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[Bd. 4 S. 384]
Detlev Freiherr von Liliencron, Richard Dehmel, Max Dauthendey, 1844-1909 bzw. 1863-1920 bzw. 1867-1918, von Walter von Molo

Detlev von Liliencron.
[384a]      Detlev von Liliencron.
[Bildquelle: M. Dührkoop, Hamburg.]

Richard Dehmel.
[400a]      Richard Dehmel.
[Bildquelle: M. Dührkoop, Hamburg.]

Max Dauthendey.
[400b]      Max Dauthendey.
[Bildquelle: Nicola Perscheid, Berlin.]
Detlev Freiherr von Liliencron wurde in Kiel 1844 aus altem dänischem Geschlecht geboren. Von der Mutterseite her trug er auch normannisches, amerikanisches und portugiesisches Erbe in sich. Vorherrschend und haltgebend war in Liliencron jedoch das Nordische. Niemals kam es in seinem Leben so, wie es bei der ungeheuren Leidenschaft dieses auflodernden Herzens zu befürchten war, niemals so gut, wie er es erhoffte und ersehnte.

Liliencrons bester Freund war Richard Dehmel, ein zäh und verzückt beharrendes, märkisch-thüringisch-schlesisches Blut, in dem Wendisches, Slawisches aus heidnischer Urzeit mit dem Deutschen verbunden war.

Liliencron erlebte durch sein scharfes, farben- und formendurstiges Auge, durch sein musikalisches Ohr. Der Försterssohn Dehmel erfaßte nach dem Zwange seines Wesens alles in seiner Gegenwart als Deutung der Ewigkeit, der er denkend und im dichterischen Rausch verbunden war. Dehmel war ein suchender Geist, in seiner Gestaltung ein unmittelbarer Künder.

Max Dauthendey, der 1867 in Würzburg Geborene, stammt von Hugenotten ab. Er suchte, die Schönheit begehrend, das Ursprüngliche aller Menschen, des geistig-seelischen Gehalt der Erde. Er flammte farbig, genialisch, verloderte früh.

Die drei Dichter sind vor der Schaffung des kleindeutschen neuen Kaiserreichs geboren. Sie lebten und schöpften in einer Zeit, in der Deutschland wieder reich an äußeren Gütern wurde, in der sich das weiter Werdende und Notwendige erst, wenn auch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt lauter unterirdisch rollend, durch Zeichen und Erschütterungen ankündigte. Das bestimmte ihr Leben und Werk.

Die Liliencrons waren gewalthabend und vermögend, bis des Dichters Großvater eine seiner Leibeigenen, eine "himmelsschöne" Schweinemagd, heiratete. Von da ab war die Familie des Dichters verarmt. In ihm floß, erst vermengt, später im Fortgange seines Lebens innig vermischt mit dem germanischen Herrenblut, das Blut des schleswig-holsteinischen Volkes. Das sind die Hauptpole der Spannung in seinem gewaltigen Kraftfelde. Er trug deutlich die Ganzheit unserer Vergangenheiten in sich. Alles ist Vorteil und Nachteil, Licht und Schatten: sein Sehnen wendete sich rückwärts, sein weitestes Vorwärts blieben die Kriege, die er als Offizier durchfocht, der Gewinn aus seiner Zeit: "Kaiser und Reich, Hurra!" Doch in allem lebt das Unvergängliche, nur Gewand und Benennungen wechseln, niemals unser unveränderlicher Untergrund. Er hatte [385] nicht um ihn zu kämpfen wie Dehmel, der dieses Wissen erst erwarb. Dauthendey haßte den Hirngeist und vermochte nur aus dem Herzen heraus zu leben.

Liliencron focht als Offizier in den Kriegen für das neue Werden Deutschlands. Er wurde von gegenständlichen Waffen sehr gegenständlicher Feinde verwundet. Bei Dehmel war der Krieg, geschahen die Verwundungen, fochten die Gegnerschaften im Inneren. Er war 1863 geboren. Dauthendey fand die Weltnähe nur in der Sehnsucht nach der Ferne, zu der er sich, alle Völker der Erde besuchend, immer wieder verurteilte, damit er durch Gegensehnsucht zur Ruhe fand.

Sein Haupterlebnis, der Krieg, ließ Liliencron auf segensreichen Umwegen Dichter werden; erst Ende seines dritten Jahrzehnts. Dehmel und Dauthendey wollten von Anfang an Dichter werden.

Liliencrons Werk, vor allem seine Gedichte, sind leidenschaftliche, herrische Schöpfungen voll Kampflust, voll Freude am Abenteuer, stets erfüllt von der Liebe zur heimatlichen Erde, die in seiner Zeit großen Gruppen unseres Volkes fremd zu werden begann. Deswegen nahmen Dehmel und Dauthendey Auftrieb zur Eroberung des Unsichtbaren.

Liliencron beharrte stetig breit und stark auf der Erde. Er nannte Dehmel den größten Dichter seiner Zeit und meinte, sein eigenes Werk sei vergänglich: sein Feuer, sein Griff, sein Tonfall, Marschgesang, kriegerische Musik, Klang und künstlerisches Zartgefühl. Seine Leidenschaft war urwüchsig. Sie ist die Wiegengabe der germanischen Menschheit.

Wild, gleich jähen Flammen brachen die Worte aus ihm hervor wie aus einem Urmenschen. Dann wieder ist er galant, zierlich wie das Rokoko. Immer aber singt dieser nordische Troubadour nur aus seinem persönlichen Erlebnis heraus. Er war ein Meister der Form, er mußte dazu werden, weil das Flackernde seiner inneren Stimme nur durch stärkste Form gehalten werden konnte, sollte ihm nicht alles zerstieben. "Haltung" verlangte der Soldat in ihm. In verbissenem Ringen um die ihm nötige Selbstbezwingung gewann sein Wort ungeahnte, gesammelte Wucht, es war knapp, schlagkräftig und erlesen wie keines nach ihm bis heute.

Die Zeit hatte sich vom Zusammenhang mit dem großen Ganzen und in sich gelöst, die Kunst der Sprache war literarisch geworden, "das anmaßliche Hirn warf sein Panier über die Herzen". Der neue Reichtum Deutschlands, das schnelle wirtschaftliche Emporkommen vieler Schichten, überrannte die seelische Entfaltung. Bald nach den siegreichen Feldzügen, nach dem nationalen Aufschwunge, begann eine gefährliche Trennung in unserem Volke. Das Geldbürgertum und das Proletariat wuchsen durch die rücksichtslose, eigensüchtige Ausnützung der Maschine feindlich voreinander auf. Die technischen Erfindungen überlärmten, verdrängten das einzig Gewisse, es wurde ersetzt durch Gefühlsduselei und Rührseligkeit. Man fand für das Echte keine Zeit mehr, denn Zeit war Geld geworden. Die jung aufgekeimte Saat wurde auf weiten Flächen niedergetreten, obgleich man patriotische Feste in reicher Zahl feierte.

[386] Es ist immer schlimm, wenn Daseinskampf die Sammlung zur Verinnerlichung schmälert, aber es wird Verbrechen, wenn dies geschieht, wie es sich damals wieder einmal ereignete, um sich äußerlich zu bereichern, vergänglicher Güter wegen. Die von allen kindisch-leichtfertig, ohne Rücksicht auf den Nächsten und damit ohne Rücksicht auf die Zukunft der Nachfahren, ausgenützte Möglichkeit des leichten Geldverdienens lockerte die gegenseitigen Verantwortungen. Die Ichsucht trat an die Stelle der Persönlichkeit, die erzogener Teil des Ganzen ist, um dessentwillen der einzelne allein wichtig sein kann. Das Dasein verarmte im gleichen Maße nach innen, als es nach außen glanzvoll wurde. Das haben die Dichter gespürt, denn Dichter sind Seher. Liliencron floh zurück zu dem Erlebnis der Schlachtfelder von 1866 und 1870/1871, Dehmel sang zum Himmel empor und in die Hölle hinab, Dauthendey reiste in überseeische Länder.

Max Dauthendey, dessen Vater Hoffotograf in Petersburg gewesen war, erkannte früh, wie Richard Dehmel, daß Neues nötig und unter der Oberfläche unterwegs sei, dem sie den Weg zu bereiten hätten. Sie suchten danach. Liliencron, der älter war, suchte nicht. Er wußte, daß alles Neue, das Wert hat, immer nur das gereinigte Ursprüngliche ist, er lehnte seine Umwelt ab, schwächte sich nicht durch sie, blieb auf sich zurückgezogen. Dehmel suchte in seiner untergründig auseinandergleitenden Gegenwart, die ihn erst nicht verstand, die ewigen Sinnbilder. Das wurde beruhigende Ausrede für viele, damit gewann er Gefolgschaft. Weil er Einigkeit in seinem Vaterlande nicht fand, suchte er die Gemeinschaft aller Menschen, doch er wollte, daß auch sein Land sich aufraffte und das Mögliche ändere. Damit gewann er die Jugend, der er ein hinreißender Führer, Freund und Förderer wurde, ungeachtet er traurig wußte: wirklich helfen kann keiner dem andern, ausgenommen durch Rat und in wirtschaftlicher Art. Ahnungsreich schrieb er seinen "Arbeitsmann":

      Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind, mein Weib!
      Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit,
      und haben die Sonne und Regen und Wind.
      Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit,
      um so frei zu sein, wie die Vögel sind:
      Nur Zeit.

      Wenn wir Sonntags durch die Felder gehn, mein Kind,
      und über den Ähren weit und breit
      das blaue Schwalbenvolk blitzen sehn,
      oh, dann fehlt uns nicht das bißchen Kleid,
      um so schön zu sein, wie die Vögel sind:
      Nur Zeit.

[387] Nur Zeit! wir wittern Gewitterwind, wir Volk.
      Nur eine kleine Ewigkeit;
      uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind,
      als all das, was durch uns gedeiht,
      um so kühn zu sein, wie die Vögel sind.
      Nur Zeit!

Das fand der damals lesende Teil des Volkes, "das literarische Publikum", "interessant" und "modern". Die Gefolgschaft des Dichters bestand in dieser Zeitspanne hauptsächlich aus Menschen, die solche Worte für ernste Dinge gebrauchten. Dehmel war ein in überreichem Fühlen aufbäumender Willensmensch im Geiste, Liliencron ein zum Beharren in sich und auf seinem Stück Erde Getriebener, Dauthendey suchte räumlich, in der Breite und in der Weite.

Erst die große Offenbarung, der Ausbruch des Weltkrieges, den Liliencron nicht mehr erlebte, gab Dehmel wie Dauthendey die Liliencronsche Klarheit, daß allein die Tat wahre Dichtung erzeugt, daß sie sonst Tändelei bleiben muß, im besten Falle Genuß schafft für einen kleinen Kreis.

Dieses Wissen Liliencrons, triebmäßig von seiner Geburt an in ihm, zog Dehmel, den gewaltigen Geist ohne Ankerplatz, zu dem trotzigen Instinktmenschen, wie diesen an Dehmel band, daß der mehr gelernt hatte, eindringlich zu denken vermochte in einer Zeit, in der das Hirn zum Wichtigsten geworden schien.

[388] Sehr aufschlußreich ist das Vorkommnis auf Burg Lauenstein während des Krieges bei einer Tagung, die der Verleger Eugen Diederichs, wie immer voraussuchend, zusammengerufen hatte. Es sollte Klarheit geschaffen werden über das Führerproblem. An dieser Tagung nahmen mit anderen teil Paul Ernst und der Kriegsfreiwillige Richard Dehmel. Alle waren im vollen Bewußtsein, daß dieser Krieg erst seinen Sinn bekäme, wenn stärkere Gemeinschaft unseres Volkes durch ihn würde, eine Gemeinschaft unter einer Führung, wie sie im deutschen Volke noch nicht war. Dehmel las an einem Abend im kleinen Kreise seine Arbeit vor, der er den Titel gegeben hatte: "Hymnus barbaricus", mit den bitteren Wiederkehrsätzen: "Deutschland frohlockt, Frankreich frohlockt, Rußland frohlockt, England frohlockt, Italien frohlockt, Bulgarien frohlockt, der Nigger frohlockt, der Kuli frohlockt, der Yankee frohlockt und – Menschen frohlocken..... Menschliche Intelligenz ist unablässig beflissen / Menschen und Menschenwerk zu vernichten / und – Menschen frohlocken." Dehmel, als einundfünfzigjähriger Landsturmmann in den Krieg gezogen, war nach kurzem Bluterlebnis wieder beim Denken gelandet.

Der Aufschwung, das Vertrauen, das ein ganzes Volk gegen die Weltübermacht stehen ließ, waren in ihm bereits wieder im Sinken, ungläubig und unsicher wie die meisten seiner Zeit, die nicht darauf vertrauten und sich nicht damit begnügten, daß jedes Blutgeschehen von selbst Geist in sich trägt, daß dieser schöpferisch wird, wenn es not ist, daß dieser sich von selbst offenbart, ist die Zeit erfüllt. Das, was Dehmel im Felde erlebt hatte, war gemäß seiner Art von neuem dem Suchen nach "Fortschritt der Menschheit" gewichen. Dehmel war bös angeeckt, als er nicht mitberatschlagt hatte und, zurechtgewiesen, die Erklärung abgab, das Reden hülfe nichts, dadurch würde kein Führer erstehen, er wäre gewiß bereits auf den Schlachtfeldern geboren, wenn nicht, vermöchte dies eine vielwortige Unterhaltung auch nicht zu ändern; ein echter Dehmel. Er dachte das Richtige und handelte im Augenblick danach, gleichzeitig aber grübelte er besorgt und ungläubig nach raschen Lösungen. Als Dehmel das gleiche vorlas, was der weitab in Java festgehaltene und dahinsiechende Dauthendey, der sich in Sehnsucht nach Deutschland verzehrte, zur selben Stunde in seinen Briefen in die Heimat schrieb – daß Europas Schlachtenlenker niedergetreten seien durch die asiatische Art der Heeresführung –, als Dehmel vom Selbstmord Europas sprach, versagte ihm, dem Tapferen, die Sprache, das Leben des Dichters; er weinte. Er war hinausgezogen, weil er erkannt hatte, viel Unrecht sei gutzumachen am Volk, um das Neue mitzuschaffen. Aber er verfiel über dem fruchtbaren, furchtbaren Geschehen in Rührung.

Der selbstzerstörerisch um Klarheit Bemühte, der sich nie Schonende, immer im Werk unerbittlich zum Verschleierten Strebende, es untergangssehnsüchtig Aufsuchende, der sein zu starkes Bewußtsein fliehend, um es dadurch zu verderben, oft zum Grauen hinabstieß, stammelte: "Das müßt ihr ändern! Das müßt ihr [389] Jungen machen; ich bin fertig." "Nein, nein", wehrte er hart die teilnehmende Bestürzung ab, die mehr ihm als dem Geschehen galt, "meine Zeit ist am Ende." Das war seine letzte Erkenntnis.

Bald darauf starb er an den Folgen des Krieges. Doch sein letztes Buch hieß Zwischen Volk und Menschheit. Er kam von sich nicht los, er war früh weit gegangen und spät zurückgeblieben. Er sprang zu weit und verlangte zu viel, statt daß er vertrauensvoll gemessen ging und aus der Beschränkung seine Kraft nahm. Er wollte erdacht "die Menschheit", ehe seine Nation volkhaft geworden war.

Zu lange hatte sein Zeitgeschlecht, das als äußerstes fähig gewesen war, gemäß seiner Herkunft, heldenhaft im Kriege zu kämpfen und in seinen Besten die gewaltige Arbeit und Verpflichtung des Kommenden zu verspüren, dieses mit verhüllenden Verzierungen umwunden und umsungen. Der Völkerzusammenprall beendete mehr als ein Jahrhundert.

Die Kraft, die den liebenswerten Denker Dehmel verließ, hätte seinen Freund Liliencron nicht verlassen. Aber dieser war 1909 gestorben, als seine höchste Sehnsucht erfüllt war, mit Frau und Kindern die Schlachtfelder zu besuchen, auf denen er in Frankreich gekämpft hatte; er wollte sich neue Kraft holen dort in der Erinnerung an die Gemeinschaft, die er im Kampfe Mann gegen Mann erlebt hatte – gegen das selbstgefällige Spießbürgertum, das an keinen Wechsel der Zeiten mehr glaubte.

Dauthendey, der schwärmerische, leicht überspannte, farbendurstige und formenreiche Franke, entsprang immer wieder dem greisgewordenen, lauen, satten und anscheinend für immer zufriedenen, seelisch verkargten Deutschland und Europa, aus dem sich Liliencron seit je rückwärts auf sein nordisches Stück Deutschland geflüchtet hatte. Dehmel versuchte, mit seinem scharfen Verstand und Teilnahme an dem Schicksal der "enterbten" Schichten, im letzten Augenblick mit der Waffe in der Hand mit zu ordnen, bis er und sein Land, zufolge mangelnder Vorbereitung der inneren Wehrfähigkeit, zerbrachen.

Dehmels Fahnenlied, 1914.
[387]      Eigenhändige Niederschrift der ersten Strophe
von Dehmels Fahnenlied, 1914.
Aber in einigen Kriegsgedichten Dehmels war alles vollendet gewesen. Damals, als er umgeben war von den Besten seiner Volksgenossen, die früher Kastengeist von der Schicht, der er äußerlich zugehörte, abgetrennt gehalten hatte. Im Kriege, im Schützengraben und auf den Märschen fand er zu dem echten, einfachen, unendlich tiefen, väterlichen Ton der Schlichtheit zurück, die der Grundzug seines sonst so gegensätzlichen Wesens war, sobald er den unechten Schmuck seiner Zeit, das Literarische, das "Intellektuelle", von sich abtat.

      Hoch am Gewehr den Blumenstrauß,
      so zogen feldgrau wir hinaus.
      Der Weißdorn trug schon rote Beern;
      wann werden wir wohl wiederkehrn?

[390] Durch manche Stadt marschierten wir,
      in manchem Dorf quartierten wir,
      an manchem Friedhof gings vorbei,
      der Kreuze stürzten viel entzwei.

      Der graue Rock, der ist nun fahl;
      das Feld liegt wüst und welk und kahl.
      An einem langen Massengrab
      stelzt eine Krähe auf und ab.

      Wo einst der Weißdorn hold geblüht,
      da wird jetzt rotes Blut versprüht;
      aus einem schwarzen Trümmerherd
      stiert ein verlassnes Wiegenpferd.

      Bald kommt die liebe Weihnachtszeit,
      von Frieden träumt die Christenheit,
      den Menschen alln ein Wohlgefalln;
      wir hören die Kanonen knalln.

      Wohl schickt die Heimat Liebesgabn,
      wir freun uns dran im Schützengrabn;
      es friert die Haut, es knurrt der Darm,
      allein ums Herze ist uns warm.

      O Weißdorn mit den roten Beern,
      was wird der Frühling uns beschern?
      Das alles ruht in Gottes Hand,
      Auch du, geliebtes Vaterland.

Dehmels Umwelt verdarb ihn. Wohl ahnte er immer wieder in seinen die Sterne suchenden Gesichten, mehr Christ als der "Heide" Liliencron, nach dessen Art er sich leidenschaftlich sehnte, daß alles, auch die Erde, "voll Himmelsblut" ist, aber er blieb ein Kind der Zeiten, die die Erde vernachlässigten um des Jenseits willen. Dieser wendisch-deutsche Mann, der wohl wirklich, wie er sagte, "in wilder Nacht und großem Wollustrausch" gezeugt war, bat erschütternd in ereignisarmer Friedenszeit: "Führe uns in Versuchung!"

Unruhevoll, langehin Gewinn in Weiten statt in der Tiefe der heimatlichen Beharrung suchend, reiste Dauthendey zu den "Wilden", um dort die Tiefe der Ursprünglichkeit, die Würde des Seins, die verlorene Festlichkeit zu finden und für sich zu genießen, sie wie ein Pflanzen- und Schmetterlingssammler zusammenzuraffen und heimzubringen, damit auch sein Deutschland aus dem schal gewordenen Alltag wieder seelische Freude und Erneuerung schöpfe vom sturen Geldanbeten und von seinem Irrweg zurückfände durch das Vorbild – Asiens. [391] Wie rührend, wie traurig ist dies alles! Nur in wenigen volkstümlichen Gedichten, die aber mehr wie Studien des Volksmäßigen anmuten, ist Dauthendey von seiner Zeit nicht angekränkelt.

Wohl leuchteten noch die Klassiker, als Liliencrons männliche Fanfare ertönte, da Dehmel suchend mit früh verrunzelter Stirn ernst und besorgt sprach und der feierliche Gongschlag Dauthendeys dumpf hallend von fernher erscholl. Aber sie waren zu Jubiläumsgestalten, zu unrichtig aufgestellten Museumsstücken geworden und, wie man meinte, ausschließlicher Besitz der sogenannten Gebildeten, deren einer zu werden der Leutnant Liliencron sich bemüht hatte, was ihm, für uns erfreulich, nie ganz gelang.

Abhanden gekommen war der Staatsleitung, daß richtige Bildung Herausbildung des einzelnen ist aus dem gemeinsamen Besitz seines Volkes, aus dem allen Gemeinsamen, dem Volkstum, daß dieses bloß immer wieder von den Überschotterungen freigemacht werden muß, um Gewächse gemeinsamer Art auftreiben zu lassen, gewiß nach der Kraft jeder einzelnen Wurzel, aber stets aus gemeinsamer Erde. Man bog und brach die Menschen zu einer gleichzeitig der Zukunft wie dem Ursprung abgewendeten Art, suchte mehr Wissen von allem anderen, nur nicht von deutscher Art. Man richtete sich nach Fremdem zurecht, nannte sich "Weltbürger", ohne ein richtiger deutscher Bürger zu sein, man war gehorchender "Untertan" und meinte, damit seiner Pflicht zu genügen. Oder man begehrte auf und suchte kindisch-uferlos "das Internationale", das nicht gegenseitige Achtung der Nationen war, sondem Selbstaufgabe, um grenzenloses Unglück zu ernten, weil das Leben nicht durch Hirngespinste zu ändern, sondern blutvolle Beschränkung ist, ein für alle Male gegeben.

Dieser Mischmasch-Grundriß nahm das Wichtigste, das Verbindende hinweg und trennte überall weiter, statt zu binden. "Spezialistentum" war die Folge. Dagegen erhob sich der Kampf der Wertvollen in der Zeit vor dem großen Krieg, die sich von dem, was ihnen in der Schule eingepaukt, von der Art, wie es ihnen beigebracht worden war, aus Selbstrettung freizumachen versuchten. Daher kam der Kampf der begabten Jugend aller Klassen, Stände und Schichten gegen die geheuchelte Sittlichkeit, die so sehr in jedem Munde lebte, gegen die jedoch fast alles Zeuge war, was der junge Mensch sah, was er um sich und an sich erlebte. Daher stieg die Frau zum vornehmlichen Gegenstand der Betrachtung in der Dichtung auf, weil sie immerhin noch am meisten Ursprünglichkeit besaß, denn sie gebar stets neu die Nation – aber daraus wurde die "Frauenbewegung", die "Emanzipation", geschmacklose Frauenliteratur, unselig entschleiernde Selbstbekenntnisse, Abziehung der Frau von ihrem Wesen. Was dieses Geschlecht umfing, zerstörte es.

Hier ist Dehmel vieles gelungen, weil ihm da wahrhaft ewige Zweiheit, die Zweiheit zwischen Mann und Frau, die Einheit wird im Kinde, als fester Gegenstand gegeben war:

[392] ... Ich bin der Herr, dein Gott! Du sollst mich ehren:
      Auf meine Kraft dein ganzes Leben baun,
      in jeder Drangsal selig mir vertraun,
      nach keiner Zuflucht außer mir begehren...

      Denn du bist meine Welt! Dich will ich segnen...

      Und will auch dir mich weihn: will meine Fehle
      durch unsern Bund entsühnen und versöhnen,
      mich mit dir, in dir immerfort verschönen,
      du meine Welt, du deines Gottes Seele.

Dehmel fand hier ans Ziel. Ihm war Liebe der Geschlechter nur sinnvoll und erhaben, wenn sie die Zukunft schuf, das Kind. Es war ihm der Held, in dem das Unheimliche mit dem Offenherzigen eins wurde, in ihm fand er Himmel und Erde, den Erlöser und den Teufel, jedoch er sah gleich wieder im Kinde Narrheit, Widersinn und Lüge, zerdachte die rätselhafte Einigkeit, vor der, da sie uns gegeben ist, Gläubigkeit, Hinnahme und Ergriffenheit allein ziemen und sonst nichts. Immer wieder, auch hier suchte er am Ende die Gemeinschaft im "Menschen", der sich in Mann und Frau teilte. Er stand gegen das auf, was ist, und suchte vor die Schöpfung zurück, als wäre in ihr Gott ein Irrtum widerfahren.

Die Jugend hat, an ihrer Spitze Dehmel, einen sehr heldischen Kampf gegen die Enge des einschnürenden, zum Zusammenbruch führenden Pfahlbürgertums geführt. Aber dies war in der Mehrheit und in der Macht, und das Kampfziel war wenig klar. Jeder focht vom andern abgesondert, und Dichtung kann nichts ändern, wenn sie abgetrennt ist vom Leben und darum "Literatur" heißt. Als Beweis, wie sehr dieses Ringen bis in unsere jüngste Gegenwart hinein dauerte, sei an die Auseinandersetzungen in der Dichter-Akademie in den Jahren vor der nationalen Erhebung erinnert, als jeder empfand: Abteilung für "Dichtkunst" sei nicht mehr entsprechend; die eine Gruppe aber verlangte Abteilung für "Literatur" und die andere "für Deutsche Dichtung" – es war kennzeichnend, wie sich auch hier die Kräfte am Wort unversöhnlich voneinander schieden.

Man war, ob man wollte oder nicht, äußerlich und bezeichnete sich stolz als "Idealist". Viel mehr als man dachte, hatte Liliencron recht, der früh von einer "feigen Zeit" sprach, für die Rache kommen würde; die Dichtung war nur noch "ästhetisch". Dagegen stand der "Naturalismus", der "Realismus" auf, gegen die verlogene Moderichtung der Verflachung, der Abtrennung vom Leben, aber man nannte wieder Leben nur das Sichtbare, das Äußerliche – es wurde abermals bloß eine Sondergruppe, von der sich unsere drei Dichter bald trennten, zu der sie nur kurz hingehorcht hatten.

Heftig höhnte Liliencron die Familienblattonkel und ‑tanten, die die große Menge der Lesenden beseligten. Dagegen stürmte er mit seinem ganzen Feuer [393] erbittert los, der Todfeind der "Tutlitut und Piepliepiep", der "Seifenwasserpoeten", der "Mondscheinmeckerer", der "Gitarrenwimmerer", der "Tau-Au-Dichter" mit ihrem "saftlosen, blutleeren Blödsinn", der "Lyrifaxe und Lyrikusse" in einer Zeit, da Hebbel, Nietzsche, Mörike, Raabe und Storm vergeblich um größere Gefolgschaft in ihrem Volke rangen. Mit Literatur war das Übel der grundlosen Selbstgefälligkeit, die anmaßende Richtungslosigkeit nicht niederzuwerfen, die das ganze Volk, die zu gewaltiger Zahl gestiegene Arbeiterschaft auch bereits in ihrer Zielsetzung angesteckt hatte. Bismarck hatte das gewußt, er hat es immer, noch als Verabschiedeter, vergeblich jedem in Hirn und Herz zu hämmern versucht, daß das, was ihm gelungen war, nur ein Anfang wäre, die Grundlage, das Mögliche, das damals zu schaffen gewesen, aber man nahm, weil es so beruhigend war, den Notbau als Prunkbau für alle Zeiten, man feierte den Notbau, das Erreichte, man "genoß", statt daß man weiterrang, weiter, weiter!

Exlibris Richard Dehmels.
[393]      Exlibris Richard Dehmels
nach seinem eigenen Entwurf.
Das alles haben Liliencron, Dehmel und Dauthendey gefühlt, stets am stärksten Dehmel, was seinen Dichtungen die Bedeutung gab und sie zugleich schwächte. Denn es schwächt und stört, sich zu sehr mit vergänglichen Zeitfragen zu beschäftigen, deren Entstehen gewiß Wirkung des falschen Weges, aber nicht dessen Ursache ist, wenn man die Ursache mit den gleichen Mitteln sucht, die zum Übel wendeten, wenn man nicht die Gegenwart erleben kann, indem man das Ewige in ihr unabgetrennt von ihr und ohne Gewaltsamkeit, sie nicht erst in sie hinein legend, in den Dingen besitzt; was Dauthendeys Herz vermochte. Dehmel hatte auch das erkannt, aber er erhob, immer zu sehr nur auf das Ziel in der Unendlichkeit sehend und jede Zeit "Übergangszeit" nennend, auch Vergängliches, Äußerliches zu den Sternen. Darum ist er manchmal gekünstelt, vom "Jugendstil" nicht frei, der statt erhabener Handwerklichkeit Kunstgewerbe war. Ursprünglichkeit eignet nur dem, der das Nächste erlebt, es nicht dauernd ruhelos überfliegt. Dehmel grübelte in der Hingabe, warum er sich hingab, und half sich von außen über das Begriffliche manchmal hinweg in einer Dichtungsscheinform. Er war zu sehr Freiheit ohne Beschränkung.

Liliencron hingegen kam seine dichterische Kraft aus der Beschränkung, die er sich nicht erst auferlegen mußte, gegen die er nicht aufbegehrte, die er weltklug [394] besaß. In jedem Wassertropfen, der leuchtet, ist dem Dichter alle Welt. Liliencron sprach in brausender, irdisch auflohender Musik aus, in den Farben, die vollendet unsere Augen sehen dürfen, in den Formen, die der Dichtung im Plane der Welt gegeben sind. Dehmel kündete wohl von der Nötigkeit der Beschränkung, aber sie wurde ihm zumeist zum Sprungbrett des Gedankens, der ohne Farbe ist und die Formen der Irdischkeit zersprengt. Er war Erklärer. Liliencron bot dar, alles enthüllt sich bei ihm von selbst, er gab sein Leben, das alle Maßstäbe der Erde, das Rätsel hinter den Dingen enthielt, das wir anzubeten haben, das sich nichr enthüllen läßt, das sich nicht in lyrische Lehren fassen läßt, wie es Dauthendey versuchte.

Liliencron war nie irrender Trieb, Dauthendey ein zu weiches Herz, Dehmel ein Aufbegehrender nach dem Warum. Dehmel war ein großer Mensch und Dichter mit allem Widerspruch, der im Werk ausgelassen wurde wie ein Junge, wenn er durch verzweifelndes Bemühen wieder drauf gekommen war, daß alles Suchen nicht mehr Sinn finden kann: "Es freut ein gläubig Herze sehr, das Glockenspiel zu hören."

Aber weil er zu glücklich war, dies mit schwerer Mühe erkannt zu haben, suchte er hastig neue Beweise für das, was Liliencron keines Wortes wert war, weil es der Ursprung und auch das Ende der Dichtung ist.

Liliencron hätte niemals die Zeilen Dehmels gedichtet:

      Was sind Worte, was sind Töne,
      all dein Jubeln, all dein Klagen,
      all dies meereswogenschöne,
      unstillbare laute Fragen.
      Rauscht es nicht im Grunde leise,
      Seele, immer nur die Weise:
      Still, o still, wer kann es sagen?

Das war Liliencrons Voraussetzung; er schrieb kurz und fest:

      In dieses Lebens ew'gen Kümmernissen
      Weiß ich ein Schloß, Château d'amour genannt.

Als die Jugend damals ihren Kampf gegen den welken Idealismus ihrer Zeit begann, nannte sie ihn mit Recht Verlogenheit, aber es war deutsche, und daher leicht bilderstürmende Jugend. Hartes Erleben und Erfahrung waren nötig, bis wieder von beiden Seiten erworben und erlebt war, daß Idealismus die Wirklichkeit des Menschenlebens, die einzige "Wahrheit" des Menschen ist.

Liliencron liebte das Ahnherrliche seiner Vorfahren. Er trug ungebrochen in sich, was ursprünglich dem Adel eignete, als er wurde, das Ethos der Fürsorge für die Schwachen, für die Unbeschützten, das Innerliche, wahrhaft Ritterliche, das auch zum großen Teile in vielen verlorengegangen und entartet, [395] von Äußerlichkeit überwuchert war. Dichter und Mensch sind im ewigen adeligen Blut Liliencrons, im deutschen Weltbürger Dehmel und im grüblerischen Schwärmer Dauthendey ganz eins gewesen. Das machte ihr Schaffen wertvoll, machte sie zum Abbild des ewigen Menschensuchens in ihrer Zeit.

Liliencron mußte schuldenhalber seine Laufbahn als Offizier beenden, aber er war und blieb in seinem Inneren Soldat. Als solcher fuhr er nach Amerika und war dort Stubenmaler, Bereiter, Klavierspieler in Kneipen und ähnliches. Liliencron, obwohl er als echter Soldat nie einen Stand oder eine Klasse verachtet hat (denn er mußte jedem ohne Unterschied schenken, jeder Magd und jedem Bauernmädchen nahte er mit romantischer Ehrfurcht, jeder im Blütenmeer seines Volkes huldigte er "als vollendeter Kavalier"), war auch anfangs von seiner zeitlichen Umgebung gefangen; er war in seinen Anfängen "feudal". Darum fehlen in seinem Werk, entgegen seiner sonstigen Art, alles aus seinem Leben rücksichtslos vor alle hinzustellen, die Erlebnisse der Zeit in Amerika, das er mit Inbrunst haßte. Liliencron verachtete sein geldzusammenraffendes Zeitalter so sehr, daß er Schulden auf Schulden häufte und sein äußerliches Leben dadurch für lange schwer machte. Er konnte nie verstehen, daß die Gesamtheit nicht für den Dichter sorgt, deren Vertreter er ist, für die er allein singt. Hier klingt ein Ton auf von der gegenseitigen Verpflichtung aller in einem Volke.

Gedicht von Detlev von Liliencron.
[395]      Gedicht von Detlev von Liliencron mit Randleiste
von Peter Behrens. Aus der Zeitschrift "Pan", 1899.
Liliencron wurde preußischer Verwaltungsbeamter, erst Hardesvogt in [396] Pellworm und dann Kirchspielvogt in Kellinghusen. Als Beamter der Ordnung beschenkte er die, die er wegen geringer Vergehen bestrafen sollte; war eine Zigeunertruppe zu verweisen, so stand er bewundernd unter den märchenhaften Gestalten und ließ sich von einer Schönen vortanzen in seinem unstillbaren Begehren nach Schönheit.

Das Wattenmeer und seine Halligen, die stürmische Nordsee, von ihm nur "Mordsee" geheißen, die Ebbe und Flut kennt, wie sein Blut sie kannte, haben ihn endgültig zum Dichter gemacht.

Natur und Volkstum waren seine Paten. Als er, aus Amerika zurückgekehrt, das Bündel aufschnürte, in dem er Erinnerungen an seine erste Jugend- und Offiziersjahre zur Aufbewahrung gegeben hatte, zitterten ihm die Hände. Der große Schmerz, das Wissen um das unveränderliche Gesetz des Lebens stieg damals, von ihm neu erlebt, in ihm auf. Er schrieb seine ersten Verszeilen.

Zwei Ehen mit adeligen Frauen wurden in der vornehmen Art, die ihm eignete, geschieden, er mußte wieder den Dienst des Staates wegen Schulden mit Wucherzinsen verlassen. Damals war viel Recht zu Papier geworden, oft war das Gesetz statt Wohltat Plage. Gott war überwunden, er lebte für die Menschen nurmehr am Sonntag in den Kirchen und durfte die Herrlichkeit der Menschen nicht stören. Die Tochter eines Marschbauern gab Liliencron schließlich das Glück der Ehe und Kinder. Er war ganz zu dem in ihm beharrenden Ursprünglichen heimgekehrt.

Liliencron, "die Heimatseele", wie ihn Peter Hille nannte, gab zur Schönheit das jeder Gestalt Eigentümliche hinzu. Nichts Menschliches kann und darf unserer Dichtung seit Liliencron fern bleiben. Er riß die Jugend, nicht durch seine Erscheinung wie Dehmel, er riß sie durch sein Werk mit. Er ist fähig, jede Jugend hinzureißen, die nach Kraft und Mut und Heldentum und Vaterlandsliebe begehrt, der Kampf höchstes Lebensgefühl bedeutet. Er wußte: "Vaterlandsliebe ist unser Heiligstes." Er wußte, daß der Krieg etwas Furchtbares, aber Unabänderliches, der Vater aller Dinge, nichts Frischfröhliches ist, aber er muß sein, er allein wirft mit seinem eisernen Sturmwind das faule Obst von den Bäumen, er allein ist fähig, das Erleben der Grundlinien und Gesetze des Seins immer wieder rettend für alle aufleuchten zu lassen. Darum zerbrach Liliencron nicht wie sein Herzensbruder Dehmel vor der letzten Wahrheit, die beide im Kriege erlebten, nach der sich Max Dauthendey zersehnte, für die er sich Ersatz zu schaffen versuchte, indem er schreibend die Weite eroberte. Aber das Leben ist größer und tiefer und strenger. Ihm ist nicht mit Worten, und wären sie noch so schön und prunkvoll, beizukommen. Mit Gesang ist auch nicht der Tod, wie Dauthendey meinte, zu überwinden, der das Unterpfand unseres Lebens ist und dem Irdischen Entsetzen bleiben muß, damit es voll genossen und erlitten wird.

Vergeblich und unverbesserlich riß sich Dehmel in seinem Kriegstagebuch zum Glauben auf, der Wille war; er konnte das Dasein nicht anders ertragen als [397] in der Hoffnung, daß die Menschen zu ändern wären, daß sie "fort" schreiten müßten, müßten, müßten!

Liliencron verstand unter "Volk" die "brave, herrliche, meistens handarbeitende Mittelklasse" – das internationale Proletariat, das Dehmel zukunftsnäher und zugleich zukunftsferner nicht aus seiner Betrachtung ließ, war für Liliencron nicht "Volk". Er liebte den deutschen Arbeitsmann im "schmutzigen, staubigen Ehrenkleid", das gesamte arbeitende Volk.

      Auch vom Himmel ein Stück;
      Offener Frauenarm, Kinderjubel, häusliches Glück.

In Liliencrons Dichtung lebt, stampfend und dahinfließend, die kriegerische Musik der Schlachten. Sie klingt aus seinen Versen; das "Sturmsignal zum Avancieren". Er war Befreier in dumpfer Zeit, Aufbewahrer, unvergänglicher Richtungspunkt, ein Mitreißender, ein das Leben, wie es ist, inbrünstig Verehrender. Er hat unserer Sprache neue Kraft und neuen Saft, er hat ihr mehr gegeben als die meisten nach Goethe. Er war genial sprachschöpferisch; fanatisch errang er sich den schönsten, knappsten, den tonmalenden, farbigen Ausdruck als Abbild unseres sichtbaren Lebens, das nicht abgetrennt ist vom Unsichtbaren, das aber auch nicht Menschenwitz zu leichter Beruhigung willkürlich mit ihm zusammenlegen darf, wie es Dauthendey kleinbürgerlich sehnsüchtig versucht hat.

Das Wesentliche an Dauthendey ist sein fieberischer Farbenreichtum; sein Werk hat ergreifend kindlichen, innerlich bewegten Klang. Das Wertvollste an Dehmel, der auch in Prosa und Drama ganz er blieb, ist das Vorbild, das er als Mann gab, der sich dahinopfert in seiner grenzenlosen Ehrlichkeit, der das Opfer bringt, weil er anders nicht kann. Ahnungsvoll stand ihm "das Schreiben" seiner Zeit, die "Literatur", unter dem Menschsein, aber der reinen Dichtung ist beides untrennbare Einheit.

Dehmel bei Liliencron in dessen Arbeitszimmer in Altrahlstedt bei Hamburg.
[384b]      Dehmel bei Liliencron in dessen Arbeitszimmer in Altrahlstedt bei Hamburg.
[Bildquelle: M. Dührkoop, Hamburg.]

Liliencron ließ sich von Dehmel so weit anregen und leiten, als dieses heiße, leidenschaftlich jäh aufwogende Herz überhaupt zu beeinflussen war. Er hielt durch soldatische Beherrschung seine norddeutsch-romantische Urschöpfungswelt voll Phantastik und Realismus fest zusammen und ordnete sie in seinem balladenstarken Werk.

      Jasmin und Rosen schicken mit Macht
      Weihrauchwolken durch die Sommernacht.
      Plötzlich auf dem Hügel im Gebüsch ein Lärm,
      Ein einziger Schrei gellt: Hermann... Herm...
      Und heraus stürzt vom kahlen Hügel zum Tann
      Mit ausgebreiteten Armen ein Mann.
      Wie still liegt das Land.

      In der Rechten ein Messer, das perlt noch rot,
      Damit stach er dort oben sein Mädchen tot.
[398] Die Augen groß offen, von Lachen gepackt,
      Die Brust im zerrissenen Hemde nackt.
      So läuft er, erreicht den Wald, den Weg,
      Und verschwindet über den Brückensteg.
      Wie still liegt das Land.

      Jasmin und Rosen schicken mit Macht
      Weihrauchwolken durch die Sommernacht.
      Der Vollmond glitzert auf Turm und Teich,
      Zieht ruhig weiter durchs Himmelreich.
      Der Halm steht auf, wo der Mörder lief,
      Und das Blut oben schreibt einen Liebesbrief.
      Wie still liegt das Land.

In allen seinen Dichtungen, selbst in seinen schwachen Romanen und noch schwächeren Dramen, in seinen meisterhaften, balladenartigen kurzen Erzählungen aus unseren Anfängen, in seinen Kriegsnovellen baute er sich sein Reich weitab vom "dezenten" Mitbürger. Die eherne Technik war der Weisheit seines Blutes nicht Herr und Gebieter, sondern dienendes Mittel, andere Form des Unveränderlichen.

      Quer durch Europa von Westen nach Osten
      Rüttert und rattert die Bahnmelodie.
      Gilt es die Seligkeit schneller zu kosten?
      Kommt er zu spät an im Himmelslogis?
            Fortfortfort fortfortfort drehn sich die Räder
            Rasend dahin aus dem Schienengeäder;
            Rauch ist der Bestie verschwindender Schweif,
            Schaffnerpfiff, Lokomotivengepfeif.

      Länder verfliegen und Städte versinken,
      Stunden und Tage verflattern im Flug,
      Täler und Berge, vorbei, wenn sie winken,
      Traumbilder, Sehnsucht und Sinnenbetrug.
            Mondschein und Sonne, noch einmal die Sterne,
            Bald ist erreicht die beglückende Ferne,
            Dämmerung, Abend und Nebel und Nacht,
            Stürmisch erwartet, was glühend gedacht.

      Dämmerung senkt sich allmählich wie Gaze,
      Schon hat die Venus die Wache gestellt.
      Nur noch ein Stündchen! Dann nimmt sich die Straße,
      Trennt, was sich hier aneinander gesellt:
[399]       Reiche Familien, Bankiers, Kavaliere,
            Landrat, Gelehrter, ein Prinz, Offiziere,
            "Damen und Herren", ein Dichter im Schwarm,
            Liebliche Kinder mit Spielzeug im Arm.

      Nun ist das Dunkel dämonisch gewachsen,
      In den Kupees brennt die Gasflamme schon.
      Fortfortfort fortfortfort, glühende Achsen;
      Schrillt ein Signal, klingt ein wimmernder Ton?
            Fortfortfort fortfortfort, steht an der Kurve,
            Steht da der Tod mit der Bombe zum Wurfe?
            Halthalthalt halthalthalt halthalthaltein –
            Ein andrer Zug fährt schräg hinein.

      Folgenden Tags, unter Trümmern verloren,
      Finden sich zwischen verkohltem Gebein,
      Finden sich schuttüberschüttet zwei Sporen,
      Brennscheren, Uhren, ein Aktienschein.
            Geld, ein Gedichtbuch: "Seraphische Töne",
            Ringe, ein Notenblatt: "Meiner Camöne",
            Endlich ein Püppchen im Bettchen verbrannt.
            Dem war ein Eselchen vorgespannt.

In seinem "Poggfred" (Froschfrieden), dem "Kunterbunten Epos in 29 Kantussen" mit den Geleitsätzen vor jedem Kantus von Dehmel, hat Liliencron in seiner edlen, gütigen und verachtungsvoll-wissenden Art seinem durchstürmten Leben, seiner widerspruchsvollen, gärenden Wirrwarr-Zeit, der Zeit der "Beefsteakvertilger und der gefüllten Kassen", ein grausig-erhabenes Denkmal errichtet; in reichstem Vers und Reim, in einer Form, die der Ertrag seines verhinderten Tatlebens war in den Jahrzehnten der Vorbereitung.

Detlev Freiherr von Liliencron.
Detlev Freiherr von Liliencron.
Gemälde von Hans Olde, 1904.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 455.]
Liliencron ist einer unserer ganz großen Lyriker und Balladendichter. Er war dem Leben zugewendet wie dem Tod, den er als Lebender pflichtgemäß haßte, aber vor dem er den Degen ritterlich senkte, weil er ihm ein ebenbürtiger Gegner war, der sich tapfer schlug. Dauthendey hat den Tod zu übersingen versucht und in mechanischer Seelenkunde gelehrt, daß alles voll Geist sei im Leben und auch im Tod. Aber darum ist auch das Leben seiner Dichtung viel Spiel und Übersteigerung gewesen, sei es in seinen Weltgesängen, in seiner einzigartigen, gedrängten halblyrischen Prosa, seinen treibhausstarken, glutvollen Novellen, die ferne Länder und deren Menschenart gestalten, in seinen Dramen. Alles an Dauthendey ist mehr Weltflucht als Wiedergabe der Welt, wie wir sie brauchen, um tapfer unsern befohlenen Weg zu gehen. Liliencron war entschlossen, noch einmal zum Himmel empor Hurra zu brüllen, bevor der Sarg die schluckende Erde berührte. Er rang mit dem Tode [400] überall, auch aus dem Schlachtfelde des Lebens, und freute sich des kraftvollen Feindes. Dehmel, der Liebende, nannte den Tod die "schaurigste Stunde".

Liliencrons männliche Liebeslieder und viele seiner Gelegenheitsdichtungen stellen ihn dicht neben unsere Größten. Er wäre einer davon geworden, hätte ihn mehr geistiger Gehalt erfüllt. Er war ein gnadenvoller nordischer Kämpfer voll heldischer, ungeheuerlicher Kraft und voll zartester Innigkeit aus der großen Weichheit seines einsamen Herzens.

Er starb, die Säbelnarbe auf dem Kopf, seinen Degen am Kopfende des Bettes, unter den Klängen altpreußischer Schlachtmusik, mit dem Schrei: "Warum laßt ihr mich auf dem Schlachtfelde allein liegen?"

Dehmel, der studierte, seinen Doktor machte, Beamter, Sekretär des Verbandes deutscher Privat-Versicherungsgesellschaften in Berlin und dann mit zweiunddreißig Jahren freier Schriftsteller wurde, rang stets in Qualen nach "Reinheit" und war stolz auf die "Sünde". Sein letztes Gedicht zeigt ihn ganz, den schönen Stern im Abendgrauen, dessen Leid und Klage bereits Sage geworden sind, noch einmal im heldenhaften Selbstanruf, im Letzten, Entscheidendsten nicht zu versagen:

      Du meines Lebens einzige Herrlichkeit,
      über alle Träume herrlich,
      geliebte Seele,
      meine Erleuchterin,
      die jeden unsrer Tage zum Geburtstag,
      jede Nacht zur Weihnacht mir verklärte:
      sieh, wenn nun die Stunde kommen wird,
      unaufhaltsam wie vom fernen Meer die Sturmflut,
      immer näher,
      schaurigste Stunde für die Liebenden,
      wo sich die letzte Klarheit auftut,
      wo alles Traum wird, was wir lebten,
      o ewiger Traum –
      sieh, dann aber wirst du stehn,
      wie seit je ich dich gesehn:
      groß überm Meer, die Brandung dir zu Füßen,
      Felsenklippen sind dein Kleid,
      das Haupt gestaltet aus der höchsten Kuppe,
      umschleiert wolkenhaft vom schimmernden Flügelspiel
      schutzsuchender Singvögelscharen,
      so lauscht dein Antlitz, Seele, ruhig in die Sturmflut,
      sonnig,
      und ob dem Scheitel kreist das Adlerpaar
      unsers freien Himmels.

[401] In einem seiner Briefe, die Dauthendey vor seinem Tode unter dem Äquator schrieb, spricht er sehr aufschlußreich von der Vollendung seines "Liedes vom innern Auge", das er als das "größte Werk" seines Lebens bezeichnete: "Ich bin innerlich zufrieden seit gestern mittag, da ich das Lied abschloß. Wenn das Buch nun gedruckt ist und das Unglück wollte, ich sollte sterben, dann wäre meine Lebensarbeit damit erfüllt. Trotzdem ich gern noch mehr über die Weltfestlichkeit dichten und die Heimat wiedersehen möchte... Aber Gott wird es besser wissen als ich. Und wie es kommt, so ist es gut und festlich."

Der Krieg hatte auch Dauthendey, der das Verbrennen fürchtete und es suchte in seiner Übereinkunft von Schönheitsgier, Ergründen-Wollen und Nichtergründen-Können, das schlichte Wort Gott wiedergegeben:

      Gott ist Same und ist Frucht. Gott ist
      Lebensdasein, Lebensflucht. Gott ist Liebe,
      die die Liebe sucht. Gott ist Geist in
      seines Geistes Wucht. Gott ist das
      Gefühl, das liebt und flucht. Gott
      heißt rund aller Geist, der voll Gefühl
      im Weltallfeste sich beweist.
      Auch das Geistatom Gott noch heißt.
      Gott und Geist und Gefühl sind das
      Gleiche in dem großen Weltfestreiche.

      Gott, er ist das große Ichbewußtsein,
      das im Geiste und Gefühle ewig
      wacht. Und des Gottes Antlitz
      ist das Weltallfest, das da ewig
      lebt und lacht.

Das Zeitalter des Ausweichens, des Stockens, der lärmenden Nüchternheit, der getrennten Kunst, des Ichseins war zu Ende. Die Wolken, die Gott verbargen, hatten niedergeregnet. Kraftvoll und demütig zum Wesentlichen zurückgezwungen, begann bald darauf unser Volk sich wieder zu entfalten.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz