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[Bd. 5 S. 478]
Ferdinand Freiherr von Richthofen, 1833-1905, von Georg Wegener

Ferdinand Freiherr von Richthofen.
[472b]    Ferdinand Freiherr von Richthofen.
[Bildquelle: Österreichische Lichtbildstelle, Wien.]
Der Name Richthofen ist heute im Herzen unseres ganzen Volkes lebendig. Aber es ist der Manfreds von Richthofen, des jungen Fliegerhelden im Weltkrieg, dessen Ruhmesbahn damals in beispiellos steiler Kurve zu von keinem anderen Kameraden erreichten Höhen emporstieg, bis er dem Fliegerschicksal fiel, dem er selbst immer ruhig ins Auge geschaut hatte. Eine Erscheinung, strahlend und ergreifend wie Achill und wahrlich dieses Nachruhms wert.

Der Mann, von dem hier die Rede sein soll, ist niemals in ähnlicher Weise eine Volksberühmtheit gewesen. Außerhalb der Gelehrtenwelt und der besonders geographisch interessierten Kreise sowie gewisser hoher Staatsstellen war er nur den Gebildetsten in Deutschland ohne weiteres ein Begriff; und auch diese hatten meist nur eine sehr allgemeine Kenntnis, daß er "China erforscht" habe, ohne eine nähere Vorstellung, wann, wie und mit welchem Erfolg. Und doch war Ferdinand Freiherr von Richthofen einer von den wirklich ganz Großen unseres Volkes, wie nur die allerbesten der in diesen Bänden genannten Männer geeignet, ein Ideal unserer Nation, ein Stolz, ein Führer unserer Jugend zu sein! Als Forschungsreisender verband er überraschende Großartigkeit in der Stellung seiner Aufgaben mit der sorgfältigsten Vorbereitung auf sie und der größten Furchtlosigkeit und Zähigkeit in ihrer Durchführung, als Gelehrter glänzende Genialität der Ideen mit, man darf hier sagen, echt deutscher Gründlichkeit der wissenschaftlichen Arbeit. Als Mensch hat er eine schlechthin vorbildliche Lebensführung verwirklicht, voll Reinheit und Würde, und war von einer so tiefen, selbstlosen Güte, daß er auf alle, die ihm nähertreten durften, insbesondere auf seine Schüler, einen unauslöschlichen Eindruck gemacht und sich eine Verehrung, ja Liebe erworben hat, wie es in diesem Maße und dieser Dauer sehr selten ist. Ja selbst der Mangel an weitreichender "Popularität" hängt wohl mit einem Charakterzug zusammen, der eigentlich noch eine Steigerung seines Wertes bedeutet hat: mit einer Vornehmheit seines innersten Wesens, der alles Persönliche des äußeren und inneren Erlebens, d. h. dasjenige gerade, was immer die Menge am meisten fesselt, gern für sich behielt, es hinter der Sache, der er diente, zurücktreten ließ.

Ferdinand von Richthofen entstammt einem Geschlecht, das seit Jahrhunderten besonders in Schlesien verbreitet ist. Es ist eine bemerkenswerte, für unser Volkstum wertvolle Sippe. Zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten von Begabung und Charakter sind aus ihr hervorgegangen. Bezeichnend ist eine Neigung, mit [479] religiösen Problemen des Lebens zu ringen. Der aus den schweren Glaubenskämpfen der siebziger Jahre gegen die Unfehlbarkeit des Papstes bekannte Breslauer Domherr Freiherr von Richthofen ist ein Bruder unseres Ferdinand gewesen. Ebenso häufig ist ein reges Interesse für wissenschaftliche Forschung. So hat sich der Rechtshistoriker und Erforscher friesischer Altertümer Karl Freiherr von Richthofen als Gelehrter einen berühmten Namen gemacht. Auch Diplomaten und Politiker von Rang sind darunter, wie der Staatssekretär Oswald von Richthofen in der Vorkriegszeit. Die Brüder Manfred von Richthofen und sein ebenfalls als Kampfflieger ausgezeichneter Bruder Lothar sind entfernte Neffen des Geographen.

Ferdinand von Richthofen selbst wurde am 5. Mai 1833 in dem schlesischen Städtchen Karlruhe im Regierungsbezirk Oppeln geboren. Sehr früh trat bei ihm ein ausgesprochenes Interesse für Naturbeobachtung hervor und veranlaßte ihn schon als Schüler zu weiten Wanderungen. Von 1850 bis 1856 studierte er in Breslau und Berlin, zuerst Chemie und Mineralogie, dann Geologie, so daß er selbst den Bildungsgang ganz durchmachte, den er später immer als die wünschenswerteste Grundlage für den Geographen empfohlen hat. Sein mineralogischer Lehrer war Gustav Rose, der seinerzeit Alexander von Humboldt nach Zentralasien begleitet hatte. Es ist wahrscheinlich, daß schon dadurch sein Augenmerk auf den gewaltigen Erdteil gelenkt wurde, der später das Hauptfeld seiner Forschungen werden sollte. Er promovierte 1856 mit einer Arbeit über das vulkanische Gestein Melaphyr und ging dann auf eigene Faust nach Südtirol zu geologischen Aufnahmen im Gebiet von Predazzo, St. Cassian und der Seißer Alpe, Arbeiten, die Ferdinand von Hochstetters Aufmerksamkeit erregten. Von diesem für den Dienst an der k. k. Geologischen Reichsanstalt in Wien gewonnen, machte er 1857 Aufnahmen in Nordtirol und Vorarlberg, 1858 in den Karpathen und 1859 in Siebenbürgen.

Schon in diesen ersten selbständigen Forschungen bekundete er jene, später ihm immer eigene Verbindung von sorgfältigster Beobachtung im Felde mit einer erstaunlichen Kühnheit und Treffsicherheit der deutenden Schlußfolgerung. Seine tatsächlichen Beobachtungen im Bereiche des Bozener Porphyrs, des Schlerns, des Bregenzer Waldes usw. hat die spätere Forschung ebenso glänzend bestätigt, wie sie seine kühnen daran geknüpften Hypothesen anerkannt hat: so die überraschende Erklärung der Südtiroler Dolomitklötze als Aufbauten maritimer Lebewesen, ehemaliger Riffe eines vorzeitlichen Korallenmeeres, so die Erkenntnis des Rheintals oberhalb des Bodensees als Trennungslinie zweier verschieden gebauter Teile der Alpen.

Diese junge Bewährung trug ihm nun die große Gelegenheit ein, die bestimmend für seine ganze Laufbahn werden sollte. Die preußische Regierung schickte im Jahre 1860 die bekannte Gesandtschaft des Grafen von Eulenburg mit den drei Kriegsschiffen "Arkona", "Thetis" und "Frauenlob" nach Ostasien, um Handelsverträge mit dem damals eben sich erschließenden Osten, mit China, Japan und [480] Siam, zu vereinbaren. Richthofen durfte die Reise als Geolog begleiten. Japan war gerade eben erst durch die amerikanische Flottendemonstration gezwungen worden, seine jahrhundertelange Abgeschlossenheit gegen das Ausland aufzugeben, China durch die Kriege mit England und Frankreich genötigt, den Fremden Vertragshäfen zu öffnen; Siam war noch fast völlig unbekannt. So winkten hier Aufgaben von unabsehbarer Fülle.

Aber freilich, noch stellten sich an Ort und Stelle unerwartete Schwierigkeiten entgegen. Japan erlaubte doch noch kein freies Sichbewegen außerhalb der wenigen zugelassenen Landungsplätze, und in China machte die fürchterliche, damals gerade auf ihrem Höhepunkt angelangte Taiping-Revolution das Reisen im Innern von selbst unmöglich. Deshalb ging Richthofen mit einem der Schiffe, das Graf Eulenburg

Ferdinand von Richthofen auf Java, 1861.
Ferdinand von Richthofen (rechts)
mit Franz Junghuhn auf Java 1861.
[Nach asienreisender.de.]
während seiner langwierigen diplomatischen Verhandlungen in Peking zu einer ausgedehnten Fahrt durch die ost- und südostasiatischen Gewässer entsandte, nach Formosa, den Philippinen, dem damals noch fast ganz unbekannten Celebes; er bereiste ausgiebig Java, dies großenteils unter der Führung des damals dort weilenden ausgezeichneten deutschen Javaforschers Junghuhn, und ging dann nach Siam. Hier blieb er selbst zurück, als die Eulenburgsche Expedition nach Erledigung ihrer Mission wieder nach Europa heimkehrte, und bereiste nun in größerem Umfange Hinterindien, das noch zu den unbekanntesten Teilen Asiens gehörte. Unter anderem gelang ihm die Durchquerung der ganzen Halbinsel von Bangkok nach Moulmein am Bengalischen Meerbusen. Das war damals noch eine entdeckerische Tat, die Aufsehen erregt haben würde, wenn sie daheim weiteren Kreisen vorgetragen worden wäre. Aber niemals hat Richthofen von diesen südostasiatischen Reisen eine "populäre" Schilderung gegeben. Er begnügte sich mit einigen wenigen knappen, rein sachlichen Berichten in geologischen Fachzeitschriften. Das lag nicht etwa an einem Nichtkönnen! Im Gegenteil, die später, nach seinem Tode, durch Tiessen herausgegebenen Tagebücher aus China wie aus Japan und seine Briefe an Eltern und Verwandte zeigen, wie bunt und anziehend er hätte schreiben können.

So blieb es auch bei den nächsten Reisen, die er daran anreihte. Ein Plan, von Kalkutta über Kaschmir nach Russisch-Asien vorzudringen, wurde durch Unruhen in Ostturkestan vereitelt. Da entschloß er sich – 1862 – kurz, Asien zunächst zu verlassen und, in einem Segelschiff, über die Kurilen und Kamtschatka, nach Nordamerika zu gehen, dessen "Ferner Westen" sich im Verfolg der Goldfunde in Kalifornien eben wissenschaftlich erschloß und mit seinen eigenartigen Gebirgen, Hochwüsten und Mineralfundstätten gerade geologisch so großartige Probleme darbot. Hier arbeitete er bis 1868, in Gedankenaustausch mit den amerikanischen Geologen der staatlichen Landesaufnahme, finanziell mit sehr bescheidenen Mitteln und in einfachster Lebenshaltung. Trotzdem lehnte er es stets ab, was damals sonst gang und gäbe war, wissenschaftliche Ergebnisse seiner Arbeiten geschäftlich zu verwerten. Seine Untersuchung des berühmten Comstock-Lode in der Sierra [481] Nevada, des reichsten Gold- und Silberganges der Welt, an dessen Ende man damals angelangt zu sein glaubte, setzte ihn in den Stand, anzugeben, wo man ihn wieder auffinden könne. Das brachte seinen Besitzern einen ungeheuren Gewinn ein. Er selbst kümmerte sich darum nicht. Noch Jahrzehnte später haben amerikanische Sachwalter von ihm, als er berühmt geworden, Vollmacht erbeten, die ihm daraus zustehenden Millionen für ihn einzuklagen, unter Verzicht auf jede Entschädigung, wenn der Prozeß verlorenginge. Er hat immer abgelehnt. Der für ihn in Betracht kommende Gewinn aus jenen ersten acht überseeischen Reisejahren blieb die Sammlung eines außerordentlichen Schatzes eigener Anschauung, eigenen Beobachtungswissens, aus dem er später mit so vollen Händen schöpfen konnte.

Auf die Dauer genügte ihm das amerikanische Tätigkeitsfeld nicht. Hier konnte er neben dem zahlreichen und mit großen Mitteln ausgestatteten Gelehrtenstab der staatlichen Landesaufnahme doch nur beschränkte Teilarbeit leisten. In der Neujahrsnacht 1867/68 kam ihm in Kalifornien in einem Gespräch mit dem berühmten nordamerikanischen Geologen Whitney der Entschluß, wieder nach Asien zurückzukehren, wo die Verhältnisse inzwischen günstiger geworden zu sein schienen, und sein erworbenes Können an eine Aufgabe allergrößten Stils, an die Erforschung Chinas, zu setzen.

