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[Bd. 4 S. 374]
Alfred Lichtwark, 1852-1914, von Gustav Pauli

Alfred Lichtwark.. Gemälde von Leopold Graf von Kalckreuth, 1912.
[376a]      Alfred Lichtwark.   [farbig]
Gemälde von Leopold Graf von Kalckreuth, 1912. Hamburg, Kunsthalle.

[Bildquelle: Franz Rompel, Hamburg.]
Alfred Lichtwark (mit vollem Namen Friedrich Christian Danger Alfred Lichtwark), Museumsdirektor und Kunstpädagoge, wurde am 14. November 1852 zu Reitbrook in den Vierlanden, einem Dorf in der Nähe von Hamburg, geboren. Sein Vater, der Landwirt und Müller Friedrich Carl Johann Ernst Lichtwark, war zweimal verheiratet. Aus seiner ersten Ehe mit Henriette Goldmann hatte er zwei Söhne, die früh nach Amerika auswanderten, und eine Tochter. Alfred war das älteste von drei Kindern seiner zweiten Ehe mit Henriette Bach, einer Nichte der ersten Frau. Ihre gelegentlich behauptete Zugehörigkeit zur Familie Johann Sebastian Bachs ist urkundlich nicht erweisbar. Von Lichtwarks Geschwistern haben ihn seine ältere Schwester, und die jüngeren Geschwister, sein Bruder Hans und die ihm besonders nahestehende Schwester Marianne überlebt. Seine frühen Knabenjahre verbrachte Lichtwark auf dem Lande, bis der Vater 1860 nach dem Verlust seines Vermögens nach Hamburg übersiedelte, wo er anfänglich im Hafenviertel eine Herberge für Müllergesellen betrieb. Nach seinem Tode 1869 lastete die Sorge für die Familie auf der Mutter, einer klugen und willensstarken Frau. Alfred Lichtwark, der schon mit sechzehn Jahren als Hilfslehrer an der Jakobikirchenschule beschäftigt war, konnte fortan einiges zum Unterhalt der Seinen beitragen. Auch seine beiden jüngeren Geschwister wurden für den Lehrerberuf bestimmt, in dem sie anfänglich auch tätig waren.

Die gemeinsame pädagogische Begabung steigerte sich in Alfred Lichtwark zur Genialität und gab seiner Lebensarbeit die entscheidende Richtung. 1875 verließ er die Jakobikirchenschule, um sich am Altonaer Gymnasium auf das Abiturientenexamen vorzubereiten; doch gab er dies Vorhaben nach einigen Monaten wieder auf und kehrte zu eigener Lehrtätigkeit an der Gottschalkschen Privatschule nach Hamburg zurück. Dort blieb er bis 1880. In diesen Jahren hatte er die Aufmerksamkeit des Gründers und Leiters des hamburgischen Kunstgewerbemuseums, Justus Brinckmanns, erregt, dem er sich für gelegentliche Mitarbeit in seinen Freistunden angeboten hatte. Brinckmann, seinerseits eine ganz unzünftige genialische Pioniernatur, hatte an dem aufgeweckten tatbereiten Wesen des jungen Lehrers Wohlgefallen gefunden und vermittelte ihm die Bekanntschaft eines Gönners, der die Mittel für das Universitätsstudium zur Verfügung stellte, nach dem Lichtwark drängte. Zu Ostern 1880 bezog er – als Studierender zweiter Ordnung, da er kein Abiturientenexamen bestanden hatte – die Universität Leipzig,wo er [375] zwei Semester unter Anton Springer Kunstgeschichte studierte. Damals schon hatte er sich eine Reife und Selbständigkeit des Urteils erworben, die den Kommilitonen und dem Professor auffiel. Als nun im folgenden Jahre an dem neugegründeten Berliner Kunstgewerbemuseum eine wissenschaftlich gebildete Hilfskraft gesucht wurde und Springer eine hierfür geeignete Persönlichkeit unter seinen Schülern bezeichnen sollte, empfahl er Lichtwark.

Mit der Übersiedlung nach Berlin vollzog sich für Lichtwark eine entscheidende Wendung seines Schicksals. Ohne die Verbindung mit Springer und der Universität gänzlich zu lösen, verstand er bald, sich in seiner neuen Umgebung einen Wirkungskreis zu schaffen, der ihn zu einem der meist beachteten jüngeren Museumsbeamten und durch seine Kunstkritiken für die Nationalzeitung und die Gegenwart zu dem angesehensten Journalisten seines Berufes in Berlin erhob. Er wurde finanziell unabhängig und fand als liebenswürdiger Gesellschafter in den bevorzugten Kreisen der eben damals rasch aufblühenden Reichshauptstadt Aufnahme. Seine Bildung rundete sich bald. Der noch jüngst um seine Zukunft kämpfende Volksschullehrer verwandelte sich in einen formgewandten Weltmann, der sich in mehreren Sprachen geläufig auszudrücken verstand. Zugleich ein fleißiger und geschwinder Arbeiter und andrerseits ein dankbar empfänglicher Genießer, entwickelte er sich zu einer Persönlichkeit von ungewöhnlich harmonischer Abrundung. Er stellte somit in sich selber seinen pädagogischen Fähigkeiten das beste lebende Zeugnis aus.

Die Gunst der Zeitumstände tat ein übriges, ihn zu fördern. Schon nach wenigen Jahren kamen Berufungen an die Spitze von neugegründeten oder neuzuorganisierenden Museen. Er aber wartete klüglich ab. 1885 erwarb er sich mit seiner Dissertation über den Ornamentstich der deutschen Frührenaissance den Doktorgrad der Leipziger Universität unter Dispensation von der mündlichen Prüfung. Und im folgenden Jahre brachte ihn der im stillen erwartete Ruf nach Hamburg zurück als Direktor der Kunsthalle, nachdem deren bisheriger Leiter, der Inspektor Johann Christian Meyer, verstorben war.

Auf die Lehr- und Wanderjahre folgten nun die Jahre der Meisterschaft. Mehreres kam zusammen, die Berufung nach Hamburg für Lichtwark als die Erfüllung aller Wünsche erscheinen zu lassen. Der Bau der Kunsthalle hatte gerade eine ansehnliche Erweiterung erfahren. Ihr wertvollster Besitz, die Sammlung graphischer Kunst, umfaßte das Gebiet von Lichtwarks bisherigen Sonderstudien. Die Mängel der unbeträchtlichen Gemäldegalerie bedeuteten dem Tatendurstigen den stärksten Anreiz zu einer radikalen Neubildung, und im übrigen eröffneten der Reichtum der Stadt und die liberale Gesinnung ihrer Bürger dem Heimkehrenden glänzende Aussichten. Lichtwark, der mit seinen Aufgaben wuchs, hat sie über Erwarten verwirklicht, eben weil man ihm die Freiheit ließ, sich seiner Art und Absicht gemäß zu betätigen. So entstand ein in Wahrheit neuer Typus des Kunstmuseums, das nicht einfach, wie bisher überall, auf das Sammeln und [376] Bewahren eingestellt war, sondern gänzlich auf das Wirken, dem alles übrige, auch das Sammeln, untergeordnet wurde. In der richtigen Erkenntnis, daß jedes Wirken sich zunächst auf einen klar bestimmten Kreis beschränken müsse, um sich von da aus selbsttätig fortzupflanzen, wendete sich Lichtwark an seine Hamburger Mitbürger, und zwar an die Träger hamburgischer Kultur und Wirtschaft in den angesehenen Familien. Sie suchte er zu gewinnen und zur Mitwirkung in verschiedener Hinsicht aufzurufen, namentlich indem er den Dilettantismus ermunterte. Ihnen ganz besonders wurden die Sammlungen der Kunsthalle als ein Denkmal hamburgischer Kultur ans Herz gelegt. So kam es, daß allmählich die Sorge für Vereinsunternehmungen, Veröffentlichungen, Ausstellungen, volkstümlich belehrende und anregende Schriften und Reden einen weit größeren Aufwand von Zeit und Kraft in Lichtwarks Leben erforderte als die herkömmlichen Arbeiten des Museumsmannes. Neben der Oberschicht der Gesellschaft waren es seine früheren Berufsgenossen, die Lehrer, die er zur Mitarbeit am gemeinsamen Kulturwerk ermunterte. Auch die altgewohnte unmittelbare Einwirkung auf die Jugend hielt er aufrecht, indem er lange Jahre hindurch Schulklassen von Knaben und Mädchen durch die Galerie führte. Seine Absicht dabei war die einfachere. Er wollte zum Sehen anleiten, zum eindringenden, aufmerksamen Beobachten, nicht aber zum kritischen Betrachten oder zum mitfühlenden Genuß, die er beide den Gereiften überließ. Sein großer Erfolg in diesem Falle beruhte auf dem lebendigen Eindruck seiner Persönlichkeit.

Die Sammlungen der Kunsthalle gediehen unter seiner Fürsorge zu einem in seiner Art einzigen Denkmal heimischer Kunstübung. Nirgendwo sonst war der lokale Charakter einer Galerie so glücklich und so erfolgreich betont. Überall verfolgte Lichtwark im Gesamtbereich des europäischen Kunstbesitzes die Spuren hamburgischer Malerei und verstand es, deren erreichbare Hauptwerke zu erwerben – was ihm nur vermöge einer unter Gelehrten seltenen Vereinigung von Energie mit diplomatischem Geschick gelingen konnte. Durch seine Ankäufe der Altarwerke der Meister Bertram und Francke, der allermeisten bekannten Bilder und Zeichnungen von Runge und der auf ihn folgenden bescheideneren hamburgischen Maler aus der Frühzeit des neunzehnten Jahrhunderts bereicherte er zugleich die deutsche Kunstgeschichte um ein paar neue Kapitel. Darüber hinaus bildete er seine Galerie zu einer der bedeutendsten für die deutsche Kunst des neunzehnten Jahrhunderts aus. Hauptmeister wie Caspar David Friedrich, Menzel, Trübner, Thoma, Liebermann fanden glänzende Vertretung. Neben ihnen wurde der damals verkannte Leopold Kalckreuth nachdrücklich hervorgehoben. Überall waltete eine sehr persönliche Einstellung.

Man spürte Lichtwarks Vorliebe und sein Verständnis für die im neunzehnten Jahrhundert vorherrschenden Bestrebungen des Naturalismus und frühen Impressionismus, namentlich für volkstümliche Kunst dieser Art. Von diesem Standpunkt aus bewertete er auch Philipp Otto Runge. Die Romantik als solche blieb ihm fremd, ebenso fremd wie [377] der Klassizismus, jene beiden Hauptrichtungen der ersten Jahrhunderthälfte, die damals in Lichtwarks Lehr- und Wanderjahren als überwunden galten. So fand er auch kaum den Weg zu den späteren Romantikern und Klassikern. Feuerbach blieb ihm unsympathisch, von Marées und Schwind wurden Porträte erworben, Böcklin und Ludwig Richter als populäre Illustratoren bewertet und angekauft. Um die französischen Impressionisten bekümmerte er sich erst in seinen letzten Jahren. Die Führer der nachfolgenden Entwicklung: Munch, Cézanne, van Gogh und Gauguin wurden ebenso beiseite gelassen wie unsere deutschen Expressionisten, da er als der Sohn einer älteren Generation nicht mehr den Weg zu ihnen fand. Von der älteren Kunst des Auslands wurden fast nur Holländer des siebzehnten Jahrhunderts angekauft, die freilich von nicht geringem Einfluß auf die hamburgische Malerei gewesen waren und von den Hamburger Privatsammlern bevorzugt wurden. Schließlich gliederte sich die Lichtwarksche Galerie in folgende Gruppen: eine Abteilung hamburgischer Malerei vom späten vierzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, eine kleinere Sammlung alter Meister, unter denen die Holländer stark überwogen, eine Galerie des neunzehnten Jahrhunderts und eine Abteilung von zeitgenössischen Bildern aus Hamburg, von Lichtwark später begründet und aus Gemälden gebildet, die von angesehenen auswärtigen Künstlern zufolge besonderen Auftrags in Hamburg gemalt worden waren.

Der Gedanke, auf solche Weise berühmte Meister nach Hamburg zu ziehen und zugleich das Antlitz der gegenwärtigen Großstadt und ihrer führenden Persönlichkeiten für kommende Geschlechter im Bilde festzuhalten, war ungewöhnlich und groß; der Erfolg entsprach freilich nicht ganz den Erwartungen Lichtwarks und seiner Freunde. Neben der Galerie blieben andere Abteilungen der Kunsthalle, die Skulpturen, die Bibliothek und das Kupferstichkabinett, notgedrungen zurück, da es an Raum gebrach. Schon wenige Jahre nach Lichtwarks Amtsantritt begann ein Platzmangel fühlbar zu werden, der schließlich zum Magazinieren größerer Bestände führte und selbst eine beschränkte Übersicht des wesentlichen Besitzes unmöglich machte. Ein größerer Neubau wurde daher nach jahrelangen Vorbereitungen 1911 in Angriff genommen und dem Altbau hinzugefügt. Seine Vollendung im Jahre 1917, die durch den Ausbruch des Weltkrieges verzögert worden war, sollte Lichtwark nicht mehr erleben. Er starb am 14. Januar 1914 an einem Krebsleiden. Seine kräftige Natur hatte ihn zu Anstrengungen und Unregelmäßigkeiten der Lebensführung verleitet, deren schädliche Folgen er erst erkannte, als es zu spät war, um ihnen abzuhelfen. Jahrelang hatte er bereits an Magenbeschwerden gelitten, als er sich im Sommer 1913 zu einer Operation entschloß, die dann nur vorübergehend Erleichterung brachte. Im Herbst 1913 kehrte er scheinbar geheilt von Meran nach Hamburg zurück, und bald darauf ging er in raschem Verfall einem qualvollen Ende entgegen.

Lichtwarks harmonische Persönlichkeit kann nur als solche, das heißt im ganzen genommen, gewürdigt werden. Daher ist jeder Versuch, ihn analysierend, [378] vom Standpunkt eines einzelnen Faches aus, zu beurteilen, verfehlt. Er war kein "Fachmann" und wollte es nicht sein. Ja er ging so weit, vor dem Fachmann, der damals auch auf den Geistesgebieten unserer Kultur seine verhängnisvolle Vorherrschaft antrat, ausdrücklich zu warnen.

Natürlich meinte er dabei nicht die fachliche Leistung als solche, sondern den Fachmann als die selbstgerechte Verkörperung eines neuen Kulturträgers.

Diesen Rang verweigerte er ihm entschieden, um ihm lediglich die Rolle eines dienenden Organs im modernen Staatsgefüge einzuräumen. Die Fachleute verspürten diese Einschätzung sehr wohl und ließen es ihn auf ihre Art entgelten, indem sie ihn als Museumsmann, als Kunsthistoriker oder als Schriftsteller im einzelnen bekrittelten. Sie wurden ihm nicht gerecht, denn einer bedeutenden Persönlichkeit tut es keinen Abbruch, wenn man ihr nachweist, daß sie hie und da geirrt oder dies und jenes übersehen habe. Ein Mann wie er durfte gewiss Einzelheiten der Museumsarbeit vernachlässigen, auch mochte er in der Fülle seiner Hamburger Wirksamkeit auf gelehrte Forschung verzichten, denn er hatte anderes und dringenderes zu tun. Ein Berufsmensch war er auch nicht als Schriftsteller oder als Redner. Vielmehr schrieb und redete er lediglich im Dienste seiner Lebensaufgabe. Und als er dieser genügt zu haben glaubte, als er seine Mission erfüllt sah, ließ er die Feder ruhen. Zu Vorträgen außerhalb seiner eigenen Absichten ließ er sich selten und dann nur einem befreundeten Antragsteller zu Liebe bestimmen. Er gestand freimütig, daß er der besonderen oratorischen Begabung, die er übrigens bei anderen gern anerkannte, ermangelte. Am besten sprach er ganz unpathetisch, aus dem Stegreif, über einen Gegenstand, der ihm am Herzen lag. Dann freilich konnte er jeden Widerstand besiegen und hinreißen. In der Debatte war er sachlich und knapp. Wenn die Umstände es erwünscht machten, konnte er sogar bis zur Grobheit deutlich werden, doch ermaß er in solchen Augenblicken seine Wirkung mit Sicherheit.

Ebensowenig wie ein berufsmäßiger Redner war er ein in allen Sätteln gerechter Literat. Verse hat er meines Wissens nie geschmiedet; und ebensowenig hat er sich auf die sprachlichen Exerzitien einer Übersetzung eingelassen. Sein schriftlicher Ausdruck war wie seine Rede: schlicht lebendig, kurz gefaßt und klar. In seiner Berliner Zeit hatte er sich dazu erzogen, ein Feuilleton in einer Stunde niederzuschreiben, mitten im Lärm, im Kommen und Gehen des Redaktionszimmers. So entstanden auch die sehr lebendigen, mit Inhalt geladenen Reiseberichte an seine Behörde nicht selten unter unglaublichen äußeren Umständen: während einer Auktion oder im Restaurant, einmal auf den verschiedenen Stationen einer nächtlichen Bierreise und häufig im Eisenbahnwagen. Die ihm besonders angemessene Ausdrucksform war der Brief und sein Stil die Improvisation. Man hätte ihn einen schreibenden Impressionisten nennen können, dem es darauf ankam, die Frische des unmittelbaren Erlebnisses zu wahren. Scheinbar ist solch eine Schreibart kunstlos; in Wahrheit ist sie aber das Ergebnis einer strengen [379] Selbsterziehung – denn niemals war Lichtwarks Ausdruck nachlässig oder verschwommen. Gerade in seiner Natürlichkeit war Lichtwark sprachschöpferisch. Und das Schöpferische ist es nun, was ihn auf jedem Gebiete auszeichnete. Er war kein Historiker, wohl aber eine historische Persönlichkeit, das heißt einer, der auf seinem Gebiet Geschichte machte, indem er an dem vielverschlungenen Gewebe ihrer Ereignisse mitwirkte. So dienten auch seine Reden und Schriften ganz bestimmten Zwecken, die Bücher über die Meister Bertram und Francke, über Oldach und Scheits der Aufklärung über den Wert neuentdeckter hamburgischer Meister und die zahlreichen anderen kleinen Büchlein der Belehrung und Anregung in ästhetischen Zeitfragen. Wenngleich diesen Schriften eine bestimmte Anschauung, die Anschauung seines praktischen und geschäftstüchtigen Zeitalters, zugrunde lag, so war doch nie von Theorie die Rede, um so mehr von dringenden Erfordernissen des nationalen Lebens. Überall ging er dabei von Hamburg aus, ob er nun von den Aufgaben des Dilettanten redete, von Amateurphotographie, Blumen- und Gartenpflege, von Architekturfragen, von Bucheinbänden oder Medaillen. Seine Absicht war, den Kulturträger seiner Zeit, den begüterten Bürgerstand, anzuregen und in seinen ästhetischen Ansprüchen zu steigern. Auch um greifbaren Nutzens willen! Denn höhere Ansprüche des kaufenden Publikums mußten zu veredelten Leistungen der Industrie führen – auf allen Gebieten äußerer Lebensgestaltung, vom Garten- und Hausbau bis zum Gerät und Mobiliar.

Veredelte Industrie aber verhieß erhöhten Export. Er brauchte diese letzte Folgerung nicht ausdrücklich zu betonen. Sie ergab sich ohne weiteres aus seinem Gedankengang. Er wollte also dem tätigen Leben dienen und keineswegs Kenner oder genießerische Ästheten heranbilden. Im Gegenteil! Er verabscheute sie. Sein Ideal war die vollendet ausgebildete, tatbereite Persönlichkeit, ein Mann, der vieles und nicht nur eines zu leisten bereit sei, einer, der nicht nur tüchtig und pflichtbewußt in seinem Beruf, sondern darüber hinaus als ein Repräsentant nationaler Kultur aufzutreten geeignet sei. Dieses Ideal nannte er "den Deutschen der Zukunft", da er ihm in der Gegenwart selten begegnet war. Gleichwohl schilderte er in Wahrheit den verklärten Deutschen seiner eigenen Zeit, jener Zwischenstufe zweier Jahrhunderte, da die Besten wohl die Mängel des überkommenen Zustandes sahen, nicht aber das Zukunftsbild jenes menschlichen Typus, der die kommende Zeit beherrschen würde. Das beste Exemplar seines "Deutschen der Zukunft" war Lichtwark selbst.

Sehr bezeichnend ist es nun, wie Lichtwark auf dem ersten deutschen Kunsterziehungstag 1901 in einem berühmten Vortrag jene volkserzieherischen Mächte kritisch prüfte, die, wie er meinte, berufen seien, den Deutschen der Zukunft heranzubilden: den Professor, den Lehrer und den Offizier. Es war das Problem eines Pädagogen, der seine Berufsgenossen überschätzte. Er übersah dabei, daß es außer den Pädagogen noch andere erzieherische Mächte in einem Volke gibt, zum Beispiel die Kirche, die Politik und die Wirtschaft. Die durch diese anonymen Mächte herbeigeführten Zustände sind sogar weit mächtigere Erzieher als irgendein [380] einzelner Berufsstand. Wer ist es denn, der den Deutschen oder den Amerikaner oder den Franzosen unserer Zeit herangebildet hat? Charakteristisch für die trotz allem doch ästhetisch bestimmte Wertung Lichtwarks war es übrigens, daß er unter seinen Volkserziehern nur den aus dem Landadel hervorgegangenen Offizier ohne Vorbehalt anerkannte wegen der "Ausbildung des Körpers, der Erziehung des Willens und der drakonisch durchgeführten formalen Erzogenheit, die sich beim höchsten Typus, wie ihn der erste Kaiser darstellte, nicht bloß auf die äußere Haltung, sondern auch auf die Bildung des Herzens erstreckt".

Unter den pädagogischen Arbeitsorganisationen, die Lichtwark ins Leben rief, stand die 1893 begründete Gesellschaft hamburgischer Kunstfreunde an erster Stelle. Diese Vereinigung von Damen und Herren aus der führenden Gesellschaft bildete seine engere Gemeinde. Sie regte er zu sinnvoller Tätigkeit an, zum Beispiel zu zeichnerischen Aufnahmen alter, vom Untergang bedrohter hamburgischer Bauten, zur Übung in der Technik des Holzschnitts für die Ausschmückung der eigenen Drucke der Gesellschaft; ihnen zeigte er seine Neuerwerbungen und entwickelte vor ihnen seine Pläne und kritischen Gedanken. Auch besondere Ausstellungen von eigenen Arbeiten der Mitglieder fanden auf seine Anregung in der Kunsthalle statt. Was nun in diesem Kreise erörtert wurde, fand seinen Niederschlag in den Jahrbüchern der Gesellschaft, die von 1895 bis 1912 in achtzehn Bänden erschienen. Diese vorzüglich ausgestatteten Bücher sind ein sehr beachtenswertes Denkmal der hamburgischen Geistigkeit ihres Zeitalters und weit über ihren ursprünglichen Kreis hinaus bedeutsam. Der intime Charakter und ihr (beabsichtigter) bibliophiler Wert wurde ihnen dadurch gesichert, daß sie als Privatdrucke erschienen, überhaupt liebte Lichtwark es, unter Vermeidung des Handels Schriften nur für seine hamburgische Gemeinde drucken zu lassen. Den Rahmen dafür gewährten die 1895 begründete hamburgische Liebhaberbibliothek und die eigene Behörde Lichtwarks. Die Auflagen solcher Drucke waren somit beschränkt. Von den im Auftrag der Behörde gedruckten Reisebriefen Lichtwarks an den Vorsitzenden der Kommission für die Verwaltung der Kunsthalle, die von 1893 an alljährlich bis 1907 erschienen, wurden nur 25 Exemplare gedruckt. Eine Gesellschaft zur Förderung der Blumenpflege wurde 1898 begründet. Seine ehemaligen Kollegen von der Volksschule ermunterte er 1896 zu einer Lehrervereinigung für Pflege der künstlerischen Bildung, mit deren Hilfe er dann 1907 die Hamburgische Hausbibliothek begründete, die es sich zur Aufgabe setzte, wertvolle volkstümliche deutsche Prosaschriften und Beiträge zur hamburgischen Geschichte zu drucken.

Wer in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts die Hamburger Kunsthalle aufsuchte, empfing den Eindruck eines merkwürdigen und unruhigen Provisoriums. Übervolle Säle, dicht behängt mit Bildern hohen Wertes und einer Fülle von köstlichen malerischen Hamburgensien. Daneben in anderen Sälen eine erstaunliche Anzahl von modernen englischen Gemälden, die kurz vor Lichtwarks Amtsantritt durch Stiftung in die Kunsthalle gekommen waren und damals ein nicht [381] ganz gerechtfertigtes Aufsehen erregten, eine kleine Galerie alter Meister, ein übervolles und unbequemes Kupferstichkabinett und im Erdgeschoß ein paar Säle für Ausstellungen sehr verschiedenen Inhalts: neue Erwerbungen, Dilettantenarbeiten, Photographien, Kunstgewerbliches, Architektonisches. Immer irgend etwas Neues! Brauchbare Kataloge gab es nicht, denn alles war im Werden unter dem unermüdlich vorwärtsdrängenden Führer.

Hamburg, die Kunsthalle.
Hamburg, die Kunsthalle.       Ansichtskarte, vor 1915.
[Nach ak-ansichtskarten.de.]

In Lichtwarks Bildungsgang spielten die Reisen eine große Rolle, denn ihm, dem praktisch Tätigen, der offenen Auges ins Leben schaute, bedeuteten Reisen weit mehr als Bücher. In fremden Städten und fremden Ländern ein unermüdlich Wandernder, beobachtete er alles mögliche, die Menschen und ihre Sitten, Architektur, Städtebau, Gartenanlagen, Läden, Theater und Sport, doch hören wir nicht, daß er sich in die Schätze ihrer Museen versenkt habe, denn an Kennerschaft war ihm wenig gelegen. In Paris, wo er in den neunziger Jahren oft und wochenlang sich aufhielt, knüpfte er Verbindungen mit jüngeren Bildhauern an, um von ihnen unter günstigen Bedingungen eine ansehnliche Sammlung moderner Medaillen zu erwerben. Sie sollte den Anlaß zu einer Wiederbelebung der Denkmünze in Hamburg geben, deren ehemalige Bedeutung gesunken war. Überall verfolgte er im Dienste seiner vielfältigen Hamburger Geschäfte bestimmte Zwecke, worüber seine Briefe an die Behörde berichten, doch ist in ihnen am wenigsten von Gemälden die Rede oder gar von eingehend-kritischen Sonderstudien. In Italien war er nur einmal, um einen summarischen Überblick seiner unermeßlichen alten Kunst zu erreichen. Da aber für seine Absichten nichts dabei zu gewinnen war, ist er nicht dahin zurückgekehrt. Seine letzte große Studienreise unternahm er 1907 durch Deutschland, England, Frankreich und die Niederlande, um im Hinblick auf den geplanten Erweiterungsbau der Kunsthalle noch einmal überall Architektur und Einrichtungen der Museen prüfend zu vergleichen. Erholung vergönnte er sich nur im Sommer für einige Wochen in Bockswiese im Harz und in späteren Jahren in seinem kleinen Sommerhäuschen in der bewaldeten Hügellandschaft von Hitfeld bei Hamburg. Einen Kurort hat er nur einmal aufgesucht in der einzigen Krankheit seines Lebens, die zum Tode führte.

Hamburg war damals eine reiche Stadt und seine Regierung großzügig genug, dem ungewöhnlichen Museumsdirektor jene Freiheit einzuräumen, deren er bedurfte. Wohl kam es vor, daß hie und da bei einer einzelnen Erwerbung Schwierigkeiten gemacht wurden; aber im ganzen genommen ließ man ihn gewähren, und schließlich war man sogar stolz auf ihn. Gleichwohl war seine Popularität in Hamburg nicht ganz einmütig. Wohl hielten der Senat und die Schar seiner Freunde, namentlich die jüngere Generation treu zu ihm, daneben aber hatte er in der Bürgerschaft und bei einigen Sammlern und Kennern erbitterte Gegner.

Lebhaft und weltgewandt, stets von neuen Plänen erfüllt, liebte Lichtwark es, sich sympathischen Besuchern mitzuteilen. Sein Freimut, der eigentümlich mit Diskretion und Verschwiegenheit gepaart war, seine Großzügigkeit und Güte [382] erwarben ihm rasch das Wohlwollen der Menschen, auch im Ausland, so daß er zu einem der berufenen Vermittler zwischen den Völkern wurde. Mit Engländern verständigte er sich, wie die meisten Hanseaten, mühelos, und die dem Deutschen gegenüber stets mißtrauischen Franzosen entwaffnete er durch gute Laune und ehrliche Sympathie. Beiden Völkern hatte er für die eigene Ausbildung nicht wenig zu verdanken: den Engländern die Gepflegtheit der äußeren Erscheinung, die unauffällige Eleganz, und den Franzosen die Leichtigkeit des Ausdrucks in Rede und Schrift, die es versteht, auch das Ernste und Mahnende ganz schlicht, wie im Gespräch, zu sagen. Bezeichnenderweise bildeten in seiner Privatbibliothek die klassischen französischen Autoren, Voltaire und Rousseau voran, bis zu Victor Hugo die umfänglichste Gruppe.

Lichtwarks Wirksamkeit entwickelte sich in aufsteigender Richtung bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts. Die meisten seiner anregend belehrenden Schriften erschienen in den neunziger Jahren, 1897 in einem Jahre deren neun, 1899 kamen nacheinander die drei Monographien über Meister Francke, Scheits und Oldach heraus und die Sammlung von Aufsätzen über Architekturfragen, die unter dem Titel des ersten Palastfenster und Flügeltür zusammengefaßt wurden. Die Krönung seines Lebenswerkes bedeuteten die drei Kunsterziehungstage von 1901 (bildende Kunst) in Dresden, 1903 (Literatur) in Weimar und 1905 (Musik und Gymnastik) in Hamburg. Hier feierte Lichtwark Triumphe. Über ganz Deutschland hatte er erweckend gewirkt, und an der Schwelle des neuen Jahrhunderts empfing er die Bestätigung, daß seine Anregungen Früchte trugen. Gleich darauf durfte er in der Deutschen Jahrhundertausstellung von 1906 abermals einen Triumph feiern, denn, wenn auch schließlich diese höchst bedeutende Ausstellung durch das Zusammenwirken einer ausgebreiteten Arbeitsorganisation ermöglicht wurde, so war doch die Anregung dazu von Lichtwark ausgegangen. Er war es, der anderthalb Jahrzehnte lang darauf gedrungen hatte, daß die Deutschen, statt nach Italien und Frankreich zu pilgern, sich mehr um ihre eigene Kunst bekümmern sollten. Hier gälte es, vergessene und versunkene Schätze zu heben, auch in der jüngsten Vergangenheit, im neunzehnten Jahrhundert. Daß er recht hatte, konnte er durch seine eigenen Entdeckungen im heimischen Kreise erhärten, aber auf welche Widerstände stieß er! Auch bei angesehenen Kollegen! In München hätte Lenbach beinah dem Minister die Beteiligung Bayerns an der Ausstellung ausgeredet, weil er behauptete, man würde sich damit blamieren.

Es gehört zu Lichtwarks großen Vorzügen, daß er eines gerechten Selbstgefühls ungeachtet doch der Zeitlichkeit seiner Unternehmungen bewußt war. (Jeder Wirkende sollte sich dessen bewußt sein!) Damit wird seine dauernde Bedeutung keineswegs bestritten. Denn die neuen Gedanken, Anregungen und Einrichtungen, mit denen ein schöpferisch Begabter seine Zeit beschenkt, bewähren sich eben dadurch, daß sie fortwirken, das heißt umgestaltet und veränderten Zeiten angepaßt werden, nicht dadurch, daß sie zu Dogmen erstarren. Und dieses gilt von Lichtwark [383] in besonderem Maß und Sinn, weil er wie wenige an seine Zeit hingegeben war, eine Zeit unerhörten Aufblühens des Deutschen Reiches unter Bismarcks weiser und starker Führung. Das Glück, dieser Zeit als ihr Sohn anzugehören, hat Lichtwark bewußt genossen, glücklich auch darin, daß der Tod, der ihn an der Schwelle des Alters hinwegnahm, es ihm ersparte, den längst schon drohenden Zusammenbruch zu erleben.

Die Kunsthalle bedeutete für Lichtwark nicht den Grenzbezirk, sondern den Ausgangspunkt seiner Tätigkeit, die mit der Heimkehr nach Hamburg sofort zu wachsen begann. Wenn er nun mit allen Fasern seines Wesens im heimischen Boden verwurzelt blieb, so war er dem Baume vergleichbar, der auf seiner Scholle gedeiht, während er die Frucht seines Blühens Wind und Wellen anvertraut, die sie weitumher verbreiten. Bei ihm ereignete es sich sogar, daß sein historischer Rang noch mehr auf seiner Wirkung in die Ferne beruht als auf seinem Wert für Hamburg. Seine Nahwirkung entsprach nicht immer seiner eigenen Erwartung. Die programmatische Schrift über die Ausstattung des neuen Hamburger Rathauses wurde daheim von den Regierenden nicht beherzigt, ebensowenig wie seine "Wiedererweckung der Medaille" zu einer Blüte der Denkmünze in Hamburg führte. In beiden Fällen wäre eine unmittelbare Einwirkung auf maßgebliche Personen in aller Stille aussichtsreicher gewesen als eine programmatische Veröffentlichung. Dennoch blieb Lichtwarks Auftreten keineswegs fruchtlos, denn seine Rathausschrift wirkte später auf die Einrichtung des Bremer Rathauses ein, und sein Büchlein über die Medaille trug in München die erhofften Früchte. Ähnliches gilt von seinen anderen kunstpädagogischen Schriften. Ihr buchhändlerischer Erfolg beweist die Wirkung auf seine Zeitgenossen im Reiche. Und wenn es heute von ihnen still geworden ist, so darf doch nicht vergessen werden, daß die spätere Entwicklung zum Teil auf die damalige Wirkung zurückzuführen ist. Ohne Zweifel war Lichtwark zu seiner Zeit der volkstümlichste deutsche Museumsleiter und einer der einflußreichsten. Seine Forderung, daß die Museen als die volkstümlichsten Bildungsstätten einer Erziehungspflicht zu genügen hätten, hat sich von Hamburg aus die Welt erobert.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens zog sich Lichtwark allmählich zurück. Gesellschaften besuchte er nicht mehr, seine Reiseberichte blieben ungedruckt, und einige Enttäuschungen als das Ergebnis hoffnungsvoll begonnener hamburgischer Unternehmungen verleideten ihm weitere Veröffentlichungen. Er sah seine Mission als erfüllt an. Schließlich nahm der Erweiterungsbau der Kunsthalle sein Hauptinteresse in Anspruch. Einen Wettbewerb wollte er nicht und verhinderte auch die Übertragung des Auftrags an einen der führenden deutschen Architekten, da er selbst sich den maßgebenden Einfluß auf die Gestaltung des Baus vorbehalten wollte. Doch hierin überschätzte er die eigene Kraft. Die ersten von ihm gutgeheißenen Pläne gerieten nicht zum besten und mußten von dem inzwischen herbeiberufenen neuen Oberbaudirektor Fritz Schumacher weitgehend überarbeitet werden.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz