[Bd. 1 S. 478]
Hans Sachs wurde am 5. November 1494 in Nürnberg geboren. Sein Vater war der Schneidermeister Jörg Sachs, der nach seiner Einwanderung in Nürnberg Christina Prunner, die Witwe eines Zunftgenossen, geheiratet hatte. In dem Geburtsjahr des Hans Sachs wütete in Nürnberg die Pest, an der beide Eltern erkrankten, während das Kind verschont blieb. Die Vermögensverhältnisse haben es dem Vater wohl nicht schwer gemacht, dem Sohn eine ordentliche Schulbildung zuteil werden zu lassen. Der Junge wurde auf die Lateinschule geschickt, die wir nicht mit dem heutigen Gymnasium gleichsetzen dürfen. Immerhin war damals das im Mittelpunkt eines Welthandels stehende Nürnberg auch geistig besonders rege und darum sein Schulwesen durchgebildeter als anderswo. Wenn Hans Sachs auch nicht viel von seinen lateinischen und griechischen Schulkenntnissen in [479] Erinnerung behalten hat, wie er selber einmal im Alter gestand, so haben doch sicher die Schuljahre in ihm jene Anteilnahme an den Dingen der Umwelt genährt und vielfältig angeregt, die ihn später vor seinen Standesgenossen auszeichnete. Mit fünfzehn Jahren, 1509, kam er bei einem Nürnberger Schuhmacher in die Lehre. Allzu schwer wird er daran nicht getragen haben. Denn als einziges Kind seiner Eltern genoß er ihre besondere Liebe, wie denn überhaupt die äußeren und persönlichen Umstände des Hans Sachs sich von Jugend an bis zu seinem Ende aufs glücklichste gestaltet haben. Wirtschaftliche Sorgen hat er wohl nie gekannt und vor inneren Zwiespalten hat ihn seine stets auf das Nächstliegende gerichtete, im Grunde unproblematische Natur bewahrt. Diese beiden ersten Lehrjahre sind für Hans Sachs von großer Bedeutung gewesen. Denn der Weber und Meistersinger Lienhard Nunnenpeck führte ihn in die Grundlagen des Meistergesanges ein. Welchen Einfluß dies auf das ganze Leben des Hans Sachs gehabt hat, geht schon daraus hervor, daß er später weit über viertausend Meistergesänge verfertigte, daß er zu einem führenden Meistersinger wurde und daß unter seiner Leitung die Nürnberger Meistersingerschule einen neuen Aufschwung bekam, der sie zu einem Mittelpunkt des Meistergesangs gemacht hat. Es ist für uns heute nicht leicht, der Meistergesangspflege gerecht zu werden. Wir empfinden den Gedanken, daß man das Dichten und Komponieren wie ein Handwerk lernen könne, kaum anders als eine "organisierte Pflege kunstdilettantischer Neigungen". Was die berufenen Sänger und Dichter vergangener Zeiten an gültigen Werten geschaffen hatten, meinte man auch ohne Berufung handwerklich lernen zu können. Die Meistersingpflege hat dem, was wir heute Volkskunst oder Gemeinschaftskunst oder Laienkunst nennen, bis in unsere Zeit hinein viel Abbruch getan. Denn der Dilettantismus des Meistergesangs hat mit Gemeinschaftskunst nicht eben viel gemein. Wo von Laienkünsten die Rede ist, geht es nicht um Nachahmung, nicht um ein höheres und natürlich nie erreichbares Vorbild. Sie finden ihre Erfüllung in sich selber, als Ausdruck der Sehnsüchte und Wunschbilder, die die jeweilige Gemeinschaft bewegen. Gemeinschaftskünste haben mit einer Pflege "kunstdilettantischer" und also ehrfurchtsloser Neigungen nichts gemein. Hans Sachs ist als Kind seiner Zeit Jahrzehnte hindurch besonders stolz gewesen auf seine Leistung als Meistersinger. An der Geltung, die er für unsere Zeit beanspruchen darf, hat sie keinen Anteil. Es war keine ursprüngliche Freude am eigenen Gestalten, die die biederen Handwerker dazu trieb, rezeptmäßig Verse zu schmieden und Melodien zu erdenken, sondern es stand wohl ebensoviel kleinbürgerliche Ehrfurchtslosigkeit hinter dieser "holdseligen Kunst" wie auch (immerhin verständliches) Geltungsbedürfnis. Daß das Bild, das sich die Nachwelt von Hans Sachs gemacht hat, immer spöttische Züge getragen hat, liegt in seiner rührenden Begeisterung für den Meistergesang begründet. Daran hat bis heute die Zustimmung Goethes zu der Persönlichkeit des Hans Sachs kaum etwas ändern können, und Richard Wagners "Meistersinger" haben, [480] mitbestimmt von der Volksferne des neunzehnten Jahrhunderts, dieses Bild noch mehr verzerrt. Die Bedeutung, die Hans Sachs als Volksdichter in die Reihe richtunggebender Deutscher stellt, liegt auf anderem Gebiet, für das er sich sicher auf seiner einzigen größeren Reise, die er nach Beendigung seiner Lehrzeit machte, entscheidende Anregungen holte. Fünf Jahre lang, 1511 bis 1516, ist Hans Sachs auf der Wanderschaft gewesen. Viele Meister und Menschen hat er da kennengelernt. Viele Städte und Straßen hat er gesehen. In Regensburg und Passau, in Braunau am Inn, Burghausen an der Salzach und Ötting hat er gearbeitet. Und Salzburg muß für ihn zu einem besonderen Erlebnis geworden sein. Dort sieht er zum ersten Male eine Buchdruckerei und es scheint, als sei in ihm damals zuerst die Liebe zu den Büchern erwacht, die ihn dann bis an sein Lebensende nicht mehr verließ. Wir wissen, daß er später eine erstaunlich große Bücherei besessen hat. Und Hans Sachs selber glaubt, den Augenblick und den Ort, da er zum Dichter geworden ist, genau bestimmen zu können. In dem oberösterreichischen Städtchen Wels hat es ihn, so heißt es in seinem Gedicht "Die neun Gab-Musä", Klio selber gesagt: "O Jüngling, dein Dienst sei, daß du der deutschen Poeterei dich ganz ergebest dein Lebenlang, nämlich dem edlen Meistergesang, darin man fördert Gottes Glorie, an den Tag bringt gut schriftlich Historie, desgleichen auch traurig Tragödien, auch Spiel und fröhliche Komödien, Dialoge und Kampfgespräch..." Weiter ging die Reise nach München, von dem er sich nur schwer trennen konnte, nach Landshut, Würzburg, Frankfurt am Main, den Rhein hinab nach Koblenz, Köln und Aachen, und dann durch Thüringen über Leipzig zurück nach Nürnberg, wo Hans Sachs Ende des Jahres 1516 wieder eintraf. Das Erlebnis dieser einen Reise hat der Phantasie des jungen Nürnbergers immer neue Nahrung gegeben. Was ihm später an Neuem begegnet, was er sich in eigenem Studium erwirbt, baut er in dieses erwanderte Weltbild ein. Und es liegt in der Unbekümmertheit, mit der er später die verschiedenartigsten Stoffe und Fabeln immer wieder in diesen begrenzten Landschaft- und Erlebnisraum hineinstellt, ohne sich dabei Gedanken über geschichtliche Wahrheit und erdkundliche Echtheit zu machen, nicht nur ein Zeichen für ein begrenztes Weltbild, sondern doch auch für ein Stück Kraft und Selbstbewußtsein, das seinem Wesen entsprechend sich nie ins Unbescheidene verirrt. Ein neuer Lebensabschnitt begann nun für den jungen Hans Sachs. In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt machte er sich, noch ganz in den Anregungen seiner Reise gefangen, mit Eifer an eine Erneuerung der Nürnberger Meistersingerschule. Es gelang ihm nicht nur, der durch Streit und Mißgunst gestörten Schule einen jungen Gemeinschaftsgeist einzuflößen, auch in die Gesangskunst selber griff er erneuernd und verjüngend ein. Gehörte bis dahin ein streng religiöser Inhalt zum Wesen des Meistergesanges, so erweiterte Hans Sachs ihn nun auch nach der weltlichen Seite hin. Insonderheit ist er dazu wohl durch eine deutsche Ausgabe des Boccaccio angeregt worden. Doch übernahm er nur seine Fabeln, nicht aber auch seinen Leichtsinn. Denn Hans Sachs ist zwar im Sinne [481] seiner Zeit gerne derb und saftig gewesen, nie aber hat er die Grenzen des Anstandes, wie sie von seiner Zeit empfunden wurde, überschritten. Im übrigen mußte der Geselle nun daran denken, Meister zu werden, wozu damals in Nürnberg die Gründung eines eigenen Hausstandes die Voraussetzung war. Am 9. September 1519 feierte er mit der siebzehnjährigen Kunigunde Creutzerin aus Wendelstein bei Nürnberg Hochzeit. Ein Zeichen, daß er in guten Verhältnissen leben konnte, ist die Hochzeitsgabe seiner Eltern: sein Geburtshaus in der Kotgasse in Nürnberg. Der Zeit jugendlich stürmischen Einsatzes für alles, was um ihn herum geschieht, folgten Jahre stiller Zurückgezogenheit. Der Gegenstand, der den jungen Schuhmachermeister in der freien Zeit, die ihm sein Handwerk ließ, beschäftigte, spricht für seinen Ernst und zugleich für die Teilnahme, die er auch den großen geistigen Kämpfen seiner Zeit schenkte. Er ließ sich die Mühe nicht verdrießen, der Wahrheit der lutherischen Reformation auf den Grund zu gehen. Nicht weniger als vierzig der Traktate und Sermone Martin Luthers erwarb er für sich und vertiefte sich ganz in den neuen Geist. 1523 trat er aus seiner Zurückhaltung heraus und bekannte sich in seinem Gedicht "Die wittembergisch Nachtigall, die man ietz höret überall" offen zu Luther. Er schuf damit "tatsächlich ein geflügeltes Wort", das um seines anschaulichen Bildes willen in kurzer Zeit von ganz Deutschland aufgenommen wurde und seinen Namen weithin bekanntmachte. Aber er begnügte sich nicht mit dieser ersten Zustimmung. Schon 1524 trat er erneut für das Luthertum ein, diesmal in Form eines Gespräches, "Disputation zwischen einem Chorherrn und Schuchmacher, darin das Wort Gottes und ein recht christlich Wesen verfochten wird". Man hat darüber mit Recht geurteilt: "Ist dieser Dialog wie alle anderen des sechzehnten Jahrhunderts für uns die Stimme eines einzelnen Mannes, so war er damals die Stimme einer Gesamtheit, aus ihrem innersten evangelischen Bewußtsein heraus geboren." Hans Sachs ließ, als er die Wirkung dieses vielfach nachgedruckten Dialoges erkannte, weitere folgen. Sie zeichnen sich alle durch eine für uns heute erstaunliche Bibelkenntnis aus und zudem durch eine Gewandtheit der Gesprächsführung, die mehr ist als nur eine in Rede und Gegenrede gekleidete Kampfschrift. Es ging nicht nur um Frage und Antwort, sondern wirklich um Spiel und Gegenspiel, um Argument und Gegenargument. In der gleichen Zeit entstanden auch einige geistliche Lieder, die wohl auf den Aufruf Martin Luthers, ihm für das erste deutsche Gesangbuch Beiträge zu liefern, zurückgehen. Eines davon ist bis heute in vielen deutschen Gesangbüchern geblieben:
"Wach auf, meins Herzens Schöne, [482] Anfang des Jahres 1527 erschien in Nürnberg eine Holzschnittfolge "Eyn Weyssagung von dem Bapstum", zu der Hans Sachs vierzeilige Reime gedichtet hatte. In dieser neuen Kampfschrift wurde der Fall des Papsttums prophezeit und Martin Luthers Reformation gepriesen. Der Rat der Stadt Nürnberg, der sich damals noch nicht förmlich zur lutherischen Reformation bekannte, obwohl die Bürgerschaft schon weithin lutherisch dachte, glaubte aus politischen Gründen von seinem Zensurrecht Gebrauch machen zu müssen, beschlagnahmte und vernichtete die noch bei dem Drucker befindlichen Stücke, ließ auf der Frankfurter Messe auf seine Kosten den Rest aufkaufen und vermahnte Hans Sachs, "seines Handwerks und Schuhmachens zu warten", sich des Reimemachens und Bücherschreibens jedoch hinfort zu enthalten. Hans Sachs hat dies Verbot seiner Obrigkeit aufs genaueste befolgt. Solange sich der Rat der Stadt Nürnberg der Reformation nicht anschloß, schwieg er zu religiösen Fragen. Doch blieb er nicht müßig und nahm eine Arbeit in Angriff, zu der ihm bisher die Zeit fehlte und zu der ihn doch seine ganze Natur trieb: er begann mit der planmäßigen Niederschrift seiner Meisterlieder und gab sich darüber hinaus ordnend Rechenschaft über alle seine gedruckten und ungedruckten Arbeiten. Dieser damals begonnenen Tätigkeit verdanken wir es, daß wir die überkommenen Werke des Hans Sachs ziemlich genau datieren können. Zu den religiösen Fragen der Zeit hat Hans Sachs später nur noch selten und gelegentlich das Wort ergriffen. Erwähnung verdient da "Ein Epitaphium oder Klagred ob der Leich v. Martini Luthers". Hans Sachs erzählt da von einem Gesicht, das er gehabt hat. "Ein Weib in schneeweißem Gewand, Theologia hoch genannt" beklagt den Tod Martin Luthers. "...O du treuer und kühner Held, von Gott, dem Herrn, selb erwählt, für mich so ritterlich zu kämpfen, mit Gottes Wort mein Feind zu dämpfen, mit disputieren, schreibn und predigen, darmit du mich denn tatst erledigen aus großer Trübsal und Gezwängnus, meiner babylonischen Gfängnus, darin ich lag so lange Zeit... Ich galt endlich garnichts bei ihn, bis ich durch dich erledigt bin, du teurer Held aus Gottes Gnaden, da du mich waschen tatst und baden und mir wieder reinigst mein Wat (Gewand) von ihren Lügen und Unflat..." Hans Sachs tröstet die "Theologia": "...Sei wolgemut! Gott hat dich selbs in seiner Hut, der dir hat überflüssig geben viel trefflich Männer, so noch leben. Die werden dich handhaben fein samt der ganz christlichen Gemein..." Diese kleine Sprachprobe zeigt, wie anschaulich und einfach Hans Sachs über wesentliche Dinge sprach. Diese Theologia wird jedem als der Schützling Luthers klar, und des Dichters Hinweis auf den Überfluß an trefflichen Theologen könnte uns heute fast neidisch machen.
Was den Nürnberger Schuhmachermeister Hans Sachs kaum aus seiner Zeit heraushebt, ist seine kindliche Bildungsbemühung, seine Freude am bürgerlichen Meistergesang, sein Aufgehen in den Fragen und Nöten seines Alltags, seiner engeren Heimat und seiner Zeitläufte. Was ihm schon in seiner Zeit einen bevorzugten Platz zuwies und ihm dann eine Wirkung bis in unsere Gegenwart verschafft hat, liegt in seinen Bemühungen um das Volksspiel. Hier hat er Bahnbrechendes geleistet und die Wendung der deutschen Dichtung zum Theater hin begonnen. Hans Sachs ist tatsächlich der erste deutsche dramatische Dichter, nicht nur des sechzehnten Jahrhunderts, gewesen. Die ersten Anregungen zu dieser Lebensleistung hat er sicher schon in seiner Jugend empfangen; eine so erzieherisch betonte Persönlichkeit wie die des Hans Sachs bedurfte solcher Anstöße aus seiner Umgebung heraus. Es versteht sich von selber, daß er, wohin er auf seiner einzigen großen Reise kam, sich nicht nur Arbeit suchte, sondern auch Umschau hielt nach Meistersingerschulen. Der Jüngling sehnte sich nach Geselligkeit, die er, noch ganz unter dem Eindruck seiner ersten Einführung in die Welt des Meistergesanges stehend, gerade dort suchte. Wir dürfen wohl schon in diese Zeit seine erste Begegnung mit der Welt des Volksspieles datieren. Denn es ist nicht anzunehmen, daß junge Menschen Genüge haben konnten an der schweren und, was schlimmer ist, oft eintönigen Arbeit des Verseschmiedens. Auch in den Meistersingerschulen wird nebenher das Volksspiel gepflegt worden sein. Und es hat sicher hinter all dieser musischen Konvention für Hans Sachs nichts anderes als ein gesundes Geselligkeitsbedürfnis gestanden. Seine Wirkung auf die Umgebung hat ihren tieferen Grund in seiner Leidenschaft, in das Gemeinschaftsleben anregend, fördernd und bereichernd einzugreifen. Er [484] fühlte sich für eine Vertiefung und Veredelung des gemeinschaftlichen Lebens im kleineren wie im größeren Bereich verantwortlich und mußte darum für den gemeinschaftsbildenden und erzieherischen Wert des Bühnenspiels als einer "moralischen Anstalt" ein angeborenes Verständnis haben. Hans Sachs besaß ein instinktiv richtiges Gefühl dafür, daß die Bühne die Bretter sind, die die Welt bedeuten, d. h. die Bretter, von denen aus der Dichter immer von neuem eine Deutung der Welt zu geben berufen ist. Diese politische oder, wenn man will, erzieherische Aufgabe der Dichtung wurde von dem Zeitalter des Hans Sachs ohne weiteres anerkannt, und die Tatsache, daß heute von neuem die Dichtung aus ihrem Inseldasein sich zu lösen beginnt und also der Dichter wieder als notwendiger Mahner und berufener Deuter vom Volke her anerkannt wird, erleichtert uns das Verständnis für Hans Sachs sehr weitgehend. Er hat einen langen Weg gebraucht, um jene Spielart des Volksspieles zu finden, die er an seinem Lebensende dann wahrhaft meisterlich beherrschte. Von vornherein empfänglich für Spiel und Gegenspiel versuchte er sich vorerst in einer reinen Dialogisierung seiner Stoffe. Heldensage und Mythen, Antike und mittelalterlich-romantische Welt, biblische und weltliche Geschichten gaben ihm Anlaß, sich dramatisch zu versuchen. "Isaaks Opferung" und "Der Wüterich Herodes", "Der Tyrann Dionysius mit Damone", "Alexander Magnus" und wie diese zahllosen "Tragödien" alle heißen mögen, haben heute nur noch für die Literaturgeschichte eine Bedeutung. Echte, bis heute lebendig gebliebene Volksdichtungen dagegen sind ihm in seinen Fastnachtsspielen gelungen. Sie sind mit Recht in den Schatz deutscher Volksdichtungen eingegangen wie unsere Volkslieder und Volksgedichte. In seinen Fastnachtsspielen suchte Hans Sachs die Gelegenheit, seine Gedanken über die Dinge der Welt, ihre Schäden und Freuden, ihre Schattenseiten und Lichtseiten auszusprechen. Alle scheinen sie Gelegenheitsarbeiten gewesen zu sein, also nicht für die Ewigkeit erdacht und gestaltet, sondern ganz aus dem Augenblick heraus geboren und immer Bezug nehmend auf die Zeitläufte und die Ereignisse im Alltag seiner bürgerlichen Lebensgemeinschaft. Zänkische Männer und geizige Frauen, Buhler und Buhlerinnen, Bürger und Pfaffen, Alte und Junge, Krüppel und Betrüger, tölpische Bauern und dumme Bäuerinnen, eifersüchtige Ehemänner und faule Mägde, Kupplerinnen und Ritter, Landsknechte und reiche Kaufleute machen die Welt und Wirkung dieser Spieleinfälle aus. Derb und saftig sind sie, anschaulich und lebendig, schlagfertig und wortgewandt, lustig, heiter und doch voll hintergründiger Bedeutung. In diesen Spielen lebt der "ganze" Hans Sachs. In diesen Spielen spricht das Volk und wird das Volk angesprochen. In diesen Spielen spricht ein dichterischer Mensch, der mitten unter uns lebt und dem wir darum das Recht geben, mitunter recht deutlich den Zeigefinger zu heben. Waren die Fastnachtsspiele der Vorgänger und auch der Zeitgenossen des Hans Sachs entweder langatmig oder allzu zotig, so mußten nun [485] diese neuen, auf das Urgründige alles Gemeinschaftslebens zurückgreifenden Spiele die lebendige Anteilnahme ganz Nürnbergs finden. Es spricht für den Menschen Hans Sachs, daß er sich nicht damit begnügte, diese Spiele zu schreiben. Nein, er hat selber mitagiert, ist sein eigener Spielleiter und Direktor gewesen und hat also immer von neuem die Wirkung seiner Spiele miterleben können. Vor allem aber hat er stets mit seinen Spielern in einer engen Lebensgemeinschaft gestanden. Die Gesellen und Meister, die da mitspielten, mögen ihm die besten Einfälle gegeben und immer von neuem seine Freude an solchem Spiel im Volke wachgehalten haben. Nur so ist es zu erklären, daß ihm immer von neuem die typische Charakterisierung all seiner Figuren so anschaulich gelungen ist.
Bis zum heutigen Tage haben diese beiläufigen Einfälle des Schuhmachers Hans Sachs ihre Kraft behalten. "Das heiße Eisen" so gut wie "Der Teufel mit dem alten Weibe", "Der tote Mann", "Der Roßdieb zu Fünsing", "Das Narrenschneiden", "Der fahrende Schüler im Paradeis", "Das Kälberbrüten" und wie sie alle heißen mögen. Wie stark und lebendig und auf geradem Weg diese Volks-Dichtung des Hans Sachs wirken kann, mag mit einer selbsterlebten Geschichte belegt werden: Es war Anfang dieses Jahrhunderts, als der Literarhistoriker Friedrich Vogt in Marburg mit seinen Kindern und den Kindern seiner Kollegen und Nachbarn das "Spiel von den ungleichen Kindern Evä" einübte. Die Freude der Professorenkinder und ihrer Eltern an diesem Spiel, dem später noch Krippenspiele folgten und dem Friedrich Vogt nicht nur seine ganze Liebe, sondern sicher auch alle Ergebnisse seiner Forschungen widmete, war bestimmt keine wissenschaftliche, sondern eine reine, ursprüngliche Freude. Diese kleine Geschichte kann hier angemerkt werden, weil sie ein sonst wohl vergessenes Zeichen der Wiedererweckung des Hans Sachs im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Daß seine Vaterstadt Nürnberg und darüber hinaus viele Zeitgenossen an seinem Werk lebhaften Anteil nahmen, hat Hans Sachs nicht nur in der Zustimmung zu seinen Fastnachtsspielen und in der weiten Verbreitung vieler seiner Spruchgedichte, die immer wieder nachgedruckt wurden, erkennen können, sondern auch in dem raschen buchhändlerischen Erfolg seiner von ihm für den Druck bearbeiteten Werke. Der erste Band einer Gesamtausgabe erschien 1558 und wurde so freundlich aufgenommen, daß er nicht nur schon zwei Jahre später neu gedruckt werden mußte, sondern daß im gleichen Jahre ein zweiter und im Jahre 1561 ein dritter erscheinen konnte. Dieser äußere Erfolg mag es dem Dichter Hans Sachs erleichtert haben, sein persönliches Schicksal gelassener zu tragen. Er hat nicht nur alle seine sieben Kinder – zwei Söhne und fünf Töchter – überlebt, sondern auch seine Frau, die nach einundvierzigjähriger glücklicher Ehe im Jahre 1560 starb. Zwei Jahre später hat Hans Sachs nochmals geheiratet, und zwar mit siebenundsechzig Jahren die siebenundzwanzigjährige Barbara Harscherin, die Witwe des Kandelgießers Jakob Enders. Aber es ist nun doch stiller um den alten Mann geworden. Er begann, sich letzte Rechenschaft über sein Lebenswerk zu geben, [486] vollendete noch einen vierten Band seiner Werke und begann sogar noch mit der Vorbereitung eines fünften. Nach einem immer tätigen Leben war ihm ein friedlicher Ausklang beschieden. Sein Handwerk hatte er schon längere Zeit aufgeben können, um ganz nur noch seiner Dichtung zu leben. Am 19. Januar 1576 ist Hans Sachs über zweiundachtzig Jahr alt, von der ganzen Stadt betrauert, gestorben.
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