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[Bd. 4 S. 75]
Heinrich Schliemann, 1822-1890, von Carl Schuchhardt

Heinrich Schliemann.
Heinrich Schliemann.
Gemälde von Sydney Hodges.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 386.]
Unter den Taten deutscher Männer steht das Lebenswerk Heinrich Schliemanns staunenswert und einzigartig da.

Ein mecklenburgischer Pfarrerssohn verliert früh das elterliche Haus, kommt mit vierzehn Jahren in eine Krämerlehre, wird dann nach Holland verschlagen und ist mit fünfundzwanzig Jahren Großkaufmann in Petersburg und Moskau. Kaum vierzigjährig zieht er sich als mehrfacher Millionär vom Geschäfte zurück, um einen Jugendtraum zu erfüllen und Leben und Taten der homerischen Helden als Wirklichkeit zu erweisen. Und er hat das Ziel erreicht trotz aller Abmahnung und Verspottung, trotzdem er jahrelang ganz auf sich allein angewiesen war. Er hat den Trojahügel vor uns hingestellt mit seinen sieben Bauschichten, und die wichtigste davon mit großen Mauern, Palästen und Goldschätzen ist die von Homer besungene Priamos-Feste gewesen. Und in Mykene hat Schliemann die Gräber einer ganzen Königsdynastie gefunden, so reich ausgestattet mit goldenem und silbernem Geschirr und Schmuck, daß man nirgends in der Welt so viel des edlen Metalls an einer Stelle beisammen sehen kann wie in dem Mykene-Saal des Athenischen Museums.

Wie ist es möglich gewesen, daß eine Persönlichkeit so ganz verschiedene Leistungen, einmal auf wirtschaftlichem und zum andern auf wissenschaftlichem Gebiete, zu solcher Vollendung bringen konnte? Schliemann ist eine merkwürdige Mischung von schwärmendem Romantiker und scharf denkendem Realisten, und er besitzt dazu einen Willen, der keine Hindernisse kennt. Dieser Wille hat dann bald die Neigung, bald die Berechnung immer scharf im Zügel gehabt und sie kraftvoll auf das vorgesetzte Ziel gelenkt. In dem plötzlichen Umschwung vom Kaufmann zum Archäologen vollzog sich nur der Herrschaftswechsel seiner beiden Grundbegabungen: als die realistische ihre Schuldigkeit getan und ihn zum reichen und damit freien Manne gemacht hatte, überließ er der romantischen das Feld und feuerte sie nun zu ebenso starker Gangart an wie vorher die andere.

Sehr lehrreich sind seine eigenen Kindheitserinnerungen. Als er ein Jahr alt war, wurde sein Vater an die Pfarre von Ankershagen zwischen Waren und Penzlin versetzt. "In diesem Dorfe", erzählt der Sohn, "verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens, und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle und Wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt, zu einer wahren Leidenschaft entflammt. In unserem Gartenhause sollte [76] der Geist von meines Vaters Vorgänger, dem Pastor von Rußdorf, 'umgehen', und dicht hinter unserem Garten befand sich ein kleiner Teich, das sogenannte 'Silberschälchen', dem um Mitternacht eine gespenstische Jungfrau, die eine silberne Schale trug, entsteigen sollte. Außerdem hatte das Dorf einen kleinen, von einem Graben umzogenen Hügel aufzuweisen, wahrscheinlich ein Grab aus heidnischer Vorzeit, ein sogenanntes Hünengrab, in dem der Sage nach ein alter Raubritter sein Lieblingskind in einer goldenen Wiege begraben hatte. Ungeheure Schätze aber sollten neben den Ruinen eines alten runden Turmes in dem Garten des Gutseigentümers verborgen liegen; mein Glaube an das Vorhandensein aller dieser Schätze war so fest, daß ich jedesmal, wenn ich meinen Vater über seine Geldverlegenheiten klagen hörte, verwundert fragte, weshalb er denn nicht die silberne Schale oder die goldene Wiege ausgraben und sich dadurch reich machen wollte. Auch ein mittelalterliches Schloß befand sich in Ankershagen, mit geheimen Gängen in seinen sechs Fuß starken Mauern und einem unterirdischen Wege, der eine starke deutsche Meile lang sein und unter dem tiefen See bei Speck durchführen sollte; es hieß, furchtbare Gespenster gingen da um, und alle Dorfleute sprachen nur mit Zittern von diesen Schrecknissen. Einer alten Sage nach war das Schloß einst von einem Raubritter namens Henning von Holstein bewohnt worden, der im Volke 'Henning Bradenkirl' genannt und weit und breit im Lande gefürchtet wurde, da er, wo er nur konnte, zu rauben und zu plündern pflegte. Den Namen hatte er davon, daß er seinen Kuhhirten, der dem Herzog von Mecklenburg einen verbrecherischen Plan Hennings verraten hatte, bei lebendigem Leibe in einer großen eisernen Pfanne braten ließ; und als der Unglückliche, erzählt die Sage weiter, in Todesqualen sich wand, gab er ihm noch einen letzten grausamen Stoß mit dem linken Fuße. Deshalb wuchs nachher aus Henning Bradenkirls Grabe auf unserem Friedhofe noch jahrhundertelang sein linkes, mit einem schwarzen Seidenstrumpfe bekleidetes Bein immer wieder heraus. Sowohl der Küster Prange als auch der Totengräber Wöllert beschworen hoch und teuer, daß sie als Knaben selbst das Bein abgeschnitten und mit dem Knochen Birnen von den Bäumen abgeschlagen hätten, daß aber im Anfange dieses Jahrhunderts das Bein plötzlich zu wachsen aufgehört habe. Natürlich glaubte ich auch all dies in kindlicher Einfalt, ja bat sogar oft genug meinen Vater, daß er das Grab selber öffnen oder auch mir nur erlauben möge, dies zu tun, um endlich zu sehen, warum das Bein nicht mehr herauswachsen wolle.

Obgleich mein Vater weder Philosoph noch Archäologe war, hatte er ein leidenschaftliches Interesse für die Geschichte des Altertums; oft erzählte er mir mit warmer Begeisterung von dem tragischen Untergange von Herkulanum und Pompeji und schien denjenigen für den glücklichsten Menschen zu halten, der Mittel und Zeit genug hätte, die dortigen Ausgrabungen zu besuchen. Oft auch erzählte er mir bewundernd die Taten der homerischen Helden und die Ereignisse des trojanischen Krieges, und stets fand er dann in mir einen eifrigen Verfechter [77] der Sache Trojas. Mit Betrübnis vernahm ich von ihm, daß Troja so gänzlich zerstört worden, daß es, ohne eine Spur zu hinterlassen, vom Erdboden verschwunden sei. Aber als er mir, dem damals beinahe achtjährigen Knaben, zum Weihnachtsfeste 1829 Dr. Georg Ludwig Jerrers Weltgeschichte für Kinder schenkte und ich in dem Buche eine Abbildung des brennenden Troja fand, mit seinen ungeheuren Mauern und dem Skäischen Tore, dem fliehenden Aeneas, der den Vater Anchises auf dem Rücken trägt und den kleinen Askanios an der Hand führt, da rief ich voller Freude: 'Vater, du hast dich geirrt! Jerrer muß Troja gesehen haben, er hätte es ja sonst hier nicht abbilden können!'"

Schliemann schildert dann sein kindliches Liebesverhältnis zu der gleichaltrigen Minna Meincke, Tochter eines benachbarten Gutspächters, und schließt dies Kapitel: "Es stand zwischen uns schon fest, daß wir, sobald wir erwachsen wären, uns heiraten würden und daß wir dann unverzüglich alle Geheimnisse von Ankershagen erforschen, die goldene Wiege, die silberne Schale, Hennings ungeheure Schätze und sein Grab, zuletzt aber die Stadt Troja ausgraben wollten; nichts Schöneres konnten wir uns vorstellen, als so unser ganzes Leben mit dem Suchen nach den Resten der Vergangenheit zuzubringen."

Aber das Schicksal fuhr grausam dazwischen. Die Mutter starb, der Vater verlor durch widrige Verhältnisse sein Amt, die neun Kinder mußten verteilt werden. Heinrich kam zunächst zu einem Onkel, der Pfarrer in Kalkhorst war, und dann auf die Realschule in Neustrelitz, nach deren Durchlaufen er mit vierzehn Jahren in dem Städtchen Fürstenberg in Mecklenburg-Strelitz als Lehrling in einen kleinen Krämerladen gegeben wurde. Hier vom Morgen bis zum Abend Heringe und grüne Seife zu verkaufen, war hart; er hatte doch immerhin den Vorgeschmack von einer wissenschaftlichen Laufbahn gekostet in dem zweijährigen guten Unterricht eines Kandidaten und ein paar Monaten auf dem Gymnasium. Die ganze Sehnsucht nach dem Unerreichten brach auf, als ein angetrunkener Müllergeselle, der als Faulenzer von der Schule gewiesen war, ihm eines Abends hundert Homerverse in vollem Pathos vorsprach. Er verstand nichts von der Sprache, aber die Ahnung von den verborgenen Herrlichkeiten rührte ihn zu Tränen. So erschien ihm als eine erlösende Fügung der Unfall, der ihn beim Heben eines Fasses betroffen hatte: er mußte Blut speien und wurde damit aus seiner elenden Lage "wie durch ein Wunder" befreit. Sein Körper war freilich arg geschwächt. Vergeblich versucht er in Hamburg in einer Stellung nach der anderen zu arbeiten; immer wurde er nach acht Tagen fortgeschickt. Von einem alten Freunde seiner Mutter erhielt er zwanzig Gulden und eine Empfehlung für La Guayra in Venezuela. Damit verschaffte er sich einen Platz auf einer kleinen Handelsbrigg, die in jene Gegenden fahren wollte.

Mit ganz neuen Gefühlen versenkte er sich auf dem Schiff in allerhand ersehnte Bücher. Aber die Brigg scheiterte in furchtbarem Sturme bei der holländischen Insel Texel. Schliemann, an eine leere Tonne geklammert, erreichte den [78] Strand, und am anderen Morgen konnte von allen Habseligkeiten der Schiffsleute just sein Koffer aus den Wellen gefischt werden. Sein alter kindhafter Wunderglaube war nicht erloschen: "Mir war, als flüsterte mir eine Stimme dort auf der Sandbank zu, daß jetzt die Flut in meinen irdischen Angelegenheiten eingetreten sei und daß ich ihren Strom benutzen müsse. Als alle nach Hamburg zurückgeschickt werden sollten, lehnte ich es entschieden ab, wieder nach Deutschland zu gehen, wo ich so namenlos unglücklich gewesen war, und erklärte, daß ich es für meine Bestimmung hielte, in Holland zu bleiben; ich wollte nach Amsterdam gehen, um mich als Soldat anwerben zu lassen." So gab man ihm zwei Gulden, und damit fuhr er in die große Stadt.

Da hat er sich denn zuerst auch kümmerlich durchschlagen müssen als Bürodiener, der Briefe austragen oder Wechsel stempeln lassen mußte; aber er behielt bei dieser mechanischen Arbeit den Kopf frei, lernte zunächst in sechs Monaten Englisch, in weiteren sechs Monaten Französisch und dann in je sechs Wochen Holländisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch; das alles nach einer besonderen, von ihm selbst erfundenen Methode: ohne Grammatik gleich von einer Übersetzung aus den Urtext zu verstehen und auswendig zu lernen. "So konnte ich", sagt er, "schon nach drei Monaten meinen Lehrern mit Leichtigkeit alle Tage zwanzig gedruckte Seiten englischer Prosa wörtlich hersagen, wenn ich dieselben vorher dreimal aufmerksam durchgelesen hatte. Auf diese Weise lernte ich den ganzen Vicar of Wakefield von Goldsmith und Walter Scotts Ivanhoe auswendig." Er hat auf dieselbe Weise auch später noch Russisch, Schwedisch und Polnisch sowie schließlich Neu- und Altgriechisch gelernt. Da er seine geliebten Paul et Virginie längst völlig auswendig konnte, kaufte er sich zum Beispiel davon eine neugriechische Übersetzung und las und deutete sich Satz für Satz. Er wollte diese Methode, fremde Sprachen zu lernen, immer allen Gleichstrebenden, ja sogar allen Schulen lebhaft empfehlen. Aber sie taugt sicher nur für besonders geartete Menschen mit rascher Einfühlung und lebhafter Kombinationsgabe, wie Schliemann es war. Sein jüngerer Bruder Louis, wohl der begabteste neben Heinrich, schreibt ihm später einmal: "Ich kann Dich nur verstehen, wenn ich mir sage, daß Du ein außergewöhnlicher Mensch bist, der wenige seinesgleichen hat, begnadet mit großartigen Fähigkeiten."

Schliemanns kaufmännisches Glück begann mit dem Eintritt in das Handelshaus B. H. Schröder & Co. in Amsterdam, wo er am 1. März 1844, also zweiundzwanzig Jahre alt, Korrespondent und Buchhalter wurde. Seiner ausgebreiteten Sprachkenntnis folgte nun die Ausweitung seines Blickes über die Wirtschaftsverhältnisse der verschiedensten Länder. Besonders interessierten ihn die Beziehungen zu dem großen, so ungemein entwicklungsfähigen Rußland. Auf eigene Faust lernte er Russisch, da er keinen Lehrer dafür in Amsterdam fand, und schon nach zwei Jahren wurde er von seiner Firma als ihr Agent in Petersburg eingesetzt. Vierundzwanzigjährig trat er dort an, verschaffte sich geschäftstüchtig [79] sofort auch die Agenturen einer Reihe mit B. H. Schröder in naher Beziehung stehender Firmen und betrieb daneben alsbald eigene Geschäfte. Schon 1847 wurde er in die Gilde der Großkaufleute aufgenommen. Seine Raschheit, seine Zuverlässigkeit, seine Großzügigkeit hatten ihn erstaunlich bald zu Ansehen gebracht. Seine eigenen Geschäfte machte er zuerst fast ausschließlich in Indigo, da er sich in diesem Artikel in Amsterdam die besten Kenntnisse erworben hatte, aber während des Krimkrieges hat er auch vieles, was die Armee brauchte, eingeführt, immer weit und scharf umherspähend, wo sich jeweils die besten Gelegenheiten dafür boten. Einen Einblick in die Art dieses Betriebes und zugleich in Schliemanns Gemüt, das sein eigenes Leben längst als einen Mythos empfand, gibt ein Geschehnis, das er ergriffen schildert: "Die göttliche Vorsehung beschützte mich oft in der wunderbarsten Weise, und mehr als einmal wurde ich nur durch einen Zufall vom gewissen Untergange gerettet. Mein ganzes Leben lang wird mir der Morgen des 4. Oktober 1854 in der Erinnerung bleiben. Es war in der Zeit des Krimkrieges. Da die russischen Häfen blockiert waren, mußten alle für Petersburg bestimmten Waren nach den preußischen Häfen von Königsberg und Memel verschifft und von dort zu Lande weiterbefördert werden. So waren denn auch mehrere hundert Kisten Indigo und eine große Partie andere Waren von Amsterdam für meine Rechnung auf zwei Dampfern an meine Agenten, die Herren Meyer und Cie. in Memel, abgesandt worden, um von dort zu Lande nach Petersburg transportiert zu werden. Ich hatte den Indigoauktionen in Amsterdam beigewohnt und befand mich nun auf dem Wege nach Memel, um dort nach der Expedition meiner Waren zu sehen. Spät am Abend des 3. Oktober im Hotel de Prusse in Königsberg angekommen, sah ich am folgenden Morgen bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster meines Schlafzimmers auf dem Turme des neuen 'Grünen Tores' folgende ominöse Inschrift in großen vergoldeten Lettern mir entgegenleuchten:

      Vultus fortunae variatur imagine lunae:
      Crescit, decrescit, constans persistere nescit.

Ich war nicht abergläubisch, aber doch machte diese Inschrift einen tiefen Eindruck auf mich, und eine zitternde Furcht, wie vor einem nahen, unbekannten Mißgeschick, bemächtigte sich meiner. Als ich meine Reise mit der Post fortsetzte, vernahm ich auf der ersten Station hinter Tilsit zu meinem Einsetzen, daß die Stadt Memel am vorhergehenden Tage von einer furchtbaren Feuersbrunst eingeäschert worden sei, und vor der Stadt angekommen sah ich die Nachricht in der traurigsten Weise bestätigt. Wie ein ungeheurer Kirchhof, auf dem die rauchgeschwärzten Mauern und Schornsteine wie große Grabsteine, wie finstere Wahrzeichen der Vergänglichkeit alles Irdischen sich erhoben, lag die Stadt vor unseren Blicken. Halb verzweifelt suchte ich unter den rauchenden Trümmern nach Herrn Meyer. Endlich gelang es mir, ihn aufzufinden – aber auf meine Frage, ob meine Güter gerettet [80] wären, wies er statt aller Antwort auf seine noch glimmenden Speicher und sagte: 'Dort liegen sie begraben!' Der Schlag war sehr hart: durch die angestrengte Arbeit von acht und einem halben Jahre hatte ich mir in Petersburg ein Vermögen von hundertfünfzigtausend Talern erworben – und nun sollte dies ganz verloren sein.

Es währte indessen nicht lange, so hatte ich mich auch mit diesem Gedanken vertraut gemacht, und gerade die Gewißheit meines Ruins gab mir meine Geistesgegenwart wieder. Es war noch am Abend des nämlichen Tages: ich stand im Begriffe, meine Weiterreise nach Petersburg mit der Post anzutreten, und erzählte eben den übrigen Passagieren von meinem Mißgeschick, da fragte plötzlich einer der Umstehenden nach meinem Namen und rief, als er denselben vernommen hatte, aus: 'Schliemann ist ja der einzige, der nichts verloren hat! Ich bin der erste Kommis bei Meyer & Cie. Unser Speicher war schon übervoll, als die Dampfer mit Schliemanns Waren anlangten, und so mußten wir dicht daneben noch einen hölzernen Schuppen bauen, in dem sein ganzes Eigentum unversehrt geblieben ist.' Der plötzliche Übergang von schwerem Kummer zu großer Freude ist nicht leicht ohne Tränen zu ertragen. Ich stand einige Minuten sprachlos; schien es mir doch wie ein Traum, wie ganz unglaublich, daß ich allein aus dem allgemeinen Ruin unbeschädigt hervorgegangen sein sollte! Und doch war dem so! Das Feuer war in dem massiven Schuppen von Meyer & Cie. ausgebrochen und von einem orkanartigen Nordwind rasch über die ganze Stadt verbreitet worden; so hatte der nur ein paar Schritte nördlich vor dem Speicher gelegene hölzerne Schuppen ganz unversehrt bleiben können. Meine glücklich verschont gebliebenen Waren verkaufte ich nun äußerst vorteilhaft, ließ dann den Ertrag wieder und immer wieder arbeiten, machte große Geschäfte in Indigo, Farbhölzern und Kriegsmaterialien (Salpeter, Schwefel und Blei) und konnte so, da die Kapitalisten Scheu trugen, sich während des Krimkrieges auf größere Unternehmungen einzulassen, beträchtliche Gewinne erzielen."

Seine Petersburger Tätigkeit hatte Schliemann schon 1850 bis 1852 einmal auf längere Zeit unterbrochen. 1848 war das erste Gold in Kalifornien gefunden. Sein Lieblingsbruder Louis war hinübergefahren und schrieb die verlockendsten Briefe: "Menschen, die in dies Land kommen, sollten jeden Cent mitbringen; unbändige Vermögen werden hier in ein paar Monaten gemacht." Als der Bruder dann plötzlich starb, fuhr Schliemann hinüber, machte dem Präsidenten einen Besuch, stellte fest, daß das Vermögen des Bruders von seinem Partner entführt worden war, und gründete dann in Sacramento, im Minenbezirk, ein Bankgeschäft für den Handel mit Goldstaub. Von morgens sechs bis abends um zehn steht er in seinem Laden und verhandelt in acht Sprachen. "Ich kam", schreibt er, "damals mit den schlauesten der schlauen Schurken in Berührung. Da ich aber alle Ränke und Kniffe der Amerikaner kannte, ehe ich nach Kalifornien kam, und auch der Sprache vollkommen mächtig war und jeden für einen Spitz- [81] buben ansah, so habe ich dort niemals verloren, im Gegenteil bedeutend gewonnen." Nach anderthalb Jahren kommt er zurück und hat die mitgenommenen fünfzigtausend Reichstaler verdoppelt.

Schliemanns Geschäftsanzeige.
[81]      Schliemanns Geschäftsanzeige als Händler mit Goldstaub in Kalifornien, 1850.

Im Oktober 1852 hat Schliemann dann in Petersburg geheiratet. Seine Erwählte, Katarina Lyschin, stammte aus dem guten kaufmännischen Bürgerkreise. Die Ehe wurde aber eine Enttäuschung nach allem, was er sich früher enthusiastisch von einer solchen vorgestellt hatte. Schliemann hatte schon 1846, sobald er selbständig geworden war, einen Mittelsmann beauftragt, für ihn um seine Kinderliebe Minna Meincke anzuhalten, und zu seinem Schmerz erfahren, daß sie sich kurz vorher verheiratet hatte. Unlustig und auch unkritisch hielt er nachher Umschau und war glücklich, als Katarina, die ihn wiederholt abgewiesen, endlich doch einwilligte. Aber sie hatte keine Neigung und kein Verständnis für ihn. Sie war phantasielos, von kühlem Verstande, auf ruhige Ordnung bedacht. Mit seinem gesteigerten, sprunghaften Wesen, der Unrast, dem ewigen Planen und Verlangen zum Mitgehen war er für Alltagsmenschen kein bequemer Weggenosse. "Es ist das traurige Los unserer Familie" – schreibt er einmal den Schwestern – "sehr heißen Charakters zu sein und tief zu fühlen." Und ein andermal: "Es ist mein Unglück, daß ich meine Frau wie ein Irrsinniger liebe und daß ich verzweifelt bin, wenn ich ihre Gleichgültigkeit gegen mich sehe."

In den ersten sieben Jahren der Ehe hat sie ihm einen Sohn und zwei Töchter [82] geboren. Aber die kühle Temperatur des Hauses wirkte immer mehr erkaltend auch auf seine Liebe zu Rußland und zu seinem Geschäft. Er hatte darin nie eine wirkliche Befriedigung gefunden. "Wohnt denn das Glück " – schreibt er schon früh an den Vater – "in den sechstausend Talern, die ich 1847 verdiente, oder in den zehntausend, die ich in diesem Jahre zu verdienen hoffe? Oder wohnt es in meiner prächtigen Wohnung, köstlichen Speisen, schönen Weinen usw.? Nein! Wahrlich nicht! Vom frühen Morgen bis späten Abend an meinem Kontortische stehend, in ewiges Nachdenken vertieft, wie ich am bequemsten durch vorteilhafte Spekulation... meinen Geldbeutel schwerer machen kann, fühle ich mich weit weniger glücklich als damals, wie ich hinter dem Ladentische in Fürstenberg mich mit dem Fischkarrer über den Hund mit dem langen Schwanze unterhielt." Und 1857 den Selbstbekenntnissen seiner Hefte – "Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin zu wenig unter gebildeten Menschen. Darum reise ich nach Griechenland, und wenn ich auch da nicht leben kann, so gehe ich nach Amerika, wo es jeden Tag etwas Neues gibt."

1858 beschloß er in der Tat, sein Geschäft aufzugeben, und ging vorläufig auf eine große Reise nach Schweden, Dänemark, Deutschland, Italien und Ägypten. Aber der Prozeß gegen einen Schuldner, der ihn auch ehrenrührig gekränkt hatte, rief ihn zurück, und da er die jahrelange Dauer dieses Rechtshandels voraussah, nahm er sein Geschäft wieder auf, um es nun kraftvoll und mit einer Kühnheit und einem Erfolge wie nie zuvor noch bis 1863 fortzuführen. Als er dann den Prozeß nach allen Richtungen gewonnen hatte, machte er endgültig Schluß. Er ging auf eine Reise um die Welt: über Griechenland, Indien, China, Japan nach San Franzisko und von da über New York nach Paris. Der unersättliche Trieb, in voller Freiheit jetzt die ganze Welt, Altes und Neues kennenzulernen, mußte zuerst befriedigt werden. Schon auf dieser Reise hat er ein kleines Buch La Chine et le Japon geschrieben und alsbald veröffentlicht. Nach seiner Rückkehr 1866 machte er sich in Paris ansässig, und da seine Frau sich weigerte, Rußland zu verlassen, ließ er sich nunmehr scheiden. Zwei Jahre widmete er völlig der griechischen Literatur und Altertumskunde. Im Sommer 1868 aber zog er aus, um die wichtigsten Stätten der Heldensage endlich selber kennenzulernen: Ithaka und das Phäakenland, Mykene, Tiryns und Troja. Schon Ende des Jahres war das Buch fertig, das über seine Ergebnisse berichtete. Er habe von vornherein nicht den Ehrgeiz gehabt, eine Studie über diesen Gegenstand zu veröffentlichen, sagt er – "ich entschloß mich erst dazu, als ich fand, welche Irrtümer fast alle Archäologen über die verschiedenen wichtigen Stätten verbreitet haben."

Die Studie heißt Ithaka, der Peloponnes und Troja und ist heute noch ein erstaunliches Buch, für das seine Heimats-Universität Rostock ihm nicht mit Unrecht den Doktortitel verliehen hat. Es zeigt Schliemanns Eigenschaften in glänzendem Lichte: den Fleiß, mit dem er für jeden Platz: Korfu, Kephallonia, Ithaka usw., alle Schriftquellen bis in die spätrömische Zeit zusammengetragen hat, und sodann den äußerst gesunden Ortssinn, den sicheren topographischen [83] Blick, mit dem er im Gelände das in der Dichtung Beschriebene wiedererkennt: in Korfu als dem Phäakenlande die Stadt zwischen den beiden Häfen und vor dem größeren Hafen die versteinerte Barke, die den Odysseus nach Hause gefahren hat und bei ihrer Rückkehr vom zürnenden Poseidon bestraft wird; in Ithaka den Phorkyshafen mit den zwei Felspylonen, in dem Odysseus abgesetzt wird, und die Nymphengrotte darüber, in der er seine Schätze birgt; in Mykene die alte Königsnekropole am Löwentore hinter der Burgmauer und in Troja die alte Feste auf dem niedrigen Hügel Hissarlik, nicht weiter oben auf dem hohen Bunarbaschi, wo auch Moltke sie angenommen hatte. Und zugleich sieht man, wie er überall mit dem Volke rasch verwächst, seine Eigenheiten versteht und mit den eigenen Ideen es begeistert. Köstlich sind seine Erzählungen von Ithaka. Da wird er am mittleren Einschnitt, an der Wespentaille der Insel, abends elf Uhr an Land gesetzt. "Ich war so glücklich, beim Aussteigen den Müller Panagis Asproieraka anzutreffen, der mir für vier Franken seinen Esel vermietete, um mein Reisegepäck zu tragen, während er selbst mir als Führer bis zur Hauptstadt Vathy diente. Als er gehört hatte, daß ich nach Ithaka gekommen wäre, um archäologische Forschungen anzustellen, sprach er sich mit lebhaftem Beifall über mein Vorhaben aus und erzählte mir unterwegs alle Abenteuer des Odysseus von Anfang bis zu Ende... Sein Eifer, mich über die glorreichen Taten des Königs von Ithaka zu unterrichten, war so groß, daß er keine Unterbrechung duldete. Vergebens fragte ich ihn: 'Ist dies der Berg Aëtos? Ist dies der Phorkyshafen? Auf welcher Seite befindet sich die Grotte der Nymphen? Wo ist das Feld des Laertes?'... Alle meine Fragen blieben ohne Antwort. Der Weg war lang, und als wir endlich halb ein Uhr nachts die Schwelle seiner Haustür in Vathy überschritten, war er gerade in der Unterwelt mit den Seelen der Freier unter dem Geleite des Merkur angelangt." Auf die Fragen Schliemanns erklärte der Mann dann, daß er weder Altgriechisch könne, noch lesen und schreiben gelernt habe, daß aber seine Familie die Bewahrerin der alten Tradition sei und niemand auf der Insel die Geschichte des großen Königs so gut wisse wie er.

Dicht bei dem Hauptorte Vathy findet Schliemann dann die beiden in der Odyssee 13,96–124 geschilderten Hauptkennzeichen, die uns noch heute verbürgen, daß an dieser Stelle der Dichtung in der Tat das heutige Ithaka gemeint ist. "Der Hafen des Phorkys, des Meergreises, in welchem zwei steile Felsen vorspringen nach dem Eingange des Goldes zu", ist noch heute so beschaffen. "Aber am Ende des Hafens", heißt es dann bei Homer weiter, "erhebt sich ein dichter Ölwald, und gleich daneben liegt eine liebliche dunkle Grotte, die den Nymphen, welche Najaden heißen, geweiht ist. Da sieht man Urnen und steinerne Krüge... und steinerne Webstühle, auf denen die Nymphen purpurne Gewänder weben, wunderbar anzuschauen... Die Grotte hat zwei Eingänge: der eine im Norden ist für die Menschen, der andere im Süden für die Götter; niemals überschreiten ihn die Menschen, denn das ist der Weg der Unsterblichen."

[84] Die Grotte fand Schliemann "dicht neben dem Hafen, am Abhange des Berges Neion, fünfzig Meter über dem Meeresspiegel... Von der Decke hängen Massen von Tropfsteinen in bizarren Formen herunter, und mit nur einiger Einbildungskraft erkennt man darin Urnen, Krüge und die Webstühle... In der Grotte befindet sich auch auf der nordwestlichen Seite eine Art natürlicher Eingang von zwei Meter Höhe und vierzig Zentimeter Breite, durch den man bequem in die Grotte gelangen kann, und auf der Südseite eine runde Öffnung von nur zweiundachtzig Zentimeter im Durchmesser, die den Eingang der Götter bildet, denn an dieser Stelle hat die Höhle eine Tiefe von siebzehn Meter, so daß der Mensch auf diesem Wege sie nicht wohl betreten kann."

Emil Reisch hat 1887 bei eingehender Bereisung von Ithaka diese Schliemannsche Beschreibung bestätigt und erklärt, daß auch die Weideplätze des Eumaios mit der Arethusa-Quelle und dem Koraxfelsen auf dem südlichen Hochplateau der Insel ganz augenfällig zu erkennen seien. Die "Stadt" und den "Palast" des Odysseus auf dem ganz steilen und schmalen Aëtos-Berge lehnt er dagegen entschieden ab. Schliemann hatte hier eine Reihe von Tagen gegraben und über die kümmerlichen Ergebnisse sich mit kindlicher Phantasie zu trösten gesucht. Er suchte im "Palast" nach dem Ölbaum, aus dem Odysseus sich das Ehebett gestaltet hatte, und als sich gar nichts fand, meinte er, daß doch in den Felsspalten, die freigelegt waren, der Ölbaum habe Wurzel schlagen können. Und als er an einer anderen Stelle des "Palastes" ein paar kleine Tonfläschchen fand, meinte er: "Es ist wohl möglich, daß ich in meinen fünf kleinen Urnen die Asche des Odysseus und der Penelope oder ihrer Nachkommen bewahre."

Das war der Schliemann, wie er damals zur Volkskarikatur wurde und viele Nachahmungen hervorrief, indem alle Augenblick jemand den Schwertknauf des Varus oder eine Haarnadel der Thusnelda gefunden haben wollte. Auch daß das heutige Ithaka das des Odysseus gewesen sei, wird ihm bekanntlich seit längerer Zeit von gewichtigen Seiten bestritten. Man will statt dessen Leukas annehmen oder auch Korfu. Aber die markanten Punkte, insbesondere die Nymphengrotte, lassen sich nicht wegleugnen und finden sich nirgendwo sonst. Auf der anderen Seite schildert Odysseus bei den Phäaken sein Ithaka so, daß nur Korfu gemeint sein kann: "Da ist eine große Inselgruppe", sagt er, "Ithaka liegt allein, am weitesten gegen Abend, die anderen geballt fernab im Süden: Dulichion, Zakynthos und Same." Wenn von diesen südlichen nur drei genannt werden, sind es ohne Frage die drei großen: Leukas, Zante und Kephallonia, und das einsam gegen Nordwesten vorgeschobene "Ithaka" ist Korfu. Die Lösung dieser Merkwürdigkeit wird aber heute immer klarer. Der Sage liegt zugrunde ein altes, großes illyrisches Königreich, das vom Festlande auf die Inseln hinübergegriffen hatte. Nach der Ilias (2.631 ff.) beherrscht Odysseus dies ganze Gebiet. Die Bewohner heißen insgesamt Kephallenen; mit ihnen zieht er gegen Troja in den Kampf. Später aber, nach der Dorischen Wanderung, als die achäische Großzügigkeit von einer [85] Kantönli-Wirtschaft abgelöst war, stellte man sich Odysseus nur noch als einen kleinen Gaufürsten vor und dachte ihn auf dem bescheidenen Ithaka zu Hause. Schliemann hat also die Örtlichkeit, die die jüngere Sagenform schildert, auf Ithaka ganz richtig erkannt, aber der alte, weitherrschende Odysseus wird wohl einen prächtigeren Wohnsitz gehabt haben als dieses Inselchen.

In Mykene hat Schliemann sich damals bei seinem ersten Besuche auf keine Grabung eingelassen, aber in Troja konnte er nicht widerstehen, die Frage, ob das zwölf Kilometer aufwärts am Mäander gelegene kleine Felsennest Bunarbaschi wirklich die Feste des Priamos gewesen sei, gleich zu klären. Er fand nichts als späte Siedlungsreste, und die Steilhänge der Burg sowie die weite Entfernung vom Meere waren weitere Gründe für die Ablehnung. Weiter abwärts dagegen schien ihm der Hügel von Hissarlik, nur fünf Kilometer vom Meere, mit dem vollen Überblick über die Ebene, sowie westlich übers Meer bis Samothrake und umgeben von den bei Homer genannten Grabhügeln der gegebene Punkt, zumal sein Freund, der amerikanische Konsul Frank Calvert, der dicht bei Hissarlik ein Landgut besaß, durch einige Schnitte auf der Burg schon eine tiefe Schuttschicht festgestellt hatte, die für Schliemann immer das Zeichen hohen Alters und guter Fundaussichten war.

Man kann es verstehen, daß jemand, der für alte Heldendichtung schwärmt und durch sie in altes großes Menschentum eindringen möchte, sein ganzes Leben dem Homer und seiner Aufklärung und Bewahrheitung widmen möchte. Schliemann hatte dafür jetzt die Freiheit und die Mittel, und er setzte seine ganze Tatkraft ein, um zum Ziele zu gelangen. Alexander Conze hat ihm später einmal geschrieben, als es mit Troja gar nicht recht vorwärts gehen wollte, wenn er sich schon so sehr für solche Forschungen interessiere, möge er doch sein Geld lieber Leuten geben, die dafür vorgebildet seien. Damit war Schliemann arg mißverstanden. Er wollte sehr wohl, daß ein gutes Ergebnis erzielt würde, das beste, das zu erreichen sei, aber er wollte selber dabei mittun, er wollte mittendrin stehen in der täglichen Spannung: Was kommt hier heraus? Was muß nun geschehen? Er hat alleine gegraben, solange kein Mitarbeiter für diese ganz neuen, unerhörten Dinge zu finden war; aber er hat sofort zugegriffen, als die Olympia-Schule den Architekten Dörpfeld und andere Grabungen dann auch Archäologen herangebildet hatten.

Schliemann hatte 1870 seinen Wohnsitz nach Athen verlegt und sich dort verheiratet mit der achtzehnjährige jungen Griechin Sophia Kastromenos, die ihn als beste Homerschülerin in der Eliteklasse angezogen hatte. Von ihr allein unterstützt, hat er zunächst 1871, 1872 und 1873 je mehrere Monate in Troja gegraben. Er stellte sich vor, daß die Mauern des Homerischen Troja, die Poseidon und Apollo gebaut haben sollten, auf dem Urboden müßten gegründet gewesen sein und in der Mitte der Burg der Tempel der Athena anzunehmen sei. So begann er einen großen breiten Graben nordsüdlich über die ganze Burg zu ziehen und [86] ging in ihm rücksichtslos immer tiefer hinunter, beseitigte die römische Schicht, die Quadermauern des hellenistischen Tempels, bis er endlich bei siebzehn Meter unter der Oberfläche den Fels erreichte. Hier, in der untersten von sieben Siedlungsschichten, die er zählen konnte, ließ sich deutlich eine rohe Burgmauer, aus kleinen Steinen errichtet, erkennen, und in der Mitte die Reste von kümmerlichen Häusern. An einer Stelle führte eine Rampe hinauf zu einer Lücke in der Burgmauer. Das mußte also das Skäische Tor sein, und in den Hausresten sah Schliemann den Palast des Priamos.

Aufdeckung der verschiedenen Schichten des Burghügels von Troja.
[87]      Aufdeckung der verschiedenen Schichten des Burghügels von Troja unter Schliemanns Leitung, 1873: Wohnhäuser der "verbrannten Stadt III" unter dem "Tempel der Athena".
Aus Schliemanns Werk "Ilios, Stadt und Land der Trojaner", 1881.

Aber die Kleinfunde enttäuschten ihn. Unmengen von Steinbeilen und ‑messern, von Tongefäßscherben und Spinnwirteln waren aus den riesigen Schuttschichten zu Tage gekommen, aber von ganz unbekannten rohen Formen. So sagte Schliemann denn in den Zeitungsberichten, die er regelmäßig lieferte: "Meine Ansprüche sind höchst bescheiden; plastische Kunstwerke zu finden, hoffe ich nicht; der einzige Zweck meiner Ausgrabungen war ja von Anfang an nur, Troja aufzufinden, über dessen Baustelle von hundert Gelehrten hundert Werke geschrieben worden sind, die aber noch niemals jemand versucht hat durch Ausgrabung ans Licht zu bringen. Wenn mir nun dies nicht gelingen sollte, so würde ich doch überaus zufrieden sein, wenn es mir nur gelänge, durch meine Arbeiten bis in das tiefste Dunkel der vorhistorischen Zeit vorzudringen und die Wissenschaft zu bereichern durch die Aufdeckung einiger interessanter Seiten aus der urältesten Geschichte des großen hellenischen Volkes."

Aber das gute Glück, das ihm im Leben so oft zur Seite gestanden hatte, ließ ihn auch hier nicht im Stich. Im dritten Jahre, an einem Maitage 1873, kurz vor Mittag, sah er glänzendes Metall aus der Erde blitzen. Er ließ sofort zur Eßpause rufen, um die Arbeiter zu entfernen, und machte sich mit seiner Frau daran, die verheißungsvollen Dinge herauszuschälen. Unermeßlich war die Beute: große goldene Kopf- und Ohrgehänge und Armbänder, schwere goldene Becher, von Silber vier große Mischkrüge und dicke Barren, von Kupfer Kessel und Schalen und Beile. Schliemann kratzte und putzte und hob, und Sophia trug in ihrem Shawltuch die Schätze sorglich und still in ihre Baracke. Dieser "große Schatz von Troja" steht heute noch einzig in der Welt da. Er verblüffte gleichermaßen durch seinen Reichtum wie durch seine Formenwelt, die man erst sehr allmählich verstehen gelernt hat. Er gehört der allerfrühesten Metallzeit an. Die goldenen Gehänge ahmen solche aus Woll- und Leinenfäden nach mit ihren Luftmaschen und Knoten. Die silbernen Mischkrüge haben die Form von spanischen derselben Zeit, und die kupfernen Beile entsprechen den ältesten aus dem Mittelmeer und dem Norden.

Sophie Schliemann. Heinrich Schliemann.
[80a]  Sophie Schliemann mit dem trojanischen Goldschmuck.             Heinrich Schliemann.

Dieser Fund war für Schliemann ein großer Triumph. Aber die Auswirkung entsprach nicht der später erkannten Bedeutung. Schliemann faßte seine Zeitungsberichte zu einem Buche Trojanische Altertümer (1874) zusammen und gab einen Atlas von zweihundertachtzehn Tafeln dazu, mit so schlechten Abbildungen, daß niemand sich daraus etwas vorstellen konnte. Außerdem verblieb der Zwiespalt zwischen dem merkwürdigen Schatze und dem Mangel an jeglichem bemerkens- [87=Abb.] [88] wertem Bauwerk. So blieb der äußere Erfolg aus. Seine Grabung war ein Kuriosum, mit dem man nichts anzufangen wußte. Schliemann war traurig und versuchte, zunächst auf anderem Wege dem großen Homerproblem beizukommen.

Das Löwentor der Burg von Mykene.
[80b]      Das Löwentor der Burg von Mykene.
Ausgrabung unter Heinrich Schliemann 1876–78.

[Bildquelle: Staatliche Bildstelle, Berlin.]

Eingang zum sogenannten Schatzhaus des Atreus in Mykene.
[80b]    Eingang zum sogenannten Schatzhaus
des Atreus in Mykene.
Er ging nach Mykene. Dort hatte er schon beim ersten Besuche 1868 die vom altgriechischen Baedeker Pausanias erwähnten Königsgräber im Gegensatz zur allgemeinen Meinung hinter der oberen, der eigentlichen Burgmauer angenommen, nicht hinter der unteren, späteren Stadtmauer. Gleich hinter dem Löwentore glaubte er auch nach dem bloßen Augenschein diese Schuttschichten zu erkennen. Und an dieser Stelle hat er wahrhaftig dann die Königsgräber gefunden. Wie kam es, daß er mit seiner Deutung des Pausanias recht hatte gegen alle die damaligen Gelehrten? Hier hatte sein von keinem gelehrten Wissen beschwertes Lesen ihm in der Tat den Erfolg verschafft. Die Gelehrten sagten: Die Griechen haben nie in einer Burg begraben, die Gräber können also nicht hinter der Burgmauer liegen. Schliemann aber sagte: Wenn Pausanias für die Touristen einfach schreibt "hinter der Mauer", dann meint er die mächtige, berühmte Burgmauer, denn die andere bemerkt man kaum. Lange nach Schliemanns Grabung fand die Meinungsverschiedenheit eine merkwürdige Lösung. Die Gräber hatten bei ihrer Anlage sich tatsächlich außerhalb der Burg am Felsenhange befunden. Erst nach hundert oder zweihundert Jahren hatte man bei einer Erneuerung der Burgmauer über den Gräbern einen runden Kultplatz geschaffen und ihn durch einen Bogen der Mauer mit in die Burg hereingenommen. So waren die Gelehrten entschuldigt, und Schliemann hatte seine Agamemnon-Dynastie.

Aus Schliemanns Tagebuch der Ausgrabungen in Mykene.
[89]      Aus Schliemanns Tagebuch der Ausgrabungen in Mykene, mit Zeichnungen einzelner Fundstücke.      [Vergrößern]
Die Ausbeute übertraf alles, was Menschenphantasie sich von solchen Dingen vorzustellen vermag. Auch der ägyptische Tutanch-Amon unserer Tage macht den Mykeniern keine Konkurrenz. Die Gräber, steilwandig tief in den Felsen geschnitten und oben mit Steinplatten geschlossen, waren vollständig unberührt. Die unverbrannt bestatteten Leichen waren völlig vergangen bis auf eine, die aber an der Luft dann auch zerfiel. In den fünf Gräbern waren fünfzehn Beisetzungen zu erkennen, Männer und Frauen, wie die Ausstattung ergab. Und diese Ausstattung! Die Männer hatten goldene Masken, goldene Brustplatten und goldenes Trinkgeschirr, Schwerter und Dolche, zum Teil mit verzierten Klingen: auf einem Schwert laufende Pferde, auf den Dolchen in eingelegter Metallarbeit eine Löwenjagd oder Enten im Lotosgebüsch von Wildkatzen verfolgt. Dazu silbernes und kupfernes Geschirr, dicke Bernsteinperlen von der Nordsee, ein Straußeneibecher und Alabasterkrüge aus Ägypten. Es war ein Reichtum und ein Glanz, daß die ganze Welt in Taumel geriet. Jetzt hatte man "das goldreiche Mykene" wirklich vor Augen; die Masken zeigten die Gesichter der Männer, die Grabsteine stellten dar, wie sie jagten und in den Kampf zogen. Nun war das Eis für Schliemann gebrochen. Er hatte den Homer als wahrhaft erwiesen. Er hatte mit seiner einfachen, gläubigen Auffassung die ganze Gelehrtenwelt geschlagen. Seine Persönlichkeit war plötzlich populär diesseits und jenseits des Ozeans. Sein [89] märchenhafter Aufstieg vom Ladendiener zum Millionär, sein fabelhaftes Sprachtalent und sein Homer-Gedächtnis, die wunderbare Fügung auch bei seinem Scheitern in Texel und dem Brande in Memel – er war in aller Munde, bei den Gehobenen und den Einfachen. Sein Ausgrabungsbuch Mykenä erhielt wieder Tagebuchform, wurde diesmal aber mit sehr schön gezeichneten Abbildungen ausgestattet. Die Vorrede dazu hatte Gladstone geschrieben und gewidmet wurde es dem König von Griechenland.

Der Erfolg von Mykene regte Schliemann an, es nun mit Troja doch noch einmal zu versuchen. Er lud dazu die beiden Männer ein, von deren Beistand er sich den meisten Erfolg versprach. Emile Burnouf, den früheren Direktor des Französischen Archäologischen Instituts in Athen, und Rudolf Virchow, den damaligen Führer der Vorgeschichtsforschung in Deutschland. Die Grabung begann [90] im Herbst 1878 und wurde 1879 mit großer Kraft fortgeführt. Aber sie brachte nichts bemerkenswert Neues. Keine stattliche Burgmauer und kein eigentlicher Palast wollte sich zeigen. Ein fünfzehn Meter langes Gebäude aus kleinen Steinen in der "dritten, der verbrannten Stadt" mußte als das "Haus des Priamos" gelten.

Schliemann ging an diesem Punkte der Arbeiten, den er als den Abschluß betrachtete, nun aber daran, alles in Troja Getane und Erreichte in einem großen Buche zusammenzufassen Ilios, Stadt und Land der Trojaner 1881. Achthundertachtzig Seiten ist es stark. Rudolf Virchow schrieb eine vortreffliche Vorrede, in der es von Schliemann heißt: "Jetzt ist aus dem Schatzgräber ein gelehrter Mann geworden, der seine Erfahrungen in langen und ernsten Studien mit den Aufzeichnungen der Historiker und Geographen, mit den sagenhaften Überlieferungen der Dichter und Mythologen verglichen hat." Aber wie sehr Schliemann sich immer nach wissenschaftlicher Hilfe sehnt und für sie dankbar ist, zeigt die Mitarbeit von zehn Gelehrten, die er auf dem Titelblatte namhaft macht, darunter P. Ascherson, H. Brugsch-Bey, Max Müller, A. Postolakkas und A. H. Sayce.

Die Freundschaft mit dem verständnisvollen Rudolf Virchow brachte Schliemann dazu, alle Unbill, die er von Deutschland erfahren hatte, zu vergessen. Virchow hat zehn Jahre später in seiner Gedächtnisrede auf Schliemann die entscheidende Wendung geschildert. Als sie auf einer Fahrt nach dem Ida an einem schönen, stillen Morgen allein nebeneinander ritten, sagte Schliemann nachdenklich: "Ich glaube, ich werde gut tun, meine ganze trojanische Sammlung Deutschland zu vermachen, denn da hat man doch am meisten Verständnis dafür." Und so hat er dann getan. Er hat die Sammlung von London, wo sie schon ausgestellt war, zurückgezogen und sie mit einem Briefe an den alten Kaiser 1881 "Dem deutschen Volke" geschenkt. Sie wurde in Berlin dem Vorgeschichtlichen Museum zugewiesen mit der Anordnung, daß die Säle, in denen sie aufgestellt sein würde, "Schliemann-Säle" heißen sollten. Schliemann wurde Ehrenbürger von Berlin, wie vor ihm nur Bismarck und Moltke, und konnte hohe und höchste Orden tragen.

Aber das merkwürdige Problem der Troja-Burg ließ ihn nicht ruhen. Es brannte auf seinem Herzen. Er hätte längst weitergegraben, wenn nicht das kategorische "Nein" der Türken gewesen wäre. Sie hatten ihm einen Prozeß gemacht, weil er von den Funden nicht den vorschriftsmäßigen Teil nach Konstantinopel abgegeben hatte, und hatten ihn zu zehntausend Franken Buße verurteilt. Er schickte ihnen statt dessen fünfzigtausend, aber der Widerstand ließ sich jahrelang nicht brechen. Endlich, 1882, bekam er die Erlaubnis, und nun war sein Erstes, sich für die Grabung die Hilfe des eben in Olympia freigewordenen ersten und vornehmsten Architekten zu sichern, Wilhelm Dörpfelds. Man hat später scherzweise gesagt, Schliemanns größte Entdeckung sei Dörpfeld gewesen.

[91] Beide Teile können sich das Kompliment gefallen lassen: Es war ein Griff von Schliemann, glücklicher als irgendein Mensch vorausahnen konnte. Dörpfeld war es, der in Olympia neben den Steinbauten gerade den alten Heratempel ausgegraben und bearbeitet hatte; der seine Lehmziegelwände erkannt und den Säulen ringsum angesehen hatte, wie die ursprünglich hölzernen eine nach der anderen durch steinerne ersetzt worden waren. Nach dieser Erfahrung mit einem alten Lehm- und Holzbau, von dem man sonst noch nirgend eine Ahnung hatte, fand Dörpfeld in Troja sehr rasch, daß die harte kalzinierte Masse, in der zum Beispiel der große Schatz gefunden war, nichts anderes sei als eine riesige fünf Meter dicke Mauer aus Lehm mit Holzeinlagen, die die ganze Burg umzog. Und in der Mitte der Burg schälte er große, rechteckige Gebäude – von dem verhängnisvollen Schliemannschen Nord-Süd-Graben glücklicherweise bestenteils verschont – heraus, deren Wände, einen Meter dick, ebenfalls aus großen Lehmziegeln mit dicken Holzkohlen dazwischen bestanden. Dörpfeld fand sich in diese Bauart so hinein, daß er damals und später 1890 drei Perioden für jene älteste Burgmauer unterscheiden konnte. Der ersten und zweiten gehörten zwei große Tore an, eines im Westen und eines im Süden, die als mächtige Turmklötze weit aus der Mauer vorspringen und von dem langen schmalen Torwege durchzogen wurden. Schliemann konnte keinen besseren Beleg erwarten für das Skäische Tor, auf dem die Greise und Frauen sich versammelten, um in größter Spannung den Kampf in der Ebene zu verfolgen.

Die Gebäude in der Mitte der Burg waren drei Langhäuser, ein größeres mit je einem schmäleren links und rechts. Das große war dreißig Meter lang und zehn Meter breit und hatte nur eine Querteilung, so daß auf eine Vorhalle von zehn Meter Tiefe ein Saal von zwanzig Meter folgte. Genau in der Mitte dieses Saales lag ein großer runder Herd oder Altar. Die Vorhalle dieses Gebäudes war vorn vollständig offen, sie hatte auch keine Säulen in der Front. Schliemann hatte immer in der Mitte der Burg Troja den Athenatempel erwartet, und so schien er hier nun gefunden zu sein, denn auch Dörpfeld wußte für das größte Gebäude nichts Verwandteres als die älteste griechische Tempelform, das templum in antis.

Plan der Burg von Tiryns.
Plan der Burg von Tiryns.
Nach den Ausgrabungen
von Heinrich Schliemann 1884.
[Nach wikipedia.org.]      [Vergrößern]
In diesem Punkte sollte sich die Auffassung der beiden Ausgräber sehr bald ändern und zu einem der wichtigsten Ergebnisse ihrer ganzen Forschertätigkeit vorstoßen. 1884 hatten Schliemann und Dörpfeld sich auf den Burghügel Tiryns begeben und seine bewohnte Hälfte in einem Zuge völlig freigelegt. Was man da zu erwarten hatte, war vorher völlig unklar gewesen. Was aber herauskam, ist bis heute, nach fünfzig Jahren, wiederum einzig im ganzen Bereiche der Mykenischen Kultur: der vollständige bis ins einzelne völlig erhaltene Wohnkomplex eines Fürsten der griechischen Heldenzeit. Das große Langhaus von Troja steht im Mittelpunkte, nur hat es hier statt der einen tiefen zwei flache Vorhallen, und vor der vordersten stehen zwei Säulen zwischen den Anten. Mitten im Saale liegt, wie in Troja, der runde Herd, aber auch hier kommen Säulen hinzu; ihrer [92] vier umstehen den Herd, sie sollen das Dach des breiten Raumes tragen helfen. Mußte Schliemann hier nicht sofort denken an die Worte der Nausikaa, wie Odysseus ihre Mutter im Palaste finden sollte: "sitzend am glänzenden Feuer des Herdes, an die Säule gelehnt?"

Eng an dies große Mittelgebäude drängen sich dann weitere Räume, unter denen der Saalbau mit Herd und Vorhalle, das "Megaron", sich noch zweimal in kleinerem Maßstabe wiederholt. Andere werden Kammern, Küchen, Vorratsräume sein. Ein quadratisches Badezimmer mit dem Rest der tönernen Wanne hebt sich heraus; sein Fußboden besteht aus einem einzigen riesigen Kalkstein, dessen Gewicht man auf zweiundzwanzigtausend Kilo berechnet hat. Zwischen den Räumen ziehen sich schmale Korridore entlang, die Türen mit ihren Schwellen sind überall zu erkennen, zuweilen sieht man in dem Stein die rundliche Vertiefung, in der die Türangel sich gedreht hat. Vor dem Hauptgebäude aber liegt gegen Süden ein großer, fast quadratischer Hof, von Säulen umgeben, und auf ihm vorn in der Mitte ein runder Altar, offenbar für den Zeus Herkeios, den herdbeschützenden großen Gott. Hier hatte also der Götterdienst stattgefunden, und von den Gebäuden war keines ein Tempel. So mußte man denn auch für Troja umlernen und die dortigen großen Bauten für den Königspalast ansehen. Das Vorhallenhaus entspricht ja auch durchaus den homerischen Schilderungen: wie bei den Phäaken mit dem Herd und der Säule, so auf Ithaka mit der Vorhalle, in der Odysseus in der Nacht vor dem Freiermorde schläft. Die Heimat dieser Bauform ist aber, wie wir nachher vielfältig gesehen haben, unser germanischer Norden. Von der Steinzeit an hat er sich in Nordwest- und Nordostdeutschland gezeigt: schon die erste indogermanische Wanderung, die von hier gen Südosten gegangen ist, hat ihn nach Thessalien, Troja und Griechenland gebracht.

Schliemann hat nachher, 1890, in seinem letzten Lebensjahre in Troja noch einmal weitergegraben. Er wollte die wunderliche Auffassung eines Hauptmanns Bötticher, der das ganze Troja für eine Feuernekropole erklärte, vor vielen eingeladenen Gelehrten widerlegen, zugleich aber auch mit Dörpfeld die VI. Stadt, die sich als die eigentlich mykenische angezeigt hatte, nach ihrem Charakter und ihrer Ausdehnung näher aufklären. In dieser Beziehung ergab sich, daß die Bauten dieser Stadt in der Mitte der Burg deshalb völlig fehlten, weil die Römerzeit hier später völlig aufgeräumt und nur die noch erheblich tiefer liegende Schicht der II. Stadt mit den Palasthäusern und Goldschätzen verschont hatte. Von der mykenischen Periode waren nur am Rande der Burg einige Häuser aus gutbehauenen Steinen sowie die Burgmauer ringsum erhalten. Eine Unterstadt, die besonders Dörpfeld erwartet hatte, fand sich nicht. Aber im ganzen siegte damals doch die Auffassung, die Dörpfeld und die ganze jüngere Archäologie mit ihm hatte, daß, wie im allgemeinen die mykenische Periode sich in den Homerischen Gedichten spiegelte, so auch für Troja die VI., die mykenische Burg in Betracht komme und nicht die um ein halbes Jahrtausend ältere II. Damit hätten dann die [93] Paläste dieser II. Burg und ihre Goldschätze gar nichts mit Homer und Priamos und dem Trojanischen Kriege zu tun gehabt.

Schliemann mag bei solchen Erörterungen oft das Gefühl gehabt haben: "Philister über dir, Simson!" Aber er hielt sich wacker, sagte nicht "ja" zu den neuen Auffassungen, ließ aber die Grabungen und Untersuchungen ruhig ihren Weg gehen. Heute hat sich auch dieses Blättchen wieder zurechtgewendet. Wo wir sehen, daß für die Lage des Phäakenlandes und Ithakas bei Homer noch Sagenformen nachklingen, die weit vor seiner und der mykenischen Zeit liegen, und manches andere Stück aus dieser Zeit auftritt, da kann man sich unter dem alten goldreichen Troja, das einen welterschütternden Untergang gefunden hat, nichts anderes vorstellen als die großartige II. Burg mit den mächtigen Mauern, den Tortürmen und der grandiosen Brandkatastrophe.

Schliemann hat in allen großen Fragen recht behalten. Seine Homergläubigkeit hat sich bewährt, weil er mit seinem einfachen Volksgemüt der naiven altgriechischen Dichtung näherstand als die kritische Verstandeswelt seiner Zeit. Und sein Werk hat uns weit mehr gebracht, als er selbst erwartet hatte. Er dachte in Troja und Mykene eine Kultur zu finden, die der klassisch-griechischen nahestände, und derweil hat er gefunden die erste monumentale Mischung nordischen Wesens mit der altmittelländisch-pelasgischen Kultur, den ersten festen Beweis für die Indogermanisierung Griechenlands von unseren Ländern und nicht von Zentralasien her. Die Funde von Troja, Mykene und Tiryns haben uns eine ganz neue ungeahnte Welt erschlossen, die noch lange nicht ausstudiert ist. Das alles verdanken wir dem merkwürdigen Manne, der im Alltagsleben so unscheinbar auftrat und doch innerlich immer in Bewegung war. Er war genau im Kleinen und weitsichtig und weitherzig im Großen. Des zum Beweise pflegt Dörpfeld gern zu erzählen: "Morgens um sechs Uhr stand er am Eingang des Ausgrabungsplatzes und kürzte jedem Arbeiter den Tagelohn, der eine Viertelstunde zu spät kam, und am Nachmittag schlug er mir vor, rasch mit ihm nach London zu fahren, wo man in einer wissenschaftlichen Sitzung unsere Troja-Ergebnisse angreifen wollte."

Er war ein tapferer Mann, der mit seinem reichen Pfrunde Gott wohlgefällig gewuchert hat. Über seinem ganzen Leben steht der Hesiodvers:

     
      (Vor die Tugend setzen den Schweiß die unsterblichen Götter.)

Schliemann ist gestorben am zweiten Weihnachtstage 1890, kurz vor seinem neunundsechzigsten Geburtstage. Er war von seiner Troja-Grabung weg zu einer Ohrenoperation nach Halle gefahren, war von da zu früh weitergereist und ist in Neapel auf der Straße tot umgefallen. Freund Dörpfeld hat die Leiche nach Athen heimgeholt, und auf dem alten heiligen Kolonos-Hügel ist Schliemann mit den höchsten Ehren bestattet worden.




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