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[Bd. 3 S. 171]
Alexander von Humboldt, 1769-1859, von Theodor Bohner

Alexander von Humboldt am Orinoco.
[176a]    Alexander von Humboldt am Orinoco,
im Begriff, eine Alstroemeria
in sein Herbarium zu legen.
Gemälde von F. G. Weitsch, 1806.
Berlin, Nationalgalerie.
Im Jahre 1862 sollen die Büsten Lessings, Goethes und Schillers in der Akademie aufgestellt werden. Jakob Grimm, der ältere der Brüder Grimm, wehrt ab: höchstens Humboldt dürfe neben Goethe gestellt werden. Noch 1870, am Abend der Schlacht von Woerth, senken die zum Schloß ziehenden Berliner Arbeiter in der Oranienburger Straße die Fahnen vor dem Hause, in dem Humboldt starb.

Humboldt selbst hat auch im höchsten Ruhm die Dauer für sich bestritten. Als ihm die Akademie neben Leibniz eine Büste im Sitzungssaal setzen will, lehnt er mit Heftigkeit ab: "Neben jeder Ehre ist auch Hohn. Lassen Sie mich doch still absterben! Die Büste kann einem Einundachtzigjährigen, selbst dem Tode so nahen Manne nur Trauer und Beschämung erregen. Die tiefe und ehrerbietige Dankbarkeit, die derselbe seinen Kollegen schuldig ist, wird ihn nie abhalten, die Individualität seiner Gefühle, von der seine innere Ruhe und seine Arbeitslast abhangen, zu verteidigen und zu schützen." Und immer sah er dabei zu der Leistung des älteren Bruders Wilhelm auf,

Denkmal für Alexander von Humboldt.
Denkmal für Alexander von Humboldt.
Humboldt-Universität Berlin.
[Bildarchiv Scriptorium.]
des Gesandten, Kultusministers, Universitätsgründers, Denkers und Sprachphilosophen, mit dem zusammen er heute in Stein die Berliner Universität bewacht. Er betonte dann die Vergänglichkeit der eigenen Leistung, nachdem er sich nun einmal frühe "einem wüsten Realismus" ergeben habe, will sagen der Erforschung der Sinnenwelt statt des Geistes, durch den der Mensch erst zum Höchsten aufsteigt. Noch die Vorrede zum Kosmos spricht von den naturwissenschaftlichen Schriften, die im Gegensatz zu Dichtwerken "veraltet als unlesbar der Vergessenheit übergeben sind".

Den Bruder Wilhelm zieht denn auch Schiller vor. "Alexander", schreibt er seinem Freunde Körner, "imponiert sehr vielen und gewinnt im Vergleich mit seinem Bruder meistens, weil er ein Maul hat und sich damit geltend machen kann. Aber ich kann sie dem absoluten Werte nach gar nicht miteinander vergleichen, so viel verehrungswürdiger ist mir der Bruder." Er traut ihm "trotz aller seiner Talente und seiner rastlosen Tätigkeit" nichts Großes in der Wissenschaft zu. Bei "allem ungeheuren Reichtum des Stoffes" findet er Dürftigkeit des Sinnes in ihm: "für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ und ein viel zu beschränkter Verstandesmensch". Körner stellt richtig, daß Alexander "die zerstreuten Materialien zu einem Ganzen ordnet und zu neuen Fragen an die Natur veranlaßt", und Goethe genießt in vollen Zügen: "Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange, und doch bin ich von neuem über ihn im Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen [172] und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zuhause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht, wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt." Und er setzt unter seine Maximen und Reflexionen: "Die außerordentlichen Männer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts waren selbst Akademien, wie Humboldt zu unsern Zeiten". Umgekehrt nennt ihn wieder der Kronprinzenerzieher Ancillon in Berlin die "enzyclopädische Katze", um ihn zu verspotten.

Auch heute noch scheint die Anerkennung der Leistung durch die Vielseitigkeit erschwert, ja so nüchtern es klingt, allein schon durch die räumliche und zeitliche Ausdehnung. Das Leben Alexander Humboldts umfaßt ein Leben in Berlin, Paris, Madrid, Rom, im europäischen und russischen Asien wie jenseits des Atlantischen Ozeans. Er bewahrt noch persönliche Kenntnis Friedrichs des Großen aus eigenen Jünglingsjahren und kann als Greis

Holzschnitt, 1860. Nach einer Zeichnung von Andreas Müller.
"Schiller, Wilhelm und Alexander von Humboldt und Goethe in Jena."
Holzschnitt, 1860. Nach einer Zeichnung
von Andreas Müller.
[Bildarchiv Scriptorium.]
über den eben zur Regierung gelangten Prinzen, den späteren Kaiser Wilhelm I., einem Freunde schreiben: "Kommen Sie nach dem neuen Berlin, wo Sie frisch atmen werden." Er verkehrt als Gleicher unter Gleichen im Weimar Goethes, Schillers und Wielands wie im Institut de France unter den Pariser Gelehrten, mit deren größten er Studierzimmer und Bibliotheken teilt, und wo ihn nur Napoleon selbst ablehnt: "Sie beschäftigen sich mit Botanik. Das tut auch meine Frau". Er führt aber ebenso die Blüte der deutschen Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert herauf von Gauß und Bessel zu Liebig und Helmholtz bis hart an unsere Zeit. Er ist ein Zeitgenosse Galvanis und Voltas wie Robert Mayers. Wiederum klettert er in Dachstuben, um junge Gelehrte ausfindig zu machen, und schreitet durch die Tuilerien, das Pariser Schloß, in Missionen seiner Könige, die nicht unwichtig zu sein brauchen, weil sie so geräuschlos erfüllt wurden. Seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten dann behandeln so viele Gebiete, daß jedem andern gegenüber der Zweifel berechtigt wäre, ob dabei im einzelnen Fach noch eine persönliche Leistung möglich sei. Hat nicht der Mathematiklehrer des Jünglings gesagt, er wäre ein sehr guter Mathematiker geworden, wenn er sich mit Mathematik allein oder doch hauptsächlich hätte beschäftigen können? Wer seine Größe empfinden will, muß erst Abstand nehmen wie vor einem Gebirge.

Der erste bekannte Humboldt ist Bürgermeister von Königsberg in der Neumark im Dreißigjährigen Krieg. Seine Nachkommen erscheinen als Gutspächter (Arrendatoren). Der Urgroßvater, gestorben 1723, tritt in den Hofdienst. Von dem Kurfürstlichen Hof- und Legationsrat wird die große Reiselust erwähnt und eine diplomatische Sendung nach Frankreich. Dem Großvater zerschmettert 1706 bei Turin eine Kugel den Fuß. Er dient dann im Garnisondienst in Kolberg, heiratet die Tochter eines Generaladjutanten und erhält 1738 den Adel. Sein Sohn Alexander Georg, der Vater unserer Humboldts, gewinnt das besondere Vertrauen [173] Friedrichs des Großen, der ihn zum Kammerherrn des Prinzthronfolgers (Friedrich Wilhelms II.) macht. Der Brief eines englischen Botschafters von 1776 rühmt den "Mann von klarem Verstand und schönem Charakter" und sieht bei einem Thronwechsel in ihm den kommenden Mann. Aber der Tod schnitt diese Hoffnungen schon sieben Jahre vor dem Hintritt Friedrichs ab.

Georg Alexander hatte erst mit sechsundvierzig Jahren (1766) geheiratet. Maria Elisabeth von Colomb, verwitwete von Hollwede, war Tochter des ostfriesischen Kammerdirektors gleichen Namens. Ihr Großvater, der bürgerliche Hugenotte Henri Colomb aus Nîmes, war nach der Aufhebung des Edikts von Nantes über Dänemark nach Brandenburg gekommen und hatte sich als Kaufmann in Neustadt an der Dosse niedergelassen. Eine Enkelin von ihm wird die Mutter der Humboldts, eine andere die zweite Gemahlin Blüchers. Die Humboldts entstammen also deutschem und französischem Bürgertum, das eben erst geadelt worden war. Sie haben zugleich eine in der preußischen Geschichte nicht unberühmte Blutmischung. Zwei Söhne schenkte Frau von Humboldt dem Gatten, Wilhelm, am 22. Juni 1767 in Potsdam, und Alexander, am 14. September 1769 in Berlin, Jägerstraße 22, in dem Hause, das sie mit reichem anderen Grundbesitz Colombscher und Hollwedescher Herkunft in die Ehe gebracht hatte. Die vierzehn Taufpaten Alexanders sind alle Prinzen, Minister oder Generallieutenants, an der Spitze der künftige König selbst. Die Zeitgenossen, aber auch noch späte Biographen geben zu verstehen, daß Wilhelm und Alexander die glänzenden Erwartungen, die sich an solche Auszeichnung der Kinder knüpften, nicht im üblichen Sinne erfüllt haben, sondern sich "standeswidrigen Neigungen" zu Studien ergaben. Damals gab ja noch der tüchtige Minister Graf Hagen, wie Freiherr vom Stein erzählt, seinen Unterbeamten einen gedruckten Glückwunsch zurück: "Sie wissen, ich lese nichts Gedrucktes; geben Sie mir das schriftlich!", oder ein unvorsichtiger Kandidat wurde getadelt, weil er im Examen bejaht hatte, daß Beschäftigung mit den Wissenschaften sich für den Beamten passe. Jedenfalls war es ein Raub am Stand und dem König, Studien und der eigenen Persönlichkeit leben zu wollen. Die Zeitgenossen meinen, ein Vater wäre bei längerem Leben solchen Neigungen der Söhne früher entgegengetreten. Aber Frau von Humboldt war ebenso bestrebt gewesen, ihre Söhne dem Staatsdienst zuzuführen, Wilhelm als Juristen, Alexander als Kameralisten (Staatswirt); nur der Heeresdienst schien trotz einer Neigung Alexanders der Familie nach ihrer bisherigen Erfahrung nicht aussichtsreich genug.

Ihre Begabung hat beide Söhne schon in frühen Jahren über die ursprünglichen Ziele hinausgewiesen. Gefördert wurden die Begabungen durch den reichen Unterricht, den die Witwe im Sinne ihres Gatten ihnen erteilen ließ. Er selber hatte ja schon in Campe, dem Verfasser des deutschen Robinson, den besten ihm Erreichbaren für seine Kinder gewonnen, wenn auch Campe bald der größeren Tätigkeit am Philanthropinum in Dessau sich zuwandte. Die eigentliche Oberleitung hatte dann der nachmalige Rat im Innenministerium Kunth, der in dauerndem [174] persönlichen Verhältnis zu beiden Brüdern blieb und mit im Park von Tegel ruht. Kunth leitete die Auswahl der Lehrer und durfte wieder die Besten wählen: kein Geringerer als der alte Doktor Heim gab den botanischen Unterricht, wie für Deutsch Engel, der berühmte Verfasser des Lorenz Stark, gewonnen war.

Alexander wurde mit dem älteren Bruder gemeinsam unterrichtet. Wenn leichte Auffassung zunächst bei ihm vermißt wird und er viel kränkelt, so erscheint uns das heute als eine Folge der vielleicht übermäßigen Ansprüche an den Knaben. Dann erkennen die Lehrer die dem Bruder ebenbürtige Begabung, nur

Alexander von Humboldt.
Alexander von Humboldt.
Selbstbildnis in Paris, 1814.
[Nach wikipedia.org.]
daß sie bei Alexander auf die Außenwelt gerichtet ist. So deuten sie auch seine Überlegenheit im Radieren und Stechen, worin die beiden Chodowiecki unterweist. Nebenbei: das beste Bildnis Alexanders aus seiner Pariser Zeit, eine Radierung, stammt von ihm selbst. Bei Lehrern, die die ersten ihres Faches sind, legt Alexander den Grundstock seines Wissens. Hier lernt er, nichts aus zweiter Hand zu nehmen, sondern immer selbst an die Quellen zu gehen. "Wozu brauchen Sie diese Eselsbrücke?" fragt er bei einem unerwarteten Besuch seinen Schützling, den späteren berühmten Geologen Agassiz, in dessen Dachbude er ein Konversationslexikon findet. Allerdings gehörte zu dem Verzicht darauf auch ein Humboldtsches Gedächtnis: der Achtundsechzigjährige wird einmal mitten im Trubel eines Universitätsjubiläums in Göttingen rasch auf die Bibliothek gehen und eine nicht weiter wertvolle Stelle in einer arabischen Reisebeschreibung nachschlagen, die er vor vierzig Jahren an gleicher Stelle und seitdem nie wieder gelesen hat.

Es wird uns nichts vom Schlaf der beiden erzählt. Langer Schlaf galt im Hause Humboldt aber schon immer als Vorurteil. Alexander jedenfalls kam mit der Zeit mit dreieinhalb Stunden aus. 1807 liest er einmal ohne Ermüdung dreiundneunzig Stunden lang halbstündlich seine Meßaufstellung zum Erdmagnetismus ab.

Die Söhne klagen leise über die Kühle der Mutter. Sie scheint die Fremde im märkischen Kreise geblieben zu sein, hatte zwei Gatten begraben und mußte an einem Sohn erster Ehe viel Kummer tragen. "Schloß Langeweil" nennt Alexander Tegel, wenn sie Sonntags hinausreiten, nachdem sie die Woche in Berlin gearbeitet haben. Ersatz für das Elternhaus müssen die geistigen Zirkel der Hauptstadt bieten. Es ist durch die Zeit bedingt, wenn die jungen Adeligen nach dem Vorbild eines bekannten preußischen Prinzen dabei auch bei Mendelsohn, der Hertz oder der Rahel erscheinen. Daß Wilhelm 1789 beim Ausbruch der Revolution mit Campe begeistert nach Paris zur "Leichenfeier des Despotismus" reist, wie die Kühle Alexanders gegenüber rein Staatlichem, wenn es nicht um Förderung der Wissenschaft, Künste oder Wirtschaft geht, mag eine Erinnerung an diese Salons sein.

Ein gemeinsames Studienjahr beider Brüder an der märkischen Universität in Frankfurt an der Oder geht ohne nachhaltigen Eindruck vorüber. Alexander ist darauf ein Jahr in Berlin bei botanischen, mathematischen und technologischen Studien, um dann dem Bruder nach Göttingen nachzufolgen. Hier bestärkt der große Altertumsforscher Heyne die eine Richtung seines Denkens, die das [175] Lebendige gerne aus seinem Werden erkennt und begreift. Eine Arbeit über den Webstuhl bei den Alten und bei uns hat sich nicht erhalten. Göttingen ist aber auch ein Sitz der Mathematik und Naturwissenschaften. Blumenbach, den Vater der vergleichenden Erdkunde und der Lehre von den fünf Menschenrassen, hat Humboldt lebenslang als seinen "Lehrer" angesprochen. Die Verbindung geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Studien zeigte eine Reihe Veröffentlichungen über Basalte, darunter die erste erhaltene selbständige Druckschrift gegenüber bloßen Zeitschriftenartikeln: Mineralogische Betrachtungen über einige Basalte am Rhein, 1790 bei Vieweg in Braunschweig verlegt. Ihr Inhalt ist heute überholt. Sie ist aber ein echter Humboldt in der genauen Verwertung der eigenen Beobachtungen wie im Durchverfolgen des Gegenstandes durch die gesamte antike Literatur. Humboldt erklärt den Basalt "neptunisch", durch Ablagerung aus dem Wasser entstanden. Der Fehler erscheint erträglicher, wenn Professor Witte in Rostock umgekehrt damals Pyramiden, ägyptische Königssarkophage und die Ruinen von Persepolis "vulkanisch", aus dem Feuer entstanden, sehen wollte, die Sarkophage z. B., indem sich zwei Lavablöcke "wie ein Paar Zwiebäcke" zusammenlegten.

Die sorgfältige Erfassung der rheinischen Basalte, wie sie die Schrift bot, machte Humboldts Namen in der Bergwelt bekannt und blieb nicht ohne Folgen für seine Laufbahn. Sie war die Frucht einer mit einem Freund 1789 unternommenen Herbstreise. Auf dieser Reise war in Mainz im Hause Georg Försters zugleich seine geheimste Sehnsucht angerührt worden. "Wäre es mir erlaubt", schreibt der Greis im Kosmos, "eigene Erinnerungen anzurufen, mich selbst zu befragen, was einer unvertilgbaren Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gab, so müßte ich nennen Georg Forsters Schilderungen der Südseeinseln, einen kolossalen Drachenbaum in einem alten Turm des botanischen Gartens in Berlin."

Der Naturforscher und Schiffsphilosoph auf Cooks zweiter Weltreise war Reinhold Förster gewesen. Georg hatte schon, wie als neunjähriger Junge bei der russischen Reise, seinen Vater begleitet. Er hatte, da die britische Admiralität eifersüchtig dem Vater es verweigert hatte, nach dessen Tagebüchern die Schilderung der Reise herausgegeben. Der Ruhm des Buches war dann in die Welt gegangen. Die verworrenen Lebensschicksale des Vaters, den kein Erfolg wirklich löste, waren dem Sohne zugute gekommen: die Härten und Brüche des Älteren waren bei ihm Liebenswürdigkeit und Begeisterungsfähigkeit geworden, während die tragischen Irrtümer, die sein frühes Ende in der Revolution herbeiführten, noch verborgen in ihm schlummerten. Mit der ausgedehntesten Kenntnis der Natur, die ein Lebender haben konnte, im Besitz vieler Sprachen und ein Schlüssel zu allen Fernen der Erde, ein gefeierter Schriftsteller und herzlicher Mitstrebender, so trat er dem fünfzehn Jahre jüngeren Besuch entgegen. Sie reisen das Jahr darauf zusammen bereits nach den Niederlanden und England. In seinen Ansichten vom [176] Niederrhein hat Förster die Reise festgehalten und zugleich vor der deutschen Lesewelt nachhaltig auf seinen genialen Gefährten gewiesen.

Zunächst bleibt aber Humboldt bei dem von der Mutter bestimmten Ziel. Er übersiedelt nach Hamburg und hört an der Handelsakademie von Büsch und Ebeling ein Kolleg über Geldumlauf, lernt Buchhaltung und alle Geheimnisse eines Kontors. Dazu verkehrt er in den großen Patrizierhäusern und macht Bekanntschaft mit Matthias Claudius, Voß und den beiden Stolberg. Ostern 1791 geht er in jäher Wendung auf die Bergakademie nach Freiberg. Dem Begründer dieser Hochschule deutschen Bergbaus, dem nunmehrigen preußischen Wirtschaftsminister von Heinitz, legt er dabei den "Entwurf seines künftigen öffentlichen Lebens" vor: er will sich diesem Zweig des Staatsdienstes widmen und bittet, ihn "allenfalls schon jetzt" anzustellen. Von Heinitz, der die Schrift über den Basalt gelesen hat, kommt die niemals erwartete Zusage, ihn, sobald er von Freiberg wiederkommt, zum Assessor mit Stimme bei der Hütten-, Berg- und Haupttorfadministration im Ministerium zu machen.

Freiberg zog Humboldt an durch den größten Gesteinskenner von damals, den großen "Neptunisten" Werner. Für ihn fast noch wichtiger wird der Unterricht Freieslebens und das ständige Wandern unter Berg mit dessen Sohn, den ihm Werner als Führer bestimmt hatte. Das schöne Denkmal ist die Flora Fribergensis, die Behandlung der unterirdischen Pflanzenwelt des Reviers. Sie gab den Zeitgenossen völlig neue Einblicke in die Organisation des Lebens, wie sie auch die Begründung neuer Wissenschaften, wie Tier- und Pflanzengeographie verlangte. Der junge Verfasser erhält vom sächsischen Landesherrn eine goldene Medaille; aber auch ein schwedischer Botaniker benennt eine indische Lorbeerpflanzenfamilie nach ihm. Aus Freiberg stammt ferner die enge Freundschaft gleichstrebenden Interesses mit Leopold von Buch, dem Begründer der preußischen geologischen Wissenschaft, mit dem zusammen er später auf Grund ihrer persönlichen vielfachen Einsicht in Vulkane den Sieg des Vulkanismus, der "feurigen" Entstehung der Erdrinde, durchficht, nachdem sie den Neptunismus ihres Lehrers hatten aufgeben müssen.

Nach gerade dreiviertel Jahren verläßt Humboldt Februar 1792 Freiberg. Drei Tage danach ist er schon Assessor bei der Bergbauverwaltung in Berlin. Ein Vorgesetzter findet sogar, er habe "zu kleinlich praktisch" studiert; ein Mann von seinem Stande sei nicht zum Geschwornen (praktischen Bergmann) geboren. Aber die praktische Kenntnis des Neulings zusammen mit seinem klaren Blick setzte sich schnell durch. Nach ein paar Wochen hat er schon die neuerworbenen fränkischen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth geologisch und bergmännisch aufzunehmen. Sein Vortrag vor Heinitz und dem fränkischen Provinzialminister, niemand anders als Hardenberg, bewirkt nicht nur, daß er sofort zum Oberbergmeister in den Fürstentümern ernannt wird und weitere Reiseaufträge erhält, die ihn über Bayern, Salzburg, Wien nach Galizien und wieder nach Schlesien führen: bei [177] seiner gewagten Reise ins Hauptquartier 1794 nimmt ihn Hardenberg als seinen Vertrauten mit. 1796 hat Humboldt dann schon selbständig diplomatische Verhandlungen für das Land mit den Franzosen bei der Armee zu führen.

Es bleibt scheinbar wenig Zeit für das eigene Amt dabei. Es ist aber eines seiner Geheimnisse, mit wenig Zeit vieles zu tun: er stellt archivalisch die Geschichte der gesamten fränkischen Gruben fest und setzt danach die vernachlässigten Werke wieder in Gang, daß der Ertrag in einem Jahr sich vervierzehnfacht. Er hat aber auch Zeit, sich für die Hebung seiner Arbeiter einzusetzen. In Steben, das ihm ja besonders viel verdankt, errichtet er eine bergmännische Freischule. Er hängt sein Herz an diese Arbeit: "Ich war in einem immerwährenden Zustande der Spannung, daß ich des Abends nie die Bauernhäuser am Spitzberg in Nebel gehüllt und einzeln erleuchtet sehen konnte, ohne mich der Tränen zu enthalten. Diesseits des Meeres finde ich wohl nie so einen Ort wieder".

Der Minister will ihm die Aufsicht über ganz Schlesien oder Westfalen übertragen. Aber Humboldt bittet bereits um seinen Abschied. Er schützt Kränklichkeit vor. In Wahrheit will er seinen Studien leben. Eben beschäftigen ihn die "Versuche über die gereizte Muskelfaser", die den Chemismus der Lebensvorgänge enträtseln wollen; sein blutender Rücken und seine Mundhöhle tragen die Spuren der Versuche, wie er ja auch beim Studium der "Irrespirabeln (Stick-)Gase" im Bernecktal fast erstickt war. Der Minister will ihm jeden Urlaub, zuletzt Gehalt ohne Dienst geben, nur um ihn zu halten. Humboldt lehnt ab: "Ich befolge sonst gern den Rat meiner Freunde, fühle, daß ich nicht reich genug bin, um auch eine kleinere Zulage gern zu entbehren, fühle aus Eitelkeit, daß Fürsten auch für Menschen meines Schlages etwas tun können. Aber je mehr man die sittlichen Handlungen anderer richtet, desto strenger muß man selbst die Gesetze der Sittlichkeit befolgen". Wenige Wochen danach gibt ihm der Tod der Mutter auch die Vermögensfreiheit.

Eine letzte Bildungsstation in Deutschland: Wilhelm hat mit Karoline von Dacheröden in den Weimarer Kreis geheiratet. Alexander kommt so 1797 nach Jena und Weimar, nachdem er als einziger Naturforscher auf Schillers Wunsch für die Horen einen Beitrag "Der rhodische Genius" geschrieben hat. Er ist durchaus Weimarer, ja es ist sogar mit seine geschichtliche Aufgabe, ein Stück Weimar in ein unsokratischeres Jahrhundert zu retten, wenn er die Natur als ein beseeltes Ganzes, einen "Kosmos", zu begreifen lehrt, bei dessen Beschreibung ihm Faustverse auf die Lippen kommen. Aber er ist eben auch die neue Zeit, die die Forschung der Magie entkleidet und ihr dafür die nüchterne Meßwaage gibt, vor der es Schiller so graut: "Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstabe macht". Trotz Schillers Nichtverstehen ist dabei das Verlangen nach dem Ganzen doch die eigentliche [178] Triebkraft in Humboldt, die ihn ebenso zu den zahlreichen Meßversuchen wie zur Weltreise zwingt. Und im Verlangen nach dem Ganzen ist er Weimarer, den Karl Alexander darum 1857 nach Weimar zur Enthüllung der Denkmäler Goethes, Schillers und Wielands einladen konnte: "Sie sind so unzertrennbar von der Zeit, auf welche jene Namen hinweisen".

Die Sehnsucht Humboldts in seinem Forschen geht auf die große Reise. 1798 fordert ihn Lord Bristol, "halb toll, halb Genie", zur Mitreise nach Aegypten auf. Humboldt begibt sich nach Paris zur Vorbereitung. Da wird Bristol als Engländer von den Franzosen in Italien gefangengenommen. Humboldt selbst ist in Paris mit offenen Armen begrüßt. Bougainville, der nach seiner Weltumsegelung jetzt zum Südpol fahren will, trägt ihm die Mitfahrt an. Auch als das Direktorium daraus eine fünfjährige Weltreise unter Baudin macht, ist er unter den Auserwählten. Kriegswirren verhindern die Ausfahrt. Enttäuscht, aber nicht entmutigt will Humboldt im Gefolge eines schwedischen Konsuls, der dem Dey von Algier Geschenke bringen soll, nach Nordafrika gelangen. Der Botaniker Bonpland, der auch für Baudins Schiff ausgesucht war, ist sein Gast dabei. In Marseille bekommen sie nach wochenlangem Warten die Nachricht, die schwedische Fregatte sei vor Portugal mit Mann und Maus untergegangen.

Zu einem letzten Versuch wandern sie zu Fuß ständig botanisierend und das Land aufnehmend nach Madrid: vielleicht ist auf einem spanischen Schiff eine Überfahrt nach Smyrna möglich. Da erlöst ihn das Schicksal: der sächsische Gesandte in Madrid Herr von Forell erwirkt ihm nach einer Vorstellung bei Hofe über den allmächtigen Minister Urquijo die Erlaubnis zur Reise nach "Amerika", wo sonst nur auf der Iberischen Halbinsel Geborene landen dürfen. Wird doch auch Humboldt 1800 im Militärposten San Carlos am Amazonenstrom an der brasilischen Grenze beinahe gefangengenommen, weil er nur die spanische, nicht auch die portugiesische Zulassung hat.

Hängebrücke über einen Fluß im Orinoko-Gebiet in Südamerika.
[184a]      Hängebrücke über einen Fluß im Orinoko-Gebiet in Südamerika.
Farbstich nach einer Zeichnung von Alexander von Humboldt.
Aus seiner "Reise in die Äquinoktialgegenden, 1799–1804".

[Bildquelle: Johannes Schulz, Berlin.]

Am 5. Juni 1799 gewinnt die Korvette Pizarro mit Humboldt und Bonpland von Coruna aus die offene See. Das letzte, was sie von Europa sehen, ist der Turm, in dem der Forschungsreisende Malaspina, den Hofintrigen stürzten, gefangen sitzt. Aber von diesem fünften Juni an ist alles, was sie erleben, ein Stück europäischer Geistesgeschichte geworden: ihre Beobachtung des Himmels und der Gestirne, die Landung auf den Kanarien und die Besteigung des Piks, die Aufgabe des ursprünglichen Fahrtziels Kuba wegen der Kapergefahr und die Landung in Venezuela, der Aufenthalt dort mit den großen Stromfahrten auf dem Orinoco und dem mit ihm durch Flußgabelung verbundenen Amazonenstrom, die drei Monate auf Kuba, die neue Änderung der Reise, da er hofft, Baudin in Südamerika zu treffen, der Besuch von Columbia, Ecuador und Peru, der lange, fruchtbare Aufenthalt in Mexiko und dann die Rückfahrt über Havana und Nordamerika, bis sie am 3. August 1804 wieder in Bordeaux landen. Es ist alles ein Stück Geistesgeschichte geworden, weil Humboldt nie, weder zu Wasser noch zu [179] Lande, unter glühender Sonne nicht und nicht im Schnee am Strand, auf den Sechstausendern und in keiner Krankheit oder Gefahr die dauernde Beobachtung der Natur, des Menschen und der Menschheit unterbricht und weil er nach seiner umfassenden Bildung unerschöpflich ist in jenen immer neuen Fragen an sie, die Körner schon rühmte: über die Temperatur der Meere oder über die Verbreitung der Wahrnahme eines Sternschnuppenfalls, über die Abhängigkeit der Vegetation von der Seehöhe oder die Fruchtbarkeit der Schildkröten, über die Wirkung des Pfeilgiftes oder die Menge des von Amerika nach Europa gekommenen Goldes und Silbers und damit des Geldbestandes der handeltreibenden Völker oder die Herkunft der Aztekenkultur. Die Mühen und Entbehrungen werden dabei von diesem Reisenden "am Busen der Natur" heiter ertragen: wochenlange Fahrten in kleinen Booten, in die man ganze Menagerien von Tieren mitgenommen hat und auf denen keine Bewegung möglich ist, während einen die Moskitoschwärme einhüllen, vierzehntägige Märsche mit bloßen und zerrissenen Füßen auf vereisten Straßen im Hochgebirge, das Schlafen auf nackter Erde wie die Bergluft des Cotopaxi, der Mordüberfall eines Farbigen. Ja alles dient nur dazu, die bis dahin schwankend gewesene Gesundheit für immer zu kräftigen.

Die Reise mit Abenteuern wie die Besteigung des Chimborasso, Höhen, an die sich noch kein Mensch gewagt, oder des Vulkans Cotopaxi hat Humboldts Ruhm auch beim gemeinen Mann begründet. Humboldt selbst sind seine persönlichen Erlebnisse dabei so unwichtig, daß im Reisewerk die Erzählung der eigentlichen Reise bereits bei der ersten Landung in Havana abbricht. Dagegen wird die wissenschaftliche Auswertung nun seine Lebensaufgabe, der sein großes Vermögen wie seine laufenden Einkünfte ohne Rücksicht geopfert werden. Ein vollständiges Exemplar des Reisewerks umfaßt zwanzig Folio-, zehn Quartbände und kostete 2753 preußische Taler. Humboldt selbst war nicht reich genug, eines zu behalten. Ein ganzer Stab von Gelehrten ist an der Herausgabe mitbeschäftigt. Jeder einzelne Band wird zum Ereignis. Wenn die astronomischen Messungen und die damit gegebenen Klarstellungen der Karte Südamerikas wie der Erde ganz zunächst nur von den Gelehrten gewürdigt werden können, so werden die Reiseerzählung, der Politische Essai über das Königreich Neuspanien mit seiner spannenden Darstellung Mexikos, das Handbuch über Kuba und die ihrem Verfasser besonders werte Abhandlung über Pflanzengeographie bald auch ein Besitz der Laienwelt.

Humboldt hat das Werk in Paris und französisch herausgebracht. Die preußische Heimat hatte ihn herzlich aufgenommen, der König ihn wegen der großen Reiseauslagen zum Kammerherrn mit 2500 Talern Gehalt ohne Dienstleistung gemacht. Dennoch blieb Humboldt gerne in Paris, als er 1808 Prinz August, der die Tilsiter Bedingungen nachträglich als Gesandter mildern sollte, beigegeben wurde, und er blieb bis 1827. Wollte er wirklich nur "seinen Ruhm auf die angenehmste Weise verzehren", wie der Spott sagte? Goethe hat einmal Eckermann gegenüber betont, [180] was Humboldt das Leben an einem Weltmittelpunkt wie Paris bedeuten mußte. Denn Paris war damals die geistige Hauptstadt Europas und erlebte gerade die Hochblüte seiner Wissenschaft von den großen Naturforschern wie Berthollet, Cuvier, Gay-Lussac, Arago hinüber zu Historikern und Staatsmännern wie Guizot oder Thiers. Nur in Paris fand Humboldt auch die vorzüglichen Zeichner und Drucker, die sein Werk brauchte. Sicher hat er, dessen mütterliche Großeltern ja noch reine Franzosen gewesen waren, wenn auch Ausgewanderte, das Französisch gerne angenommen; er hielt zwar Spanisch für die ihm geläufigste Sprache. Es berührt uns auch eigentümlich, wenn der englische* Astronom Herschel von ihm deutsche Briefe erst ausdrücklich verlangen muß, da "Sie selbst von diesem edeln Deutsch zugeben, daß es Ihnen noch eigentümlicher ist als das Französisch". [*Scriptorium merkt an: Wilhelm Herschel war Deutscher, in England tätig!]

Humboldt blieb sich seiner deutschen Herkunft und Bildung trotzdem bewußt. Es gab keinen Deutschen in Paris, der, wenn er es brauchen konnte, von ihm nicht gefördert wurde. Er lädt auf seinen ersten Vortrag hin den jungen, noch namenlosen Liebig ein, um ihn mit den ersten Chemikern der Welt bekannt zu machen, und ist unverdrossen zur Wiederholung bereit, als das erstemal durch einen Zufall Liebig den Namen seines Gastgebers nicht hat erfahren können. Humboldt, den ja jeder Droschkenkutscher in Paris kannte, hatte ihn nicht angegeben. Die deutsche Kolonie gibt ihm den Ehrennamen des "socialen" Konsuls, des Konsuls, der für die Beziehung von Mensch zu Mensch und die Hilfe an den Menschen sorgt. Es ist auch kein Zweifel, wenn es auch noch unerforscht blieb, daß Humboldt schon in jenen Jahren wie später unbeobachtet manche wichtige politische Vermittlung im Auftrag Berlins führte. Und dann ist doch die Frucht des langen Pariser Aufenthaltes mit die Herübernahme der wissenschaftlichen Überlieferungen nach Deutschland, wie sie die Hochblüte unserer Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert zur Voraussetzung hat.

Alexander von Humboldt im Gespräch mit Berliner Gelehrten.
[160b]      Alexander von Humboldt im Gespräch mit Berliner Gelehrten
(Humboldt: der dritte von rechts).
Zeitgenössische Lithographie. Berlin, Sammlung Arthur Runge.

[Bildquelle: Johannes Schulz, Berlin.]

Der Schriftsteller Humboldt aber hatte schon längst der Nation seine Schuld bezahlt: 1807 waren die Ansichten der Natur erschienen, die auch heute unveralteten großen Naturbilder, in denen ein Meister sein großes Erleben für immer festhielt. Die Widmung aber ging an "bedrängte Gemüter": "Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe, auf den hohen Rücken der Andeskette. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor:
      "Auf den Bergen wohnt Freiheit".

Das Buch ist schnell ein deutsches Besitztum geworden und geblieben.

1827 berief Friedrich Wilhelm III. seinen Kammerherrn an seinen Hof. Er hatte bei seinem Aufenthalt in Paris 1814 die Unterhaltung mit dem Weltweisen schätzen gelernt. Die Rückberufung hatte aber zugleich den Zweck der Ordnung der finanziellen Verhältnisse des nie um sich selbst Besorgten und ist von Friedrich Wilhelm mit dem feinsten Herzenstakt durchgeführt worden. Humboldt wurde vor allem ein jährlicher, mehrere Monate dauernder Urlaub nach Paris zugesichert. [181] Humboldt wird nun mehr und mehr täglicher Umgang des Königs als der geistige Hauptvertreter der Zeit. Die billige Gegenüberstellung von Potsdam und Weimar, die schon angesichts der nahen verwandtschaftlichen und geistigen Beziehungen zwischen Friedrich dem Großen und Karl August von Weimar gezwungen erscheint, wird durch die Stellung Humboldts am Berlin-Potsdamer Hofe vollends vernichtet. Allerdings nimmt er keinen Einfluß auf die Politik, wenn er nicht eine bestimmte Sendung nach Frankreich durchführen muß. Die heimlichen Gegner, die in ihm den "revolutionären tricoloren Lappen" sehen, der allenfalls in Notzeiten gut war, brauchen ihn nicht zu fürchten, wenn sie eben nicht seine bloße Gegenwart als "oberster geistiger Instanz", wie Herman Grimm ihn einmal nannte, bedrückt hätte. Auch die unermüdliche Förderung aller geistigen Dinge, des Baus von Sternwarten wie der Begründung des meteorologischen Institutes – die Wissenschaft vom Wetter verdankt Humboldt ja ihre Grundlage –, durch die Erforschung des tropischen Ablaufs der Forschungsreisen eines Lepsius nach dem alten Ägypten oder der Schlagintweit in den Himalaja, die Beratung der Berufung von Professoren betreibt Humboldt unter Wahrung der Stellung eines jeden dienstlich Beteiligten. Friedrich Wilhelm IV. schafft ihm dann in der Friedensklasse des Ordens Pour le Mérite, dessen lebenslänglicher Kanzler er wird, ein besonders geschicktes Werkzeug für seine Arbeit.

Das Hofleben kostet Humboldt viel Zeit, aber er schläft ja nur drei Stunden. Der Hofmann Humboldt aber hat noch immer Umgang mit armen Gelehrten, denen er Freundschaft auch über das Grab hält. Er besorgt gelegentlich sogar die Kosten der Beerdigung, wenn einer trotz seiner Bemühungen im Elend gestorben ist. Der Sechzigjährige ist dabei noch rüstig genug, einer russischen Einladung zu folgen, die ihn weit in die Steppen Asiens bis an die Mongolei führt. 14 500 Werst legt er von Petersburg (Leningrad) zurück, 12 500 Pferde setzt er in Bewegung. Seine Verbindungen über die Welt benutzt er heimgekehrt in einem berühmten Brief an den Herzog von Esser, um England wie Rußland in den Dienst der Forschung am Erdmagnetismus zu stellen, dessen Klarstellung für Wetterkunde wie Schiffahrt unentbehrlich ist.

Dreimal spricht Humboldt, schon ein Greis, dann zu unserer Nation. Mai 1827 hatte August Wilhelm Schlegel in der Singakademie in Berlin Vorlesungen über bildende Kunst gehalten. Noch konnten öffentliche Vorlesungen in Deutschland auf Hörer nur rechnen, wenn sie Themen der Kunst oder Literatur behandelten. Jetzt zeigte Humboldt, der als Mitglied der Akademie dazu das Recht hatte, naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität an. Er wollte ausdrücklich für die "Kappen und Mützen", die Studierenden, lesen. Der Zulauf ist ungeheuer. Humboldt muß die Vorlesungen für die Allgemeinheit in der Singakademie wiederholen vor einer Zuhörerschaft, die vom König bis zum Maurermeister, von Gneisenau zu Musikern und Künstlern wie Zelter und Rauch reicht und auch die Frauen erfaßt. Dies sind die berühmten Kosmosvorlesungen, in denen zum ersten [182] Male in unserem Volk die Verbindung von der Wissenschaft zum Volk gesucht wurde. "Mit dem Wissen kommt das Denken, und mit dem Denken der Ernst und die Kraft in die Menge", sagt Humboldt selbst. Die Kosmosvorlesungen haben zugleich die Aufnahme naturwissenschaftlichen Fühlens und Denkens in die deutsche Bildung durchgesetzt. Sie behandelten den "Kosmos", d. h. sie gaben eine Weltkunde des Universums neben der vollständigsten Erdkunde der Zeit, und sie lehrten eben beim Anbruch eines Zeitalters der Mechanisierung im Erbe von Weimar, das Universum als ein lebendiges Ganzes in sich aufzunehmen. Aus diesen Vorlesungen stammt der Einzug Humboldts in die geheime Liebe des Volkes. Der Witz aber wußte bald von der Dame zu erzählen, die ihre Ärmel "zwei Siriusweiten" weit gemacht haben wollte.

Humboldt hat diese Begeisterung bewußt in den Dienst der Einigung der Nation gestellt, indem er nun die Tagung der deutschen Naturforscher und Ärzte nach Berlin zog, den König zur Teilnahme bewog, die große Eröffnungsrede hielt und die sechshundert Teilnehmer als seine Gäste zu einem glänzenden Fest vereinigte. "Deutschland offenbart sich gleichsam in seiner geistigen Einheit", wurde durch ihn die Losung dabei.

Alexander von Humboldt.
[176b]      Alexander von Humboldt.
Daguerrotypie von Hermann Biow, 1847.
Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe.
Fast bis zu seinem Tode hat Humboldt daran gearbeitet, was er in den Vorlesungen gleichsam im Grundriß ausgeführt hatte, nun in einem systematischen Werk darzulegen. Cotta hatte ihn nach den Universitätsvorlesungen gebeten, die Vorträge in der Singakademie durch einen Schnellschreiber für ein Buch aufnehmen zu dürfen. Humboldt, der den Unterschied zwischen Rede und Schrift zu genau kannte, versprach lieber ein selbständiges Werk. Aber erst 1845 erschien der erste Band, und bis zu seinem Tode (1859) geht die Arbeit an den weiteren Bänden. Dafür sucht der Kosmos außer der großen Ansicht des Universums, die der Inhalt der Vorlesungen gewesen war, das gesamte Naturwissen der Zeit, bereichert durch die Darlegung der geschichtlichen Entwicklung dieses Wissens, wiederzugeben. Nicht nur das Wissen! Das ganze Verhältnis des Menschen zur Natur wird behandelt, die Entwicklung des Landschaftsgefühls so gut wie der Anteil der Pflanzenwelt an ihm und der Tiere. Die seelische Haltung des Werkes macht es zu einem Wert auch noch für unsere Zeit entgegen der trüben Prophezeiung in der Vorrede.

Friedrich Wilhelm IV. nur, nicht mehr sein Vater, konnte die Vollendung der beiden ersten Bände durch die Prägung einer Medaille ehren. Das enge Verhältnis zwischen dem neuen König und dem Gelehrten ist in Berlin volkstümlich geworden. Der Gelehrte hatte sein Zimmer im Stadtschloß in Potsdam, zu dem der König oft in später Nachtstunde noch hinaufstieg, vertrauliche Zwiesprache zu halten oder eine rasche Belehrung zu holen. Die Freundschaft leuchtet bis in die Krankheit des Herrschers hinein, obwohl die politische Entwicklung dabei dem Weltbewanderten immer unerfreulicher wird. Er war kein Revolutionär und gab dem Trauerzug der Märzgefallenen das Geleit nur aus Rücksicht auf den König, dem er damit den [183] Gang ersparte. Aber er empfand noch unerfreulicher die Reaktion und das viele Versagen der preußischen Politik in jenen Jahren; er konnte so wenig wie alle andern die geheime Ursache in dem so verborgen einsetzenden Leiden des Herrschers ahnen. Unerquicklich war ihm auch die Herrschaft Napoleons III. oder die mangelnde Menschlichkeit in der Welt, wie sie ihm das langsame Vorwärtsschreiten des Kampfes gegen die Sklaverei in Amerika zu beweisen schien. Dagegen erkannte er frühe, schon 1848, die gesunde Kraft im Prinzen von Preußen und hatte die Freude, noch seine Anfänge als Regent zu sehen.

Sein eigentliches Leben aber blieben die Wissenschaften. Bis in seine letzten Tage verfolgt er die Neuerscheinungen. Die Vorrede zu den späteren Kosmosbänden beweist, mit welcher Klarheit er in den neuen Lehren über die "Erhaltung der Kraft" den Eintritt eines neuen naturwissenschaftlichen Zeitalters erkannte, das nicht mehr das seine war und ihn auch nicht mehr brauchte. Alle äußeren Ehren mochten ihn

Hilferuf Humboldts.
[183]      Ein Hilferuf Humboldts, veröffentlicht in der Sonntagsnummer der Vossischen Zeitung vom 20. März 1859.
nicht darüber hinwegtäuschen. Über die Welt aber strahlte noch immer sein Name als größter. Längst schon hießen drüben über dem Meer Dörfer und Städte, Grafschaften, Flüsse und Berge, ja ganze Meeresbuchten nach dem Gefeierten. Die Bewunderung seiner Mitmenschen hindert ihn fast, seine tägliche Arbeit zu tun.

Die oben wiedergegebene Anzeige in den Berliner Blättern vom März 1859 war wirklich ein Hilferuf in letzter Stunde. Ab 21. April des gleichen Jahres durfte der immer unermüdlich Gewesene das Bett nicht mehr verlassen. Vom 3. Mai ab gaben die Ärzte öffentlich Meldungen über sein Befinden. Am 6. Mai nachmittags entschlummerte er sanft, von der Tochter und dem Schwiegersohn seines Bruders behütet. Am 10. Mai fand eine öffentliche Trauerfeier im Dom statt; Prinzregent Wilhelm hatte den Sarg barhäuptig mit allen Prinzen des Hauses und der gesamten Generalität erwartet. Am 11. Mai wurde die Leiche in Tegel beigesetzt.

Eine Übersicht über den Ertrag der Lebensarbeit ist 1872 in einer dreibändigen Wissenschaftlichen Biographie: Alexander von Humboldt versucht worden, zu [184] der sich anders als bei gewöhnlichen Menschen eine Reihe Forscher aus den verschiedensten Gebieten zusammentun mußten, weil einer die Summe nicht ziehen konnte. Große Namen begegnen dabei: Carus, Dove, Grisebach, Peschel, Wundt, jeder in seinem Fache eine Leuchte. In Mathematik, Astronomie und mathematischer Geographie, in Erdmagnetismus, Physik und Chemie, in Meteorologie, Geologie, in Erd- und Völkerkunde, in Staatswirtschaft und Geschichtsschreibung, in Pflanzengeographie und Botanik, in Zoologie und vergleichender Anatomie, in Physiologie werden hier die originalen Leistungen aufgezeigt. Es stellt sich heraus, daß in einzelnen Fällen die Wissenschaft nach einem halben Jahrhundert wieder zu den von ihm gegebenen Fragestellungen zurückkehrt, wie bei den "Versuchen über die gereizte Muskelfaser". Oder es zeigt sich, daß die Welt vor Humboldt überhaupt nur etwa 8000 Gewächse kannte, während er allein 6000 neue Arten, die Hälfte davon noch nie beschrieben, aus Amerika mitbringt.

Rückschauend erscheint das alles als ein Nebenwerk gegenüber der Heranführung eines ganzen Kontinentes an das gebildete Bewußtsein, der ersten großen Durchforschung des gesamten tropischen Naturlebens und der amerikanischen kolonialen Wirtschaft. Und noch einmal ist dem Deutschen fast wichtiger der Durchbruch der naturwissenschaftlichen Weltanschauung im neunzehnten Jahrhundert, die Einsetzung von Natur- und Weltgeschichte in ihre Rechte, die vor den Kosmosvorlesungen durch das, was Humboldt den "Maskenball der Naturphilosophie" nennt, durch "eine Astronomie, die nicht rechnen, eine Chemie, die sich die Hände nicht naß machen wollte", schwer bedroht waren und mit durch ihn frei wurden. Dankbar erinnert sich der Deutsche auch, was nächst dem Bruder ihm Universitäten und Forschung an äußerer und innerer Förderung schulden. Aber als Wichtigstes nimmt er in die Zeiten den Eindruck einer großen Weltschau mit, die zugleich zuverlässig im Kleinen war, weil sie auch im Kleinen erarbeitet war, so wie sie im Großen groß empfunden wurde.

In der Halle des Museums malt in jener Zeit Kaulbach den Gang der Kultur durch die Zeiten, in dem er Ägypten, Griechenland, Rom und Deutschland in Frauengestalten darstellt. Die Vertreterin Deutschlands liest dabei in einem Buch, auf dessen aufgeschlagenen Seiten ein Wort steht: Kosmos.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz