[Bd. 3 S. 499]
Man darf, ja man muß diese beiden Männer in einem Atemzuge nennen. Das hat Liebig selbst am Ende seines Lebens in einem Brief an seinen Freund begründet: "Ich kann das Jahr nicht ablaufen lassen, ohne Dir noch ein Zeichen meiner Fortexistenz zu geben und die herzlichsten Wünsche für Dein und der Deinigen Wohl im neuen auszusprechen. Lange werden wir uns Glückwünsche zu neuen Jahren nicht mehr senden können; aber auch wenn wir tot und längst verwest sind, werden die Bande, die uns im Leben vereinigt, uns beide in der Erinnerung der Menschen stets zusammenhalten als ein nicht häufiges Beispiel von zwei Männern, die treu, ohne Neid und Mißgunst, in denselben Gebieten rangen und stritten und stets in Freundschaft eng verbunden blieben." (München, 31. Dezember 1871.) Als ihre Laufbahn begann, mußten beide Männer ins Ausland ziehen, um das chemische Arbeiten gründlich zu erlernen. Ein Vierteljahrhundert später kündete Wöhler seinem Freund den Besuch eines Ausländers mit den bezeichnenden Worten an: "Gleich wie jene Zauberinsel mit dem Magnetberg, die aus weiter Ferne alle Schiffe anzog und festhielt, so wirkt Gießen durch seinen liebenswürdigen Magnet auf alle durchreisenden Chemiker." (Göttingen, 21. Februar 1846.) Nochmals anderthalb Jahrzehnte später konnte Liebig voll [500] Stolz an Wöhler schreiben: "Wir können uns sagen, daß an den vielen Arbeiten der Gegenwart die unsrige sich abspiegle." (München, 26. Mai 1860.) Mit ihrer Arbeit hatten Liebig und Wöhler Schule gemacht; fortan wurden deutsche Chemiker ins Ausland gerufen, um überall zu helfen. [Scriptorium merkt an: hier ein Beispiel.] Der dritte Band des hessischen Geschlechterbuches enthält die ausführliche Stammtafel der Familie Liebig. Hiernach waren die Vorfahren schon im Mittelalter in der oberen Grafschaft Katzenellenbogen ansässig. Aus dem alten kernhaften Bauerngeschlecht gingen nach dem Dreißigjährigen Kriege tüchtige Handwerker und strebsame Kaufleute hervor. Hans Liebig verzichtete 1638 auf sein Lehnsgut Kastenhof zu Überau, zog nach Reinheim und wurde dort Zehntschöff, Kastenmeister und Bürgermeister. Von ihm stammt in gerader Linie Justus Liebig ab, der am 12. Mai 1803 in Darmstadt geboren wurde. Vom Lande in die Stadt war erst Johann Ludwig Liebig (1747-1818) gezogen, der Großvater von Justus. Er wurde Schuhmacher und heiratete auch die Tochter eines Meisters dieser Zunft. Sein Sohn Johann Georg (1775-1850) wuchs über ihn hinaus: er betrieb in dem ältesten und engst gebauten Stadtteil Darmstadts, in der Kaplaneigasse, ein Geschäft, für das er eigenhändig Firnis, Lacke und Farben in einem kleinen Laboratorium herstellte. Aus einem Briefe des jungen Studenten Justus (Bonn, 25. Februar 1821) ist zu entnehmen, daß der rührige, erfinderische Mann sogar sein Haus mit Gas beleuchtete. Johann Georg Liebig kam durch seine Tüchtigkeit und durch die Tatkraft seiner klugen Frau Maria Caroline geborene Moeser (1781–1855) zu Wohlstand und Ansehen. Er siedelte in die Neustadt über und gründete dort eine Drogerie. Seinen Eltern verdankte Justus Liebig wertvolle Anlagen und mannigfaltigste Anregungen. Von seiner Mutter erbte er nicht nur die scharfen und doch edlen Züge mit der Hakennase, sondern auch die ungeheure Arbeitskraft und den schlagenden Witz; vom Vater kam ihm die Lust am Experimentieren und die Liebe zu den Büchern. Mit einer Lesewut ohnegleichen verschlang der Knabe Justus wahllos den Inhalt all der ungezählten Schriften, die sein Vater aus der Hofbücherei entlieh. Dazu experimentierte er nach Herzenslust mit den Drogen und Chemikalien des Vaters, besuchte die Werkstätten aller Handwerker und guckte den Jahrmarktskünstlern ihre Kniffe ab. Sein Glanzstück wurde die Herstellung des Knallsilbers. Im Gymnasium war der aufgeweckte Knabe zunächst ein Durchschnittsschüler, bis er in der Sekunda versagte, weil ihn die Chemie bereits völlig in ihren Bann gezogen hatte und die alten Sprachen ihn nicht zu fesseln vermochten. Die Eltern nahmen ihn aus der Schule und gaben den Sechzehnjährigen zu dem Apotheker Pirsch nach Heppenheim an der Bergstraße in die Lehre. Dort blieb er nicht lange. Es behagte ihm wenig, "hinter dem Rezeptiertische für einen Kreuzer Läusesalbe zu verkaufen" und "sich für ein paar Jahr zum Knechte brauchen" zu lassen; überdies wünschte der Hausherr kein scheinbar nutzloses Experimentieren mit seinen [501] Chemikalien. Justus Liebig kehrte ins Elternhaus zurück und setzte es durch, daß er im Oktober 1820 das Studium der Chemie in Bonn begann. Dort merkte er die Lücken seiner Bildung und bemühte sich mit allen verfügbaren Mitteln und nie erlahmender Energie das Fehlende nachzuholen, besonders Mathematik, Latein, Griechisch, Französisch und Englisch, später auch Italienisch. Als sein Lehrer in der Chemie, Professor Kastner, nach Erlangen berufen wurde, zog Liebig ihm nach. Später, als gereifter Mann, fällte Liebig über Kastner ein hartes Urteil, er nannte seinen Vortrag "ungeordnet, unlogisch und ganz wie die Trödelbude aus Wissen beschaffen, die ich im Kopfe herumtrug". Liebig erzählte, daß er seinen Lehrer vergebens bat, ihm zu zeigen, wie ein Mineral analysiert wird, "er wußte es leider selbst nicht". (Autobiographische Aufzeichnungen.) Zu seinem Glück experimentierte Liebig mit unstillbarem Arbeitstrieb nach eigenen Gedanken weiter. Er fand bei seinen höchst gefährlichen Versuchen mit Knallsilber so schöne Ergebnisse, daß Kästner sie drucken ließ. Im März 1822 wurde Liebigs Studium jäh unterbrochen: aus Anlaß von Studentenunruhen wurden die Mitglieder verbotener Verbindungen verfolgt und verhaftet. Auch Liebig sollte als Mitglied einer Landsmannschaft verhaftet werden. Er war aber schon abgereist, seine Freunde hatten ihn rechtzeitig gewarnt. Nach Erlangen konnte er nicht zurück. Deshalb gab ihm der Vater schweren Herzens die Erlaubnis, nach Paris zu gehen. Kastner erwirkte ihm beim Großherzog von Darmstadt ein Stipendium für das Auslandsstudium. Überrascht und begeistert hörte Liebig an der Sorbonne die Vorträge von Gay-Lussac, Thenard, Dulong, Petit, Laplace, Cuvier. Sie wehten den Nebelschleier scheinphilosophischer Schwätzereien aus seinem Hirn und machten sein Denken klar und scharf. Sie ließen ihn mit heilsamem Schrecken erkennen, wie wenig Wissenschaft er bisher getrieben hatte und wie zusammenhanglos sein Wissen und Können war. Die Selbsterkenntnis beeinflußte die praktische Arbeit, die Liebig immer noch ohne besondere Anleitung in Vauquelins Laboratorium fortsetzte. Trotz aller Explosionen war er bei seinen geliebten knallsauren Salzen geblieben. Jetzt gelang es ihm, ihre Salznatur sicher nachzuweisen. Die Ergebnisse waren so auffallend und vielversprechend, daß Gay-Lussac über sie einen ausführlichen Bericht in der Akademie vortrug und auf Wunsch des zufällig anwesenden Alexander von Humboldt den glücklichen Entdecker in sein Laboratorium als Mitarbeiter aufnahm. Liebig hat dies selbst erzählt, in der Widmung für Alexander von Humboldt, die er seinem Buche Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie (1840) vorausschickte: "Zu Ende der Sitzung vom 22. März 1824, mit dem Zusammenpacken meiner Präparate beschäftigt, näherte sich mir, aus der Reihe der Mitglieder der Akademie, ein Mann und knüpfte mit mir eine Unterhaltung an; mit der gewinnendsten Freundlichkeit wußte er den Gegenstand meiner Studien und alle meine Beschäftigungen und Pläne von mir zu erfahren; wir trennten uns, ohne daß ich, aus Unerfahrenheit [502] und Scheu, zu fragen wagte, wessen Güte an mir teilgenommen habe. Diese Unterhaltung ist der Grundstein meiner Zukunft gewesen, ich hatte den, für meine wissenschaftliche Zwecke, mächtigsten und liebevollsten Gönner und Freund gewonnen. Sie waren Tags zuvor von einer Reise aus Italien zurückgekommen; niemand war von Ihrer Anwesenheit unterrichtet. Unbekannt, ohne Empfehlungen, in einer Stadt, wo der Zusammenfluß so vieler Menschen aus allen Teilen der Erde das größte Hindernis ist, was einer näheren persönlichen Berührung mit den dortigen ausgezeichneten und berühmten Naturforschern und Gelehrten sich entgegenstellt, wäre ich, wie so viele andere, in dem großen Haufen unbemerkt geblieben und vielleicht untergegangen; diese Gefahr war völlig abgewendet. Von diesem Tage an waren mir alle Türen, alle Institute und Laboratorien geöffnet; das lebhafte Interesse, welches Sie mir zuteil werden ließen, gewann mir die Liebe und innige Freundschaft meiner mir ewig teuren Lehrer Gay-Lussac, Dulong und Thenard. Ihr Vertrauen bahnte mir den Weg zu einem Wirkungskreise, den seit sechzehn Jahren ich unablässig bemüht war, würdig auszufüllen." Nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt bewarb sich Liebig mit warmer Fürsprache Gay-Lussacs und Alexanders von Humboldt bei der großherzoglich hessischen Regierung um eine Anstellung als Lehrer der Chemie. Er wurde zunächst der Landesuniversität Gießen zugewiesen, um sich dort prüfen zu lassen, ob er berechtigt sei, den Doktortitel zu führen, den er im Juni 1823 auf Kastners Vorschlag trotz seiner Abwesenheit in Erlangen erhalten hatte. Nach bestandener Prüfung wurde Liebig ohne Befragen der Universität am 26. Mai 1824 als außerordentlicher Professor der Philosophie mit einem Jahresgehalt von dreihundert Gulden in Gießen angestellt. Seine Vorlesungen begann er mit zwölf Zuhörern in einem kleinen Wachthäuschen auf dem Seltersberg. Für Geräte und Chemikalien waren ihm hundert Gulden jährlich bewilligt. Diese Summe reichte bei weitem nicht aus; die vorhandene bescheidene Sammlung wurde durch den ordentlichen Professor der Chemie Zimmermann unter Verschluß gehalten und sorglich vor jeder Benutzung gehütet. Infolgedessen mußte Liebig in die eigene Tasche greifen, um arbeiten zu können. Sein glänzender Vortrag, verbunden mit ungewohnten und ungewöhnlichen Experimenten, erregte bewunderndes Aufsehen. Zimmermann verlor alle Hörer. Als die ordentliche Professur durch den Freitod Zimmermanns in den Fluten der Lahn (19. Juli 1825) erledigt war, wurde sie im Dezember Liebig übertragen. Sie bedeutete zugleich achthundert Taler Jahresgehalt. Aber auch jetzt reichten die bewilligten Mittel noch nicht aus. "Sobald mir das Wasser nicht mehr unter den Händen in dem Laboratorium gefriert, will ich diese Analyse noch genauer vornehmen." Diese Briefstelle (an den Kabinettsekretär Schleiermacher, 16. Februar 1826) kennzeichnet die schwere Notlage. Selbstlos brachte Liebig das Opfer, aus seinem eigenen Einkommen zuzuschießen, um sachgemäß arbeiten [503] und unterrichten zu können. Unter Aufwand einer fast übermenschlichen Energie gelang es ihm nach und nach, etwas größere Räume und reichlichere Mittel zu erkämpfen. Am 26. Mai 1826 schloß Liebig mit Henriette Moldenhauer (1807–1881) eine glückliche Ehe, der zwei Söhne und drei Töchter entsprossen. Achtundzwanzig Jahre lang hat Liebig in Gießen gelebt und gelehrt und unter den größten Schwierigkeiten seine umfangreichen Experimentalarbeiten ausgeführt. Er hat sich dabei nahezu aufgerieben. Selbst im kräftigsten Mannesalter war er oft durch die Leidenschaftlichkeit seines Arbeitens bis zur Erschöpfung überanstrengt. "Meine letzte Arbeit über Alkohol hat mich, wie es zu Ende einer Arbeit bei mir stets geschieht, wieder auf lange Zeit krank gemacht", so schrieb er am 30. Mai 1832 an Wöhler. Nur selten gönnte er sich Ruhe und Erholung in einem Bade.
Von den vielen Einzeluntersuchungen, so wertvoll sie waren und noch sind, kann hier nicht die Rede sein. Nur einige besonders wichtige und charakteristische Arbeiten, Höhepunkte seines Schaffens, können berührt werden. Die Jugendliebe zu den knallsauren Salzen führte Liebig zu folgenschweren Entdeckungen. Als er die gewichtsmäßige Zusammensetzung des Silberfulminates ermittelt hatte, sah er mit Erstaunen, daß Friedrich Wöhler ein Jahr vorher genau dieselbe Zusammensetzung für das Silbercyanat gefunden hatte. Die beiden Forscher sprachen sich darüber aus und wiederholten ihre Analysen mit aller erdenklichen Sorgfalt. Dabei ergab sich unwiderleglich die Tatsache, daß die Eigenschaften einer Verbindung nicht nur von der Art und Zahl ihrer Atome, sondern auch von der gegenseitigen Lage der aufbauenden Teilchen abhängen, genau so wie Klang und Inhalt eines Wortes von der Reihenfolge der Buchstaben bedingt werden: die Dome sind weder der Mode noch dem Odem wesensverwandt, wenn auch die Buchstaben der Worte übereinstimmen. Die Analyse organischer Stoffe war zu der Zeit, als Liebig seine Laufbahn begann, außerordentlich schwierig. Die bisher bekannten Verfahren waren nur [504] in den Händen derer brauchbar, die sie ersonnen hatten. Es gab keine allgemein anwendbare Untersuchungsmethode. Erst Liebig hat ein solches Verfahren erdacht und ausgebildet, dessen Grundzüge noch heute gelten. Die Einfachheit der organischen Elementaranalyse Liebigs führte zu einem raschen Anwachsen der Summe gewichtsmäßig durchforschter Tatsachen, aus denen sich unzweifelhaft ergab, daß auch in der organischen Natur die Elemente nach ganz bestimmten Gewichtsverhältnissen miteinander verbunden sind. In das unübersehbare Gewirr organischer Stoffe brachte Liebig durch seine Radikaltheorie Ordnung hinein. Geradezu klassisch ist die Untersuchung über das Radikal der Benzoesäure, die er zusammen mit Wöhler ausführte. Liebig erkannte, daß beim chemischen Umsatz der Verbindungen stets Gruppen von Elementen eine gewisse Selbständigkeit bewahren. Welcher Art die Verbindungen auch waren, immer wurden solche Gruppen gefunden, die durch Elemente oder andere Gruppen ersetzt werden konnten. Diese Beständigkeit und äquivalente Ersetzbarkeit bildeten die Kennzeichen der Radikale Liebigs, mit denen er die notwendige Klarheit und Übersichtlichkeit erreichte. Wenn auch der Begriff Radikal bei fortschreitender Erkenntnis bereits in Liebigs Ansichten durch Aufgeben der Unveränderlichkeit sich wesentlich wandelte, so hat er doch seine Aufgabe als ordnendes Mittel ausgezeichnet erfüllt. Im glücklichen Besitz einer Ordnung übersehen wir Nachfahren gar zu leicht, wie sehr sie damals fehlte; schrieb doch Wöhler an Berzelius: "Die organische Chemie kann einen jetzt ganz toll machen. Sie kommt mir wie ein Urwald der Tropenländer vor, voll der merkwürdigsten Dinge, ein ungeheures Dickicht ohne Ausgang und Ende, in das man sich nicht hineinwagen mag." (28. Januar 1835.) Es ist Liebigs Verdienst, gangbare Wege durch das Dickicht gebahnt zu haben. Aber all die vielen großen Entdeckungen und folgenschweren Gedanken gehen eigentlich nur den an, der sich fachlich mit den Naturwissenschaften beschäftigt. Viel weiter reichend war Liebigs Wirken als Schöpfer der Agrikulturchemie. Daß wir Deutschen auf unserem übervölkerten Boden überhaupt noch leben können, das verdanken wir Liebig. Er wurde zum Wohltäter der Menschheit, als er sich anschickte, die Landwirte zu belehren, wie die Erkenntnisse der Chemie für den Ackerbau zu verwerten sind. Die Größe der Aufgabe schilderte er kurz und eindringlich in einem Brief an seinen Freund Wöhler: "Alles, was wir tun und treiben, schaffen und entdecken, scheint mir unbedeutend gegen das gehalten, was der Landwirt erzielen kann. Unsere Fortschritte in Kunst und Wissenschaft vermehren nicht die Bedingungen der Existenz der Menschen, und wenn auch ein kleiner Bruchteil der menschlichen Gesellschaft an geistigen und materiellen Lebensgenüssen gewinnt, so bleibt die Summe des Elends in der großen Masse die nämliche. Ein Hungernder geht nicht in die Kirche, und ohne ein Stück Brot geht kein Kind in die Schule. Der Fortschritt des Landwirts hingegen lindert die Not und die Sorge der Menschen und macht sie empfindungsfähig und empfänglich [505] für das Gute und Schöne, was Kunst und Wissenschaft erwerben, und gibt unseren Fortschritten erst den Boden und den rechten Segen." (München, 3. Februar 1862.) Angeblich soll Friedrich der Große den Satz geprägt haben: "Wer bewirkt, daß dort, wo ein Halm wuchs, deren zwei wachsen, der leistet mehr für sein Volk als ein Feldherr, der eine große Schlacht gewinnt." Dem Spürsinn eines Max Speter ist es gelungen, den König zu ermitteln, auf den dieses schon geflügelte Wort zurückgeht: es war der König der Riesen im Lande Brobdingnag (im siebenten Kapitel des zweiten Buches von Gullivers Reisen des Jonathan Swift); nur sprach er nicht abfällig von dem Heerführer, sondern von der ganzen Sippschaft der Politiker. Was der geistreiche Dichter ersehnte, das ist zur Wahrheit geworden. Nach den Angaben des Statistischen Handbuches für das Deutsche Reich (1914) waren die jährlichen Durchschnittserträge für den Hektar bebaute Fläche in Deutschland:
Diese erfreulichen Ergebnisse sind die Folgen der Arbeit Liebigs. Seine Grundgedanken lassen sich in wenige Sätze zusammendrängen: Die Pflanzen entnehmen der Luft Kohlensäuregas, behalten den Kohlenstoff zum Aufbau organischer Substanzen und geben den Sauerstoff an das Luftmeer zurück; sie entnehmen der Ackerkrume Nährsalze und machen dadurch den Boden ärmer; wenn die Ertragsfähigkeit der Felder nicht verlorengehen, vielmehr gesteigert werden soll, dann müssen dem Acker die verbrauchten anorganischen Bestandteile in aufnehmbarer Form wieder zugeführt werden; die Nährsalze des Bodens werden von den verschiedenen Pflanzen in ganz bestimmten Mengenverhältnissen aufgenommen, infolgedessen werden die Geschwindigkeit des Wachstums und die Größe des Ertrages durch den Stoff bestimmt, der von allen notwendigen in geringster aufnehmbarer Menge vorhanden ist (Gesetz des Minimums). Die praktische Folge der Arbeit Liebigs war die Entwicklung der Kunstdüngerwirtschaft und damit die ungeahnte Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge. Dem chemisch Unkundigen ist der Name Liebig im Zusammenhang mit dem Fleischextrakt geläufig. Liebig hat dieses wertvolle Anregungsmittel jedoch nicht erfunden, er hatte nur der Fabrik in Fray-Bentos die Erlaubnis erteilt, seinen Namen mit ihrem Erzeugnis zu verknüpfen, weil die Beschaffenheit des Extraktes [506] dauernd durch Liebig und Pettenkofer überwacht wurde. Für den Kundigen steckt in dem Ausdruck "Liebigs Fleischextrakt" der Hinweis, daß Liebig auch für die physiologische Chemie bahnbrechend gewirkt hat. Niemand wird leugnen können, daß die angewandte Chemie dem Wirken Liebigs unermeßlich viel verdankt. Das ist nur möglich gewesen, weil Liebig seine Schüler in strenge Zucht nahm und die törichte Neigung bekämpfte, die Blicke von vornherein auf die Anwendbarkeit zu richten. In seiner Anklageschrift Über das Studium der Naturwissenschaften und über den Zustand der Chemie in Preußen schrieb er 1840: "Ich habe bei allen, welche das hiesige Laboratorium technischer Zwecke wegen besuchten, Söhne von Fabrikanten oder Personen, die sich für die Industrie bestimmten, eine vorherrschende Neigung gefunden, sich mit Arbeiten der angewandten Chemie zu beschäftigen. Mit einer Art von Furcht und Besorgnis für sie folgen sie gewöhnlich meinem Rat, alle diese zeitzersplitternden Tagelöhnerarbeiten beiseite zu setzen und sich lediglich mit der Art und Weise bekanntzumachen, wie rein wissenschaftliche Fragen lösbar sind und gelöst werden müssen. Ihr Verstand lernt leicht und schnell die besten Mittel aufzufinden; sie sind es selbst, die sie den Umständen anpassen und modifizieren." Liebig hat die erste echte Schule der Chemie geschaffen. Das ist vielleicht seine bedeutendste Tat. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gab es zwar hie und da Laboratorien, in denen man angeleitet werden konnte; so ist auf deutschem Boden Jena nicht zu vergessen. Aber es ist doch unbestreitbar, daß kein einziger der großen Chemiker jener Zeit sich damit befaßt hat, junge Leute planmäßig heranzubilden. Weder Berzelius, noch Gay-Lussac, noch Davy besaß Schüler im eigentlichen Sinne. Die Forscher hielten Vorlesungen, aber sie unterrichteten nicht. Nur durch einen glücklichen Zufall konnten Bevorzugte zur Mitarbeit im Laboratorium zugelassen werden. Liebig hat diesem Mißstand ein Ende gemacht. Fast aus dem Nichts heraus, mit Einsatz seiner ganzen körperlichen und geistigen Kraft, mit Hingabe eines Teils seines Einkommens schuf Liebig in Gießen ein Laboratorium, in dem die Teilnehmer nach einem wohlangelegten Plan sorgfältig unterrichtet wurden. Das war damals etwas unerhört Neues. Liebig hat den chemischen Unterricht organisiert. Nach seinem Vorbild sind durch seine Schüler weitere Unterrichtsstätten gegründet worden. Schritt für Schritt hat Liebig seine Studierenden zu selbständigem Denken und zu selbständiger Arbeit erzogen. Noch heute wird im wesentlichen nach seinen Plänen verfahren. Diesem wohldurchdachten Unterricht verdankte Deutschland seinen Vorsprung vor allen Völkern der Erde. Jetzt bemüht man sich überall, das deutsche Vorbild nachzuahmen.
Den Laien in chemischen Dingen ermöglichte Liebig einen Blick in die Gefilde der Chemie mit seinen begeistert und begeisternd geschriebenen Chemischen Briefen. Über sie schrieb Wöhler ganz verzückt: "Ich lese Deine chemischen Briefe. Ich kann Dir nicht ausdrücken, mit welchem Vergnügen, mit welcher Belehrung. Ich hätte bei einzelnen Stellen, bei einzelnen Gedanken, die wie [507] Blitze mein Hirn erleuchteten, Dir um den Hals fallen mögen. Noch nie in der Welt ist klarer gesagt worden, was Chemie ist, in welchem Zusammenhange sie mit den physiologischen Vorgängen in der Natur steht, in welchem Zusammenhang mit Medizin, Landwirtschaft, Industrie und Handel. Diese Beziehungen in so klarer Weise dargelegt zu haben, daß ein Kind sie verstehen kann, ist allein schon hinreichend, dieses Werk zu einem klassischen zu stempeln." (Göttingen, 27. Januar 1859.) Friedrich Wöhler wurde am 31. Juli 1800 in Eschersheim bei Frankfurt am Main geboren. Seine Eltern waren dort beim Ortspfarrer, dem Schwager der Mutter, zu Besuch, weil der Vater, der einst in Marburg Tierarzneikunde und Landwirtschaft studiert hatte, zu dieser Zeit aus seinem Amt als Stallmeister des Kurprinzen von Hessen – des späteren Kurfürsten Wilhelm II. – ausgeschieden war. Auch in der nächsten Stellung beim Herzog von Meiningen als Stallmeister, landwirtschaftlicher Berater und Hoftheaterintendant fand der Vater, August Anton Wöhler, keine Befriedigung. Er erwarb im Jahre 1806 ein Landgut bei Rödelheim vor den Toren Frankfurts, bewirtschaftete es mit bestem Erfolge und zog 1812, ohne das Gut aufzugeben, nach Frankfurt selbst, um sich weitgehend für das Allgemeinwohl zu betätigen. Er war einer der angesehensten Bürger der alten Reichsstadt; nach ihm trägt die Wöhlerschule ihren Namen. Auch die Mutter war eine hervorragende Frau. So wuchs der junge Friedrich Wöhler unter den denkbar günstigsten Verhältnissen auf: als Sohn willensstarker, hochgebildeter, arbeitsamer Eltern in einer Stadt mit reichen Bildungsmitteln, ehrwürdigen, wertvollen Erinnerungen und landschaftlich reizvoller Umgebung. Unter seinen Lehrern am Gymnasium waren nachmals berühmt gewordene Männer: der Historiker Friedrich Christoph Schlosser, der Grammatiker Georg Friedrich Grotefend und der Geograph Carl Ritter. Das Leben des Knaben und Jünglings verlief in ruhigen Bahnen. Mit seinem Freunde Hermann von Meyer, dem bedeutenden Paläontologen, durchstreifte Wöhler den Taunus und sammelte Mineralien. Außerdem trieb er eifrig chemische Studien. Aus den umfangreichen Briefen an "das hinkende Meyerche", eben jenen Hermann von Meyer, ist deutlich zu ersehen, daß der junge Wöhler nicht bloß aus Spielerei nach unendlichen Rezepten das Widrige zusammengoß, daß er vielmehr aus unstillbarem Drang, in die Geheimnisse des Geschehens einzudringen, planmäßig arbeitete. So war er eigentlich schon ein richtiger Chemiker, als er Ostern 1820 die Schule verließ, um in Marburg Heilkunde zu studieren. 1821 trieb ihn die chemische Leidenschaft zu Leopold Gmelin nach Heidelberg. Gmelin wurde ihm ein väterlicher Freund: er erlaubte ihm, in seinem Laboratorium zu arbeiten, riet ihm aber ab, chemische Vorlesungen zu hören, sie wären für ihn unnützer Zeitverlust. Wöhler hat tatsächlich während seines Studiums niemals eine chemische Vorlesung gehört. In ruhiger Sachlichkeit beendete er sein medizinisches Studium im September 1823 mit der Doktorpromotion. [508] Auf Gmelins Rat ging Wöhler nach Stockholm zu Berzelius, der ihn freundlich aufnahm. In dem knappen Jahr ständigen Beisammenseins in dem engen, ärmlichen, und doch an Geist so reichen Laboratorium fanden die beiden ungleichartigen Männer solch Gefallen aneinander, daß eine dauerhafte tiefe Freundschaft entstand, für die ein reizvoll ungeschminkter Briefwechsel ein beredtes Zeugnis ablegt. Nach der Rückkehr aus Schweden wollte Wöhler Privatdozent in Heidelberg werden, aber da kam ein lockendes Angebot aus Berlin. Für die städtische Gewerbeschule – die spätere Friedrich Werdersche Oberrealschule – wurde er unter günstigen Bedingungen als Chemiker verlangt. Auf Berzelius' Rat nahm Wöhler an und siedelte im März 1825 nach Berlin über. Das bescheidene Laboratorium Wöhlers in der Niederwallstraße wurde bald berühmt. Nach mancherlei experimentellen Arbeiten mit fachlichem Wert gelang Wöhler im Herbst 1827 die Darstellung des reinen metallischen Aluminiums. Mit ihm hat er der Technik eine neue Welt erschlossen. Mit dem gleichen Recht, mit dem verallgemeinernd von einer Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit gesprochen wird, kann man sagen, daß wir uns in dem Übergang zu einer Zeit der Leichtmetalle befinden, unter denen das Aluminium die Vorherrschaft besitzt. Ein Jahrhundert nach Wöhlers Entdeckung betrug die Jahreserzeugung des Erdballs 281 998 Tonnen Aluminium (1929). Als Henri Saint-Claire Deville im Jahre 1854 das Aluminium in großen Stücken fabrikmäßig herstellte, da waren alle Tagesblätter – auch die deutschen – voll des Rühmens, und die Franzosen bemühten sich, ihrem Landsmann die Ehre der Entdeckung zuzuschreiben. Trotz der Aufforderung Liebigs trat der feinfühlige Wöhler zunächst nicht öffentlich dagegen auf, denn "diese Reklamationen sind doch immer mehr oder weniger kleinlich. Auch könnte man nichts sagen, ohne diese empfindlichen Franzosen zu verletzen. Traurig ist es, bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, daß die Deutschen nur auf das, was aus dem Auslande kommt, Wert legen." (Göttingen, 19. Mai 1854.) Erst "eine niederträchtige Fälschung, die der Abbé Moigno mit einer Nachschrift in einem Briefe von mir an Dumas" begangen hatte, macht es Wöhler unmöglich, weiter stillzuschweigen. Der Erfolg blieb nicht aus: Die Franzosen haben ihm "nun inbetreff des Aluminiums volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, nachdem sie freilich alle Versuche gemacht hatten, die Ehre der Entdeckung den Franzosen zuzuwenden". (Wöhler an Liebig, Mai 1855.) Ein knappes Jahr nach dem ersten großen Erfolg eröffnete Wöhler der Chemie eine völlig neue Bahn des Forschens: der Glaube, daß organische Stoffe nur in lebendigen Körpern durch eine Lebenskraft, aber niemals in den Retorten der Chemiker erzeugt werden können, wurde durch Wöhlers Synthese des Harnstoffs (1828) zum erstenmal gründlich erschüttert. Sie war die erste Synthese eines organischen Stoffes, die als solche wirklich erkannt und gewertet wurde. Zugleich [509] wurde mit dieser Harnstoffarbeit ein neuer Beweis erbracht, "daß zwei ganz verschiedene Körper dieselbe Proportion von denselben Elementen enthalten können und daß nur die ungleiche Art der Vereinigung die Verschiedenartigkeit in den Eigenschaften hervorbringt". In den anschließend nachfolgenden Arbeiten mit Liebig über das Bittermandelöl und über die Harnsäure entfalteten sich diese Gedanken zu leuchtenden Blüten, aus denen als Früchte die Methoden und das Lehrgebäude der organischen Chemie entstanden. Der Aufbau eines tierischen Stoffes, eben des Harnstoffs, war damals etwas so unerhört Neues, daß der vorsichtige, ruhig und bedächtig abwägende Wöhler seinen öffentlichen Bericht mit den Worten schloß: "Ich enthalte mich aller der Betrachtungen, die sich infolge dieser Tatsache so natürlich darbieten." Aber schon wenige Jahre später konnten Liebig und Wöhler in ihrer gemeinsamen Arbeit über die Harnsäure voll Stolz behaupten: "Die Philosophie der Chemie wird aus dieser Arbeit den Schluß ziehen, daß die Erzeugung aller organischen Materien, insoweit sie nicht mehr dem Organismus angehören, nicht allein wahrscheinlich sondern als gewiß betrachtet werden muß. Zucker, Salicin, Morphin werden künstlich hervorgebracht werden. Wir kennen freilich die Wege noch nicht, auf denen dieses Endresultat zu erreichen ist, weil uns die Vorderglieder unbekannt sind, aus denen diese Materien sich entwickeln, allein wir werden sie kennenlernen." Wir Nachfahren wissen, daß diese Voraussage uneingeschränkt eingetroffen ist: die Synthese organischer Verbindungen ist zu einer unentbehrlichen Methode geworden, um den Bau und die Zusammengehörigkeit der Stoffe aufzuklären, und sie ist andererseits Ziel der angewandten Forschung geworden, um zu den wertvollsten Dingen des täglichen Bedarfs zu gelangen, zu kostbaren Farben und genau dosierbaren Heilmitteln, zu Trägern mächtiger Energiemengen und zu Hilfsstoffen der Technik. Die prophetischen Wünsche sind wunderbar und segensreich erfüllt. So fällte der englische Biologe Julian Huxley über das Germanin das Urteil: "Die deutsche Entdeckung einer chemischen Substanz 'Bayer 205', welche die Schlafkrankheit heilt, ist ein weiterer, höchst wichtiger Schritt vorwärts, um die Tropen bewohnbar zu machen... Diese Entdeckung wird für die Alliierten finanziell weit wertvoller sein als die ganze Reparationssumme, die sie ursprünglich forderten." Die umwälzend wirkende Abhandlung über die Synthese des Harnstoffs beanspruchte nur vier Druckseiten. Noch unscheinbarer dem Umfang nach war (1829) die außerordentlich wichtige Mitteilung Über Gewinnung von Phosphor. Wöhler hatte ein neues Laboratorium erhalten mit einem chemischen Arbeitszimmer und einem gewölbten Raum für Feuerarbeiten. In ihm hatte er Schmelzöfen einbauen lassen, die "eine höllische Hitze gaben". Mit ihrer Hilfe gelang ihm die heute technisch durchgeführte Reduktion der Phosphate zu elementarem Phosphor. Er hatte "das Pulver von schwarzgebrannten Knochen (Beinschwarz) mit etwa dem halben Gewichte feinem Sande und noch etwas Kohlenpulver gemengt und in einer tönernen Retorte mit angeklebtem Vorstoß, der in ein Gefäß [510] mit Wasser mündete, in einem Zugofen nach und nach bis zu starker Weißglut erhitzt. Das sich in Menge entwickelnde Kohlenoxydgas fing bald an, sich von selbst zu entzünden und verbrannte mit glänzender Phosphorflamme. Nach Unterbrechung des Versuchs fand sich in dem Vorstoß 1½ Drachme Phosphor." In dem kurzen Bericht in Poggendorffs Annalen und in einem gleichzeitigen Brief an Berzelius verwies Wöhler ausdrücklich auf die technische Verwendbarkeit: "Vielleicht könnte diese Methode bei Gewinnung des Phosphors im großen Anwendung finden." Das ist geschehen: Der früher übliche unterbrochene Betrieb nach dem alten Verfahren war sehr umständlich und vor allem höchst gesundheitsschädlich für die Arbeiter. Wöhlers Entdeckung hat nach Durchbildung der modernen Hilfsmittel der Elektrotechnik zu einem ununterbrochenen, ungefährlichen Verfahren geführt. Die Entdeckung, daß in Gegenwart von Kiesel der Phosphor nicht verbrennt, ist außerdem Ausgangspunkt für den Gedanken gewesen, das Eisen nach dem Thomasverfahren zu frischen.
Dieser Wunsch wurde ihm gut zwei Jahre später erfüllt. Wöhler wurde als Nachfolger von Friedrich Stromeyer nach Göttingen berufen. Im April 1836 trat er sein Amt als Professor der Chemie und Pharmazie an der altehrwürdigen Georgia-Augusta-Universität an. Inzwischen hatte er mit Julie Pfeiffer, einer Freundin seiner verstorbenen Franziska, eine neue Ehe geschlossen, um seinen Kindern wieder eine Mutter zu geben. Er selbst wurde glücklich und lebte wieder auf. [511] Die Zahl, der Umfang und die Bedeutung der Arbeiten Wöhlers in seiner Göttinger Periode sind so erstaunlich, daß August Wilhelm von Hofmann mit vollem Recht in seiner ausführlichen Gedenkrede sagte, es liege ihm die Absicht fern, "die großen Errungenschaften des Göttinger Forschers an dieser Stelle im einzelnen zu besprechen. Solches Beginnen wäre gleichbedeutend mit dem Entschluß, ein Kompendium der Chemie zu schreiben", denn "Wöhler hat, wie kaum ein anderer in neuerer Zeit, das ganze Gebiet der anorganischen Chemie seinem ganzen Umfange nach angebaut; kaum ein Element, gehöre es zu den allbekannten oder zu den Naturseltenheiten, welches ihm nicht durch die Hände gegangen wäre", und "nicht minder umfassend sind seine Untersuchungen auf dem Felde der organischen Verbindungen, welches er seiner ganzen Länge und Breite nach durchmessen hat; auch die physiologische Chemie ist nicht leer ausgegangen". Noch viel weniger ist es möglich, in einem kurzen Lebensabriß die Einzeltatsachen aufzuführen. Hier mag das Wort genügen, das Liebig bewundernd äußerte: "Du kommst mir mit Deinen Arbeiten vor wie der Mann in dem indischen Märchen, aus dessen Munde, wenn er lachte, Rosensträuße fielen." (25. November 1857.) Von den bahnbrechenden Entdeckungen sei nur noch eine erwähnt: das Calciumcarbid, das heute das wichtigste Erzeugnis der elektrochemischen Großindustrie geworden ist. Wöhler arbeitete "täglich ein paar Stunden im Laboratorium, um über das Kohlenstoffcalcium, das mit Wasser Acetylengas bildet, ins klare zu kommen". (Brief an Liebig, Göttingen, 19. September 1862.) Der schriftliche Niederschlag dieser forschenden Tätigkeit umfaßt noch nicht eine Druckseite, enthält aber trotzdem die wesentlichsten Angaben. Der Entdecker konnte freilich nicht ahnen, daß der Jahresbedarf Deutschlands an Calciumcarbid einmal 500 000 Tonnen erreichen würde. Zur Zeit ist Deutschlands Carbidindustrie die größte der Erde. Noch weitertragend als seine Forschertätigkeit war Wöhlers Wirken als Lehrer und Schriftsteller. Ganze Geschlechter von Chemikern sind durch seine Schule gegangen; sie haben dankbar seinen Unterricht gepriesen. Seine Übersetzungen der Jahresberichte des Berzelius, seine eigenen Lehrbücher, seine Aufsätze in Zeitschriften und im großen Handwörterbuch der reinen und angewandten Chemie waren für die Wissenschaft und ihre Jünger Quellen der Kraft. Es ist wunderbar und schier unfaßlich, daß Wöhler mit seinem zarten Körperbau die Last der Arbeit hat tragen und die Gefahren des Laboratoriums bestehen können. Die beiden Freunde klagten einander oft ihre Müdigkeit, Abgespanntheit und Erschöpfung. "Diese nervenschwächende Wirkung muß wirklich der Chemie eigentümlich sein. Ich glaube, die materiellen Influenzen, die Dämpfe, Gerüche und all die Teufelsstinkereien haben großen Anteil daran." (Wöhler an Liebig, 22. Juli 1847.) Trotzdem hat sich Wöhler schonungslos der Hitze der Öfen, den Säuredämpfen und erkältendem Luftzug ausgesetzt. Infolgedessen hat er sehr häufig unter Katarrhen gelitten, die Erholungsreisen nötig machten. [512] Das Reisen liebte er im Gegensatz zu Liebig leidenschaftlich. Er hatte Freude an der Natur, am kleinsten Pflänzchen, an jeglichem Getier, am Rauschen des Meeres und an der Majestät der Berge. Darüber konnte er schwärmerisch sein: "Auf dem höchsten Gipfel des hintersten blauen Berges stand der Palast des Tiberius, in dessen Ruinen ich die prachtvollsten Trauben und Feigen aß, während zwei braune Mädchen, unsere Pferdeführerinnen, nach einem Tamburin die Tarantella tanzten. Die Aussicht von da oben auf das blaue Meer, auf die Golfe von Neapel und Salerno, auf das Kap Campanella, auf die beiden Inseln Ischia und Procida bis Gaëta und das Vorgebirge, auf dem die Circe saß und durch ihren Gesang den Ulysses verführen wollte – diese Pracht ist nicht zu beschreiben." (An Liebig, 25. November 1851.) Wohltuend war sein Humor. Auch in der Kritik wirkte er niemals verletzend. Wahrhaft herzerquickend waren seine Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit, mit denen er ungezählte Male bei seinem leicht erregbaren Freunde Liebig die Wogen des Zorns wieder glättete. Er behauptete zwar, daß ihm jede Anlage zum Philosophen fehle, aber er war voll Lebensweisheit. Charakteristisch sind seine Worte, mit denen er einst den aufbrausenden Freund beschwichtigte: "Versetze Dich in das Jahr 1900, wo wir wieder zu Kohlensäure, Ammoniak und Wasser aufgelöst sind, und unsere Knochenerde vielleicht Bestandteil der Knochen von einem Hund ist, der unser Grab verunreinigt. – Wen kümmert es dann, ob wir in Frieden oder in Ärger gelebt haben? Wer weiß dann von Deinen wissenschaftlichen Streitigkeiten, von der Aufopferung Deiner Gesundheit und Ruhe für die Wissenschaft? Niemand. Aber Deine guten Ideen, die neuen Tatsachen, die Du entdeckt hast, sie werden, gesäubert von all dem, was nicht zur Sache gehört, noch in den spätesten Zeiten bekannt und anerkannt sein." (An Liebig, 9. März 1843.) Am 23. September 1882 verlor die chemische Wissenschaft durch den Tod Wöhlers einen ihrer Führer und Deutschland einen seiner edelsten Söhne.
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