[Bd. 3 S. 323]
Die Schwäbische Dichterschule wächst am romantischen Stamm daher, aber sie geht in bestimmter Weise über die Haltung der anfänglichen "Freizügigkeit" hinaus. Sie erfährt den romantischen Grundtrieb schon als Wink zur Ansiedlung und zur Befestigung. Sie erfährt ihn als Einweisung des Lebens ins Landschaftliche, ins Volkhafte und Naturhafte. Wie Leben in Erde wurzelt, wie es in Urfreundschaft zu Wäldern und Blumen, zu Frühlingen, Mitternächten und Morgenstunden sich hinspielt, in bestimmter Volksart geformt und sinnend auf seine geschichtliche Vergangenheit bezogen – das wird Verkündigung in den Liedern von Uhland, Kerner, Mörike, in den Dichtungen von Schwab, Kurz, Pfizer, Hauff. Mit der Schwäbischen Dichterschule bleiben für alle Zeit Begriffe von Lebensinnigkeit, von Morgenfrische des Gefühls, von verweilender, quellreiner Daseinsfülle verbunden, die der deutschen Seele eigener als alles andere zugehören. Die wunderbarste lyrische Stimme in diesem Kreise, das kindlich schönste Leben, die feinste Verbindung von Naturgeist und Kunstgeist in ihm führt den Namen Eduard Mörikes. Langsam, saumselig geht dieses Leben den Weg zu seinem Ergebnis. Seine höchsten Leistungen, jene Lieder, die von frohen und bangen Geheimnissen der Geschöpfe flüstern, sind wie Blumen am Weg gepflückt. Und wenn es Mühe in diesem Leben gibt, so ist es die immer neu ansetzende Mühe um die Bewahrung des reinen Daseins, das aus Urbedingungen lebt und "selig ist in sich selbst". Der Name der Familie Mörike weist auf norddeutsche Herkunft; Spuren führen bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück, nach Havelberg. Im siebzehnten [324] Jahrhundert kommt ein Zweig der Familie nach Württemberg. Apotheker und Ärzte erscheinen in mehreren Geschlechtern. Als Sohn des Amtsphysikus Karl Friedrich Mörike wird Eduard Mörike am 8. September 1804 in Ludwigsburg geboren, das dritte in einer Schar von neun Kindern. Die Lebensläufe des Vaters und einiger Geschwister deuten auf unerwünschte Einsprengungen in der Erbanlage: der Vater stirbt früh am Gehirnschlag, der älteste Bruder Karl wird im Zusammenhang mit den aufgeregten politischen Zeitläuften zum Querulanten, der jüngere Bruder August verfällt einem ungeordneten Leben, der Bruder Adolf erliegt mit achtzehn Jahren einem Schlaganfall. Dagegen erscheint in der Mutter Charlotte, geborenen Beyer, ein lebhaftes, gesundes Menschentum, ein liebendes Herz, dazu eine quellfrische Erzählergabe und ein schalkhafter, beweglicher Geist. Die Schwester Klara, die den Dichter bis ins hohe Alter betreut hat, ist eins der schönsten Vorbilder für lebensreiche, dienende Liebe. Goldene Kindertage waren Mörike geschenkt, geführt und gestaltet von mütterlicher Zärtlichkeit, erwärmt von der innigen Liebe der Geschwister. Die einsame, damals schon vom Hof verlassene Stadt, das schwäbische Potsdam, in dem die Spuren vormaligen Glanzes verwitterten, lag wohl etwas gespenstisch um diese Kindheit her. Wir hören von den dunklen Alleen, von dem geheimnisvollen Park, in dem der Knabe sich Verstecke suchte, von den unterirdischen Gewölben im Schloß, von der Insel im See, auch vom Hexengäßlein in der Stadt und von leeren Straßen, zwischen deren Pflastersteinen das Gras aufschoß. Es baut sich aus diesen Zügen eine Örtlichkeit zusammen, die sich als frühe Entsprechung zu Mörikes Dichterwelt betrachten läßt: das klare, sonnige Zuhause und rings umher Geheimnis, Ahnung, Ungreifbares an Abseitigem und Gespenstischem, das zugleich anzieht und bedrängt. Es sind Züge einer ausgesprochenen Kinderwelt; und eine Kinderwelt war es, die Mörike bis zu seinem Ende bewohnt hat. Beieinander liegt in ihr die heimliche, flüsternde Innigkeit mit allen unschuldigen Dingen und eine unüberwindliche Scheu vor jenen Strecken der Wirklichkeit, die vom grellen, zweckhaften Denken der Tagmenschen beherrscht sind. Als ein anmutiges Kind mit weichen blonden Locken und träumerischen Blauaugen wird der Knabe geschildert, freundlich und lenksam im Wesen, liebebedürftig und anschmiegend. Daneben zeigt sich aber früh auch das, was Mörike selbst seinen Eigensinn, seinen Trotz, seine Verschlossenheit genannt hat. Er soll das Klavierspiel erlernen, wünschen die Eltern. Aber er lehnt ab, weil er Angst hat, er müsse dann öfters Fremden vorspielen. Man sieht in dem kleinen Zug, was es mit seinem Eigensinn auf sich hat: er verteidigt damit die Reinheit, die Arglosigkeit seiner frommen, zweckfreien Seelenwelt gegen Störungen von draußen. Unschwer läßt sich das durch sein ganzes Leben hin verfolgen. Die Abwehr gegen das Pfarramt, die Scheu vor allem weitläufigen Betrieb sind Verteidigungsmaßnahmen zur Rettung des Kindes in ihm. Und selbst die körperlichen Leiden, die ihn als treue Quälgeister durchs Dasein geleiten, können zu einem Teil als [325] Behelfe zur Fernhaltung der "Welt" und zur Flucht vor ihr angesehen werden. Er hat Freunden und selbst Verwandten oft als willensschwacher Hypochonder gegolten. Mehr als einmal hat er erfahren müssen, daß man ihm seine Lähmungen, seine ewigen rheumatischen Beschwerden nicht glaubte; und in der Tat haben einmal wenige körperliche Berührungen seines strahlungsstarken Freundes Blumhardt genügt, um ihm den Gebrauch seiner Glieder zurückzugeben. Aber es kann als sicher gelten, daß Mörikes Krankheiten, wenn man sie nach der Weise neuer Heilkunde nach ihrem "Wozu?" befragt, eine wichtige und ernste Bedeutung zeigen. Sie stehen in einem Leben, in dem es nicht auf eine möglichst große Zahl abgesessener Amtsstunden ankam, sondern auf eine Bewahrung des reinen Seinsglückes und der glockenklaren Ansprechbarkeit einer in ihrer Kindlichkeit köstlichen Seele. 1811 tritt Mörike in die Ludwigsburger Lateinschule ein, hier wie auch nachmals in Urach und Tübingen nicht gerade ein Schüler nach dem Herzen der Lehrer. Das meiste im Schulbetrieb ficht ihn nicht an; die innere Welt ist wichtiger. 1815 erleidet der Vater seinen ersten Schlaganfall beim Anblick seiner sterbenden Mutter (und an diese Einzelheit mag man denken, wenn man später hört, daß Mörike sich dem Totenbett der eigenen Mutter fernhält und überhaupt den Abschieden, den Trennungen ängstlich aus dem Wege geht). Nach quälendem Siechtum, das den Kindern mit schmerzlichen Zügen vor Augen tritt, stirbt der Vater 1817, und Eduard kommt zu seinem Oheim, dem Obertribunaldirektor Georgii, nach Stuttgart. Dem feinen Ton des Hauses, seiner Pflege antiker Kunst entquellen erzieherische Einflüsse, die später in Mörikes Schaffen spürbar werden. Nach einjährigem Besuch des Gymnasium illustre bezieht Eduard 1818 das Theologische Seminar in Urach. Dort dringt zum erstenmal Natur als Landschaft mächtig an des Knaben Herz. Einsame Wälderhöhen überm weiten Tal, "alte Wolkenstühle" von zackigem Gefels, wo in weitem Niederblick die Landschaft romantisch-abständlich erlebt wird, dazu im alten Stadtbild und in der Burg Hohenurach das sehnlich-schwermütige Bild der geschichtlichen Vergangenheit – so redet der neue Ort Gemüt und Geist des Knaben an. Im Kloster herrscht viel Zwang und enge Lebensregelung, aber es wachsen für Mörike auch Freundschaften heran, die ein ganzes Leben lang dauern; so mit Wilhelm Hartlaub (1804–1885), der dem Dichter in späteren Jahren der Bedrängnis das treueste, hilfreichste Herz bewies, und mit Johannes Mährlen (1803–1871). Auch Wilhelm Waiblinger, damals Kanzlist beim Oberamt in Urach, tritt in Mörikes Leben ein. Selbstbewußt, genialisch, voll ungezügelter Lebensgier, leidenschaftlich im Genießen, hochfahrend in der menschlichen und schriftstellerischen Gebärde, stellt er eine Gestalt dar, die Ähnlichkeit mit dem Literaten, mit dem Bohémien späterer Zeiten hat. Die erste persönliche Begegnung Mörikes mit Waiblinger fällt in den Februar 1822. Anregungen mannigfacher Art – in Richtung auf Lese- und Erörterungsstoff – sind zweifellos von Waiblinger an die [326] jungen Uracher Freunde ergangen. Aber Mörike zeigt bei aller Bewunderung für das stürmische Kraftgenie Waiblingers ein Zögern, eine geheime Grenzziehung, eine Selbstverteidigung. Die tiefe Gegensätzlichkeit seiner leisen, stillen, verweilenden Art zum lauten, eitlen und überall vorübergehenden Wesen Waiblingers wurde sogleich von ihm empfunden. In Mörikes Bücherwelt erscheinen um diese Zeit neben den beiden großen Deutschen die neuen schwäbischen Dichternamen (Uhland, Matthisson, Conz, Haug, Kerner, Schwab usw.) und Jean Paul, von Fremden Shakespeare, Ariost, Goldsmith. Die alte Germanen-Sage wird sehr gepflegt. Hölderlin (von dessen Handschriften ihm Hölderlins Schwester später einmal "einen Korb voll" übergab) fesselte ihn stark, ebenso Lichtenberg, der ihm nicht nur durch seinen Humor, sondern gerade durch seinen einzigartigen psychologischen Tiefenblick und seinen Sinn für das Hintergründige, Abseitige im Alltag nahegerückt sein mußte. Nahrung fand in Urach auch seine erstaunliche schauspielerisch-mimische Begabung. Sie hat sich mehrfach im Teilnehmen an Theateraufführungen geäußert; aber wichtig ist vor allem, daß sie ihm sein ganzes Leben hindurch half, gegenüber der kindlich-quellklaren Reinheit seiner Seele das Schrullige, Kauzige, Verschrobene der Umwelt abzufangen, sich dagegen zu wehren und es doch auf eine gewisse Art zu lieben. Er ahmt nicht nur einzelne Leute mit zwerchfellerschütternder Treffsicherheit nach, er erfindet auch aus sich selbst eine Reihe närrischer Fabelgestalten, die ihn als ein lustiger, schellenklingender Hofstaat durchs Leben geleiten müssen. Die wichtigsten darunter sind der Riese Suckelborst, der schwäbische Kyklop, bekannt als der "sichere Mann", Vertreter alles Groben, Polternden, Genagelten und Doppelsohligen in Welt und Schwabenland, und der spindeldürre, ewig hüstelnde Barbier Wispel im olivgrünen Fräckchen und der abgeschabten Nankinghose, der ein so wunderbar verschnörkeltes, schief gewickeltes Rotwelsch der Halbbildung daherredet. Diese und andere Gestalten werden heraufbeschworen, sooft es Mörikes Laune will. Sie haben, wie Mörikes Humor überhaupt, eine bestimmte Rolle in der Auseinandersetzung dieser Dichterseele mit den harten Gegebenheiten der Umwelt gespielt. Sie haben geholfen, Störendes unschädlich zu machen und es sogar in Dienst zu nehmen. Die Zeit in Urach bringt dem jungen Herzen die ersten zarten Liebesregungen; man sieht ihre Spuren in den Gedichten an Klärchen (Neuffer), die niedliche Base; eine Beziehung, die nach Art vieler Kinderlieben in den Farben von Jugendfreundschaft, Verwandtentraulichkeit und ungewissem, tieferem Verlangen schimmert. Aber auch die Geschichte seines langen körperlichen Leidens beginnt in Urach. Im Gefolge einer Scharlacherkrankung melden sich ein Augenübel und jene rheumatischen Beschwerden an, die seine lebenslange Empfindlichkeit für klimatische und Luftdruckverhältnisse zum erstenmal bezeugen.
Freundschaft wuchs in Tübingen reich um ihn auf. Mit Ludwig Bauer (1803 bis 1846) verband ihn eine Beziehung, die diesen sagen ließ (1823): "Die Poesie des Lebens hat sich mir in dir verkörpert" und: "Du bist mir schon so heilig wie ein Verstorbener" – Äußerungen, durch die nach Abzug des schwärmerischen Zeittones die von vielen erfahrene tatsächliche Wirkung von Mörikes Persönlichkeit durchschimmert. Rudolf Flad, eine einfache, fromme Natur, W. Nast, nachmals Methodistenführer, Christoph Blumhardt (der späterhin die erwähnte Wunderheilung an Mörike bewirkte), schließlich Vischer und David Friedrich Strauß, die mit Mörike und Justinus Kerner zusammen die "vier Berühmtheiten von Ludwigsburg" bilden, traten ihm nahe. Auch Waiblinger, der ebenfalls die Universität bezogen hatte, spielte wieder eine Rolle; er bewohnte tagsüber das Presselsche Gartenhaus, wo er mit Mörike und Bauer manchmal auch den kranken Hölderlin empfing. Etwa ein halbes Jahr war Mörike Tübinger Student, als die wunderbare junge Fremde, die als Peregrina durch seine Dichtung geht, in sein Leben kam. Es war eine Mädchengestalt von ergreifender Schönheit, schwarzlockig, dunkeläugig, bei aller Bildung ein elementares, beseeltes Geschöpf von schwärmerischer Religiosität und, wie es in Berichten heißt, einer auffallenden Liebe zu den Blumen. Sie hieß Maria Meyer, war aus einem guten Schweizer Hause, das sie verstoßen hatte, und kam nach Tübingen im Anhängerschwarm der Frau von Krüdener, jener abenteuerlichen Livländerin, die mit ihrer Wandergemeinde von Ort zu Ort Erweckungsversammlungen abhielt; die sonderbare Frau hatte zeitweilig Einfluß auf Kaiser Alexander und gilt als geistige Miturheberin der Heiligen Allianz (1764–1824). Mörike wurde von Peregrinas Erscheinung im Herzen aufs tiefste angerührt. Er sah sich wiedergeliebt, aber zugleich durch das Entwurzelte, Zweifelhafte, Schillernde der Person in schwere Zwiste äußerer und innerer Art gestürzt. Hatte er Peregrina erst als Heilige in Magdgestalt verehrt, so mußte sie ihm bald, als sich Zweifel an ihrer Reinheit einstellten, als "heilige Sünderin" erscheinen. Peregrina verschwand auf seltsame Weise aus Tübingen, tauchte in Heidelberg wieder auf, von wo der Maler Köster an Mörike schrieb: "Du mein Gott, was ist das für ein Geschöpf! Seinem Schöpfer gleicht es von außen, [328] inwendig ein Chaos!" Juli 1824 kam sie abermals nach Tübingen, elend und krank, in manchen Zuständen einer Epileptischen ähnlich. Aber Mörike hatte sich da schon nach schwerem Ringen innerlich von ihr geschieden; er verweigerte eine neuerliche Begegnung. Vom 6. Juli 1824 stammt sein Gedicht: "Ein Irrsal kam in die Mondscheingärten / Einer einst heiligen Liebe, / Schaudernd entdeckt' ich verjährten Betrug, / Und mit weinendem Blick, doch grausam / Hieß ich das schlanke / Zauberhafte Mädchen / Ferne gehen von mir." Hier wie in allen Peregrina-Liedern bezeugt sich, zumal wenn man die Handschriften heranzieht, die mächtige Aufwühlung des Gemüts, die das Erlebnis dem Dichter beschied. Der feierliche, fremdartige Gang der Sprache faßt einen gleichsam begeisterten Schmerz in sich und spricht für eine Erschütterung, in der die Seele sich selbst entrückt scheint. Mörike sprach später nie mehr von Peregrina; doch geht ihre Gestalt durch den Maler Nolten, und das verbergende, an sich haltende Briefwort, daß sie ihm ein Traum gewesen sei, "der mir viel genützt", sagt eine Wahrheit aus. Denn es fallen in diese Jahre lyrische Hauptwerke: 1823 "Nächtliche Fahrt", "Der junge Dichter", "Tag und Nacht"; 1824 "Der Feuerreiter", "Peregrina", "Die Elemente", "Im Freien"; 1825 "An einem Wintermorgen", "Gesang zu zweien", "An den Schlaf". Die Schwester Luise und die Freunde standen ihm in der Zeit des Peregrina-Kummers treulich bei. Sie sorgten für eine zeitweilige Übersiedlung zur Mutter nach Stuttgart (Juli bis Oktober 1824). Es kam ein langsames Gesunden, vielleicht eher gefördert als gestört durch den Tod des Bruders Adolf, durch die Verheiratung der ersten Jugendliebe, Klärchen Neuffer, durch die schmerzliche Entzweiung mit Waiblinger, der durch seine gewagten Liebeshändel nicht nur die Tübinger Schicklichkeitsbegriffe, sondern auch das feine, scheue Empfinden Mörikes verletzte. Gegenüber all dem, was sich in der Umwelt als unzuverlässig und vergänglich erwiesen, tritt aber mit Heilkraft das hervor, was für Mörike das eigentlich Lebendige und Dauerhafte sein muß, die unschuldige Natur und die eigene Seelenwelt. Zusammen mit Ludwig Bauer taucht Mörike in die Lebensfülle der Landschaft um Tübingen unter; und eng mit ihr verbunden, in seligen Einsamkeiten am Berghang, in der selbsterbauten Mooshütte am Quell rechts der Reutlinger Straße schwebt ihnen die Insel Orplid empor, das Kinderland, das Abseits von der Welt, in das die zwei jungen Menschen alles Heimliche, Hohe und Unberührbare ihrer Seele flüchten. Hüttenbauen ist ein Kinderspiel; denn Kinder haben immer etwas Kostbares zu bewahren, sie haben immer etwas Wunderbares vor dem rauhen Zugriff der Welt zu schützen. Schon in Urach hat Mörike mit den Freunden Hütten gebaut. In Tübingen wiederholt sich das Spiel zu ernsterer Bedeutung. Indem es die Orplid-Welt entstehen läßt, gibt es dem wunderbaren Mörikeschen Vorbehalt gegen die Tagwelt, der gemütsinneren Erscheinung des Wahren, Echten, Reinen eine Heimburg. Dem Märchenquell, aus dem die "Schöne Lau", [329] das "Hutzelmännlein", die "Sage vom Schatz", der "Sichere Mann" entsprangen, wurde hier die feste Brunnenstube gebaut; dem Kindlichen in Mörike überhaupt, das verschwistert um das "reine Leben" wußte, errichtete sich in Orplid die nie versagende Zuflucht. Aber Orplid, Schwesterland von Avalun, von Wagners Gralsland, von Hölderlins Hellas, von Brentanos Vaduz, gehört nicht nur Mörike allein. Er hat es seinem ganzen Volk geschenkt. Es würde der Selbstbekundung der deutschen Seele etwas Kostbares fehlen, wenn es diese Insel Orplid nicht gäbe, über der mit Zaubergewalt der Gesang Weylas schwebt, wo das Gemeine nicht gilt und alle Träume von einem festlichen, tapferen Leben ihr ewiges Heimland haben. Mit dem Schlußexamen Oktober 1826 beginnt für Mörike eine lange Zeit des Wanderns von Ort zu Ort als Vikar. Oberboihingen, Möhringen, Köngen sind die ersten Stationen dieser Wanderung. Schon am Anfang stellt sich heraus, daß die Forderungen des Pfarramts hart mit dem Seelengesetz des Dichters zusammenstoßen. Namentlich das Predigen will sich zu seinem nach innen gekehrten, horchenden Wesen nicht schicken. Mit den Amtsbrüdern kann er sich kaum verständigen. Es sind wahre Verzweiflungsstimmungen, die er durchmachen muß. Dazu kränkelt er fast ohne Unterbrechung und wohl nicht ohne Zusammenhang mit der Lage seelischer Ausweglosigkeit. Es bleibt nichts übrig, als sich nach einem anderen Beruf umzusehen, sehr zur Sorge der Mutter und zum heftigen Mißmut der treuen Oheime Georgii und Neuffer. Der Freund Mährlen macht ihm Hoffnung auf einen Korrektorposten bei Cotta. "Freund, Einziger", schreibt Mörike, "laß mich korrigieren! Um Gotteswillen, korrigieren laß mich! Ich bin der redlichste Kerl, dem's nicht darum zu thun ist, reich zu werden, sondern nur irgendwo unterzukommen, wo nicht gepredigt wird!" Aber die eifrig betriebenen Pläne wollen sich nicht verwirklichen. Mörike erhält krankheitshalber einen längeren Urlaub. Er ist wechselnd bei Freunden und Verwandten zu Besuch; einmal (Februar bis Juni 1828) auch bei seinem Bruder Karl in Scheer an der Donau, wo er in einem katholischen Hochamt eine herrliche Frauenstimme hört; die flüchtige Neigung zu der Sängerin, Josephine, trägt eine duftende Frucht an Liedern. Nach einer kurzen Hauslehrertätigkeit bei seinem Onkel Mörike, Oberprokurator in Stuttgart, winkt dem Dichter endlich das ersehnte Arbeitsfeld. Er wird von der Franckhschen Verlagsbuchhandlung verpflichtet, für fünfzig Gulden Monatsgehalt Beiträge für eine von Karl Spindler geleitete "Damenzeitung" zu liefern. Aber schon nach kurzer Zeit schreibt er: "Ich bin die letzten Wochen hier fast krepiert vor Ekel an der Sache und vor Zorn über die Blindheit, worin ich mich bereden konnte, daß ich mir jemals, auch nur ein Vierteljahr, bei diesem Geschäft gefallen könnte, ohne daß meine Poesie sich die Schwindsucht dabei hole." Der unglückliche Ausflug in den vermeintlich freieren Beruf endet damit, daß Mörike sich Ende 1828 dem Konsistorium erneut zur Verfügung stellt und Februar 1829 als Vikar in Pflummern einzieht. [330] Sein dichterisches Schaffen kräftigt sich in diesen Jahren zu reicherem Ertrag. An Gedichten entstehen im Jahre 1827 u. a.: Besuch in Urach, Septembermorgen, Um Mitternacht, 1828: Der Jäger, Liebesvorzeichen, In der Frühe, Im Frühling, Mein Fluß, Josephine, Die traurige Krönung, Nimmersatte Liebe, die Schiffer- und Nixenmärchen. Pläne zu dramatischen Arbeiten (Schauspiele, Singspiele) haben ihn in dieser Zeit ebenfalls beschäftigt, ohne zu einem Ergebnis zu führen. Die häufige Verlocktheit zur Bühnendichtung, die Mörike empfand, mag man sich daraus erklären, daß er seine Naturanlage für die darstellende Gebärde und für das kurz bewegte Gespräch mit einer dramatischen Berufung verwechselt hat. Wahr ist, daß Mörikes Weltschau in keinem Punkt dramatische Wesenszüge trägt. Die Entfaltung eines Seins- oder Erlebnisbestandes in echten, letzten Gegensätzen ist ihr durchaus fremd. Seine Erlebnisweise ist von Grund aus verweilend und idyllisch, sie kennt weder Zeit noch echten Zwist und gipfelt überall in einer ruhenden Gesamtanschauung, in der die Entzweiungen schon längst aufgelöst sind. Wohl aber überschreitet er um 1828 das bloß Subjektivische, das bloß Kindliche in sich nach einer anderen Seite hin. Er faßt den Gedanken zum Maler Nolten, also zu einer breiteren, objektiveren Form (Romanform) der Selbstbekundung, und das bedeutet bei ihm ein neues Kenntnisnehmen von der wirklichen Welt, in die er gestellt ist, und ein geistiges Hinauswachsen über bisherige Grenzen. Er will "einige phantastische Elemente ans Licht bilden, die keine Verwandtschaft mit der orplidischen Periode haben, sondern auf reinerem und verständlicherem Weg mein Wesen aussprechen sollen, um mich dann für immer von dieser subjektiven Masse quitt zu machen". Ein solcher Satz ist, ganz abgesehen von seiner Beziehung zum Nolten, wichtig für ein volles Verständnis der "Kindlichkeit" Mörikes. Er zeigt, daß auch Mörike das Herzudrängen der vollen Wirklichkeit und unsere Pflicht, uns ihr einzufügen, erlebt hat. Er zeigt, daß Mörike wohl König und Kind der glückhaften Insel Orplid war, aber nicht ihr Gefangener. Seine Kindlichkeit ist nicht mit einer unerlaubten Verkürzung des Bewußtseins, der Mannesform erkauft. Sie liegt weitab von jeder "Infantilität", sie ist bewährte, wesensechte Unschuld; sie ist unreflektiert, aber nicht geistfremd; sie ist des Geistes gewiß und des Geistes voll, doch ohne Bruch. Als Vikar in Plattenhardt kommt Mörike 1829 in die Familie des kurz zuvor verstorbenen Pfarrers Rau. Er lernt dessen Tochter Luise kennen, die damals etwas über zweiundzwanzig Jahre alt war. Eine weiche Taube, sehr hübsch im weißen Kleidchen und den blonden Locken, schildert sie Vischer. Aber wenn er sie daneben "leider gar zu einfältig" findet, so entdeckt doch Mörike in ihr den "kindlichen, verborgenen, reinen Lebensgrund", der ihn nachhaltig anzog. Luise wurde Mörikes Braut. Eine lange Brautzeit folgte mit vielen Trennungen der Liebenden und mit vielen Briefen. Eine Festigung, eine Beruhigung tritt in diesen Jahren in Mörikes Wesen hervor. Lebensführung und Briefe zeigen männlichere Züge. Doch fehlt es [331] nicht an äußeren Störungen. 1830 stirbt Waiblinger. Familiensorgen bringen schwere Bedrängnis. Der Bruder August, Schreiner, verfällt der Verwahrlosung, der Bruder Karl läßt sich auf die revolutionären Wallungen der Zeit ein und kommt auf den Hohenasperg. Die ganze Familie wird in den Handel hineingezogen, auch Mörike selbst, obschon er "die zu den extremsten Schritten drängende Geschäftigkeit der Demokratie" und "den immer wieder von neuem aufgeregten Geist des Liberalismus" entschieden ablehnt. Nach einem Erholungsurlaub im Sommer 1831 kommt Mörike nach Eltingen, wo ein sprechender Star und der Spitz Joli seine Hauptgesellschaft bilden. Endlich, im Januar 1832, erhält er eine Stelle in Ochsenwang als sogenanntes "unveränderliches Vikariat". Hier arbeitet er den Maler Nolten aus, der im August 1832 erscheint. Das Buch findet den begeisterten Beifall der Freunde. Sogleich betreibt er dann eifrige Bewerbung um ein endgültiges Pfarramt, welches ja die Vorbedingung seiner Verheiratung ist. Aber immer deutlicher zeigt sich, daß mit Luisens Familie etwas an Bürgerlichkeit in sein Leben ragt, das dem Gesetz seines Wesens fremd bleibt. Von den biederen Leuten ward seine Krankheit, die alten rheumatischen Beschwerden, nicht geglaubt, seine gelegentlichen Gedanken an Urlaub und Eigenbeschäftigung wurden nicht verstanden, Luise selbst glaubte die langen Pausen zwischen seinen Besuchen als Mangel an Liebe aus- [332] legen zu müssen. Nach allerlei Hangen und Bangen kam es im Herbst 1833 zur Aufhebung der Verlobung, just als von außen her sich alle Voraussetzungen zur Ansiedlung und Befriedung dieses Lebens erfüllen zu wollen schienen. Daß die Entscheidung für Mörike richtig war, braucht füglich nicht bezweifelt zu werden.
Besuch und Briefverkehr häufen sich infolge des zunehmenden Ruhms. Daneben quälen ihn das treue Rheuma und bittere Geldsorgen, die er seiner Familie wegen auf sich nehmen muß. Ein Lichtblick ist das treffliche Einvernehmen mit seiner Gemeinde und das endliche Erscheinen des von Mörike und Mährlen lange geplanten und umsorgten Jahrbuchs schwäbischer Dichter und Novellisten, das den "Schatz" und zwei Gedichte von Mörike bringt (1836). Die persönliche Beziehung zu Hermann Kurz spinnt sich an, die in langer Freundschaft und selbst in gemeinsamer Arbeit (an der Oper "Die Regenbrüder") fruchtbar werden sollte. Das lebensreichste Ereignis dieser Zeit in "Klepperfeld" ist aber das Aufleben der Jugendfreundschaft mit Wilhelm Hartlaub 1837. Der hilft gegen Krankheit und Not, er hilft mit Geld und Rat, mit nie versagender Treue und mit schwärmerischer Ehrerbietung für Mörikes Schaffen. Davon zeichnet Theodor Storm in seinen Erinnerungen an Eduard Mörike ein entzückendes Bild (das freilich aus späterer Zeit, 1855, [333] stammt). Mörike liest Storm sein erzählerisches Meisterwerk Mozart auf der Reise nach Prag vor, Hartlaub ist dabei. Dieser "folgte der Vorlesung mit einer verehrenden Begeisterung, die er augenscheinlich kaum zurückzuhalten vermochte. Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: 'Aber, i bitt Sie, ist das nun zum Aushalte!'" Einen Abglanz solcher schwärmerischen Ergriffenheit von Mörikes Werk und Person findet man in Äußerungen seiner Freunde oftmals wieder. Mit Hartlaubs in Wermutshausen spinnt sich ein inniger Familienverkehr an. Auch Kerner im nahen Weinsberg wird öfters aufgesucht, und es stellt sich unterm Einfluß der Weinsberger Geistersehern heraus, daß Mörike selbst einen Poltergeist, den verstorbenen Pfarrherrn Rabausch, im Hause hat. Die Jahre 1839 und 1840 zeigen Mörike in ausgedehnter Tätigkeit als Herausgeber eigener Werke (Teilausgaben), der Schillerschen Familienbriefe, einzelner Handschriften Waiblingers und Hölderlins. 1840 erscheint Mörikes Classische Blumenlese, teils eigene, teils fremde und bloß überarbeitete Übertragungen griechischer und römischer Idyllendichtungen; Mörikes Beziehung zu diesen Strecken des antiken Schrifttums ist wesenhaft in dem idyllischen, behaglich ausmalenden Zug seines eigenen Schaffens begründet. Vielfach, in ständig zunehmendem Maße werden Mörikes Gedichte in Musik gesetzt. Eine geistesgeschichtlich fesselnde Einzelheit hat man vor sich, wenn man hört, daß Mörike Schuberts Erlkönig bei aller Bewunderung als "ein grelles, den Charakter des Gedichtes gleichsam aufhebendes Prachtierstück" empfindet. "Das Schreien des Kindes, wie es angefaßt wird, könnte Spiegel und Fenster zersprengen." Das Höchste an Musik ist ihm zweifellos in Mozart erschienen, dessen Lebensgewißheit und auch im Düsteren festgehaltene Menschenform seinem eigenen Wesen tief verschwistert sind. 1841 stirbt Mörikes Mutter, die zusammen mit Schwester Klärchen das Heim und das Leben des Dichters so treu gehegt hatte. Kurz darauf folgt eine einschneidende Veränderung. Mörike konnte schon lange seinen Dienst nur mit Hilfe eines Vikars versehen, schließlich überließ er diesem die sämtlichen Amtspflichten; das Konsistorium mochte das nicht länger hingehen lassen, und so reichte Mörike am 3. Juni 1843 sein Abschiedsgesuch ein. Es ward bewilligt mit zweihundertachtzig Gulden Ruhegehalt. Es folgen Jahre, die für Mörike schwer im Schatten der körperlichen Leiden liegen. Gliederschmerzen, Gehunfähigkeit, Schwindel, Erschöpfung, Kopfdruck nach kurzer Arbeit sind die Erscheinungen, zwischen Rheuma, Gicht, Rückenmarksleiden schwankt das Urteil der Ärzte. Die Empfindlichkeit für klimatische Einflüsse steigt aufs höchste und zwingt ihn, von Hall, das er zunächst als Wohnort erwählt hat, nach Mergentheim überzusiedeln (November 1844). Die Bildnisse Mörikes zeigen mit zunehmender Deutlichkeit einen schlaffen, ängstlichen, betrübten Zug in Verstärkung des Ausdrucks von Scheu und Seelenzartheit, der ihm stets eigen gewesen. Auffallend bleibt dabei, wie wenig die Bildnisse den von [334] Freunden oft bezeugten Übergang der Miene von dem ängstlichen Ernst zum mutwilligsten Gebärdenspiel andeuten, auch zum Freundlichen, Herzwarmen und bezaubernd Menschlichen; offenbar genügte immer schon die Gegenwart des Zeichners oder Photographen, um das Kind in Mörike in sich selbst zurückzuscheuchen. In Mergentheim hat Mörike den verabschiedeten und schwerkranken Oberstleutnant von Speeth zum Hausherrn. Um die Pflege des Kranken ist seine Tochter Gretchen besorgt, die bald mit Schwester Klärchen eine innige Freundschaft schließt. Bald entwickeln sich auch zwischen ihr und Mörike Herzensbeziehungen. Der Vater stirbt im August 1845; Die Liebenden denken an eine Verbindung, die aber bei Verwandten und Freunden auf beiden Seiten wenig Gunst findet. Hartlaubs sahen in Gretchen "ein bis zur Verzweiflung eigensinnig, verwöhntes Geschöpf von zweideutigem Charakter"; andere Freunde schildern sie als aufgeregt, rasch, heftig und willensschwach. Die Sache bleibt einstweilen in der Schwebe.
Das Jahr 1848 kommt mit seinen politischen Erregungen und findet Mörike mit ganzem Herzen auf der Seite der Volkssache, die ja die Sache der Reichs- und Volkseinheit war. Gegen eine fast völlige Lähmung der Beine sucht Mörike Heilung in Bad Teinach; unterwegs kehrt er bei Blumhardt in Möttlingen ein und erfährt jene wundersame heilende Einwirkung, die binnen vierundzwanzig Stunden aus einem an den Krankenstuhl Gefesselten einen rüstigen Fußgänger und Bergwanderer macht (Juli 1848). Inzwischen hatte aber das Gerede der "Leute" über den Mörikeschen Haushalt zu dreien die Lage in Mergentheim unhaltbar gemacht, und so entschließt sich Mörike (der in dieser Zeit das wahre, tiefreichende Wort von seiner "physischen und geistigen Gebundenheit" ausspricht) zur Übersiedlung nach Stuttgart, ohne jede feste Aussicht auf Stellung und Erwerb (1851).
Mitarbeit an Zeitschriften, Übersetzungen (Anakreon), Herausgebertätigkeit, eigene Dichtungen, wie Mozart auf der Reise nach Prag, "Turmhahn", "Das Stuttgarter Hutzelmännlein", füllen Mörikes reichlich bemessene Freizeit aus. Titel, Orden, Ehrenmitgliedschaften stellen sich in Fülle ein. Freundliche Gesinnungen für ihn bilden sich am Münchener Hofe. Maximilian II. will ihn nach München ziehen und entsendet Emanuel Geibel, um mit Mörike darüber zu verhandeln. Die beiden Dichter unternehmen einen gemeinsamen Spaziergang nach [335] Cannstatt. Ein Augenzeuge berichtet: "Auf dem Heimwege bedeckte sich der Himmel mit Wolkenflocken, welche die untergehende Sonne bemalte. 'Welch ein Schauspiel, lieber Mörike!' sagte Geibel, in dem er schwärmerisch dessen Arm ergriff. Dieser, von dem Gefühlsausbruch fast erschreckt, versetzte: 'Das heißt man bei uns Schäfle!'" Hat die Geschichte auch nichts mit dem Münchener Plan zu tun, so zeigt sie doch auf ergötzliche Weise das beiderseitige Aneinandervorbeireden und das drollig-kindliche Zurückweichen Mörikes, der denn auch die ehrenvolle Berufung ablehnte. Ihm mochte an dem Leben und Treiben, das schon ohnehin um ihn war, genug und übergenug sein. Er, der in keiner Weise zum "Repräsentieren" geeignet war und dem sich Leben
Häufige Aufenthaltswechsel, zum Teil durch die häuslichen Zerwürfnisse veranlaßt, stören auch diesen letzten Abschnitt seines Lebens. 1867 ist er in Lorch, wo er im Garten und an der Töpferscheibe arbeitet und wo ihm neben Hartmanns Philosophie des Unbewußten die Schriften des alten tiefsinnigen Ötinger wichtig werden, mit ihrem grundlegenden Wissen um die "Leiblichkeit", die "das Ende der Wege Gottes ist". 1869 ist er in Stuttgart, 1870 in Nürtingen, 1871 wieder in Stuttgart, bis endlich der Unfriede im Haus im August 1873 zur Trennung von seiner Frau führt. Jetzt beginnt sich Einsamkeit um ihn her auszubreiten. Die früh ausgesprochene Bitte "Laß, o Welt, o laß mich sein!" erfüllt sich in jener ironischen Weise, in der das Leben manchmal tiefliegende Wesenswünsche zu gewähren pflegt. Nicht die lebensvolle Einsamkeit, an die jene Bitte gedacht hat, verwirklicht sich, sondern eine langsame Verarmung seines Lebensraumes an Gestalten, an menschlicher Wärme, selbst an Dank der Mitwelt für das Wunder seines Schaffens. Viele alte Freunde nimmt der Tod hinweg, so Hermann Kurz, Lohbauer, D. Fr. Strauß. Nur die treue Schwester harrt, liebend und dienend bis zuletzt, bei ihm aus. 1875 befällt ihn zu den alten Leiden eine schwere Unterleibsentzündung. Er kann nicht essen, nicht schlafen; er kann weder lesen noch anhören. "Wie Reisach zerbrochen, zerkracht lieg ich da – gekrümmt, zerschellt." Vierzehn Tage vor seinem Tod söhnt er sich mit seiner Frau aus. Er stirbt am 4. Juni 1875, sanft, fast unmerklich erlöschend. Nur wenige Menschen waren im Grabgeleit, doch der Jugendfreund Vischer stand an der Gruft, geistesmächtig, und fand Worte, in denen nicht eine kleine oder große Trauergemeinde, sondern das ewige ganze Herz des deutschen Volkes gegenwärtig war. "Du warst nicht und wirst nicht berühmt sein bei jenen, die nicht ahnen, welch ein Wesen es ist, das dir bei deiner Geburt die sanfte Geisteshand auf Stirn und Lippen gelegt hat, die nicht finden können, was der Dichter sinnt und meint, wenn er aus Licht und Äther magische Fäden spinnt und mit ihnen Herz und Welt, Geistesleben und Erde, Fels, Sonne, Mond und flüsternde Bäume und rauschendes Wasser in ein Ganzes geheimnisvoll zusammenschlingt... Aber es gibt eine Gemeinde – und nur in der Vergleichung mit der breiten Menge ist sie klein –, die sich labt und entzückt an deinen wunderbaren, hellen, seligen Träumen... Da ist ein guter Mensch geschieden, – gut, wenn Gutsein doch etwas anderes als nur Meiden des Schlechten, wenn es eine Kraft, ein Leben, wenn es Liebe [337] bedeutet. Ja, Liebe, das war es: herzliches Sichversetzen in jeden fremden Zustand, in alles und jedes, was Menschen sind und leben und leiden, und auch in die arme, dunkle Seele der sprachlosen Kreatur... Dies Versetzen, Eingehen, Teilen, Geben und Wiedergeben und dazu sein Geist und der sprudelnde Scherz... milde hinlächelnd über menschliche Schwächen, in freier, heiterer Nachbildung gern den Widersinn der Torheit hervorstellend, dies zusammen schuf ein Ganzes, das rings um ihn alle Gemüter in einen Strom des Wechselverkehrs tauchte, der einzig war und aus dem keiner anders als erfrischt, getröstet, verjüngt hinwegging..."
In Mörikes Versdichtung heben sich verschiedene stilistische Anknüpfungen voneinander ab. Es sind breite Beziehungen da zum Volkslied und zur Volksballade (Beispiele: "Ach, wenn's nur der König auch wüßt'" und "Schön Rothraut"). Der kurze Reimvers Hans Sachsens klingt – über Goethe – mehrfach an (Beispiel: "Erzengel Michaels Feder"). Dazu gesellen sich Sprechweisen des Altertums, Fügungen nach Art der Ode und der Elegie, des Hexameters und des Distichons, der Idylle, der Satire und der Epistel; namentlich dem Briefton Mörikes zeigen sich diese antiken Maße (vierfüßige Trochäen und sechsfüßige Jamben) mit ihrer bezaubernden Leichtigkeit und ihrem eiligen, gelösten Sprechen oft sehr anmutig angepaßt. Während die Lieder im deutschen Volkston unmittelbares lyrisches Herzwort sind auf der Linie des schwäbischen Volks- und Grundlauts, verwalten die Dichtungen in antiken Maßen das stille Bewußtsein und die heitere, tägliche Besinnung. Sie werden im Zusammenhang von Mörikes Schaffen zum echten Ausdruck eines täglichen Strebens zum Maß, eines denkerischen Verfügens über das Erlebnis, eines liebenden, oft humoristischen Sichabfindens mit der Welt. Aber zum eigentlichen und höchsten Dienst am deutschen Wesen steigt Mörikes Dichtung auf in den Hochformen seiner Lyrik, wie sie in "Wintermorgen", "Gesang zu zweien", "Im Frühling", "In der Frühe", "Jägerlied", "Peregrina", "Septembermorgen", "Um Mitternacht", "Mein Fluß" und andern gegeben sind. [338] Sie haben oft eine herzhafte Nähe zum Volkston und führen ihn doch auf eine Höhe, wo reife, volle Kunst erscheint und das Gedicht eine unüberbietbare geschöpfliche Selbständigkeit als tönendes Gebild erlangt. In Mörikes besten Gedichten begegnen sich äußeres Erklingen (Musik des Worttones und der Sprachbewegung) und inneres Erklingen (Fügung und Verschränkung der Vorstellungen, der Bilder und Wortsinne) auf so untadelige Weise, daß schlechthin Vollendetes an lyrischer Form entsteht. Zugleich ist diese Begegnung so einmalig und wesenhaft deutsch, daß man diesen Gedichten eine bleibende, menschenbildende Beispielkraft zusprechen muß. Sie zählen zu den "rettenden Bildern", die dem deutschen Menschen immer zur Erkenntnis und Bewährung seiner eingeborenen Seelenform durchhelfen werden. Das Liebesgeheimnis, sagten wir, welches zwischen dem deutschen Herzen und der Natur besteht, nährt Mörikes dichterisches Schaffen. Überall, wo man in seine Lieder hineinhorcht, rauschen sie vom "flüsternden Gedränge der Erdenkräfte". Sie sind voll von Winken und Grüßen eines tiefen Einverständnisses zwischen Mensch und Element. Der Fluß murmelt durch sie hin, die nächtlichen Quellen kommen zu ihrem Wort. Was der Windhauch will, was die Mitternacht schwärmt, findet Gehör und Deutung. Eingetaucht in dichte Beziehung zu allen Geschöpfen, eingeweiht in ihre verschwiegensten Gebärden, erfährt hier der Mensch ein grenzenlos verknüpftes Dasein. Magische Querverbindungen ragen herein, das Dämonische meldet sich an mit Drohung und Warnung. Sehnliche Liebe, ein paradiesisches Wissen des einen vom anderen spricht hin und her. Das An-Sich der ewigen Dinge, das Kosen und Seligsein der Natur mit sich selbst tritt hervor in einer einzig frommen und liebenden Belauschung. Es ist aber als sehr wesentlich festzuhalten, daß bei Mörike dieser Verkehr der Seele mit dem Elementaren niemals aus der menschengestaltigen Form herausgeht. Man hat nur die eine Seite seiner Naturbeziehung bestimmt, wenn man die großartige Einläßlichkeit des Menschen Mörike auf das Urleben herausgestellt hat. Die andere Seite ist die, daß das Menscheneigene, der Geist, sich in wunderbar ausgewogener Teilhabe hinzugesellt. Die Natur wird in Mörikes Erlebnis nicht unbotmäßig. Das Element übermächtigt den Menschen nicht, es zerbricht nicht das gefügte Wort, es zerstört nicht jenen letzten Bestandteil Besinnung, der überall da zugegen sein muß, wo der Mensch in Ehren bleiben soll. Gedichte wie "Mein Fluß" oder "Die Elemente" zeigen deutlich die Gegenwart des "Geistes", der Abstand hält und nicht nur um die abgründige Seligkeit der Kreatur weiß, sondern auch um das Dumpfe, Mühevolle und Unerlöste in ihr. Mörikes Natur-Erlebnis steht in jener hohen Form, die nicht ein Sich-Verlieren des Menschen an das untere Leben ist, sondern ein liebendes, kindliches und vertrauliches Spiel mit ihm. Hier kommt zu seinem Recht und Gewicht, was unser Lebensabriß über die kindliche Seelenform Mörikes zu sagen versucht hat: Kindlicher Austausch zwischen Mensch und Geschöpf, wahrhafte kindliche Naturliebe, die doch des [339] Geistes mächtig ist, nährt Mörikes Lied, und ausnahmslos erklingt es, hier im helleren, dort im dunkleren Ton, von jenem ganz bestimmten kindlichen Daseinsglück, das er benannt hat als "eine unerklärbar tiefe Herzensfreudigkeit, die aus dem innersten Gefühle unserer selbst hervorquillt". Dieses Daseinsglück, welches das Sein unmittelbar als Freude erfährt, bildet das eigentliche Geheimnis in Mörikes Wesen. Hat man es als eine ausgesprochen kindliche Glücksform erfaßt, beruhend auf einer unerschütterlichen Wesensgesundheit, und hat man verstanden, daß diese Glücksform samt dem zugehörigen Lebensgefühl die Urmitgift des deutschen Volkswesens bildet, dann hat man die Quelle des Mörikeschen Liedes und den Ursprung seiner bleibenden nationalen Geltung umschritten. Zugleich liegen hier auch Hinweise auf die Art der erzählenden Dichtungen Mörikes. Sie streben vielfach zum Märchen, nicht als zu einer besonderen Dichtungsart, sondern als zur eigentlichen und im Kern einzig entsprechenden Weltaussage dieses Dichters. Dafür spricht weniger "Der Bauer und sein Sohn", das bewußt an das deutsche Hausmärchen anknüpft, als "Der Schatz", "Das Stuttgarter Hutzelmännlein", "Die Hand der Jezerte". Bei ihnen tritt diese bewußte Anknüpfung an die Märchenform zurück, aber gerade deshalb geben sie zu erkennen, wie tief der Märchenton dem Wesen Mörikes zugeordnet ist. Wenn das Volk Märchen ersinnt, so ergeht es sich nicht in Fabeleien von abgezirkeltem und gemindertem Anspruch, sondern es spricht auf maßgebende Weise sein volles wirkliches Weltbild und Lebensgefühl aus. Das Märchen ist gültige dichterische Hochform des Kinderzustandes bei den Völkern wie beim einzelnen Menschen; und auch mit dem, was im vollerwachten Kulturmenschen das "Kind" ist, bleibt es ewig und sehr ernsthaft verbunden. Ebenso ist bei Mörike das Märchen eine reine Ausatmung dessen, was er als wirklicher Mensch gelebt hat; Ausatmung des gläubigen Kinderwesens, das alles symbolisch erlebt, das der Beseeltheit der Welt, der Verwobenheit aller Geschöpfe und der Sinnerfülltheit des Daseins unmittelbar gewiß ist. Anders, doch nicht gegensätzlich geartet ist diese Weltbeziehung in den zwei größeren Erzählungen, dem Maler Nolten und Mozart auf der Reise nach Prag. Darüber nur ein kurzes Wort. Im Maler Nolten, dem "ersten Versuche eines pathologischen Romans nach Goethe", stellt sich Mörike bewußt unter das Streben, über das Ichbefangene der "orplidischen Periode" hinauszugelangen und der Selbsterfahrung etwas Allgemeingültiges abzugewinnen. Züge und Gestalten des eigenen Lebens gehen durch den Roman, die Bedrängung durch das Dämonische und Hintergründige, wie es in der Menschenbrust und in zauberischen Verflechtungen des Daseins gegeben ist, tritt überall hervor. In der Tiefe gesehen, sind die "pathologischen" Züge im Nolten Zeichen für die Bedrohtheit, unter der gerade das kindliche, wehrlose Leben sich stehen weiß, wofern es nicht, wie im Märchen, rein bei sich und über sein eigenes Glück gebeugt bleibt. Das Kindliche erscheint hier [340] als Zustand mangelhafter Sicherung gegen feindliche Einbrüche von seiten des Bösen im Menschen und von seiten koboldischer oder magischer Gewalten, die der kindliche Mensch nur unvollkommen beherrscht. Der Nolten ist kein "autobiographischer Roman", aber erlebnismäßig wahr ist darin die Erfahrung des Übermächtigen, Verborgenen, Unübersichtlichen, von der Mörikes Leben eben als ein kindliches Leben allseits durchwirkt ist. Die Mozart-Novelle, ein Meisterstück der deutschen Dichtung, ist bei Mörike einzigartig als ein Fall völlig geklärter realistischer Weltbegegnung, durchaus klingend und quellend in der Sachbemeisterung, in der Erfindung, in der Seelenmalerei. In der gleichzeitigen Geltendmachung eines unerschöpflichen Bilderstroms, einer festen Tatsachenkenntnis, einer kräftigen Anschauung des gefaßten Augenblicks zeigt diese Erzählung den Schwung glücklicher Jahre und die goldene Spur des großen schöpferischen Geistes selbst, dem sie gewidmet ist.
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