierauf nochmals langer Aufenthalt in Mursuk bis Ende April 1870, um eine günstige Gelegenheit zur Weiterreise abzuwarten. Endlich Karawanenreise von Mursuk nach Kuka vom 18. April bis zum 5. Juli 1870, wieder auf schon mehrfach begangener Straße; vgl. Karte S. 55.

Gustav Nachtigal - Karte
[55]            [Vergrößern]

In Kuka überreichte Nachtigal dem Sultan Omar von Bornu die Geschenke des Königs von Preußen und verweilte am Orte dreiviertel Jahre lang, bis zum 18. März 1871. Sodann unternahm er in Begleitung des räuberischen Beduinenstammes der Aulad Solimahn eine abenteuerliche Reise [129] durch die nordöstlich des Tschad gelegenen Räume Kanem, Manga, Egeï und Bodele bis nach Borku, von denen die letzten vier noch nie von Europäern waren betreten worden; diese Expedition beanspruchte die lange Zeit vom 19. März 1871 bis zum 9. Januar 1872. Nach ausreichender Erholung in Kuka wanderte Nachtigal am 22. Februar 1872 nach dem Lande Barhirmi und gelangte hier im Schariflußnetze wesentlich weiter südostwärts als sein Vorgänger Heinrich Barth; ungefähr am 5. September war er wieder in Kuka.

Nachdem er hier auch den Winter 1872/73 verbracht hatte, nahm er am 1. März 1873 endgültig Abschied und trat seine große Wanderung gen Osten zum Nil an. Dieser Weg führte durch Wadai und Darfor nach Kordofan und nach Chartum; er dauerte bis El Obeïd, wo Nachtigal am 10. August 1874 anlangte, anderthalb Jahre, und erschloß die Übergangsgebiete vom mittleren zum östlichen Sudan der Kenntnis des Abendlandes. Zwar war schon Eduard Vogel 1856 bis Wadai gelangt, aber er war dort ermordet worden und hatte keine Berichte über Land und Leute in die Heimat senden können.

Die Ergebnisse der Reise waren ganz außerordentlich. Es war das erstemal, daß ein Europäer in dem Gebiete zwischen dem Nordrande der Libyschen Wüste und dem Sambesi, d. h. in einem Raume von vierzig Breitengraden, eine Querverbindung von West nach Ost legte und dadurch die schon leidlich bekannten Teile des mittleren Sudans mit den recht gut bekannten des östlichen Sudans verknüpfte. Hiermit war der ganze Raum zwischen dem Tschad und Kordofan, von dem man vorher gar nichts wußte, plötzlich in helles Licht gerückt, und sowohl Wadai wie Darfor waren forthin nicht mehr düstere Namen von grausigem Schrecken. Auch Barhirmi, mit den Flüssen Schari und Logon war fortan ein klarer geographischer Begriff. Hierzu kamen noch die beiden Expeditionen nach Tibesti und Borku, die einen beträchtlichen Teil der mittleren Sahara mit ihren Gebirgs- und Oasenländem dem Gesichtskreise öffneten, und sowohl das Dasein eines unerwartet hohen Gebirges wie die Wasserverhältnisse und Tiefenlage des [130] Tschadbeckens mit Depression Egeï-Bodele klärten. Und weit über die eigentlichen Reisewege hinaus erstreckten sich Nachtigals Erkundigungen bei Eingeborenen, die er sorgfältig prüfte und kritisch verarbeitet in Karten eintrug, so daß diese ein Bild von einer gewissen, wenngleich natürlich anfechtbaren Vollständigkeit bieten. Zum Unterschiede von Rohlfs und mehr noch als selbst bei Barth war die Vereinigung gesehener und erfragter Dinge zu richtigen oder doch wahrscheinlichen Kombinationen Nachtigals Stärke, und hierin wurzelt die verblüffende Allseitigkeit und vielseitige Abgerundetheit seiner Landesschilderungen.

Er beschränkt sich nämlich in seinem Werke nicht darauf, Weg und Verlauf der Reise zu beschreiben, sondern er hält nach Zurücklegung einer in sich abgeschlossenen Wegstrecke inne und entwirft jedesmal einen umfassenden geographischen Überblick über Natur, Bevölkerung und Geschichte des besonderen Raumes. So entstanden die umfangreichen Monographien von Fesan (80 Seiten), von Tibesti (90), von Borku (35), von Ennedi (32), von Kanem (34), vom Tschad (33), von Bornu (100), von Barhirmi (70), von Wadai (125) und von Darfor (110). Es ist erstaunlich, daß ein Mann, der ohne jede geographische Vorbereitung hinauszog, sich unterwegs und abgeschlossen von allen wissenschaftlichen Hilfsmitteln geistig so entwickeln konnte, daß er imstande war, Beobachtungen von solcher Genauigkeit zu machen und sie später zu so großartigen Gesamtbildern zu komponieren. Der gelehrteste Fachgeograph hätte das nicht viel besser machen können. Er verliert sich nie in unwesentlichen Kleinigkeiten, sondern was er nennt, das gehört irgendwie als bezeichnend in das Gesamtbild hinein, und darüber hinaus versteht er alle großen Linien zu erkennen, zusammenzufassen und zu einem gewaltigen Gemälde zusammenzufügen. In der Darstellung des Landes, der Völker, der Geschichte, der Sprachen, der Wirtschaft fehlt nichts, was damals zu wissen möglich war. Selbst den Charakter der Völker, unter denen er so lange lebte, hat er erfolgreich zu ergründen gesucht, und man muß seine psychologischen Analysen etwa der Tibbus [131] lesen, mit denen er in Tibesti zu tun hatte, wie genau er ihre Gefühlsregungen erkannte, wie er kühl abwägend ihre Beweggründe erfaßte und wie er ihre Tücken abzuwehren suchte.

So bildet sein dreibändiges Reisewerk Sahara und Sudan, Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika (Berlin 1879–1881 und Leipzig 1889. 2063 Seiten nebst Karten) wohl das bestdurchgearbeitete und anschaulichste Werk im ganzen Afrikaschrifttum und ist darüber hinaus ein Glanzstück deutscher Geographie überhaupt. Seine Schilderungen sind unvergänglich. Analytische Schärfe und synthetische Größe gehen in ihm zu einem höheren Ganzen zusammen. —

Wenn Nachtigal geglaubt hatte, daß der drückende Geldmangel, der seine Reise so sehr erschwert hatte, mit der Rückkehr in die Zivilisation zu Ende sei, so hatte er sich wenigstens anfangs bitter getäuscht. Zwar wurde er in Kairo ehrenvoll aufgenommen, aber als er, von allen Mitteln entblößt, sich an den deutschen Generalkonsul in Alexandrien um Hilfe wandte, da erhielt er die damals für alle mittellosen Deutschen übliche Antwort, für dergleichen Anliegen seien keine Mittel vorhanden. Hierauf schrieb Nachtigal an die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin, erhielt aber auch hier erstaunlicherweise keinerlei Hilfe. Damals erfuhr der Verleger L. Friederichsen in Hamburg von der Notlage des Reisenden und veranstaltete an der Börse eine Sammlung, die in kürzester Frist die ansehnliche Summe von 2600 Mark ergab. Dieses Geld half dem Forscher aus der Not und setzte ihn instand, den Winter in dem heilsamen Klima von Heluan zu verbringen und sich von allen Leiden und Mühen zu erholen.

Im April 1875 fuhr Nachtigal von Ägypten durch Italien nach der Heimat. Anfangs war er viel unterwegs, um durch Vorträge Geld zu verdienen, stand er doch mit seinen einundvierzig Jahren vor dem Nichts. Es kamen die üblichen goldenen Medaillen und Ehrenurkunden der geographischen Gesellschaften von Berlin, London, Paris, Rom und vielen anderen Städten. Die Heimatstadt Stendal empfing ihn mit Fahnen und Girlanden, mit Blumen und Weißgekleideten, mit Musik und [132] Bankett sowie schließlich mit einem Fackelzuge. Der Kaiser setzte ihm eine Unterstützung aus, damit er sein Reisewerk ausarbeiten konnte.

Im Dezember 1875 ließ er sich zu Berlin in einer bescheidenen Junggesellenwohnung nieder, schrieb Aufsätze und schuf ganz geruhig und gründlich, ohne sich durch zudringliche Frager beirren zu lassen, an seinem Werke.

Noch im Jahre 1875 wurde ihm der Vorsitz der "Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland" übertragen, und ihr widmete er viel Zeit und Mühe. Nachdem er 1876 in Brüssel an der Gründung der "Association internationale" teilgenommen hatte, baute er die Afrikanische Gesellschaft als deutschen Zweig jener aus und überführte auch die 1873 gegründete "Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des äquatorialen Afrikas" trotz vieler Widerstände in sie. Alle afrikanischen Expeditionen, die bis 1882 finanziert wurden, hat er eingehend und liebevoll betreut. Von solchen, die hier nicht zum Zuge gelangten oder nicht genug Geld bekommen zu haben glaubten, wurde er übrigens viel angefeindet, so daß der Ehrenposten nicht ohne Dornen war.

Im Jahre 1879 wurde Nachtigal als Nachfolger des großen Chinaforschers und Geographen Ferdinand von Richthofen zum ersten Vorsitzenden der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin gewählt, was er bis 1882 blieb. Als solcher und als Vorsitzender der Afrikanischen Gesellschaft war er damals ein Mittelpunkt geographischer Forschungen in Deutschland. Er selber hielt es für seine Pflicht, sich gründlich in den gesamten Fragenkreis der Geographie einzuarbeiten, die damals den wichtigen Schritt von der geschichtlichen Bindung zur naturwissenschaftlichen Beobachtung im Felde tat. In dieser Zeit (1879 und 1881) erschienen auch die beiden ersten Bände seines großen Werkes, der dritte blieb leider unvollendet und erschien erst mehrere Jahre nach seinem Tode.

Sein Lieblingswunsch war damals, alle deutschen geographischen Gesellschaften zu einer einzigen in Berlin sitzenden zusammenzufassen und die anderswo bestehenden nur als deren Ortsgruppen zu belassen. Wenn dieser Gedanke auch manches [133] Bestechende hat, so ist es doch nicht dazugekommen; die nach Richthofens Tode einsetzende Papstherrlichkeit seines Lehrstuhles hätte das geographische Leben in Deutschland gar zu sehr gegängelt. Nachtigal brachte damals nur ein Kompromiß zustande, indem der Deutsche Geographentag gegründet wurde. Im Jahre 1881 hat er den ersten nach Berlin eingeladen.

 
Generalkonsul und Reichskommissar

Dieses der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Organisation hingegebene Leben scheint Nachtigal auf die Dauer doch nicht befriedigt zu haben, oder vielleicht ist es ihm aus gesundheitlichen Gründen wünschenswert erschienen, in einem wärmeren Klima zu wohnen, oder schließlich wollte er einfach in eine gesicherte Lebensstellung gelangen – wir wissen es nicht. Uns ist nur bekannt, daß er sich um Verwendung im Konsulardienste bemühte und daß er, nach Überwindung vieler Widerstände, zum Generalkonsul in Tunis ernannt wurde, wohin er im April 1882 abreiste. Nach verschiedenen Angaben soll er nicht gern dorthin gegangen sein, sondern hätte Marokko vorgezogen.

Das Beïlik Tunisien hatte im vorhergehenden Jahre den Einzug französischer Truppen erlebt, und an verschiedenen Stellen tobte der Freiheitskampf gegen die Eindringlinge. Die Lage war deshalb sehr gespannt, denn auch Italien hatte ein Auge auf das Land, und hinter den Beï hatte sich die Hohe Pforte gestellt. Ob angesichts so verzwickter Verhältnisse, in denen Bismarck der französischen Besetzung gnädig zublickte, in Tunis ein deutscher Vertreter mit eingehender Kenntnis des Hofes, des Landes und der Leute anwesend sein sollte, oder weshalb Nachtigal dorthin gesandt wurde, wissen wir nicht. Es heißt, er habe sich durch Takt, Liebenswürdigkeit und Landeskenntnis allgemeine Achtung erworben, und das Auswärtige Amt habe seine Berichte allen Gesandtschaften als Muster zugesandt. Doch finden sich in dem Reiseschrifttum jener Jahre auch anderslautende Angaben. So bemerkt W. Kobelt, Nachtigal habe kein Verständnis für die Belange des deutschen Ausfuhrhan- [134] dels und der dortigen deutschen Kaufleute gehabt. Aber es wäre ja möglich, daß solche Zurückhaltung in der Linie seiner amtlichen Aufgaben gelegen hat. Mit dem Leben in Tunis fand er sich anscheinend bald ganz gut ab, doch bedauerte er, daß ihm nicht genug Zeit zur Ausarbeitung seines dritten Bandes blieb.

Im März 1885 erhielt Nachtigal als Reichskommissar für Westafrika mit weitgehenden Vollmachten den Auftrag, an einigen Stellen der afrikanischen Westküste die Errichtung deutscher Schutzgebiete durchzuführen. Es heißt, er habe diese ehrenvolle Sendung nur ungern und lediglich aus strengem Pflichtgefühl übernommen. Er scheint Besorgnis vor Tropenkrankheiten gehabt zu haben, und außerdem plagte ihn die Furcht vor andauernder Seekrankheit, die ihm erfahrungsgemäß auf das schrecklichste zusetzte und die ihn denn auch auf dem Atlant fast nie verlassen hat. Zu dem französischen Kardinal Lavigerie, mit dem Nachtigal in Tunis verkehrte, sagte er bei seinem Abschiedsbesuche mit bewegter Stimme: "Ich komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Und Ihnen zugleich meinen baldigen Tod anzuzeigen. Ich habe heute morgen mein Testament gemacht. Ich reise nach Ginea und weiß, daß ich von dort nicht mehr wiederkehre." Als der Kardinal erschüttert ihm zuredete, von der Sendung zurückzutreten, und sich erbot, bei der deutschen Regierung dieserhalb vorstellig zu werden, da lehnte Nachtigal mit den Worten ab: "Es ist meine Pflicht, und ich will keinen Versuch machen noch machen lassen, mich ihr zu entziehen."

Gustav Nachtigal, mit der am 24. Mai vom Kaiser genehmigten Vollmacht in der Tasche, trat seine letzte Reise an und begab sich in Lissabon an Bord des Kanonenbootes "Möwe". Seine Aufgabe bestand darin, an der Sklavenküste, an der Kamerunküste und an der Küste Südwestafrikas die Flagge zu hissen, wo deutsche Kaufleute um den Schutz des Reiches gegen die Nebenbuhlerschaft englischer Kaufleute und gegen eine befürchtete englische Besitzergreifung gebeten und ferner vorgeschlagen hatten, Verträge mit einheimischen Häuptlingen abzuschließen und jene Gebiete unter deutschen Schutz zu stel- [135] len. Es galt also einmal den Engländern zuvorzukommen und andermal die Häuptlinge durch geschicktes Zureden zur Anerkennung der deutschen Schutzherrschaft zu bewegen. Beides hat Nachtigal in anerkennenswerter Weise getan. Die beabsichtigte Reise wurde dem Foreign Office am 20. April 1884 angezeigt, und es wurde um die Ausstellung amtlicher englischer Empfehlungsbriefe gebeten – dies war ein Trick, um den eigentlichen Zweck von Nachtigals Reise zu verschleiern und die Engländer nicht zu einem früheren Erscheinen an den gewählten Küstenplätzen zu veranlassen.

Am 2. Juli 1884 landete er an der Togoküste und schloß hier am 5. und 6. des gleichen Monats an zwei Orten Verträge ab. Bagida hieß der Ort, wo zum erstenmal die deutsche Kriegsflagge auf afrikanischem Boden in die Höhe ging. Gegenüber englischen und französischen Ansprüchen glich er dann sehr geschickt die Erstreckung des deutschen Küstenanteils aus.

An der Kamerunküste traf Nachtigal am 11. Juli ein, schloß sofort mit drei Häuptlingen die ersten Verträge ab und ließ am 14. Juli die Flagge hissen. Am 19. Juli erschien ein englisches Kanonenboot, das den gleichen Auftrag hatte. Es mußte aber, nach Einlegung eines Protestes, abziehen. Vom 21. bis 23. Juli folgten andere Schutzverträge.

Einleitend fand jedesmal ein sehr langes Palaver statt, an dessen Schluß die Häuptlinge ihr Zeichen unter die Akte setzten. Dann ging die Flagge hoch, die Nationalhymne wurde gesungen (wobei die Neger durch Schweigen glänzten), und es wurden ein paar Gewehrsalven abgegeben.

Nachtigal liebäugelte in Kamerun sehr mit dem Gedanken, seine Amtspflichten mit seiner Forschungslust zu verbinden, und plante eine Expedition ins Innere bis zum Kongo. Leider hat seine Erkrankung, die nach einer Fahrt an die sumpfige, fieberverseuchte Küste des Nigerdeltas in Gestalt schwerer Malaria auftrat, die Ausführung verhindert, sonst hätte unser Schutzgebiet eine wesentlich größere Ausdehnung erhalten, denn das Hinterland war damals noch nicht in französischem Besitz.

Weniger schwierig als in Kamerun war Nachtigals Auf- [136] gabe in Südwestafrika, wo er im Herbst 1884 die durch Adolf Lüderitz mit eingeborenen Häuptlingen geschlossenen Kaufverträge bestätigte und die Häuptlinge, natürlich wiederum in langen Palavern, zur Unterzeichnung von Schutzverträgen veranlaßte. Den ersten Schutzvertrag schloß er in Bethanien ab.

Im Frühjahr 1885 hatte Gustav Nachtigal seine Aufgabe gelöst und trat auf seinem Marterkasten, wie er die "Möwe" nannte, die Heimreise an. Von Malaria und Seekrankheit geschüttelt, wurde er an der Obergineaküste bei schönem Wetter auf Deck unter dem Sonnensegel gebettet. Am 19. April erkannte er, daß es zu Ende ging und diktierte seinen letzten Willen. Und am 20. April 1885 frühmorgens verstarb er, seines Alters einundfünfzig Jahre, 160 Seemeilen entfernt von Kap Palmas. Auf dem Friedhofe von Kap Palmas ist er beigesetzt worden, doch wurde der Sarg 1887 nach Kamerun überführt, dessen Erwerb hauptsächlich seinem schnellen und geschickten Eingreifen zu verdanken ist. Erinnerungen an Gustav Nachtigal veröffentlichte Dorothea Berlin 1887.

 
Das Charakterbild

Gustav Nachtigal ist allen, mit denen er in Berührung trat, als ein ganz außergewöhnlicher Mensch erschienen, auffallend durch Liebenswürdigkeit ebenso wie durch geistige Begabung. Aller Herzen flogen ihm zu, Männer wie Frauen bekamen in seiner Gesellschaft hellere Augen, jene weil sie einem witzigen, diese weil sie einem artigen Gespräch entgegensahen. Er war ein Bezwinger der Gemüter, und dort, wo der Zauber seiner Persönlichkeit keinen Widerhall fand, wußte sie durch zähe Beharrlichkeit sich wenigstens zu behaupten.

Im Gegensatze zu Heinrich Barth war er kein Individualist und zum Unterschiede von Gerhard Rohlfs kein Abenteurer, er hatte nichts von der mürrischen Gewaltsamkeit des ersten und ebensowenig von der stürmischen des andern. Er war ein Mann von zartestem Gefühl, von zäher Willenskraft und von hoher Geistigkeit. Viele seiner Eigenschaften waren im Superlativ ausgebildet, aber sie alle vereinigten ihre Spitzen [137] zu einem geschlossenen Bündel von Höchstleistung, sie widersprachen einander ebensowenig wie sie einander aufhoben. Mit einem Worte, Nachtigal war eine ungemein harmonische Persönlichkeit, in der alle Gegensätze reibungslos zusammengingen. Mochte er noch so heiter sich geben, sein Grundzug blieb doch gemessener Ernst, der nach dem Ziele des Lebens ausschaute und sich durch keinen Erfolg aus seiner bescheidenen Haltung herausbringen ließ. Hiermit paarte sich eine unerschütterliche Menschengüte, die durch eine in vielen bitteren Erfahrungen gewonnene Menschenkenntnis durchaus nicht zu beirren war. Der gleiche Mann, der nichts lieber tat als sich in der Abgeschiedenheit einer Studierstube oder einer Wüstennacht philosophischem Denken und Grübeln hinzugeben, konnte ebenso freudig an bunter und lauter Geselligkeit teilnehmen und in munterer Witzlaune deren Führung an sich reißen. Dieser Mann mochte kein Tier töten und zuckte doch vor keiner Gefahr zurück; er verlangte von sich alles und sah anderen alles nach; empfindsam wie nur ein lyrischer Dichter, war er nie empfindlich wie ein launisches Weib. Innerlich frei und unabhängig, gewohnt auf sich selbst gestellt zu handeln, entzog er sich nie einer übernommenen Pflicht. Sein Charakter, in langen Jahren afrikanischer Einsamkeit und Entsagung gehärtet, war eigentlich ein großer und gewaltiger Läuterungsvorgang, in dem alles auf Ausscheidung der negativen und auf Stärkung der positiven Seiten ausging, bis eben jener harmonische Mensch fertig dastand, der als Erster des Reiches Kriegsflagge am Palmenstrande hissen durfte. –

Gustav Nachtigal
[zwischen S. 112 u. 113]      Gustav Nachtigal
Wie das biographische Material über Nachtigal überhaupt recht dürftig ist, so stehen uns leider auch nur wenige Bildnisse zur Verfügung. Die Gestalt war etwas unter Mittelgröße, hatte zarten Knochenbau und war schlank, erst in den letzten Jahren stärker beleibt. Die Hände und Füße waren klein und zierlich, der Schritt straff, die Haltung kündete von vornehmer Ruhe – sie war seine arteigne Form des Ausdruckes von Selbstbewußtsein. Er hatte eine seltsam leise Art, in ein Zimmer zu treten und dann plötzlich da zu sein.

[138] Der Kopf fesselte durch den Ausdruck hoher Intelligenz und durch bezwingenden Scharm, der ihm aller Herzen gewann. Das Gesicht zeigte feine Linien, war aber während der großen Reise und noch lange nachher hart umschnitten und nahm erst später eine weichere, gefälligere Rundung an. Die Stirn stach durch auffallende Breite und Offenheit von dem Untergesicht ab, das zudem durch einen langen Schnurrbart und eine Fliege verschattet wurde. Das Haar war stark gewellt, gradezu gelockt und wird als kastanienbraun, von einem Biographen sogar als schwarz geschildert; in Wirklichkeit scheint es ein sehr dunkles Blond gewesen zu sein. Bei der Rückkehr von der großen Reise, also im Alter von einundvierzig Jahren, war der Bart schon recht grau, das Haupthaar aber zeigte noch die ursprüngliche Lebensfarbe. Die Haut scheint nie eine frische, im germanischen Sinn gesunde Farbe gehabt zu haben, jedenfalls wird sie in seinem fünften Jahrzehnt immer als von fahlem, bräunlichem Grau geschildert, das nach der großen Reise dunkelbraun aussah. Sie war anfangs von Furchen und Fältchen wie zerknittert, glättete sich aber etliche Jahre nach der Heimkehr wieder. Die Augen waren nach Ausweis der Photographien hell und nach Angabe der Dorothea Berlin blau (jener eine Biograph nennt auch sie unverständlicherweise schwarz). Sie hatten einen freundlichen, verstehenden Blick und etwas Strahlendes, das alle Menschen wie in einen Mantel der Güte einhüllte und gleichzeitig geistigen Ausgriff in die Weite ankündigte. Sie konnten aber auch undurchdringlich blicken und dann der Härte des Stahls gleichen.

Die rassische Analyse ist nicht leicht. Die fahle Haut und die Tatsache, daß sich auf einem am Ende der großen Reise aufgenommenen Bilde breite Jochbogen abzuzeichnen scheinen, könnten auf einen Tropfen ostbaltischen Blutes hindeuten, falls nicht einfach der abgemagerte Zustand des Reisenden für die Jochbögen verantwortlich zu machen ist; die Herkunft aus der Altmark würde an sich nicht gegen ostbaltische Beimischung sprechen. Fälisches Bluterbe ist körperlich nicht wahrzunehmen, seelisch aber könnte es sich in der unzerstörbaren Ruhe, in [139] der zähen Beharrlichkeit und in der ganzen Ausgeglichenheit Nachtigals anzeigen. Die gleichmäßige Dreiteilung des Gesichtes, in dem das Nasendrittel ungefähr ebenso hoch wie das Stirn- und Munddrittel ist, die grade, feingebildete Nase, das ziemlich schmale Antlitz, die ebenmäßige Gestalt, der ganze Drang in die Weite und die Lebhaftigkeit seiner geistigen Reaktionsfähigkeit – dies alles will uns vorwiegend nordrassisch erscheinen.

Im tiefsten Untergrunde von Nachtigals Wesen lag etwas Weltschmerzliches, dem der große Jammer aller Kreatur und das letzthin Nutzlose des menschlichen Daseins gegenwärtig ist. Auch mit seiner Leistung war er nie zufrieden, in Berlin fand er sich in zu verschiedene Arbeiten zersplittert, in Tunis durch Amtspflichten von der Vollendung seines Werkes abgehalten, der westafrikanischen Sendung ging er voll Mißtrauen entgegen. Die Lustigkeit seines Wesens war nur das Gegengewicht gegen seinen Hang, die Dinge schwer zu nehmen, sie bedurfte auch eines Gegenübers, um sich zu entzünden.

Aus dieser seiner Grundstimmung heraus umfing er alles mit einer großen Liebe. Diese begann bei den Tieren. Wo auch in Afrika er einige Zeit weilte, schaffte er sich alle möglichen Tiere an und lebte mit ihnen als seinen Freunden. Nie ging er auf die Jagd, und selbst als er von Hunger gefoltert einmal auf einen Affen anlegte, brachte er es nicht fertig abzudrücken, da der Blick des Tieres ihm ans Herz griff. Ebenfalls liebevoll stand er den Kindern gegenüber, und es tat ihm besonders weh, als er wahrnehmen mußte, daß in Bardai grade ein kleines Mädchen es war, das die anderen Kinder auf ihn hetzte und den ersten Stein gegen ihn aufhob. Seine Mutter liebte er abgöttisch, er vergaß ihr nie, daß sie sich, um ihn außerhalb der Pepinière studieren zu lassen, die größten Entbehrungen auferlegt hatte, und er hat es wohl nie ganz verwunden, daß er sie schon nach seiner ersten Rückkehr aus dem Orient nicht mehr unter den Lebenden traf. Aber auch allen anderen Menschen trat er aus starker Gefühlswärme mit großer Herzensgüte entgegen, ja es fiel ihm stets schwer, Nein zu sagen, lieber [140] nahm er Ungemach und Zeitverlust auf sich, als daß er anderen eine Enttäuschung bereitete. Im Verhältnisse zu seinem Volke offenbarte sich seine Menschenliebe als ausgeprägtes Nationalgefühl. Er empfand 1872 in Kuka, als er von dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges vernahm, auf das tiefste, daß er nicht hatte dabei sein und seine Pflicht tun können. Und als Bismarck ihn als Reichskommissar nach Westafrika sandte, da gab es, trotzdem sein Gefühl dagegen sprach und dunkle Todesahnungen ihn befielen, keinen Augenblick des Schwankens. Die Gründung unserer drei westafrikanischen Kolonien hat er mit seinem frühen Tode bezahlt.

Sein ausgeprägtes Pflichtgefühl überwand stets seine zufällige Wunschstimmung und seine friedfertige Veranlagung, die ihn abgeneigt gegen Gewaltanwendung und Waffengebrauch machte. Als er 1868 während der tunisischen Gesandtschaftsreise durch Europa von seinen Freunden in der Heimat bestürmt wurde, er solle gleich jetzt in Deutschland bleiben und den undankbaren Dienst in Tunis aufgeben, um so mehr als ein schrecklicher Hungertyphus dortzulande wüte, da erklärte er, daß es seine Pflicht sei, erst einmal nach Tunisien zurückzukehren. Sein ausgeprägtes Empfinden für Treue erlaubte ihm nie, eine Person oder eine Sache zu verraten und sich etwas anderem zuzuwenden. Die Schuldanerkenntnisse, welche die Tibbus in Tibesti von ihm erpreßt hatten, hat er später in Mursuk bezahlt, trotzdem sie nach europäischem Rechtsgefühl kaum Gültigkeit beanspruchen konnten. Seinen Freunden bewahrte er stets große Anhänglichkeit und besuchte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Selbst in der ausgelassensten Weinlaune wurden ihm Witz und Ironie nicht zu Waffen, die verletzen konnten. Dazu war seine Gesinnung zu nobel und sein Gefühl für Recht und Billigkeit zu tief eingewurzelt. Obwohl er sehr gut wußte, daß Eigennutz, Niedertracht und Intrige zu Erfolg führen können, war er fest überzeugt, daß dies nur Augenblickserfolg sei und daß auf die Dauer einzig die Rechtlichkeit den Sieg behält – eine schöne, aber leider nicht ganz zutreffende Ansicht. Inmitten des Volkes von Tunis, das, wie die meisten [141] Orientalen, nur an Geld und Überlistung denkt, bewahrte er sich seine anständige Gesinnung; er hatte deshalb keine Feinde, kam wirtschaftlich aber auch nicht vorwärts, besonders da er von den ärmeren Patienten kein Geld verlangen mochte. Ein reicher Levantiner sagte ihm: "Mein lieber Herr, Sie sind nicht für dieses Land und seine Menschen gemacht, Sie verstehen nicht zu raffen und zu intrigieren." Verstandesmäßig begriff er dies alles sehr gut, aber seine Rechtlichkeit ließ ihn nicht mitmachen; er schrieb damals: "Wer nichts aus sich macht, aus dem macht die Welt nichts." Er war ein lauterer und reiner Mensch, konnte nicht lügen und nicht trügen, blieb selbstlos und bescheiden, wohin er auch kam und wie groß auch seine Erfolge werden mochten. Die jeweilige Umgebung wirkte in keiner Weise verändernd auf seine innere Grundhaltung, sie entzündete höchstens seinen Witz; er blieb stets er selber, immer sich selber treu, spielte nie eine Rolle, gefiel sich nie in Absonderlichkeiten, die ihn hätten "interessant" machen, also in falschem Lichte erscheinen lassen können. Die innere Echtheit und Wahrhaftigkeit seines Wesens läßt sich auch in seinen Briefen und Schriften nachprüfen. Bei einer Schilderung seines Lebens im tunisischen Heerlager verschweigt er keineswegs, daß von zehn Verwundeten, die er behandelte, fünf starben; "die übrigen genasen, ohne daß ich behaupten möchte, es sei dies durch meine Hilfe geschehen." Und wieviel Gelegenheit zur Großtuerei hätte ihm die sechsjährige Reise durch Sahara und Sudan geboten! Aber er erscheint dort nie als waffenklirrender Held, sondern nur als zäher Dulder, der durch Langmut und Beharrlichkeit alle Anfechtungen überwindet.

Bei so ausgeprägter Entwicklung seiner Gefühligkeit kann es nicht wundernehmen, daß Nachtigals Empfindsamkeit ebenso tief wie zart ausgebildet war. Er war nicht nur feinfühlig und taktvoll im Verkehr, sondern besaß in hohem Maße die Gabe, sich in die Mentalität anderer Menschen hineinzuversetzen. Ohne auch nur das geringste von seiner Eigenart aufzugeben, vermochte er ihr Fühlen und Denken mitzuerleben und ihre Handlungsweise vorauszuerkennen. Indem er auf andere ein- [142] zugehen wußte, wirkte er auf sie als vollendet liebenswürdig. Und indem er die Gedanken fremder Volksangehöriger mitlas, verstand er solche richtig zu behandeln. Diese Gabe ließ ihn manche Gefahren vermeiden, in die z. B. ein Rohlfs hineintappte, und machte ihn geschickt zu diplomatischen Sendungen, denen mancher Berufsdiplomat nicht gewachsen war. Die Engländer und Franzosen hatten 1884/85 in ganz Westafrika keinen Mann, der dem deutschen Reichskommissar Nachtigal gewachsen war. Vergleicht man ihn mit Rohlfs, so muß die Vermutung ausgesprochen werden, daß Nachtigal in Kufra und auch in Sansibar wahrscheinlich nicht gescheitert wäre.

In die Reihe dieser Gaben gehört auch seine eigenartige Fähigkeit, kommende Ereignisse vorauszuahnen. Denn es ist doch sonderbar, daß er sich als Gymnasiast grade nach dem Tschad und in die Stellung eines Leibarztes des Beïs von Tunis sehnte. Und während er seine große innerafrikanische Reise gutes Mutes antrat, wollten vor und während der Sendung nach Westafrika die Todesahnungen den erst Fünfzigjährigen nicht verlassen. In einem Briefe schrieb er aus Tunis: "Es ist mir, als ginge ich meiner Verurteilung entgegen." Beide Male täuschte er sich nicht.

Seinem Lebensernst und seiner Güte tritt als zweite Gruppe seiner Gefühligkeit seine Lebenskraft gegenüber. Sie wurzelt in einem ausgeprägten Verlangen nach Freiheit und Ungebundenheit. Die militärische Zucht auf der Pepinière gefiel ihm nicht, und er sehnte sich nach einem fessellosen Studentenleben, trotzdem die schmalen Einkünfte der Mutter sehr dagegen sprachen. Und dann ging ein tolles Leben los, das seiner Gesundheit schweren Schaden tat und ihn in manche Klemme brachte. Er sprudelte von Übermut und kneipte mit Hingebung. Diese jugendliche Frische ist ihm bis in die letzten Jahre hinein geblieben, sie strahlte noch in Kamerun öfter aus seinen Augen, sprach aus seiner frisch klingenden Stimme und umwehte den ganzen flott aussehenden Lockenkopf. Bei allem tiefen Ernst war nichts Grämliches noch Sauertöpfisches an diesem ewigen Jüngling. Die Elastizität seiner Natur war so [143] stark, daß er sich in jeder Lage wieder zurechtfand, sich stets erneut aufraffte und aus der Nacht zum Tage emporstieg. Er war unverwüstlich. Auf der Flucht von Tibesti, als sie sich fast nackt, ohne Habe und Nahrung durch den Wüstensand schleppten, vom Tode des Verschmachtens umdroht, brachte er es fertig, beim Anblick seiner abgerissenen Leute und seiner selber belustigt aufzulachen. Dies lag nicht nur an seinem Humor, sondern auch an seiner Phantasie und an seinem Ahnungsvermögen. Letzteres ließ ihn den guten Ausgang vorausfühlen, erstere zeigte ihm das kümmerliche Häufchen Mensch in dem großen Zusammenhange der weiten Wüste und ihrer Überwindung. Seine Phantasie war grenzenlos und setzte sich über alle Schranken des Verstandes hinweg; dies erwies sich schon früh in den ausgelassenen Bierreden des Studenten und später in den großen Kompositionen der in sein Reisewerk eingeschalteten geographischen Monographien.

Die beiden hervorstechenden Züge Güte und Lebenskraft flossen unserm Gustav Nachtigal zu einer wundervollen Ausgeglichenheit zusammen. Er wirkte stets einheitlich und geschlossen, von vornehmer Ruhe und vollendetem Gleichmaß. Hatte noch in dem Knaben das Temperament sich durch jähe Ausbrüche kundgetan, und hatte noch der Student, von Bier und Beifall angefeuert, die tollsten Reden losgelassen, so hatte sich während der algerischen und tunisischen Dornenjahre eine starke innere Umsetzung vollzogen, aus der ein ruhiger aber zäher, ein bescheidener aber selbstsicherer Mann geworden war, der genau wußte, was er wollte und was er konnte. Es war dann schon ein sehr starker äußerer Reiz notwendig, um ihn aus seiner Gelassenheit herauszulocken.

Diese überlegene Haltung dem Leben gegenüber hatte seine Veranlagung für Witz und seinen Sinn für komische Lagen zu einem reifen und gesättigten Humor geläutert. Als junger Student hatte er auf einer mit Kommilitonen unternommenen Omnibusfahrt das Pferd eines nebenher fahrenden Wagens geneckt. Als dessen Kutscher sich bei einem Schutzmanne beklagte und dieser den Studenten nach seiner Ausweiskarte [144] fragte, hielt Nachtigal hoch vom Omnibus herab eine schwungvolle Rede an das versammelte Volk: "Was, Sie kennen mich nicht? Ich bin Zögling des Kgl. Friedrich-Wilhelm-Institutes, meine Schwester ist die Frau Pastor Prietze in Uechtenhagen, bäckt die berühmtesten Zwetschenkuchen der Welt usw. usw." Der Heiterkeitserfolg bei den Zuhörern veranlaßte den Schutzmann, es mit einer lächelnden Ermahnung bewenden zu lassen. Dies hätte Nachtigal später natürlich nicht mehr gemacht, aber sein Humor verließ ihn selbst in den gefährlichsten Lagen nicht, stets blieb er über der Situation und wußte sie in einen größeren Zusammenhang empor- und damit, wenigstens für sein eigenes Gefühl, aufzuheben. Voll Humor ertrug er auch die ihm später widerfahrenden Ehrungen. So schrieb er nach dem fabelhaften Empfang, den ihm seine Vaterstadt Stendal bereitet hatte, dieser habe ihm den Beweis geliefert, daß es bisweilen schwerer sei, aus Afrika zurückgekehrt zu sein, als daselbst zu reisen. Seine launige Auffassung der Menschen und Dinge machte auch vor der eigenen Person nicht halt; im Gegenteil erfreute er sich einer starken Selbstironie, die immer ein Ehrenzeichen wirklich großer und innerlich freier Männer ist.

Der äußere Ausdruck seines ganzen gefühligen Wesens war sein Scharm, der ihn etwa vom sechzehnten Lebensjahre an zum Liebling seiner Freunde, zum Mittelpunkte jeder Gesellschaft und zum Abgotte der Frauen machte. Nicht nur, daß er ein äußerst angenehmer, anregender, im Erzählen unerschöpflicher Gesellschafter und in Damenreden unübertrefflich war, nein, er wirkte auf Frauen bestrickend, so daß sie ihn leuchtenden Auges anblickten, dem Reize seines Wesens mehr oder weniger verfallend. Freilich erlag auch er selber oft den Frauen und geriet dann häufiger und stärker in Sehnsüchte und Unruhen, als ihm eigentlich gut war. Geheiratet hat er aber nicht, sei es, daß dann doch irgend etwas nicht zusammenstimmte, oder daß er sich für zukünftige weite Reisen freihalten wollte. So war er doch ein großer Einsamer, wie sein von ihm hochverehrtes Vorbild Heinrich Barth, der nun freilich sehr wenig [145] Beziehung zum weiblichen Geschlecht unterhielt. Bei den Orientalen scheint ein gut Teil seiner Wirkung auf seiner Freigebigkeit beruht zu haben, die ja in dortigen Landen von denen, die sie nicht besitzen – und das sind die meisten – hoch geachtet wird. —

Wir denken Nachtigals Willensstärke nicht zu unterschätzen, wenn wir sagen, daß sie nicht in stürmischer Aktivität, sondern in einer zähen, unbeirrbaren Beharrlichkeit bestand. Schon als älterer Gymnasiast gewann er eine mit seiner Base eingegangene Wette, daß er vierundzwanzig Stunden lang nicht essen noch trinken werde; obwohl er die ganze Nacht vor Hunger und Durst nicht schlafen konnte, hielt er doch durch. Im Orient litt er namenlos unter seelischem Alleinsein und geistiger Öde, er hatte Hunger und Durst, Hitze und Ungeziefer, Hinterlist und Todesangst zu erdulden, aber das alles hielt ihn nicht eine Stunde lang ab, zu beobachten und zu notieren; und mochten Heimweh und Schwermut ihm noch so sehr zusetzen, so bewog ihn dies nicht im mindesten, die Reise abzubrechen oder abzukürzen, er nahm alles mit, was er erreichen konnte. Selbst erbärmlichste Mittellosigkeit hielt ihn von seinem Ziele nicht ab, er lieh sich ein paar Dutzend Mariatheresientaler und pilgerte bescheiden weiter – die in Wüste und Steppe verschlagene Antenne Europas, die immer nur empfing, um später einmal, viel später in der Heimat zu senden und dann freilich immer und immer zu senden. Durch den Erfolg von Tibesti in seinem Selbstvertrauen gekräftigt, schrak er fortan vor nichts mehr zurück und brachte das unmöglichst Scheinende fertig, selbst die Bezwingung des gefährlichen Wadai. Er war immer unermüdlich, auf Kamelreisen oder Fußwanderungen von zehn bis fünfzehn Stunden, bei kümmerlichster Ernährung, und aber auch am Schreib- oder Biertische. Der Erfolg hing auf seiner großen Reise wer weiß wie oft an einem ganz dünnen Faden, seine zähe Energie hat dennoch den Faden erfassen oder Fäden, die schon zerrissen waren, wieder knüpfen können. Die klare Erkenntnis hiervon machte einen Teil seiner Bescheidenheit aus.

[146] Diese Zähigkeit schloß natürlich auch Selbstzucht und Fleiß ein. Selbstbeherrschung hatte er schon in den tunisischen Wartejahren gelernt; und er bewunderte sie bei den Orientalen immer wieder, wie er es tief bedauerte, wenn er sie einmal verlor. Aber im allgemeinen wußte er seine Empfindungen zu bändigen, sich schnell in eine veränderte Lage hineinzufinden und ihr die beste Seite abzugewinnen. Auf der Flucht von Tibesti bezwang er trotz überlegener Bewaffnung seinen glühend erwachten Durst nach Rache, nicht nur weil er den einzigen verbliebenen Tibbu als Führer zu den Brunnen von Tümmo brauchte, sondern auch weil er späteren Forschern den Weg durch eine Bluttat nicht versperren wollte. Er hatte sich so vollkommen in der Gewalt, daß er über den brennenden Augenblick kühl in weite Zeitenferne zu blicken vermochte. Die richtige Zeit abwarten und dann aus scheinbarer Untätigkeit heraus den richtigen Schlag tun; sein Ziel nach den Umständen wählen, nicht blindlings auf ein vorher gestecktes Ziel losrennen, sondern sorgsam wählen – das war das Geheimnis seiner Reiseerfolge, und darin hat ihn wohl kein anderer erreicht.

Als Muster gewissenhafter Pflichterfüllung lag er den erforderlichen Arbeiten mit Eifer und Hingabe ob. Als er 1869 in Mursuk längere Monate auf eine zum Sudan gehende Karawane warten mußte, unternahm er trotz glühender Sommerhitze die gefahrvolle Expedition nach Tibesti, wohin zu gelangen sowohl v. Beurmann wie Rohlfs nicht gelungen war; untätig in Mursuk zu sitzen brachte er nicht fertig. Er bedurfte einer laufenden Tätigkeit, die ihn voll beschäftigte und die nicht eine ganz gewöhnliche war; die Sucht nach Geld spielt als Ansporn gar keine Rolle dabei.

Damit gelangen wir zu der Frage des Ehrgeizes. Daß er etwas Besonderes würde leisten können, scheint ziemlich früh in ihm festgestanden zu haben, und auch sein Universitätslehrer Professor Niemeyer war davon überzeugt. Ein Hang zur Auflehnung gegen Herkömmliches, ein Verlangen nach Absonderlichem kennzeichnete schon den Studenten, und der junge köl- [147] nische Militärarzt empfand einen Widerwillen, lebenslang nichts anderes tun zu sollen, als Rekruten zu untersuchen oder einer von Zehntausenden von Landärzten zu werden. Der Gedanke, in einer Brot- und Alltagsstellung zu verkümmern, bereitete ihm ein furchtbares Grauen. In Tunisien verstärkte sich das Empfinden, zu mehr berufen zu sein. Gequält durch inständige Bitten der Mutter, heimzukehren und sich als Landarzt behaglich niederzulassen, schrieb er damals: "Wie oft überrede ich mich durch Vernunftgründe, mich damit zufrieden zu geben, wie so viele sich damit begnügen; doch das dauert nicht lange, und ich würde mich in der Tat darin unglücklich fühlen." Und an seinem dreißigsten Geburtstage schrieb er in Tunis: "Der rapide Verfall der Zeit erfüllt mich oft mit fieberhaftem Schrecken. Wie kurz erscheint die Lebenszeit, die nach menschlichem Ermessen noch bleibt, wenn man schon dreißig Jahre zählt; wie wenig hat man getan, wieviel bleibt noch zu tun, wenn man doch gern zum Nutzen der Mitmenschen und zum eigenen Glück wirklich gelebt haben möchte."

Empfand er auch schon lange den Hang zu größeren Reisen, so lag es doch in der Natur seiner besonderen Willenhaftigkeit, daß er von sich aus nichts zu tun vermochte, um eine grundlegende Änderung herbeizuführen. Aber zwei Eingriffe des Schicksals kamen ihm zu Hilfe und bereiteten ihm den Weg zu dem Felde, auf das einmal gestellt, er sein Bestes voll auszugeben vermochte. Der erste Eingriff war die Lungenerkrankung, die ihn nach dem Orient führte und damit die Vorbedingung für Weiteres schuf. Der zweite Eingriff war die ganz zufällige Bekanntschaft des Afrikareisenden Gerhard Rohlfs mit Heinrich von Maltzan an einem Hotelabend in Tunis, an den sich eine Empfehlung Nachtigals durch Maltzan an Rohlfs schloß, daß Nachtigal bereit sei, die preußischen Geschenke nach Bornu zu überbringen. Ein Unglück und ein zufälliger Glücksfall stehen an der Wiege von Nachtigals Erfolg und Ruhm, ohne daß er selber vorläufig das geringste dabei zu tun brauchte. Dann aber tat er um so mehr und erhob eine bloße Botenreise zu einer der bedeutendsten Entdeckungsreisen. [148] Durch den Erfolg von Tibesti scheint ihm mit dem Selbstvertrauen der Ehrgeiz gekommen zu sein, immer noch mehr zu entdecken. Im Februar 1870 schrieb er von Mursuk aus: "Ruhmsucht, wer hätte gedacht, daß du auch meine harmlose Seele erkrallen würdest?!" –

Schon Nachtigals Kopf wie auch sein ganzes Auftreten zeigten jedem an, daß ihm ein besonders intelligenter Mensch entgegentrat; dies fiel schon an dem Studenten auf. Er beobachtete scharf und begriff schnell, fand sich auch in Veränderungen der geistigen Lage ebenso rasch wie in solche jeder anderen. Geistige Reaktionen verliefen bei ihm in kürzester Frist, und mit großer Elastizität fand er sich in ganz neue geistige Anforderungen, die an ihn herantraten. Aus einem kleinen Arzte wurde er ein großer Forschungsreisender und aus solchem ein bedeutender Geograph, und dieser Wandel vollzog sich in etwa sieben oder acht Jahren, ohne daß ihm jemand als Lehrer an die Hand gegangen wäre. In Berlin fand er sich aus einer geistigen Ödenei von mehr als einem Dutzend Jahren ungemein schnell in das Leben eines tiefschürfenden und vielseitig arbeitenden Gelehrten, das ihm bis dahin völlig fremd gewesen war. Und er wurde in der Wissenschaft der Geographie vollkommen sattelfest; es ist zu bedauern, daß er damals nicht einen Lehrstuhl erhielt, die Entwicklung dieser Wissenschaft hätte einen Nachtigal zwischen so verschiedenartigen, ja gegensätzlichen Männern wie Richthofen und Ratzel gebrauchen können.

Die Grundlage seiner Geistigkeit war neben leichter Auffassungsgabe eine ausgesprochene Klarheit, welche die Dinge ruhig ins Auge faßte und ihre Verwendungsfähigkeit kühl prüfte. Hierbei ließ er sich weder durch Überanstrengung noch durch Leiden noch durch Gefahr beirren. So beobachtete er in der Sahara an sich selber die Anzeichen des nahenden Dursttodes wissenschaftlich genau und sandte später nach glücklicher Rettung ihre Schilderung an seinen Lehrer Professor Niemeyer zur Benutzung und Verwendung. Ohne je dazu geschult zu sein, beobachtete er Natur und Mensch scharf und richtig. Die Orientalen erkannte er in allen ihren Schwächen und [149] Vorzügen mit vollendeter Sicherheit, wie er sie auch meisterhaft zu behandeln verstand. Er durchschaute einen Menschen sehr bald und setzte sich seine Seele aus deren Äußerungen zusammen. Man lese nur, wie scharfsinnig er auf der Flucht von Tibesti die verschiedenen Beweggründe der einzelnen Tibbus erkannte, die doch alle auf das gleiche Ziel, ihn auszuplündern, hinausliefen.

Man darf sagen, daß er sich auf der großen Reise, die er völlig unvorbereitet antrat, selber eine Betracht- und Arbeitsweise ausdachte, die es ihm erst ermöglichte, sich mit dem, was ihn umgab und ihm begegnete, geistig auseinanderzusetzen. Die ausgesprochene Originalität seines Geistes erlaubte ihm stets, das Zufällige vom Typischen zu unterscheiden und das Einzelne in einen größeren Zusammenhang einzureihen, mochte es sich um länderkundliche oder völkerkundliche, um geschichtliche oder sprachwissenschaftliche Dinge handeln. Er erfaßte stets den springenden Punkt, den Kern einer Angelegenheit, und schälte ihn aus seinem Zusammenhange heraus. Aber er blieb nicht, wie die meisten Gelehrten, bei der Analyse der Erscheinungen stehen, sondern baute eine in ihren Elementen klar erkannte Gesamtheit als solche wieder auf und stellte sie anschaulich dar. Ebenso wie er ein tüchtiger Analytiker war, bewährte er sich auch als glänzender Synthetiker. Er brachte es nach der Reise nicht über das Herz, seine Tagebücher einfach umzuschreiben und in Druck zu geben, sondern er verarbeitete sie zu großen zusammenfassenden Übersichten über Land und Leute jedes besonderen Raumes.

Während bei Rohlfs von geistiger Schöpferkraft keine Rede sein kann und während bei Barth sein früher Tod ihre volle Offenbarung verhindert hat, ist sie bei Nachtigal klar erkennbar und unter Beweis gestellt. Es ist zwar sonderbar, daß er trotz sechs Jahren Algerien und Tunisien nicht den Drang verspürt hat, über diese doch fesselnden und nicht sonderlich gut geschilderten Länder etwas zu veröffentlichen. Anscheinend ist ihm als Arzt etwas Derartiges zu fremd und fernliegend erschienen. Auch daß er, ohne noch seinen dritten Band fertiggestellt zu [150] haben, Generalkonsul wurde, zeugt nicht grade von einem starken Gefühl einer inneren Berufung zu wissenschaftlicher und literarischer Arbeit. Man könnte fast zu der Annahme kommen, daß Nachtigal das große Reisewerk, mit dem er ja auch nur sehr langsam vorwärts kam, weniger aus Produktionsdrang als aus Pflichtgefühl geschrieben hat und daß er auch bei längerer Lebensdauer ein Homo unius libri geblieben wäre. Aber sei dem, wie ihm wolle: so wie das Werk nun einmal ist, zeugt es von ansehnlicher Schöpferkraft auf originaler Grundlage, denn ein Muster ähnlicher Art, nach dem er sich hätte richten können, lag nicht vor.


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Ewald Banse