Es sind gerade die Hochjahre der großen innerkontinentalen Entdeckungen. Mit Begeisterung verfolgt die gesamte Welt die romantischen Taten der Durchquerer der Sahara wie Gerhard Rohlfs oder die Reisen des unermüdlichen Entschleierers von Südafrika, Livingstone. Die Schneeberge und Riesenseen der Nilquellengegend tauchen aus dem Unbekannten empor. Dunkel liegt noch über den umfangreichen Gebieten Afrikas, die später ein Stanley, ein Wissmann durchqueren sollten. Solche Gegenden, in denen höchster persönlicher Ruhm winkte, sucht Richthofen nicht auf. So sehr er auch immer die kühne Bahnbrechertat erster Eroberer von völligem Neuland gewürdigt hat, für sich wählt er das wissenschaftlich Größere. China war zwar ein Erdraum von gewaltiger Ausdehnung, aber in unseren Atlanten durchaus kein weißes Blatt wie Zentralafrika oder Inneraustralien, sondern überdeckt mit zahllosen Strömen, Seen, Bergen und Ortschaften mit Tausenden von Namen; für den Laien also ein anscheinend wohlbekanntes Land, dickleibige Werke schilderten es. Diese geographischen Darstellungen beruhten aber fast ausschließlich auf alten chinesischen Karten und Beschreibungen, die mit äußerster Trockenheit Einzeltatsachen aneinanderreihten, ohne jede tiefere Erfassung der Natur des Landes und ohne das leiseste Verständnis für den Gebirgsbau, die Grundlage aller geographischen Erkenntnis. Die bisherigen europäischen Chinareisenden hatten, mit wenigen Ausnahmen, ein solches auch nicht gehabt, und so war dies Gebiet, groß wie der Erdteil Europa, zwar keine Terra incognita im Laiensinne, im wissenschaftlichen aber schlimmer als das: ein Chaos von willkürlichen und irrigen Vorstellungen, das viel schwerer in [482] Ordnung zu bringen war als ein ganz jungfräuliches Gebiet. Dabei war dies China zugleich ein Land, in dem sich mit den gewaltigen natürlichen Erscheinungen die bedeutendsten menschlichen verbanden, ein Bereich uralter, großartiger Kultur, ganz anders als jene unbekannten Gegenden Afrikas. Und Richthofen war inzwischen über den reinen Geologen hinausgewachsen. Er war zum Geographen geworden, der die Gesamtheit der Erscheinungen der Erdoberfläche, einschließlich der organischen, ins Auge faßt, auch die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen; und gerade diese! So schwebte ihm hier für China vor, zunächst zwar die unentbehrliche Grundlage für eine richtige Erfassung seiner Natur zu legen, d. h. [483] die Erkenntnis der großen Züge seines geologischen und orographischen Baus zu gewinnen. Darüber hinaus aber galt es, die sonstige Natur des Landes und die damit zusammenhängende Kulturentwicklung seiner ungeheuren Bevölkerung, seiner sich eben erschließenden Erzeugung, seiner auf der Hand liegenden Bedeutung für Welthandel, Weltverkehr und Weltpolitik zu untersuchen. Wirklich eine Aufgabe von gigantischen Ausmaßen!

Reisen von Richthofens in China 1868-72.
[482]      Reisen von Richthofens in China 1868–72.

1868 ist er wieder in Schanghai, und von hier führte er nun bis zum Jahre 1872 sieben große Reisen durch China aus: mehrere durch das untere Yangtsegebiet, eine durch Schantung, über das Gelbe Meer nach der Halbinsel Liautung und durch die Mandschurei nach Peking, eine andere südnördlich durch ganz China hindurch von Kanton über Hunan, Hupe, Honan und Schansi wieder bis Peking, endlich eine durch die innere Mongolei, Schansi und Schensi über den Tsinlingschan – auf dem alten Wege Marco Polos – nach Sz'tschwan und bis in die Grenzgebirge des tibetischen Hochlandes, von dort dann noch einmal durch das ganze Reich, in westöstlicher Richtung, längs des Yangtsekiang wieder bis nach Schanghai zurück. So hatte er China in einem größeren Umfange gesehen als, soweit wir wissen, irgendein Europäer vor ihm. Einen Teil dieser Reisen hat er mit finanzieller Beihilfe der Schanghaier Handelskammer ausgeführt, die später seine meisterhaften sachlichen Berichte in englischer Sprache unter dem Namen Baron Richthofen Letters herausgab.

Von August 1870 bis Mai 1871 hatte er infolge erneuter Unruhen in China eine Bereisung Japans, die inzwischen möglich geworden war, eingeschoben. Die Eindrücke in diesem schönheitsgesegneten Lande, über dem damals noch der ganze Blütenstaub der Unberührtheit lag, hatten ihn aufs höchste entzückt. Und doch ging er gern wieder nach China zurück. Erst in den kleineren Verhältnissen jenes Landes wurde ihm, wie er selbst es ausdrückte, die Großartigkeit recht bewußt, in der sich jede Frage in China bietet, mag sie sich auf die Ausdehnung im Raum beziehen, auf die geschichtliche Entwicklung in der Zeit oder auf Zahlen in Handel und Verkehr.

Nach zwölfjähriger Abwesenheit kehrte Richthofen im Dezember 1872 nach Deutschland heim, 39jährig, auf der Höhe der Kraft, im Besitz eines ungeheuren Wissensschatzes und trotz der Sparsamkeit seiner bisherigen Veröffentlichungen doch bereits eine angehende Berühmtheit. Man sah ihm mit außerordentlichen Erwartungen entgegen. Die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, wo er seinen Wohnsitz nahm, wählte ihn zu ihrem Präsidenten, die Universität Leipzig bot ihm 1875 eine geographische Professur an; die Universität Bonn berief ihn 1876 auf den Lehrstuhl, den kein Geringerer als Oskar Peschel innegehabt hatte. Er lehnte die Leipziger Berufung für jetzt ab und erbat für die Bonner Urlaub, da er zunächst seine ganze Kraft seinem Reisewerke widmen wollte.

1877 konnte er den ersten Band dieses Werkes vorlegen, betitelt: China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien, monumental schon in [484] der äußeren Erscheinung, mehr noch in seinem Inhalt. Es übertraf auch die höchstgespannten Erwartungen und machte seinen Verfasser mit einem Schlage zum unumstrittenen Führer der damaligen geographischen Wissenschaft.

Dieser erste Band ist eine Einleitung größten Stils. Er führt aus, wie China nur verstanden werden kann aus seinen Beziehungen zum Gesamtkontinent Asien und insbesondere zu Zentralasien, dem es durch seinen Gebirgsbau, durch sein von dort aus bestimmtes Klima, durch seine dort entspringenden Riesenströme und anderes aufs innigste verknüpft ist. Deshalb entwirft er zunächst in den großartigsten Zügen ein wissenschaftlich ganz neues Gesamtbild Innerasiens und zeigt, wie dies im Wandel geologischer Zeiträume zu seiner so seltsamen heutigen Gestaltung gekommen ist: zu der Abflußlosigkeit des größten Teils seiner Räume und den damit verbundenen Erscheinungen, zu seinen trotz ihrer Riesenhaftigkeit unter ihrem eigenen Schutt fast vergrabenen Gebirgen, zu der Verwandlung großer Binnenmeere in furchtbare Wüsten usw. Hier findet sich auch seine geniale, heute allgemein angenommene Theorie von der Entstehung des berühmten fruchtbaren chinesischen Lößbodens aus den herübergewehten Staubmassen Zentralasiens.

Entsprach dies alles noch der von ihm schon bekannten physikalisch-naturwissenschaftlichen Forschungsrichtung, so überraschte er in der zweiten Hälfte des Buches auch die Geisteswissenschaftler durch eine nicht minder meisterhafte historische Untersuchung über die allmähliche Entstehung der Kenntnis von China, sowohl bei den Chinesen selbst wie im Abendlande, die er unter beherrschender Heranziehung eines ungeheuren literarischen Materials von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart schilderte. Der außerordentliche Reiz dieser Untersuchungen wird noch dadurch gesteigert, daß die geographische Landeskenntnis dem Verfasser gestattet, die oft recht dunklen historischen Quellen vielfach in ganz neuer, überraschender Weise zu deuten. Ein Beispiel dafür ist, wie er die uralten, scheinbar übernatürlichen und deshalb für Sage gehaltenen Meliorationsarbeiten des Ministers Yü als eine hochwertige zeitgenössische Reichsgeographie erkennt.

Und in welch einer wundervollen Sprache war das Buch geschrieben! Sie ist nicht bewußt großartig wie die Humboldts, bei dem man das immer als einen gewollten Teil seiner Wirkung erkennt, sondern stets nur reiner Ausdruck der Sache. Breit und schön rollen die Sätze dahin, voll männlicher Kraft und Würde, dabei trotz allen Gedankenreichtums einfach, für jeden Gebildeten verständlich, nicht selten von künstlerischer Meisterschaft. Die berühmten Schilderungen der chinesischen Lößgebiete z. B. gehören unbestritten zu dem Vollendetsten, was sprachliche Landschaftsdarstellung überhaupt geleistet hat.

Der zweite Band erschien 1881 und behandelte Nordchina. Hier entwickelt Richthofen nun auf geologischer Grundlage ein ins Einzelne gehendes Bild des Landes, bleibt aber bei dem rein Morphologischen der anorganischen Natur nicht stehen, sondern läßt daraus mit gleichem Verständnis und seherischem Feingefühl auch die menschlichen Verhältnisse hervorwachsen, sowohl die historischen wie die [485] modernen, insbesondere die wirtschaftlichen der Gegenwart; ja er eröffnet auch weitreichende Ausblicke in die Zukunft. Neben diesen Einzeldarstellungen gibt er aber auch glänzende Gesamtschilderungen. Schon eine der ersten Besprechungen des Werkes bezeichnete gerade diese als eine "allgemeine Charakteristik des Landes, wie sie bisher noch nie eines Menschen Geist entwarf und entwerfen konnte, und die ganz dazu angetan ist, Allgemeingut der Gebildeten zu werden". Für die Welt der Technik und Wirtschaft von größtem Interesse war seine Feststellung der ungeheuren Schätze an Steinkohlen wertvollster Art, die Nordchina neben den Vereinigten Staaten als kohlenreichstes und mit seinen billigen und willigen Arbeitskräften deshalb als wirtschaftlich vielleicht zukunftssicherstes Land der Erde erscheinen ließen. Seine Schilderung der Kiautschoubucht und der Provinz Schantung, die er später in einem besonderen Buche noch erweiterte, hat den Anlaß dazu gegeben, daß wir bei dem Aufbau unseres Kolonialreiches dies Gebiet zu unserem Stützpunkt in China auserwählten.

Mit dem Bande erschien zugleich ein großer geologischer und geographischer Atlas von Nordchina. Wenn man seine Blätter mit den bisherigen Darstellungen vergleicht, dann erkennt man auf den ersten Blick, wie hier durch die Geistesarbeit eines einzelnen Mannes ein Chaos durchleuchtet und gebändigt wurde.

Band vier und fünf des Werkes brachten die Bearbeitung von Richthofens geologischen und paläologischen Sammlungen durch einige seiner Schüler, wie Frech und Schenk. Die Vollendung des dritten Bandes, Südchina umfassend, erlebte der Meister selbst nicht mehr. Er ist erst aus seinen hinterlassenen Fragmenten mit höchster Hingebung und Einfühlungskunst von Ernst Tiessen zusammengestellt und 1912 herausgegeben worden, zugleich mit dem in ähnlicher Weise von M. Groll vollendeten Atlas des südlichen China. So liegt heute doch das gewaltige Werk abgeschlossen vor, ein monumentum aere perennius.

Von Richthofens sonstigen Veröffentlichungen muß vor allem noch das 1886 erschienene Werk erwähnt werden, das den Titel Führer für Forschungsreisende trägt. Damit ist nicht etwa eine Übersicht über die damals noch unentdeckten Räume der Erde gemeint, sondern es vertrat vielmehr gerade den Gedanken, wie die Erdoberfläche über die bloße Entdeckung hinaus wissenschaftlich erforscht und verstanden werden müsse. Hatte er in seinem China hierfür ein praktisches Beispiel gegeben, so war dies Werk die theoretische Ergänzung dazu. Allerdings nur für einen Teil der Aufgaben. Der Führer beschränkt sich so gut wie ganz auf die anorganische Natur und besonders auf die Morphologie der Landoberfläche und die sie umgestaltenden Kräfte. Hier aber ist es durch seine außerordentliche Beherrschung des Stoffs, den genialen Aufbau, die Klassifikation und ungewöhnliche logische Klarheit ein grundlegendes Lehrbuch geworden, das die Entwicklung der geographischen Wissenschaft jahrzehntelang maßgebend beeinflußt hat.

1883 verließ er Bonn und folgte einem neuen Rufe als Professor nach Leipzig. Dabei hielt er die berühmte Antrittsrede über "Aufgaben und Methoden der heutigen [486] Geographie", die die Geographie als die Wissenschaft von dem Örtlichen aller Erscheinungen der Erdoberfläche und von den aus ihrer Örtlichkeit sich ergebenden Wechselwirkungen aufeinander kennzeichnete und sozusagen das Manifest der neuen Erdkunde in den Jahrzehnten um die Wende des Jahrhunderts wurde, das bis heute eigentlich noch nicht ersetzt ist. Im Jahre 1886 erhielt er endlich den Ruf an die Universität Berlin, d. h. in die führende Stellung, die ihm bis zu seinem Ende Gelegenheit bot, die ganze Fülle seiner Gaben zu entfalten.

Zu diesen gehörte vor allem eine besondere Befähigung zur Organisation. Er hat die Gesellschaft für Erdkunde wissenschaftlich wie gesellschaftlich grundlegend umgestaltet. Den Gipfel hierbei bildete der Internationale Geographenkongreß 1899. Nach außen hin bedeutete er, weit über unser Vaterland hinaus, einen Höhepunkt in der großen Linie von Richthofens Laufbahn. Niemand konnte sich dem Eindruck entziehen, daß dieser hochgewachsene Mann mit der geistvollen Stirn, der dort in so vollendeter Würde bei den Verhandlungen den Vorsitz führte oder die glänzenden gesellschaftlichen Veranstaltungen leitete, ein Fürst der Wissenschaft war. Auch die Ausländer erkannten ihn sichtlich als einen solchen an.

Schüler im Museum für Meereskunde.
Schüler besichtigen das Museum für Meereskunde
in der Georgenstraße, Berlin, 1925.
[Nach bundesarchiv.de.]
Von anderen organisatorischen Leistungen Richthofens ragt hervor die Einrichtung des Instituts und Museums für Meereskunde, die ihn während der letzten Lebensjahre besonders beschäftigte. Kaiser Wilhelm II. hatte ihn damit beauftragt in seinem Bestreben, das deutsche Volk auf die Bedeutung des Meeres als Quelle der Völkergröße hinzuweisen und für seine Flottenpolitik zu gewinnen. Richthofen schuf hier eine Sehenswürdigkeit der Hauptstadt und ein wissenschaftliches Unterrichtsinstitut mustergültiger Art, das noch bis heute in der von ihm angebahnten Form öffentlicher Vortragskurse von führenden Persönlichkeiten der verschiedensten Arbeitsgebiete Belehrung in die weitesten Kreise trägt.

Dieses organisatorische Talent veranlaßte die leitenden Staatsbehörden in wachsendem Umfange, ihn, oft mehr als ihm selbst willkommen war, zur Beratung und Vorbereitung großer wissenschaftlicher Veranstaltungen oder staatlich zu fördernder Forschungsunternehmungen heranzuziehen. Hat doch sogar König Leopold von Belgien einmal versucht, ihn für den Kongostaat zu gewinnen. Er lud ihn nach Brüssel ein, stellte ihm dort im Palais eine fürstliche Gastwohnung zur Verfügung und machte ihm die glänzendsten Anerbietungen. Richthofen aber hing viel zu sehr mit seinem ganzen Wesen an Deutschland, als daß er sich dazu hätte entschließen können, dauernd in fremde Dienste zu treten.

Otto Baschin, als Kustos des Geographischen Instituts der Universität mit ihm jahrzehntelang besonders vertraut, schreibt nach seinem Hingang: "Die vornehme Art, in der er seine eigene Person dabei völlig in den Hintergrund treten ließ, nur die Sache selbst im Auge behielt und mit weitem Blick und staatsmännischem Empfinden unter scharfer Hervorhebung des Wesentlichen, bei Vernachlässigung der nebensächlichen Punkte, in ruhiger Sachlichkeit die ein- [487] zelnen Momente gegeneinander abwog, haben wohl selten ihren Eindruck verfehlt. Größtenteils lag darin das Geheimnis des großen Einflusses, den er in allen Kreisen besaß, mit denen er amtlich oder privatim zu tun hatte, daß seine Ansicht so gut begründet, von so hohen ethischen Gesichtspunkten getragen war und in so ansprechender Form zum Ausdruck gebracht wurde, daß jeder sich gern zu Richthofens Meinung bekehren ließ, meist in dem Bewußtsein, damit selbst zu einer besseren und vornehmeren Auffassung gelangt zu sein. Aber niemals hat Richthofen seinen Einfluß mißbraucht. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denn der Zauber seiner Persönlichkeit beruhte ja gerade in seiner Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, seiner Uneigennützigkeit und Güte." Und der berühmte Göttinger Fachgenosse Hermann Wagner schrieb: "Nicht seine soziale Stellung allein oder der Takt des Diplomaten, den er so oft glänzend bewährt hat, sondern mehr die Überzeugung von der Uneigennützigkeit und Geradheit der Gesinnung hat ihm den weitreichenden Einfluß verschafft, um den man ihn oft beneidete."

Die stärkste Wirkung seines Geistes und die größte Verehrung seiner Person hat Richthofen wohl seine Tätigkeit als Universitätslehrer, als Bildner und Freund seiner Schüler eingetragen. Seine Vorlesungen waren nicht leicht, aber für genügend Vorgebildete von einem unvergeßlichen Reiz. Nicht nur das große Wissen war dabei das Zwingende, sondern auch die vorbildliche Art des wissenschaftlichen Denkens, die unablässige Erziehung zur streng induktiven Methode und zur unbestechlichen Kritik; vor allem Selbstkritik. Es waren weniger bestimmte Vorschriften, die er für das wissenschaftliche Arbeiten gab, als das vollendete eigene Beispiel.

Ferdinand Freiherr von Richthofen.
Ferdinand Freiherr von Richthofen.
Gemälde von Heinrich Hellhoff, 1901.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Am stärksten wirkte das eigentümliche Fluidum, das von seiner Persönlichkeit ausging, in dem engeren Kreise seiner Schüler, dem sogenannten "Kolloquium". Diese allwöchentliche Vereinigung junger Geographiestudierender zu seminaristischen Übungen wurde rasch berühmt, und ihr angehört zu haben ein Stolz der späteren Fachgenossen. Eine große Anzahl der führenden Inhaber der geologischen und geographischen Lehrstühle der letzten Jahrzehnte ist aus diesem Kreise hervorgegangen. In einer auf deutschen Hochschulen sonst nahezu einzigen Weise wurde es Sitte, daß die besten Schüler auch nach Abschluß ihrer Universitätsstudien, auch wenn sie längst selbständig in Beruf und Forschung hervorgetreten waren, doch dauernd Mitglieder des "Kolloquiums" blieben, die Versammlungen, soweit Wohnsitz und Tätigkeit es gestatteten, weiter besuchten und an den Erörterungen teilnahmen. Infolgedessen stand hier jedesmal ein ungewöhnliches Maß von Wissen und Erfahrung zur Verfügung, um die Erörterungen zu beleben und zu vertiefen, und da sich an die wissenschaftlichen Sitzungen stets unter Richthofens Teilnahme ein zwangloses "Postkolloquium" im Spatenbräu in der Friedrichstraße anschloß, so wurde aus diesem engeren Schülerkreise allmählich ein Freundesbund von einer ganz seltenen Vertrautheit und Treue. Er dauerte auch über des Meisters Tod hinaus. Als Richthofen am 5. Oktober 1905, mitten in [488] tätigster Frische, ein Jahr nachdem er das Rektorat der Universität bekleidet hatte, infolge eines Schlaganfalles ohne Leiden verschied, schloß sich nach der Trauerfeier der daran teilnehmende Kreis seiner Schüler zusammen und gab sich unter dem Namen "Richthofentag" eine feste alljährlich tagende Einrichtung, die bis zum heutigen Tage die noch lebenden Mitglieder zusammenschließt und die nicht nur die Erinnerung und Verehrung, sondern durch eigene Vorträge, Erörterungen und Publikationen auch den wissenschaftlichen Geist des Dahingegangenen lebendig erhält.

In Richthofens Verhältnis zu seinen Schülern, die er auch in weitem Umfang in sein schönes, mit reichen Sammlungen geschmücktes und in vornehmster Geselligkeit geführtes Haus hineinzog – er war seit 1879 in sehr harmonischer Ehe mit einer Verwandten, Freifrau Irmgard von Richthofen, verheiratet –, trat das Schönste seines Wesens hervor, die tiefe Güte und Menschlichkeit, die man an ihm fühlte. Das vollgültigste, eindrucksvollste Zeugnis dafür hat wohl der berühmteste Richthofen-Schüler, Sven Hedin, abgelegt. Hedin kam 1889 zu Richthofen nach Berlin, studierte dann mehrere Jahre in Deutschland und blieb auch seitdem, in der angedeuteten Weise, Mitglied des "Kolloquiums" und des daraus entsprossenen Freundeskreises bis zum heutigen Tage. Obwohl des schwedischen Forschers Ruhm rasch zu fast beispielloser Höhe emporstieg, hielt er doch Richthofen gegenüber immer an der Stellung des "Schülers" fest, der mit bewundernder Verehrung zu seinem wissenschaftlichen Meister emporschaute, der alle seine großen Pläne vorher mit ihm besprach, alle Erfolge bei ihrer Durchführung ihm vor allem mitzuteilen sich freute und in seiner Bewertung den stolzesten Lohn erblickte. Zur Feier des hundertsten Geburtstages, 1933, hat der Richthofentag unter dem Titel "Meister und Schüler" die Briefe herausgegeben, die Richthofen im Laufe der Jahre an Hedin geschrieben hat. Es gibt nichts Wundervolleres in seiner Art als dieses mit Erläuterungen von Hedin selbst versehene Buch, in dem man das Verhältnis zwischen diesen beiden Männern entstehen, immer mehr sich vertiefen und Hedins ganzes Leben begleiten sieht – sieht, wie Richthofen die ungewöhnlichen Gaben des noch so jungen Mannes erkennt, wie er in vollkommener Neidlosigkeit seinen Höhenflug verfolgt und fördert und in schönster Weise sich seiner Verehrung und Liebe erfreut. In diesen ganz persönlichen Briefen Richthofens, von dem Hedin sagt: "Ich habe ihn nicht nur als das Ideal eines Forschungsreisenden und Geographen bewundert, sondern auch, und in noch höherem Grade, als einen idealen Menschen", ist, für jeden zugänglich, ein Hauch des Wesens dieses Mannes gebannt, der nicht nur bewunderns-, sondern auch liebenswert war wie wenig andere, vornehm vom Scheitel bis zur Sohle, adlig im höchsten und schönsten Sinne dieses Wortes.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz