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[Bd. 5 S. 265]
Ludwig Uhland, 1787-1862, von Heinz Otto Burger

Ludwig Uhland.
[272a]      Ludwig Uhland.
Gemälde von G. W. Morff, 1818.
Marbach, Schiller-National-Museum.
Ludwig Uhland ist von Hebbel "das bestvermummte Genie" genannt worden, und derselbe sagte: "Er ist ein Tropfen feurigen Weins in einem Faß von Eis." Hebbel zielt mit solchen Bildern auf das seltsam Rätselhafte von Uhlands Gestalt, das sie einem manchmal in fast komischem Zwielicht erscheinen und dann doch wieder wie ein großes Wunder aufleuchten läßt. Da steht ein ganz und gar "normaler", erschreckend durchschnittlicher, höchstens noch besonders kühler und trockener Mensch mit einem Holzbirnenkopf, wie Vischer sagte – und er soll ein großer Dichter sein. Mutet das nicht an wie Widersinn? Mit diesem Widersinn aber muß die andere, noch viel größere "Unmöglichkeit" zusammenhängen: daß ein Mann auf der Höhe der Bildung des neunzehnten Jahrhunderts echte Volksdichtung zu schaffen vermochte.

Gerade heute, wo wir so sehr nach solcher Dichtung verlangen, wissen wir, wie selten Dichter Menschen sind, die sich nicht, einfach infolge ihrer besonderer Gabe, aus der Gemeinschaft lösen, und wie selten andererseits Menschen, die ganz mit der Gemeinschaft fühlen, als echte Dichter gelten können. Auf dem schmalen Pfad volkhafter Dichtung vermögen nur wenige frei dahinzuschreiten. Die meisten verfingen sich in Regionen, wo das Volk nicht nachkommt, oder geraten ins platte Land, wo kein Firnhauch der Dichtung mehr weht. Uhland aber hat den Pfad nicht verloren. Man kann das Gnade nennen. Und letzten Endes ist es sicher Gnade. Aber als denkende Wesen, die nun einmal die meisten von uns sind, müssen wir wohl versuchen, uns das Wunder einigermaßen begreiflich zu machen.

Jedenfalls konnte solch ein Wunder nur auf dem Boden einer großen und starken Herzenseinfalt erblühen. Namentlich Uhlands Pariser Bekannte bezeugen denn auch den Eindruck innerer Reinheit und Unberührbarkeit, den der Jüngling machte, seine "helle Einfalt und Lauterkeit". Fr. Th. Vischer aber, der mit dem Greis zusammenkam, erklärt: "Man fühlte ihm die innere Reinhaltung an, man ahnte, noch ehe man es wußte, daß man hier einem Leben gegenüberstehe, das unbefleckt war, wie ein reines Tuch. Und das so ohne Zwang, so schlicht, so natürlich."

Den innersten Herzschlag Uhlands erlauschen wir in dem Gedicht "Schäfers Sonntagslied". Es kündet die Erfahrung einer völlig einsamen Stunde:

      Ich bin allein auf weiter Flur,
      Noch eine Morgenglocke nur,
      Nun Stille nah und fern.

[266] Anbetend sinkt der Schäfer in die Knie:

      O süßes Graun! geheimes Wehn!
      Als knieten viele ungesehn
      Und beteten mit mir.

In der tiefsten Einsamkeit fühlt sich Uhland plötzlich angerührt und gehalten von einer unsichtbaren Gemeinschaft. "Hat man aber Charakter", sagte Nietzsche, "so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkehrt." Immer, wenn er dichtet, spürt Uhland um sich die Gemeinschaft. Jede Empfindung, die bloß ihn allein angeht, dünkt ihn zufällig und im Grunde wertlos. So kommt er dazu, zu sagen: "Für eine Poesie, vom Volk abgewendet, eine Poesie, die nur die individuellen Empfindungen ausspricht, habe ich nie Sinn gehabt. Im Volke muß es wurzeln." Im Volke als einer gegenwärtigen und zugleich geschichtlich dauernden Einheit. Er fährt fort: "Mein Streben geht dahin, mich immer fester in ursprünglich deutsche Art und Kunst zu verwurzeln, der wir leider so lange entfremdet waren. Mir kam es diesem nach zu, in Bild, Form und Wort mich der größten Einfachheit zu befleißigen, sollte ich mir auch den Vorwurf der Trockenheit zuziehen, die einheimischen Weisen zu gebrauchen, vaterländischer Natur und Sitte anzuhängen, mir unsere ältere Poesie, und zwar unter dieser wieder die wahrhaft deutsche zum Vorbild zu nehmen." Könnten diese Worte nicht heute gesprochen sein? Und wie hat Uhland seinen Willen zur Tat gemacht! Er besaß eben nicht bloß den Willen, sondern dazuhin das Wissen und das Können. "Der Wirtin Töchterlein" z. B. oder "Der gute Kamerad" sind richtiggehend zusammengeschweißt aus Verszeilen und Satzgefügen echter Volkslieder, mit großer Kenntnis und feinem Können, vor allem aber mit einem tiefen Wissen um das Wesen des Volkslieds. Gerade hier fassen wir, glaube ich, Uhlands eigentliche Gabe: ein noch mehr instinktives als bewußtes Wissen darum, was Dichtung ist, wie ein wahres Volkslied, im weitesten Sinn, aussehen muß. Aus dieser Vision stammt sein Werk. Ein bloß verstandesmäßiges Wissen um volkhafte Dichtung konnte es nicht zustande bringen, wohl aber konnte es geboren werden aus einer Intuition, die letztlich wurzelt in innerer Verwandtschaft, in der eigenen Herzenseinfalt. Ihr danken wir Lieder wie das vom "Guten Kameraden". Wo immer Deutsche, seien es zwei oder drei in stiller Stunde, sei es die ganze Nation in hoher Feier, eines Toten gedenken, wird dieses Lied angestimmt. Als Klage und Gelöbnis der Treue bis übers Grab stiftet es die innigste Gemeinschaft der Trauernden unter sich und mit dem Toten. Es ist eins der deutschen Nationallieder geworden.


Wir versuchten, uns das Wunder solcher Lieder aus Uhlands Persönlichkeit und Begabung begreiflich zu machen. Wir können ihm vielleicht noch näher kommen, wenn wir an den Lebensraum dieser Persönlichkeit denken.

[267] Ludwig Uhland ist am 26. April 1787 in Tübingen als Sohn des Universitätssekretärs geboren. Mit vierzehn Jahren bezog er die heimische Hochschule, vier Jahre später geht er von der vorbereitenden Artistenfakultät über zur Rechtswissenschaft. Im selben Jahr schenkt der Achtzehnjährige unter einer größeren Anzahl guter Gedichte der Nation eins ihrer schönsten Lieder: "Schäfers Sonntagslied" und eins ihrer berühmtesten: "Die Kapelle".

Wurmlingen in Württemberg.
[271]      Wurmlingen in Württemberg mit der durch Uhlands Gedicht "Droben steht die Kapelle" berühmt gewordenen Kapelle.
[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]

Uhland steht damals in einem Kreis mitdichtender Freunde, fast lauter Schwaben, deren Mittelpunkt Justinus Kerner bildet. Das hat ihn ganz offensichtlich befeuert und gestärkt. Nach dem Advokatenexamen (1808) und der Promotion (1810) reist er erst dreiviertel Jahre zu juristischen und philologischen Studien nach Paris, dann übt er in Tübingen und Stuttgart die Advokatenpraxis aus. Seine Heirat aber mit Emilie Vischer (1820) ermöglichte es ihm wirtschaftlich, sich immer mehr der Wissenschaft und Politik zuzuwenden. 1829 erhielt er die Berufung in eine außerordentliche Professur für deutsche Sprache und Literatur in Tübingen. Doch schon

Uhlands Wohnhaus in Tübingen.
[267]      Uhlands Wohnhaus in Tübingen.
[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]
1833, als ihm die Regierung den Urlaub zur Ausübung seines Landtagsmandats verweigerte, kam er – es fiel ihm schwer genug – um seine Entlassung ein; sie wurde ihm "sehr gerne" gewährt. Von nun an lebte er im wesentlichen als Privatgelehrter in Tübingen, seit 1836 in dem schönen Haus an der Neckarbrücke, bis ihn am 13. November 1862 "der Engel des Todes küßte", wie es in der Anzeige heißt.

Siebenundfünfzig Jahre also hat Uhland in der Stadt gehaust, wo er zur Welt kam und der Erde übergeben wurde. An diese Stadt ist auch sein ganzes Dichten gebunden. Reisen blieben für ihn dichterisch unfruchtbar, aber von Spaziergängen in der Umgebung Tübingens kehrte er immer wieder mit reichem Segen heim.

      "Nie erschöpf' ich diese Wege,
      Nie ergründ' ich dieses Tal,
      Und die altbetretnen Stege
      Rühren neu mich jedesmal."

[268] Für Uhland kommt die dichterische Stimmung nicht aus dem Schauen, sondern immer nur aus dem Ahnen. Er gestaltet keine drängende Fülle äußerer Eindrücke, aber auch keine im Innern aufbrandende Woge von Gefühlen, er muß sich in ein Gegebenes empfindend versenken und erinnernd oder träumend an ihm weiterbilden können, so, wie er tat, wenn er vom Österberg oder vom Schänzle hinter der Burg auf die duftig verschwimmenden Berglinien der Alb hinüberschaute. Vom lyrischen Gedicht verlangt er dann ebenso, daß es "klar und ahndungsvoll zugleich emporsteige": eine Verdichtung des Erlebnisses, das ihm die Tübinger Landschaft gab.

Noch eine andere Seite Tübingens war für Uhland bedeutungsvoll. Nie herrschte in Schwaben eine so schroffe Scheidung der Stände wie anderwärts. In Tübingen, der Stadt der Professoren und Weingärtner, hat das oft zu merkwürdigen Verbindungen zwischen "Volk" und "Bildung" geführt, gerade auch auf literarischem Gebiet. Tübingens erster Welterfolg waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Facetien von Heinrich Bebel: eine Sammlung von Schwänken und Scherzreden, zum guten Teil dem schwäbischen Volksmund abgelauscht, aber dann in klassischem Latein wiedererzählt. Bezeichnend auch, daß Bebel ein deutsches Volkslied: "Ich stund an einem Morgen gar heimlich an eim Ort" in lateinische Verse brachte. Das ist "Tübingen". Ganz ähnlich wie Bebel hat dreihundert Jahre später ein anderer Tübinger, Wilhelm Hauff, ein Volkslied, das von der Gasse in seine Dachkammer heraufklang, umgedichtet zu seinem schönsten Sang: "Morgenrot, Morgenrot..." In diese Reihe scheinen mir Uhlands Lieder von "Der Wirtin Töchterlein", vom "Guten Kameraden" und manch andere zu gehören. Jedenfalls ist die starke Bindung auch des Gebildeten in seiner inneren Haltung, seiner Sprache und seiner Dichtung ans Volk für die Schwaben charakteristisch. Und Uhland ist ein Erzschwabe.

So kann uns der Gedanke an Uhlands Lebensraum helfen, das Wunder seiner Dichtung zu begreifen. Helfen kann uns dazu aber auch die Besinnung auf seine Zeit. Jener überraschende Liederfrühling von 1805 brach auf unter den Strahlen des Goetheschen Gestirns. Gedichte wie "Schäfers Sonntagslied" oder "Hoch auf dem alten Turme" zeigen deutlich diese Einwirkung. Trotzdem war es wohl nur so, daß der Große Uhland Mut gab zu sich selbst und ihm unbewußt die allgemeinen Ausdrucksformen bot, wenn am Morgen auf den Neckarwiesen oder am Abend auf dem Tübinger Schloß Gefühle und Träume seine Seele schwellten.

Ganz anders ist es, als noch im selben Jahr 1805 Des Knaben Wunderhorn, Alte Deutsche Lieder, gesammelt von L. A. von Arnim und Clemens Brentano erscheint. Hier unterwirft sich Uhland ganz und gar; nicht zu seinem Vorteil. Und als das aufklärerisch-reaktionäre Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände die ersten veröffentlichten Gedichte Uhlands und Kerners übel zerzaust, fängt man in Tübingen an, sich bewußt zu den Neutönern zu zählen und als "Romantiker" zu fühlen. Kerner leitet, halb Ernst, halb Scherz, eine Gegenaktion gegen das Morgenblatt ein: eine eigene Zeitung wird herausgegeben, das [269] Sonntagsblatt für ungebildete Stände. Jeden Sonntagmorgen lag es handgeschrieben auf Kerners Bude im "Neuen Bau" zur allgemeinen Einsicht auf. Hier, im Schatten des Stiftskirchenturms, war gleichsam "das Hauptquartier der Schwäbischen Romantik". Uhland schrieb außer Gedichten einen Aufsatz "Über das Romantische" ins Sonntagsblatt. Der antiken Dichtung stellt er da die nordisch-christliche als "romantisch" entgegen: eine alte Vorliebe hat durch Wilhelm Schlegel, Tieck, Novalis, durch Arnim und Brentano ihre Rechtfertigung und Bekräftigung gefunden.

Der gute Kamerad.
"Der gute Kamerad".
Uhlands eigenhändige Niederschrift.
[Schiller-Nationalmuseum, Marbach.]
1808 kommen der zweite und dritte Band des Wunderhorns heraus; von ihnen angeregt entsteht als zweiter Höhepunkt Uhlandscher Dichtung jene Reihe liedhafter Balladen: "Des Goldschmieds Töchterlein", "Der gute Kamerad" usw. In Paris dann gewinnt Uhland vollends die endgültige, ihrer selbst stets sichere Meisterschaft. Erst jetzt arbeitet er sich ernsthaft in den echten Geist des Mittelalters ein, und damit erwacht die Lust und Kraft zu seiner ungetrübten dichterischen Darstellung. Uhland erreicht die ihm angemessenste Schaffensweise: unvoreingenommene Verdichtung eines gegebenen Stoffes. Mit dem Schatz altertümlicher und volksmäßiger Stilmittel weiß er dabei nun frei und selbständig zu schalten. Auf solchem Grund baut sich Uhlands Balladenwerk auf, das gipfelt in den Schöpfungen von 1814 und 1815. Zumeist ist das Thema die Treue der Freundschaft und Gefolgschaft; die Form wird von historischem Wissen und Takt bestimmt: die "Schwäbische Kunde" aus den Tagen Barbarossas gießt Uhland in Reimpaare mittelhochdeutscher Art voll altertümlicher und schwäbischer Worte, die breit epische Erzählung von Graf Eberhard dem Rauschebart in die Nibelungenstrophe usw. Die Eberhardsballaden verwirklichen das Ideal der Sachlichkeit am strengsten, da wirft Uhland auf einmal das Steuer herum und fährt mit vollen Segeln aufs wogende Meer schrankenloser Subjektivität. Zwei Gesänge zu einem Oktavenepos "Fortunat und seine Söhne" entstehen: ganz witzig kecke Laune, geistreich lebensprühende Ironie und überlegene Meisterschaft über Rhythmus und Sprache. Auch das konnte Uhland. Freilich ist es wohl kein Zufall, daß das Werk nicht vollendet wurde. Diese Seite der Romantik war Uhland im Grunde nicht gemäß. Gemäß war ihm der neuerwachte Sinn für Gemeinschaft und Geschichte und die daraus sich erhebende Forderung an den Dichter, wieder anzuknüpfen an die volkhaft deutsche Dichtung der Vorzeit. Dazu gehört auch, daß die Romantiker, so sehr sie für ihre Person hemmungs- und bindungsloser Ironie verfallen sein mochten, andererseits doch die Einfalt priesen. Selbst Friedrich Schlegel verkündet: "Der Geist unserer alten Helden deutscher Kunst und Wissenschaft muß der unsrige bleiben, solange wir Deutsche bleiben. Der deutsche Künstler hat keinen Charakter oder den eines Albrecht Dürer, Kepler, Hans Sachs, eines Luther und Jakob Böhme. Rechtlich, treuherzig, gründlich, genau und tiefsinnig ist dieser Charakter, dabei unschuldig und etwas ungeschickt." Dieses Ideal konnte Uhland in seinem eigenen Wesen bestätigen, darum unterstellte er sich ihm. Uhland besaß nicht jene [270] unglückselige Sehnsucht nach dem, was ihm verschlossen und versagt war, er hatte den männlichen Stolz, sich zu sich selbst zu bekennen. Weil er von Geburt so normal, so gesund, so einfältig war und dazu stand mit seinem Leben und mit seiner Kunst, auch der Romantik nur folgte, sofern sie die kraftvolle Einfalt des deutschen Mittelalters wiedererwecken wollte, darum wurde die historische Gestalt "Uhland" so "uninteressant" und doch so groß. Schon Friedrich Theodor Vischer geriet einmal, wie er an Mörike schreibt, mit Uhland in Streit über sein Menschenideal: "Die Kontroverse war eigentlich diese: ist der Mensch, wie ihn die moderne Poesie zum Gegenstand machen soll, das einfach treue, von unbedingter Pietät, von unskrupulöser Energie, von körniger, konkreter Gediegenheit des Charakters bestimmte Wesen, wie frühere Zeitalter ihn darstellten, oder aber: ist er ein kämpfendes, dem Zweifel, der jetzt mit dem Vorrecht der Geister, keine Katze im Sack zu kaufen, Ernst macht, sich öffnendes Wesen... ein kämpfender Mensch samt all seiner Ironie und Frechheit?" Vor dieselbe Frage werden wir von Uhland immer wieder gestellt. Fast ein Jahrhundert hat sich dabei gegen Uhland entschieden, heute werden schon mehr sich bereit finden, auf seine Seite zu treten.


Dank seiner Herzenseinfalt und einem besonderen künstlerischen Gefühl, begünstigt von Raum und Zeit, konnte Uhland das Wesen der Volksdichtung intuitiv erfassen und aus dieser Intuition heraus seine eigenen Gedichte schaffen. Volkhaft ist er in "Kunstliedern" wie "Die linden Lüfte sind erwacht..." so gut wie in den volksliedmäßigen von der Art des "Guten Kameraden". Freilich so naiv sie alle auf den ersten Blick anmuten mögen, sie sind nicht wild gewachsen, sondern wurden sorgsam kultiviert. Die lyrische wie die balladenhafte Dichtung Uhlands hat etwas im besten Sinne Handwerkshaftes. Jener Reisende, der Uhland in der Postkutsche nach Paris auf einen Feinhandwerker, etwa einen Uhrmacher, einschätzte, muß ein guter Menschenkenner gewesen sein. Des Dichters genial geübtes Feinhandwerk wird uns deutlich, wenn wir etwa beachten, wie sich bei ihm Form und Inhalt bis ins kleinste hinein entsprechen, wie bei ihm jede logische Einheit zugleich syntaktisch und metrisch, stilistisch und rhythmisch in sich geschlossen ist und schon im einzelnen Wort Bedeutungs- und Klangwert verschmelzen. Klar und streng gebaut wie ein Kristall sind seine Gedichte und tief wie ein grundlos durchsichtiges Wasser.

Für die plastische oder auch berauschende Gewalt individueller Sprache dagegen hat Uhland keinen Sinn. Als sein tiefstes Bekenntnis zum dichterischen Wort und zur dichterischen Form überhaupt erscheinen die folgenden Sätze aus seinem Tagebuch: "Unter den überraschenden Erscheinungen einer künftigen Welt wird auch die sein, daß... aus der irdischen Sprache eine himmlische hervorbrechen wird. Eine Ahnung von dieser kann uns nicht sowohl der Glanz und Pomp der jetzigen Sprache als die Ruhe und (belebte) Stille der Sprache der älteren Dichter geben, wie in meinem Liede in der Stille des Sonntagmorgens der Himmel sich öffnen will, wie nur, wenn es ganz stille [271] ist, die Töne der Äolsharfe oder der Mundharmonika vernommen werden." Den Gegenpol zu einer solchen Kunst der Äolsharfe finden wir bald danach in dem Orchester Richard Wagners. Dieser greift zum "höchsten überhaupt Erreichbaren". Uhland dagegen resigniert, weil er weiß, daß sich das Tiefste auch mit den Mitteln der Kunst nicht ausdrücken läßt. Große Worte, fürchtet er, möchten nur die stille Andacht zerstören, auf die die Seele gestimmt sein muß, wenn sie hinter der Sprache eine Wirklichkeit ahnend spüren soll. Die dichterische Sprache soll also weder durch ihren Klang überwältigen noch durch ihre Bildkraft zwingen, sondern nur die Phantasie und das Gemüt zur eigenen Entfaltung anregen. "Das Gemüt aber liebt die unmittelbarsten Laute und weiß das einfachste Wort zu beleben." In diesem Sinne nimmt sich Uhland die mittelalterliche Poesie zum Vorbild, von der er sagt: "Weit entfernt, in der Mannigfaltigkeit und dem Schmucke der Sprache eine eigene Kunst zu suchen, hält sie sich lediglich an die Sache und bedient sich für sie des einfachsten und klarsten Ausdrucks. Dieser stellt sich von selbst ein und wird sich stets wieder einstellen, so oft dasselbe Bedürfnis wiederkehrt." Das heißt: der Ausdruck soll so wirken, als hätte er sich von selbst eingestellt. Er soll gar nicht ins Bewußtsein fallen, sondern nur durch seine schlichte Wahrhaftigkeit das Gemüt bewegen. Um das zu erreichen, bedarf's oft langer Überlegung. Eine schöne Probe dieser Art von "Philologie" bilden die Verbesserungen zu "Schäfers Sonntagslied", Strophe 3, Vers 2: Uhland versuchte hier nicht weniger als sechs verschiedene Fassungen, bis er schließlich die einfachste und wirklich treffendste gefunden hatte: "der Himmel blau und feierlich" – "Er schweigt so blau und feierlich." – "Umwölbt mich" – "Umfängt" – "Er ruht so" – "Umgibt mich" – "Er ist so klar und feierlich".

Die strenge und klare Einheit von Form und Inhalt, die anspruchslos schlichte [272] und doch treffsichere Sprache sind die wesentlichsten Eigenschaften von Uhlands volkhafter Kunst – soweit wir sie begrifflich bestimmen können. Mit achtzehn Jahren, sahen wir, hat Uhland schon ein paar in ihrer Art vollkommene Gedichte geschrieben. Mit dreißig scheint er bereits an einem Ende zu stehen. 1815 erscheinen zum erstenmal seine Gedichte. Er versucht sich nun im Epos, er versucht sich auch im Drama, aber selbst "Fortunat" bleibt stecken, und seine beiden abgeschlossenen Dramen "Ernst, Herzog von Schwaben" (1818) und "Ludwig der Baier" (1819) zeigen nur, daß Uhland kein Dramatiker ist. Das erste Drama ist ohne Zweifel das geglücktere, doch auch hier gibt Uhland wie in seinen Balladen bloß mehr oder minder ideale Typen. Wir erkennen auf diese Weise sehr fein germanisches Wesen als die Einheit von nordischem Heroismus, verkörpert in Werner von Kiburg, und fälischer Treue, verkörpert in Herzog Ernst. Aber diese Gestalten haben kein wirklich selbständiges Leben. Sie sind in der Phantasie zu sehr Schemata und darum auf der Bühne zu sehr Schemen.

Etwas über zwölf Jahre war Uhland Dichter im vollen Sinn des Wortes gewesen. Nun verstummt er für fast genau die gleiche Zeit. Erst 1829 erlebt seine Ballade, 1834 auch seine Lyrik noch einen kurzen Nachsommer. Der Dichter schafft sich jetzt eine neue kunstvolle Sprache und Strophenform. Das Gedankliche gewinnt Macht, und wie nie zuvor leuchten Klänge und Farben auf im "Glück von Edenhall" oder in "Bertran de Born". Dann ist für immer des Dichters Sonne untergegangen, die Sterne des Gelehrten und des Politikers steigen auf.


Wenn als das Wunder von Uhlands Wesen und Werk sein volkhaftes Dichtertum uns erscheint, so gehört dazu auch dessen völlige Begrenzung auf rund zwölf Jahre, die Frühreife des Jünglings, das Verstummen des Mannes. Man mag das konstitutionspsychologisch erklären und Uhland als den nach Körper wie Seele "klassischen Schizothymiker" bezeichnen. Aber mir scheint, Uhlands Schicksal hat nicht nur seinen Grund in der Persönlichkeit, sondern auch seinen Sinn in der Geschichte. Es ist ja nicht, als ob Uhlands Geistigkeit nach einem kurzen Aufsprudeln überhaupt versiegt wäre, sie trat nur gleichsam ein in einen anderen Aggregatzustand. In einem Brief an die Gattin aus der Frankfurter Zeit lesen wir: "Es ist eigen, mir schwebt jetzt, wo ich doch mit ganz anderem beschäftigt bin, oft in der stillen Nacht eine Mythengeschichte von Schwaben vor. Es wird mir ohne alle Bücher manches klar und deutlich... ich fühle, daß, wenn ich wieder heimkomme, ich etwas schaffen und ausführen muß; studieren und vorbereiten wäre mir nach dem hiesigen Treiben nicht möglich. Vor dem Einschlafen, beim Erwachen oder beim Baden kommen mir die Gedanken zu." So entstand der Torso der Schwäbischen Sagenkunde, Uhlands größtangelegtes wissenschaftliches Werk: nicht Ergebnis emsigen Zusammentragens, sondern Verwirklichung einer Schau. Das Beste Uhlandscher Poesie war aus seinem Wissen um volkhafte [273] Dichtung erwachsen. Dasselbe Gesicht, Intuition und Erfahrung in einem, leitet ihn auf den Wegen der Wissenschaft. Uhlands Biograph, Hermann Schneider, sagt über den Gelehrten, den Literarhistoriker: "Es ist der wesentlichste romantische Niederschlag in Uhlands Wesen und Wirken, ein Empfinden, das er zeit seines Lebens nicht hat loswerden können, wenn er nur die Gattungen der Literatur für voll zu nehmen vermag, die angeblich oder wirklich in ihrem Werden und Wachsen mit dem Volke verknüpft sind... Volkskunst ist sein Programmwort; und auch diese ist ihm nur dann wertvoll, wenn er in ihr einen Abglanz altdeutschen Wesens zu sehen glaubt." Der Unterschied zwischen dem Dichter und dem Gelehrten Uhland liegt nur darin, daß die Vision volkhafter Dichtung zuerst im Schaffen eigenen Gedichts und später in der Deutung des Überlieferten sich zu verwirklichen sucht. Die Kraft des Schaffens erlischt, die Kraft des Schauens aber nimmt eher zu. Uhlands Dichten mußte immer etwas Fiktives an sich haben, d. h. es war nur möglich unter jenem wunderbaren Als-ob – Uhland ganz und gar ein Mann des Volkes wäre. Dieses Als-ob wird nun aufgegeben, Uhland gesteht mit seinem Übergang zur Wissenschaft offen ein, daß seine Kunsterkenntnis stärker ist als die unmittelbare künstlerische Schöpfungskraft. Damit aber enthüllt er nicht nur das eigene Innere, sondern die geistige Lage der ganzen Zeit. Wie ein Zeichen der Zeitwende erscheint die Wandlung Uhlands vom Dichter zum Gelehrten.

Uhland hat nur weniges aus seiner wissenschaftlichen Arbeit selbst veröffentlicht: den schon in Paris entstandenen Aufsatz "Über das altfranzösische Epos", dann "Walther von der Vogelweide" (1822), "Der Mythus von Thor" (1836), "Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder" (1844/45). Die Tübinger Vorlesungen mit ihren schönen, eigentlich noch immer unübertroffenen Inhaltsangaben altdeutscher Dichtung und die umfangreichen Bruchstücke erschienen erst nach seinem Tod.

Aus der Vision volkhafter Dichtung speist sich Wissenschaft wie Kunst Ludwig Uhlands. Die Idee des Volks ist der weite Bogen, der alles überwölbt, auch noch Uhlands Politik. Im Jahr 1815 war in Württemberg der Kampf entbrannt zwischen dem König, der seinem Land eine neuzeitliche Verfassung geben wollte, und den Landständen, d. h. den Vertretern der höheren bürgerlichen Stände, die an ihren hergebrachten Vorrechten, dem sogenannten "guten alten Recht" festhielten. Uhland setzt sich für dieses Recht mit einer Mannhaftigkeit ein, die unheroischen Zeiten wie beschämende Sage klang. Der größte Württemberger der Zeit, Friedrich Hegel, schildert die Lage so: "Man sieht in der Art, wie sich die in Wirtemberg berufenen Landstände gehalten, gerade das Widerspiel von dem, was vor 25 Jahren in einem benachbarten Reiche begann... Wenn damals die Majorität der französischen Reichsstände und die Volksparthie die Rechte der Vernunft behauptete und zurückforderte und die Regierung auf der Seite der Privilegien war, so stellte in Wirtemberg vielmehr der König seine Verfassung in [274] das Gebiet des vernünftigen Staatsrechts, die Landstände warfen sich dagegen zu Verteidigern des Positiven und der Privilegien auf... Von der magischen Kraft (des "guten alten Rechts") geben die Stände näher an, daß nichts das Vaterland gegen das Gift der gefährlichen Grundsätze, welche jetzt wieder wie vor 25 Jahren von Frankreich verbreitet werden, so gewiß sicher stelle... Dem Volke solle nicht seine Geschichte entrissen werden." Die Verfassung, die der König bot, war vernünftig und sehr liberal, aber eine Vertretung des wohlhabenden Bürgertums, die nach eigenem Gutdünken zusammentrat und Steuereingänge selbständig verwaltete, die Nebenregierung einer Oligarchie, gab es danach nicht mehr. Hegel spricht wahr: "Der Staat würde mit solchen Bestimmungen aufhören, ein Staat zu sein." Sicher also war, staatspolitisch gesehen, der König im Recht. Die "Demokraten" aber wollten eben gegenüber den Ideen von 1789 den Volkskörper als lebendigen Organismus in seiner geschichtlich gewordenen Gliederung erhalten. Letztlich stehen Staatsidee und Volksidee widereinander. Hegel tritt ein für das "Moderne". Wir Heutigen aber werden, bedenkenloser noch als bei dem Gegensatz zu Friedrich Theodor Vischer, uns – im Grundsätzlichen – wieder mit Uhland entscheiden.

Im neugewählten Landtag war Uhland von 1820 bis 1826 Abgeordneter für das Oberamt Tübingen, von 1833 bis 1838 Vertreter Stuttgarts. Danach zog er sich von der politischen Tätigkeit zurück. Erst das Jahr 1848 entriß ihn aufs neue seinem beschaulichen Gelehrtenleben. Er wurde in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. In seinen beiden großen Reden sprach er gegen den Ausschluß Österreichs und gegen das Erbkaisertum. Für ihn war Deutschland das gesamte deutsche Volk, und als seine Spitze träumte er sich den vom Volk aus dem Volk gewählten Führer. Wieder war Uhland der Besiegte des Augenblicks: es zeigte sich, daß die einzig mögliche Lösung der deutschen Frage für jene Zeit die kleindeutsche Erbmonarchie war. Wir wollen aber Uhland darum nicht gegen Bismarck stellen wie gegen Vischer und Hegel, denn was mag der Grund sein, daß das einzige Bild, das in Friedrichsruh in Bismarcks Schlaf- und Sterbezimmer hing, das Bildnis Uhlands war? Ein Rätsel, das zu denken gibt.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz