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[Bd. 5 S. 368]
Rudolf Virchow, 1821-1902, von Paul Diepgen

Rudolf Virchow.
[360b]      Rudolf Virchow.
[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]
Niemand zweifelt daran, daß die schlichte Alltagserfahrung dem ärztlichen Handeln ein guter Leitstern war, solange es kranke Menschen gibt, und daß trotz allen Eindringens in die Natur immer Fälle übrigbleiben werden, in denen sie genügen muß. Aber ebenso sicher sind die großen Erfolge der modernen Medizin, die alle Empirie der Vergangenheit in den Schatten stellen, nur durch die wissenschaftliche Erforschung des Wesens der normalen und krankhaften Vorgänge im lebendigen Organismus möglich. Erst durch sie kann die Erfahrung die sichere Grundlage bekommen, die den Arzt zum wirklich zuverlässigen Helfer macht.

Die Bedeutung Virchows liegt vornehmlich darin, daß er der modernen Medizin das Fundament erarbeitet hat, von dem unser ärztliches Denken noch heute getragen wird. Der Arzt, der einen Kranken vor sich hat, der an Lungenentzündung leidet, sieht heute noch diesen Entzündungsherd mit den Augen Virchows. Überdenkt man den stürmischen Fortschritt, den die Heilkunde in den letzten hundert Jahren gemacht hat, und die grundlegenden Wandlungen, die die Naturwissenschaften in derselben Zeitspanne erfuhren, so muß es fast als Wunder erscheinen, daß das Lebenswerk eines Mannes einen so festen Bestand hatte, daß es uns noch heute den Weg in die Zukunft weist. Was gab ihm diese überragende Stellung?

Im Laufe der Geschichte haben die Ärzte auf drei verschiedenen Wegen versucht, in das Geheimnis des Lebens und der Krankheit einzudringen und von hier aus eine Basis für die Erkennung, Verhütung und Heilung der Krankheit zu finden; die einen, die Vitalisten, hofften, das Wesen des normalen und pathologischen Geschehens in materiell nicht greifbaren Kräften zu erfassen, die anderen, die Humoralpathologen, wollten es in den flüssigen Bestandteilen des Körpers sehen, die dritte Richtung, die Solidarpathologie, forschte nach den Veränderungen in seiner Struktur. Die erste Richtung war die anspruchsvollste, aber der Weg, den sie verfolgte, war mehr spekulativer als naturwissenschaftlicher Art; die zweite war fast ebenso arm wie die erste an "exakter" Methode, ehe die Chemie ihr größere Aussichten eröffnete; die dritte blieb an dem haften, was sich dem bloßen Auge am lebenden und toten Organismus bot, ehe das Mikroskop erfunden und vor allem technisch so weit gefördert war, daß man auch feinere Veränderungen nachweisen konnte. Als der junge Virchow am Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum selbständigen wissenschaftlichen Denken kam, lagen [369] sich die Vertreter dieser drei Richtungen, die heute gemeinsam demselben Ziele zustreben, in den Haaren. Gerade in Deutschland, wo die Medizin eben die Romantik und die vom Hegelschen Idealismus stark beeinflußte Naturphilosophie überwunden hatte, aber die neue realistische experimentelle Betrachtung der Probleme noch um ihre Berechtigung kämpfen mußte, glich die praktische Medizin dem Schiff ohne Steuermann. Der Kranke wurde homöopathisch oder allopathisch-humoralpathologisch mit Brech-, Abführ- und Schwitzmitteln und allerlei anderen angreifenden Kuren, von guten Ärzten auch vorsichtig mit dem behandelt, was man heute physikalisch-diätetische Therapie nennt. Am besten war er schließlich, genau wie in früheren Jahrhunderten, daran, wenn der Arzt auf die wissenschaftliche Fundierung seines Vorgehens überhaupt verzichtete und sich nur von der Erfahrung leiten ließ. Die Befunde der grobanatomisch betriebenen Solidarpathologie führten zu einem Nihilismus am Krankenbett, der nichts schadete, aber auch kaum nützte, weil die Natur eben doch nicht immer von selbst den richtigen Heilweg findet.

Im Jahre 1838 hatte der Botaniker Matthias Schleiden in der Zelle den letzten Baustein des pflanzlichen Organismus erkannt, ein Jahr später der Physiologe Theodor Schwann denselben Nachweis für den tierischen Organismus erbracht. Damit war die Zelle, das mit dem verbesserten Mikroskop nachweisbare kleine Gebilde aus Kern und Protoplasma, auch für die Ärztewelt in den Vordergrund des Interesses gerückt. Mit Feuereifer ging man an ihre Untersuchung. Von den Forschern, die sich damals dem Zellproblem widmeten, hat mancher Virchow vorgearbeitet, aber der entscheidende Schritt, die klare Lösung, so sehr sie auch in der Luft lag, kam von ihm. Es war die Erkenntnis, daß sich der krankhafte Prozeß an der Zelle entscheidet, daß die Krankheit so gut wie das normale Leben ein biologischer Vorgang an der Zelle ist, der seinen Ausdruck in einer Störung ihrer Funktion, sein Ergebnis in einer reparablen oder irreparablen Veränderung ihrer Struktur findet. Was war damit gewonnen? Der Forschung war ein ungeheuer weites Arbeitsfeld aufgetan. Nun lernte man den krankhaften Vorgang in seinem feinsten Substrat kennen, das man frei von aller Spekulation, mit rein naturwissenschaftlichen, physikalischen, chemischen und biologischen Methoden studieren konnte. Das zellularpathologische Denken gab der Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einheit, der sie einen Aufschwung verdankt, wie ihn in dieser Steilheit und in diesem Glanz keine vorhergehende Epoche in der Geschichte der Heilkunde gesehen hat. Was wir heute von der Entzündung, von der Tuberkulose, von der Thrombose und Embolie, von der Leukaemie, von den verschiedenen Krebsformen wissen, um nur von diesen Krankheitsbildern zu reden, die auch dem Nichtarzt unserer Tage geläufig sind, das alles ist schlechthin undenkbar ohne die Zellularpathologie Virchows, der er 1858 die Prägung gab, in der sie trotz mancher Modifikationen bis heute lebendig blieb. Es gibt kein Gebiet der Krankheitslehre, das von ihr nicht fortschrittlich beeinflußt wurde.

[370] Der Praxis wäre damit wenig genutzt gewesen, und man hat es der Zellularpathologie gelegentlich zum Vorwurf gemacht, wenn Virchow nicht die Belange der praktischen Medizin im Auge gehabt hätte. Um sie zu übersehen, war er viel zu sehr Arzt. Er hat lange an der Berliner Charité eine Krankenabteilung geleitet. Er glaubte, wie er es selbst ausgedrückt hat, an Therapie und wollte den praktischen Ärzten eine sichere Basis für ihre Verordnungen geben. Die medikamentöse Behandlung sollte an der Zelle angreifen. Er erkannte die spezifische Affinität gewisser Stoffe zu bestimmten Zellbestandteilen, wieder ein Gedanke von größter Fruchtbarkeit, der später von Paul Ehrlich und anderen experimentell bestätigt wurde und der modernen Pharmakologie ganz neue und sichere Waffen gegen schlimme Feinde der Menschheit, z. B. die Syphilis, schmieden half. Für Virchow war die Krankheit immer ein lokalisierter Prozeß, auch wo man den Herd nicht nachweisen konnte. Man kann sich leicht vorstellen, daß dadurch der Spezialismus der neuesten Medizin begünstigt wurde, aber auch, daß Virchow sich mit denen auseinanderzusetzen genötigt war, die ihm die Reaktion des Gesamtorganismus auf krankmachende Schädigungen entgegenhielten. Schwer war auch sein Kampf mit der aufkommenden Bakteriologie, die das Wesen der Krankheit weniger in der angegriffenen Zelle als in dem angreifenden Bazillus sah, und mit der Serologie, welche die Autokratie der Zelle durch den Nachweis lebendiger Vorgänge in den Körperflüssigkeiten erschütterte. Man kann auch sagen, daß die Zelle seit den Fortschritten der mikroskopischen Technik, der Fermentchemie und der Erforschung des kolloidalen Substrats des Zellkörpers ihre Bedeutung im Sinne der letzten nachweisbaren Einheit des Lebens, als die Virchow sie sah, verloren hat. Aber das sind schließlich nur Fortentwicklungen seiner Konzeption, deren ganze Großartigkeit nur der verstehen kann, der das ärztliche Leben in der Theorie und Praxis erfahren hat.

Die anderen Leistungen Virchows sind auch dem Nichtarzte leichter verständlich zu machen. In der politischen Unruhe seiner jungen Jahre, die noch zu schildern sind, wurde er zum Hauptbegründer der sozialen Medizin in Deutschland. Er hat auf diesem Gebiet manches erreicht und vieles erstrebt, dessen Bedeutung erst eine spätere Generation erkannte. Der Grundgedanke war der soziale: der Staat hat die Pflicht, für die Gesundheit der Allgemeinheit zu sorgen. Arm und reich haben den gleichen Anspruch auf erstklassige ärztliche Betreuung. Ganz Deutschland braucht eine einheitliche Medizinalgesetzgebung mit einem Reichsmedizinalministerium an der Spitze. Ein stets neu zu wählender Gesundheitsrat von Ärzten soll dieser Behörde als maßgeblicher Berater zur Seite stehen. Die größte Aufmerksamkeit ist der Gesundheitspflege der Schulkinder und der physischen Ertüchtigung aller Kreise des Volkes zu schenken. Ärztekammern und Ehrengerichte sollen über das ethische Verhalten der Ärzte wachen.

Das Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin.
Das Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin.
Kinderklinik, eröffnet 1890.
Holzstich nach einer zeitgenössischen Zeichnung.
[Bildarchiv Scriptorium.]

Fliegeraufnahme vom Virchow-Krankenhaus in Berlin-Wedding.
Fliegeraufnahme vom Virchow-Krankenhaus
in Berlin-Wedding. Ansichtskarte o. J.
[Nach ak-ansichtskarten.de.]
In zahlreichen Arbeiten beschäftigte Virchow sich mit den Problemen der öffentlichen Gesundheitspflege. Immer verbindet sich in ihnen die Erfahrung des [371] praktischen Lebens mit der wissenschaftlichen Forschung. Nichts zeigt das besser als die großen Verdienste, die er sich in über vierzig Jahren als Stadtverordneter um das Gesundheitswesen Berlins erworben hat. Seinen Arbeiten verdankt die Reichshauptstadt ihre Wasserleitung, ihr Kanalisationssystem, den modernen Errungenschaften Rechnung tragende Krankenhäuser und weitere Einrichtungen, die wieder für andere Städte vorbildlich wurden.

Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken, Studien über die Rekrutierung und das militärische Gesundheitswesen führten ihn überall zu praktischen Ergebnissen. Seine Seuchenforschungen befruchteten die Kenntnis der Tuberkulose, der Cholera und ihrer Verhütung, speziell des Aussatzes. Ein ganz typisches Beispiel für die Unmittelbarkeit seines hygienischen Wirkens ist die ihm zu dankende Einführung der amtlichen Fleischbeschau im Anschluß an seine Untersuchung über die Trichinenkrankheit beim Menschen.

Mit der Anthropologie, die ihn schon in seinen Anfängen in ihren Bann zog und im Laufe der Jahre immer mehr beschäftigte, betrat Virchow ein Gebiet, dessen Bedeutung wohl kaum irgendwo so erkannt und gewürdigt ist wie im neuen Deutschland. Er hat Tausende von Schädeln aus allen Gegenden der Erde gesammelt und untersucht, um ihren Rassencharakter festzustellen und durch Vergleiche gesunder und kranker Formen zur Deutung des Menschen aus seiner Schädelgestaltung zu kommen. Da finden wir Untersuchungen über die Gräberschädel der nordischen Steinzeit, über den Germanen- und Friesenschädel, über die Schädel aus altamerikanischen Funden und ihre Deformationen, Untersuchungen über die anatomische und ethnologische Bedeutung der Schädelform am lebenden Lappen, Eskimo, Patagonier, Feuerländer, Australier und an Vertretern vieler Stämme Europas. Seine Massenerhebungen über die Farbe der Haare, Haut und Augen der Schulkinder wurden für fast alle Staaten unseres Kontinents vorbildlich.

Die mit der Deszendenztheorie Darwins neu aufgeworfenen Fragen nach der Entstehung der Rassen fanden ihren Niederschlag in zahlreichen vergleichenden Untersuchungen, die sich auch mit den neu aufgefundenen ältesten Skelettresten des Menschen, dem Neandertaler u. a. und den Affenschädeln beschäftigten und die Probleme der Erblichkeit und des eventuellen Einflusses pathologischer Veränderungen auf die Bildung von Varietäten und Arten aufrollten. Wo Virchow hier in zum Teil mit heftiger Erbitterung ausgefochtenen Fehden widerlegt wurde, – immer blieb er anregend und fördernd.

Anthropologie und Volkskunde gehören eng zusammen. Das wissen wir heute besser denn je. Virchow erforschte das deutsche Volkstum mit besonderer Liebe. Er hat das sächsische Haus als das des Ackerbauern, das oberbayerische als das des Viehzüchters charakterisiert, das rhätoromanische, schweizer, dänische und litauische Haus, die Einrichtungen der Flur- und Dorfanlagen, die nordischen Pfahlbauten studiert und das Berliner Museum für deutsche Volkstrachten und [372] Erzeugnisse des Hausgewerbes geschaffen. In einer Zeit, in der man bei uns kaum Ausgrabungen machte und die urgeschichtliche Forschung, wie es Mommsen einmal ausgedrückt hat, von pensionierten Landpredigern und Kreisphysikern zur Ausfüllung ihrer Muße betrieben wurde, griff Virchow selbst zum Spaten und wurde der vorbildliche Erforscher der vaterländischen Vorgeschichte. Indem er die naturwissenschaftliche Methode auf das Studium der Vorgeschichte übertrug, kam er zu vielen neuen Ergebnissen. Mit Hilfe der Chemie erforschte er die Herkunft und die Entstehungszeit prähistorischer Bronzen. Er drang in die Technik und das Material der gebrannten Steinwälle der Oberlausitz ein und erkannte schon früh die große Bedeutung der Keramik für die urgeschichtliche Zeitrechnung, lehrte die Masse der Altertümer auf deutschem Boden in bestimmte römisch und gallisch geschiedene Gruppen aufzulösen und schuf damit zuerst eine feste Grundlage dieser Forschung. Große Verdienste hat er endlich um die Kenntnis des prähistorischen Handelsverkehrs und die Aufdeckung uralter Handelsstraßen zwischen Norden und Süden. Wo er nicht selbst aktiv eingriff, da war er der große Anreger und Förderer, genau wie in der Medizin. Die deutsche archäologische Forschung auf dem Boden des alten Troja hat ihm viel zu danken.

Ein kaum faßbarer Universalismus! Eine für ein Menschengehirn kaum denkbare Tiefe und Weite des Wissens, begründet auf genialer Begabung, eisernem Fleiß und einzigartiger Gedächtniskraft!

Das Geburtshaus von Rudolf Virchow.
Das Geburtshaus von Rudolf Virchow
im pommerschen Schivelbein.
[Nach Universität Würzburg.]

Rudolf Virchow.
Rudolf Virchow, Jugendbild.
Quelle: The National Library of Medicine.
[Nach wikipedia.org.]
Rudolf Ludwig Karl Virchow, geboren am 13. Oktober 1821, stammte aus kleinen, gutbürgerlichen Verhältnissen. Sein Stammbaum läßt sich nicht weit zurückverfolgen. Sicher ist, daß in seinen Adern rein arisches Blut floß. Der Vater war hochintelligent und streng, von finanziellen Nöten nicht verschont, die Mutter gütig. Die Schulzeit im pommerschen Heimatstädtchen Schivelbein und die Jahre auf dem Gymnasium in Köslin verflossen wie bei anderen Knaben. Die Schulleistung war sehr gut, die Begabung sowohl für Sprachen wie für Naturwissenschaften groß und ebenso groß das Interesse für beide und die schon früh hervortretende Neigung zu historischen Studien. Frühzeitig machte sich der Heimatsinn und die Liebe zur deutschen Scholle bemerkbar in Arbeiten, die der Zweiundzwanzigjährige der Geschichte und Vorgeschichte seiner Vaterstadt widmete, frühzeitig verriet sich auch schon im Abiturientenaufsatz des Siebzehnjährigen die bewußte Erkenntnis des Ethos der Arbeit, die sein Leben später, wie selten bei einem großen Manne, erfüllen sollte. Sein Medizinstudium erledigte er in den Jahren 1839 bis 1843 als Zögling der Pepiniere, jener militärärztlichen Bildungsanstalt, aus der viele überragende deutsche Ärzte und Forscher hervorgegangen sind. Von dieser Zeit ist nichts zu melden, als daß er sich überall begabt und tüchtig zeigte, und daß er sich nicht mit dem Studium der Medizin begnügte, sondern auch Vorlesungen über Logik, Geschichte und arabische Dichtung hörte, ein Beweis für die Universalität seines Interessenkreises. Er hatte das Glück, ausgezeichnete Männer als Lehrer zu finden, allen voran den genialen Physiologen Johannes Müller, [373] den Anatomen K. A. Rudolphi, den Chirurgen Langenbeck und den Internisten Schoenlein, Männer, die die große Wandlung der deutschen Medizin, die sich damals von der naturphilosophischen zur naturwissenschaftlichen Richtung vollzog, mit in erster Linie getragen haben. Von ihnen dürfte der junge Virchow manche Anregung zu dem Wege bekommen haben, den er später selbst einschlug, zur absolut realen, nüchternen Betrachtung der Dinge im bewußten Gegensatz zur Spekulation der Vergangenheit.

Nach seiner Promotion zum Dr. med. bekam er eine Assistenzstelle an der Berliner Charité. Hier betätigte er in praktischer Tätigkeit am Krankenbett sein Arzttum, an dem seine Seele sein ganzes Leben lang hing. Hier beschäftigte er sich am Sektionstisch mit dem Gebiet, das seinem Lebenswerk bei aller Universalität den Hauptinhalt gab, mit der pathologischen Anatomie. Hier erwachte in ihm das Leitmotiv seiner Forschung, das er zum Leitmotiv der Ärztewelt seines Zeitalters machte, der anatomische Gedanke. Er bewährte sich in seiner Stelle so, daß ihm nach Ablegung des Staatsexamens an derselben Anstalt die selbständige Prosektur übertragen wurde, und daß er sich schon ein Jahr später (1847) habilitieren konnte.

Der Sechsundzwanzigjährige hatte sich bereits in seinen ersten Arbeiten als ein Meister gezeigt. Ihre Bedeutung reichte weit über das hinaus, was sie an positiv neuen Ergebnissen zur Kenntnis der Bluterkrankungen, der Lungenembolie und an anderen neuen Entdeckungen brachten. Hier wurde schon an den Grundlagen der Pathologie gerüttelt, und es gehörte die klare Zielbewußtheit und die Unbeirrbarkeit in dem als richtig Erkannten, aber auch der Mut, der den jungen Virchow so gut wie den alten charakterisiert, dazu, seine Kritik an ein Werk zu legen, das von der ersten Autorität des hochverdienten Wiener Pathologen Karl von Rokitansky geschrieben war. Rokitansky war der Vertreter der humoralen Krankheitsvorstellung. Er sah das Primäre in Veränderungen des Blutchemismus und in den nachweisbaren Strukturveränderungen nur sekundäre Auswirkungen fehlerhafter Säfte. Dieser Irrtum hatte große Leistungen, die Rokitansky zum führenden Pathologen seiner Zeit machten, nicht ausgeschlossen. Virchow machte von dem Recht Gebrauch, das die Geschichte der Jugend sozusagen verbrieft hat, von dem Recht, radikal zu sein. Das Schicksal bescherte den Deutschen damals eine ganze Generation von hervorragenden Forschern. Es waren fast alles junge Leute. Der Arzt Robert Mayer begründete (1842) im Alter von achtundzwanzig Jahren das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Matthias Schleiden war vierunddreißig, Theodor Schwann neunundzwanzig Jahre alt, als sie der modernen Lehre von der Zelle das Fundament gaben. Diese Jungen ließen nichts gelten, was den Alten heilig gewesen war. Der siebenundzwanzigjährige David Friedr. Strauß erklärte in seinem Leben Jesu (1835–1836) die Evangelienberichte für Mythen. Der Internist K. R. A. Wunderlich gründete in demselben Alter mit seinem zwei Jahre jüngeren Freunde, dem Chirurgen W. Roser, (1842) das radikale Archiv für "physiologische Heilkunde". Im gleichen Jahr entstand unter Führung des zweiunddreißigjährigen [374] Anatomen und Pathologen J. Henle und des fünfunddreißigjährigen Klinikers K. von Pfeufer die Zeitschrift für "rationelle Medizin". Es waren Kampforgane. Ein Kampforgan war auch das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und klinische Medizin, welches der sechsundzwanzigjährige Virchow ins Leben rief. Er war sich seiner Sendung klar bewußt, und gerade, wenn man die zahlreichen Aufsätze, die er in diesem Organ veröffentlicht hat, liest, sieht man, daß er von der klar gezeichneten Linie nicht wieder abgewichen ist.

Sein politisches Glaubensbekenntnis wurde ebenfalls in der Jugend schon geformt. Die sich überall regende Reaktion gegen den Druck des Metternichschen Absolutismus fällt in die Empfänglichkeit seiner Studentenjahre. Den Ausschlag gaben die Erfahrungen, die er bei den "grauenhaft jammervollen" Zuständen machte, unter denen die Arbeiter- und Bauernbevölkerung Oberschlesiens lebte. Im Februar 1848 schickte ihn die Regierung dorthin, um die in jenen Bezirken als Folge der Unterernährung und Unhygiene herrschende Fleckfieberepidemie zu studieren. Als er zurückkam, brach in Berlin der Sturm der Märzrevolution aus. Er sah ihn als Mithelfer beim Barrikadenbau.

Damals wuchs in ihm der Gedanke, dem er in dem oft zitierten und vorbildlichen Wort Ausdruck gab: "Der Arzt ist der natürliche Anwalt der Armen." Arzttum und Politik wurden ihm unzertrennbar. Wieder rief er eine Kampfschrift ins Leben, die Medizinische Reform, in der er mit Gesinnungsgenossen die eben von uns geschilderten Ideen entwickelte. Seine schonungslosen Angriffe gegen die Regierung bedrohten seine amtliche Stellung, und es war eine Erlösung aus mancher Sorge, als die bayerische Regierung ihn 1849 als ordentlichen Professor der pathologischen Anatomie nach Würzburg berief. Es folgen relativ ruhige, arbeitsreiche und fruchtbare Jahre. In ihnen tritt wieder das soziale Denken Virchows hervor, der nun ganz ähnlich wie vorher in Oberschlesien die armseligen Verhältnisse der Spessartbevölkerung untersuchte und auf Abhilfe drang. Der ruhmlose Ausklang der Revolution von 1848/49, mit dem auch die Medizinische Reform ihr Ende fand, hatte seinen politischen Optimismus zwar gedämpft, aber seine politische Tatkraft

Rudolf Virchow.
Rudolf Virchow.
Gemälde von Hanns Fechner, 1891.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 375.]
nicht lahmgelegt. Als er – eine stolze Genugtuung – 1856 an die erste Stelle, die seinem Fach geboten werden konnte, nach Berlin berufen wurde, dauerte es nicht lange, bis er politisch wieder in der vordersten Reihe stand. Als Stadtverordneter und nach der Gründung des Reiches im Reichstag war er ein oft gehörter Redner, erfüllt von glühender Liebe zum großen Deutschland und von dem, was er von seinem ärztlichen Standpunkt für sein Volk für richtig hielt. Wie das alles ineinandergriff, beweisen seine zündenden Reden auf mancher Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte, denen seine überragende Persönlichkeit jahrzehntelang das Gepräge gab. Von hier aus wirkte er durch programmatische Reden auch auf weite Kreise der Bevölkerung mit der ausgesprochenen Tendenz, das Niveau der Volksbildung durch naturwissenschaftliche, medizinische und hygienische Aufklärung zu heben und dadurch die Gesund- [375] heit und den Lebensstandard der Deutschen zu verbessern. Denselben Tendenzen entsprangen seine zahlreichen Vorträge in Volksbildungs- und Handwerkervereinen.

Daß es bei diesen und anderen Gelegenheiten oft um die letzten Fragen der Weltanschauung ging, ist leicht verständlich. Hier war ihm jeder Dogmatismus verhaßt, der religiöse so gut wie der materialistische. Das konnte freilich nicht hindern, daß er die politischen Probleme allzu einseitig mit den Augen des Naturforschers sah. Gerade die Lehre vom Zellstaat, in dem die einzelne Zelle gleichberechtigt neben der anderen zu stehen schien, in dem es keine Führung gab und in dem er kein herrschendes Organ anerkannte, war ihm eine Stütze für seine oft enge und kurzsichtige Parteigesinnung. Züge eines doktrinären Liberalismus – das Erbe seiner Erlebnisse in der Revolution von 1848/49 – haften dem Bild des Politikers Virchow an; sie verdunkelten ihm auch den Blick für Bismarcks staatsmännische Größe und ließen ihn während der ganzen Dauer seines Wirkens in der Opposition verharren. Erbittert und maßlos in seinem Kampf, scheute er nicht vor persönlicher Beleidigung des Ministerpräsidenten zurück. Bismarck wiederum forderte einmal (1865) Virchow zum Zweikampf, als dieser ihm in öffentlicher Sitzung des preußischen Landtags Unwahrhaftigkeit vorgeworfen hatte. Nur der Einspruch seiner Freunde und die Weigerung des Gegners, sich mit ihm zu schlagen, verhinderte den Austrag des Duells. Die Ehrenerklärung vor dem Parlament, zu der sich Virchow schließlich herbeiließ, erschien freilich dem Kanzler als unzureichend: die Feindschaft blieb unversöhnlich!

Das Rudolf-Virchow-Denkmal von Fritz Klimsch, Berlin.
Das Rudolf-Virchow-Denkmal von Fritz Klimsch, Berlin.
Das Denkmal zeigt den Kampf von Titan gegen die Sphinx und symbolisiert den Kampf der Mediziner gegen die Krankheit.
[Nach wikipedia.org.]
In den wissenschaftlichen Bereichen, wo Virchow Meister war, konnte sich niemand dem suggestiven Eindruck der großen Persönlichkeit des kleinen Mannes mit der zierlichen Statur entziehen. Wenn er aus den vielen internationalen Gesellschaftstagungen, wo er als sprachgewandter und vorbildlicher Vorsitzender oft die Verhandlungen leitete, seine Stimme erhob, lauschte das Ausland so gut wie die Deutschen. Zahlreiche ausländische Regierungen erbaten in gesundheitlichen Fragen seinen Rat. Virchow gehört zu den Männern, die zur Ehre Deutschlands in der Welt am meisten beigetragen haben. Wenige haben wohl auch im Leben so viel an äußeren Ehrungen erfahren wie er. Er blieb bei allem Bewußtsein der Größe seiner Leistung einfach. Führte er auch im Forscherkampf eine scharfe Klinge, konnte er auch "sein Recht" starrsinnig verteidigen und der abweichenden Meinung, vor allem aber der Unwissenheit gegenüber sarkastisch werden, im inneren Herzen war er gutmütig und auch, wo er irrte, groß. Als er am 5. September 1902 im Alter von fast einundachtzig Jahren die Augen schloß, trauerte die ganze wissenschaftliche Welt mit Deutschland um einen seiner besten Söhne.




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