[Bd. 4 S. 61]
Diese grundlegenden Sätze stehen im Vorwort der Erstauflage von Alfred Brehms Hauptarbeit, seines Tierlebens, das immer wieder die "Tierbibel der Deutschen" genannt wird. Wenn man bedenkt, daß bis heute keine andere Nation der Erde ein ähnliches, ebenso umfassendes, volkstümliches Werk hervorgebracht hat, so kann man wohl sagen, daß "dieses Tierleben für die ganze Welt eine Offenbarung bedeutet". Es ist in alle lebenden Sprachen übersetzt und hat eine neue Einstellung zum Tier in den breitesten Volksschichten hervorgerufen, hat die Tierliebe unvergleichlich vertieft. Die "befreiende und beschenkende Tat des genialen Tiermalers in Worten" (nach Ludwig Heck) soll zunächst klar umrissen werden, ehe wir uns mit Alfred Brehms äußerem und innerem Lebenslauf beschäftigen; denn in seltener Übereinstimmung stehen hier für uns Nachgeborene Leben und Werk. Ganz richtig schreibt Arthur Berger zur Hundertjahrfeier 1929: "Alfred Brehm hatte den Mut, mit dem alten Grundsatz zu brechen, daß der Mensch der Herr, das Tier der Sklave sei. Mit seiner ganzen Begeisterung trat er für den Tier- und Jagdschutz ein, er, der Meister der Büchse. Von weiten Kreisen des Volkes wurden seine Gedanken aufgenommen. Man erkannte, daß es unrecht sei, Singvögel [62] zu schießen, um sie zu essen. Man lernte die Tiere beobachten, ihr Leben und Treiben zu belauschen. Brehms Lehren fanden Zugang zu den Schulen; die Kinder wurden verwarnt, Vogelnester zu zerstören und Tiere zu quälen. Was uns heute schon ganz selbstverständlich ist, das danken wir den Anregungen von Alfred Brehm."
Aber worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Alfred Brehms Tierkunde und den Werken aller früheren Forscher auf diesem Gebiet? Was ist das Neue an seiner Gestaltung? Wodurch werden mittelbar oder unmittelbar auch alle zeitlich auf Brehm folgenden Naturschriftsteller von ihm beeinflußt? Um selbst den Nichtfachmann, den für Tiere und Natur ganz uninteressierten Menschen (gibt es wohl solche überhaupt?) aufzuklären, sei zunächst in die Vergangenheit zurückgegriffen und folgendes aus dem Dunkel einer Bibliothek in die vergleichende Helligkeit gehoben: Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus, erschienen 1657 zu Nürnberg, in Wort und Bild wohl das erste Konversations-Lexikon. Dort steht im XXIX. Kapitel: "Die wilden Thiere haben scharffe Klauen und Zähne und sind fleischfrässig. Als der Löw, der König der Vierfüssigen, bemähnet, samt der Löwinn." Aus. Hundert Jahre später weiß man schon etwas mehr; der wissensdurstige Mann aus dem Volk, begierig, möglichst viel über die fremdländischen Tiere zu erfahren, griff nach dem Systematischen Lehrbuch über die drei Reiche der Natur zum Gebrauch für Lehrer und Hofmeister bei dem Unterricht der Jugend, das 1777 ebenfalls in Nürnberg erschien. Der erste Band, der das Tierreich enthält, sagt über den Löwen: "Das Äußere des Löwen entspricht vollkommen seinen großen inneren Eigenschaften. Die Stärke zeiget sich von außen durch die erstaunlichen Sätze und Sprünge, die der Löwe ohne alle Mühe verrichtet, durch die plötzliche Schwingung seines Schwanzes, der stark genug ist, einen Menschen zu Boden zu schlagen, durch die Leichtigkeit, mit der er die Haut seines Gesichtes und besonders die vor der Stirne zusammenziehet, welches viel beiträgt, um seine Wut auszudrücken, und endlich durch die Kraft, die er besitzet, seine Mähne zu schütteln, [63] die sich, wenn er zornig ist, nicht allein sträubet, sondern auch beweget und bald hier, bald dorthin flieget." Es folgt dann eine bis in Kleinigkeiten gehende Beschreibung des Körpers und auch ein Bericht darüber, daß der Löwe edel, dankbar und leicht zu zähmen sei, daß er "sanftere Sitten annehme und seinem Herrn gehorsamte und der Hand schmeichelte, die ihm Nahrung reichte, daß er zuweilen denen das Leben schenkte, die man zum Tode bestimmt hatte." Jener Verfasser hat sehr wahrscheinlich irgendwann einen lebendigen Löwen gesehen; persönliche Beobachtungen sind hier verarbeitet, zusammen mit geschichtlicher Quellenforschung (römische Gladiatorenkämpfe usw.); auch mancherlei blumige Phantastereien kommen vor. Das neunzehnte Jahrhundert ist sachlicher. Johannes Leunis (1802 bis 1873, also Zeitgenosse von Alfred Brehm), seinerzeit berühmter Professor der Naturwissenschaften und Verfasser einer Synopsis der drei Naturreiche, schreibt in seiner weitverbreiteten Schul-Naturgeschichte folgenden "Steckbrief" über den König der Tiere: "Felis Leo L., gemeiner Löwe. Einfarbig braungelb; Schwanz mit Endquaste; sechs bis acht Fuß; Männchen mit Mähne. Asien, Afrika; früher auch in Griechenland. Springt dreißig Fuß weit, greift besonders fliehende Menschen und Tiere an; bereitet seinen Sprung erst dadurch vor, daß er sich niederlegt. Früher zu Kampfspielen der Römer benützt." Diesen manches Wesentliche entbehrenden Abschnitt (wo ist das Brüllen?) haben seinerzeit gewiß die bedauernswerten Schüler auswendig lernen und bei Prüfungen mechanisch herunterleiern müssen. Und nun lese man in einer eindrucksstarken Stunde die achtundzwanzig eng bedruckten, großen Seiten des Tierlebens von 1876 ff. (zweite, von Brehm selbst erweiterte Auflage), wo der Meister in erschöpfender Weise, populär und anschaulich, dabei ohne märchenhafte Phantasie, den Löwen beschreibt, seine Spielarten und seine Umwelt, den Körperbau, das Historische, die Entwicklung, den Charakter und die Fortpflanzung. Anschließend an jene biologischen Ausführungen kommen dann viele von Brehm selbst erlebte Tatsachen: Jagderlebnisse, Beobachtungen in der freien Wildbahn, Berichte von Eingeborenen, schließlich Brehms Erfahrungen mit seiner zahmen Löwin – alles in sprachlich mustergültiger Form. Darin liegt eben das Unvergleichliche von Brehms Schöpfung, daß wir seine Berichte über Säugetiere, Vögel, Reptilien, Lurche und Fische wie spannende Abenteuergeschichten lesen, daß hier eine tatsächliche Belehrung in denkbar angenehmer, ja unterhaltender Weise jedem, auch dem ungebildeten Leser, dargereicht wird.
Wenn wir uns nun mit dem Lebenslauf von Alfred Brehm eingehend beschäftigen wollen, müssen wir zunächst des Vaters gedenken, der am 24. Januar 1787 im Pfarrhaus zu Schönau (im Herzogtum Gotha) geboren wurde, Theologie [64] studierte und nach einer kurzen Hauslehrerzeit im Jahre 1812 die Pfarrei von Renthendorf bei Neustadt an der Orla bezog. Fünfzig Jahre wirkte er in diesem Ort als wahrhaftiger und von der Bevölkerung geliebter Seelsorger – ein zur Gänze ausgefülltes Menschendasein, so könnte man meinen. Der "alte Brehm" aber hatte zeit seines Lebens neben der Seelsorge noch eine große Liebhaberei; er besaß schon als Gymnasiast eine Sammlung von zweihundertdreißig selbst ausgestopften Vögeln, und die Ornithologie blieb bis an sein Ende des Pfarrers große Leidenschaft. 1858 verlieh ihm die Universität Jena den Doktortitel; O. Kleinschmidt berichtet, daß das Verzeichnis der Fachschriften Christian Ludwig Brehms hundertundzweiundvierzig Nummern aufweise, darunter "umfangreiche Werke, die auch heute keineswegs veraltet, noch nicht einmal wissenschaftlich voll ausgeschöpft sind". Vielleicht noch wertvoller und persönlicher ist die Bälge-Sammlung des Pfarrers Brehm: mehr als neuntausend fast ausschließlich europäische Vögel, aufgebaut nach dem Gesichtspunkt, jeweils ein und dieselbe Vogelart möglichst in allen ihren Abweichungen (nach Alter, Geschlecht und Wohngegend) systematisch zu vereinigen. Leider gelang es nicht, diese Sammlung Deutschland zu erhalten. Sie kam zunächst in das Rothschildsche Zoologische Museum nach England und befindet sich jetzt in New York. Man kann wohl sagen: würde das Schicksal dem Sohne Alfred Brehm die Wahl des Elternhauses freigestellt haben, er hätte gewiß nichts anderes begehrt als eben die Pfarrei in Renthendorf, wo er am 2. Februar 1829 zur Welt kam. In jeder Hinsicht war ihm sein Vater das leuchtende Vorbild: als Mensch, Schriftsteller, Naturfreund, Jäger und Tierliebhaber. Kommt noch hinzu, daß seine Mutter, des Pfarrers zweite Gattin, mit ihrer fröhlich-lebhaften Wesensart alle Kinder in Liebe und trefflicher Herzensbildung erzog. "Es stand ein glücklicher Stern über Alfreds Jugend", so schreibt Carl W. Neumann, dessen sehr gute Brehm-Biographie noch wiederholt zitiert werden muß, "Brehms Vater war nicht nur wohlbestallter Pfarrer, sondern im Dienste einer Wissenschaft tätig, die er in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten selbst erst ins Leben gerufen hatte, der Wissenschaft der Vogelkunde. Im Pfarrhaus konnte man ihr nicht dienen. Die Singvögel, die den Garten bewohnten, die Rauchschwalben, die ihre grauen Nester im fliegendurchschwärmten Kuhstall bauten, oder die schnarchende Schleiereule unter dem offenen Scheunengiebel waren gewiß der Beobachtung wert, reichten jedoch für den Wissensdurst des forschenden geistlichen Herren nicht aus. Die Flinte über der Schulter, durchstreifte er eifrig den ganzen Neustädter Kreis." Hier wuchs der künftige Forscher auf, von der Mutter schon früh mit den klassischen Werken der großen Dichter bekannt gemacht, zum Hohen und Schönen hingeleitet, vom Vater gemeinsam mit seinen Brüdern in die Geheimnisse der Natur, der Tiere und Pflanzen eingeweiht. Ein Knirps noch, zog er schon mit hinaus in die urwüchsig dichten Wälder der Heimat, das Tal der Roda hinauf [65] und hinab, über Felder und Wiesen, halbtagelang, auf Weisung des Vaters allzeit bedacht, das Späherauge auf seltene Vögel oder versteckte Nester zu richten. Brehm selbst hat erzählt, wie während des Marsches der Unterricht weiterging: "Hörst du den Vogel dort pfeifen, Alfred? Wie heißt er, wie sieht der Tonkünstler aus? Ein Mönch ist es, richtig, mit schwarzer Kopfplatte. Und woran erkennt man das Weibchen des Mönchs? An seinem rotbraunen Schnabel, jawohl. Hörst du? Jetzt lockt er: Tack, tack, tack. Von welcher anderen Grasmückenart vernahmen wir gestern den gleichen Lockton? Vom Müllerchen – ja, von der Klappergrasmücke. Ganz ebenso lockt auch die Nachtigall. Schau, Alfred, dort auf dem Birkenzweige – ein Zaunkönig mit einem Schnabel voll Futter. Wie machen wir's, um sein Nest zu finden? Wo baut er es, und wie sieht es aus?" Durchaus begreiflich, daß die Söhne strahlenden Auges und offenen Mundes die Wunder anstaunten, die ihnen der kundige Vater wies. Dabei muß man bedenken, daß zu Beginn des neunzehnten Jahhrunderts die mitteldeutschen Wälder noch keine sorgsam gerodeten Kulturforsten waren, sondern ein in seiner Ursprünglichkeit kaum angetastetes, großes Naturparadies, in dem die "Lebensgemeinschaft von Pflanze und Tier" sich durchaus das Gleichgewicht hielt. Wohl dem Menschenkind, das in dieser Landschaft schon während der frühesten Jugend zum Schauen erzogen wurde! Der Knabe Alfred wuchs auch rasch zum brauchbaren Helfer heran; an seinem achten Geburtstag bekam er vom Vater die erste eigene Flinte, war würdig befunden worden, am Ausbau der Vogelsammlung tätig mitzuwirken: die Berufung seines Daseins hatte schon Gestalt angenommen, die Erforschung der belebten Welt. Aber diese Berufung wurde zunächst nicht – der bürgerliche Beruf. So grotesk es klingt, der Sohn des Pfarrer-Ornithologen ging gleich nach Beendigung der Schulzeit ins Baufach, wollte Architekt werden und hat vier Jahre lang in Altenburg "Baumeister" gelernt. Das Studium der Vogelwelt faßte er bewußt nur als Liebhaberei auf. Hier erhebt sich wieder einmal die alte Streitfrage: Gibt es einen Zufall, oder entscheidet in den großen Augenblicken des Lebens – die göttliche Vorsehung? Im Jahre 1847 erschien der württembergische Baron Johann Wilhelm von Müller auf der Bildfläche, der sich durch eine Jagd- und Forschungsreise in Afrika bereits einen Namen in der Naturwissenschaft erworben hatte. In Kürze wollte er zum zweitenmal nach dem dunklen Erdteil und holte sich beim "alten Brehm" ornithologischen Rat. Dabei kam zur Sprache, daß der Baron beabsichtige, diesmal einen jungen Begleiter mitzunehmen, der im fachgemäßen Schießen, Sammeln und Präparieren, besonders von Vögeln, geübt sei. Wir wissen nicht viel über die entscheidenden Verhandlungen; jedenfalls segelte J. W. von Müller am 6. Juli 1847 aus dem Hafen von Triest, und sein Gehilfe war der achtzehnjährige Architekturbeflissene Alfred Brehm. [66] Höchstens anderthalb Jahre sollte die Sammlungs- und Jagdreise dauern; doch erst am 16. Juli 1852 kehrte der in vielerlei Not und Gefahr zum Mann gereifte Jüngling ins Vaterhaus zurück. Man müßte über diese fünf Tropenjahre ein ganzes Buch schreiben, wenn uns nicht Alfred Brehm selbst die Geschichte seiner ersten großen Reise gedruckt hinterlassen hätte. Es mag dem Chronisten der vorliegenden kurzen Brehm-Biographie gestattet sein, bei diesem 1855 zu Jena erschienenen dreibändigen Werke Reiseskizzen aus Afrika ein wenig länger zu verweilen. Während das Tierleben wenigstens in Bruchstücken wohl jedermann bekannt ist, trat dieses Erstlingswerk von Alfred Brehm stark in den Hintergrund. Ganz zu Unrecht; in der von Carl W. Neumann besorgten und für unseren Geschmack zusammengezogenen Ausgabe liest es sich auch heute noch wie ein spannender Roman und ist in vieler Hinsicht erstaunlich aufschlußreich für Alfred Brehm. Der ganze Meister des Tierlebens kommt hier schon zur Geltung; gleichzeitig auch der trefflich klare Schriftsteller. Wenn man bedenkt, wie neu und unerforscht im Jahre 1847 für uns Europäer der dunkle Erdteil war (Livingstones, Emin-Paschas und Stanleys Reisen waren zu dieser Zeit noch nicht geschehen), welche Überfülle von Eindrücken auf den bis dahin aus Thüringen nicht herausgekommenen, achtzehnjährigen Jüngling einstürmte, so will es uns fast unbegreiflich scheinen, was Alfred Brehm alles beobachtet und festgehalten hat, nicht nur an Tier- und Naturerscheinungen, sondern an menschlichen Sitten, Gebräuchen und Übelständen, an baulichen Schönheiten, an historischen Zusammenhängen. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß der junge Brehm vom Beginn der Reise an unter den gesundheitsschädlichen Einflüssen des Klimas schwer zu leiden hatte, außerdem seelische Nöte und Enttäuschungen in Menge erlebte. Stecken wir nun die einzelnen Stationen dieser Reise ab: Ankunft in Alexandrien, kurz darauf – infolge von Unerfahrenheit – noch vor der Landung ein heftiger Sonnenstich, der viele Wochen Brehms Dasein belastete. Ende September 1847 reiste man nilaufwärts durch Nubien, hinein in den Sudan. Hundert Tage, zunächst auf dem ortsüblichen Segelboot, dann zu Kamel. Wenn Windmangel die gemächliche Fahrt noch mehr verlangsamte, wanderten die Forschungsreisenden am Ufer nebenher, beobachteten die sehr zahlreiche, bunte Vogelwelt und legten den Grundstock zu ihrer großen Sammlung. Alfred Brehm gibt in seinem Afrikabuch eine vortreffliche, knappe Schilderung der altägyptischen Baudenkmäler, der Pyramiden und Königsgräber; der Architekt in ihm zieht Vergleiche mit dem griechischen Baustil, und schon damals kommt auch sein Humor zur Geltung. Wie kann er sich an dem Allerweltswort "Malesch" erfreuen, an diesem Ausruf des stromkundigen alten Schiffsführers, womit jener mohammedanische Reis das Unmögliche möglich, das Unerträgliche erträglich machte, den Zorn beschwichtigte, die Angst vertrieb und noch vieles andere auch! Brehms Schönheitssinn ist sehr empfänglich für die gut [67] gewachsenen Frauen und Mädchen des Landes; aber seine Nase wendet sich mit Entsetzen von ihren "Wohlgerüchen" ab. Nichts entgeht seinem Blick; die Schwimmkünste der Nubier begeistern ihn ebenso wie die Naturgewalt der Stromschnellen und Katarakte, die gefahrdrohend mit zerbrechlichen Schiffen zu überwinden sind. In der Wüste lernt Brehm nun auch das dort wichtigste Tier kennen, das Kamel, und zwar sowohl den Lastenträger mit allen seinen Vorzügen und Störrigkeiten als das edle Hedjin, das vollendete Reit-Dromedar. Ohne diese beiden Geschöpfe hätte kein Mensch je die Wüste durchqueren können, wenigstens nicht vor der Zeit der Automobile und Flugzeuge. Groß und stark erlebt Alfred Brehm die Wüste, den unbeschreiblichen Zauber ihrer Sternennächte, ihre Endlosigkeit und die Todesgefahren des Durstes, der Sandstürme. Geradezu genial in seiner Eindringlichkeit schildert Brehm einen solchen glutheißen Sandsturm. Schwere Erkrankung durch einen Schluck fauligen Wassers brachte schon in diesem ersten Teil der Reise dem Jüngling heftige Beschwerden; er war froh, als die Karawane 1848 die Hauptstadt des Sudan erreichte: Khartum, die Residenz von Soliman-Pascha, der die Reisenden höchst liebenswürdig aufnahm. In Khartum wurde Standquartier errichtet und sofort eine Menagerie lebender Tiere angelegt; Alfred Brehm zähmte junge Hyänen, die ihn später ganz gesittet selbst im zweiten Stockwerk des Hauses besuchten; er pflegte Gazellen, Affen, Strauße und einen drolligen Marabu. Aber er notierte sich auch gewissenhaft die rätselvolle Geschichte des Sudans, beobachtete die verschiedenen Völkerstämme der Eingeborenen und erfuhr tagtäglich durch eigenen Anblick und mit Grauen die Tragik der Sklavenhalterei. Von Khartum aus wurden häufig Jagdzüge nach allen Richtungen hin unternommen, besonders in die Wälder des Blauen und Weißen Nils. So ergiebig die Ausbeute in zoologischer Hinsicht war, so jammervoll hatte Brehm, der meist allein mit zwei nubischen Dienern pirschte, unter den Fieberanfällen zu leiden, die dieses ungesunde Klima allen Europäern aufbürdet. An seinem zwanzigsten Geburtstag lag Alfred Brehm ohne Arznei und ärztliche Hilfe allein in seinem Zelt am Blauen Nil. Kaum ging es ihm ein wenig besser, stürzte er sich unter Aufbietung seiner Energie von neuem in die Arbeit, jagte und präparierte, mußte aber dann doch Anfang Februar nach Khartum zurück. Hier kam es zum ersten unerfreulichen Zwischenfall mit Baron von Müller, weil dieser die mitgebrachte Beute für ungenügend hielt. "Mich empörte die Undankbarkeit", notiert das Reisetagebuch Brehms, "ich hatte selbst fieberschwach noch gearbeitet. Zum erstenmal fühlte ich damals, daß die Bemühungen eines Naturforschers selten gebührend anerkannt werden. Hätte nicht gerade die Wissenschaft ihre unwiderstehlichen Reize, wäre sie es nicht, die ihre Jünger durch den reichen Genuß belohnt, ihr, der Hohen, dienen zu können, ich hätte von jener Stunde an keine Beobachtung mehr gemacht, kein Tier mehr gesammelt. Damit würde ich mir selbst das Tor meines Glückes verschlossen haben. Denn mehr und [68] mehr lerne ich verstehen: meine beschwerlichen Reisen, meine trüben Erfahrungen haben mir überreichen Lohn gebracht." Es kam auch bald zur Versöhnung zwischen den beiden Forschern; Ende Februar zogen sie mit einem Engländer, dem Major Petherik, den Weißen Nil aufwärts, gen Kordofan. Nun sah Brehm wirkliche Urwälder, sah ungezählte Papageien, Affen, Krokodile und erlebte den nächtlichen Angriff von Löwen auf das Vieh der Dorfbewohner. Dabei erduldete er einen Fieberanfall nach dem anderen, nützte jedoch mit unerschütterlicher Energie jeden einigermaßen guten Tag zur Arbeit aus. Was gab es hier alles zu beobachten, zu jagen, zu sammeln! Oft kam man beim besten Willen mit dem Präparieren nicht mehr nach. Leider hatten sich die Reisenden die ungünstigste Jahreszeit für Kordofan gewählt, die Hochsommertrockenheit. Nach vier Monaten kehrten sie fluchtartig und völlig erschöpft nach Khartum zurück. Brehm war so krank, daß er auf dieser Rückreise seine Begleiter bat, ihn am Wege liegen und sterben zu lassen. Er schreibt darüber: "Ich bekam leider wieder einen Fieberanfall und litt auf dem Kamele mehr als je. Die Hitze wurde gegen Mittag fürchterlich. Mit ihr nahm das Fieber in solcher Stärke zu, daß ich – um den Qualen unter der glühenden Sonne zu entgehen und auf Augenblicke der Kühlung zu genießen – bei jedem Baume abstieg... Diesen (meinen qualvollen) Zustand zu beschreiben, erscheint mir unmöglich. Der Ärmste der Armen Europas findet unter ähnlichen Umständen wenigstens ein kühlendes Plätzchen, einen Ort, wo er sich hinlegen kann. Ich war der Hitze der afrikanischen Tropensonne ausgesetzt, während das fieberglühende Blut mir alle Adern sprengen zu wollen schien... Für einen solchen Zustand, für die Qualen eines Fieberanfalls auf dem Kamel während der Mittagshitze in einer von der scheitelrecht stehenden Sonne durchglühten Einöde des inneren Afrika gibt es keine Worte." Baron Müller beschloß, mit Sack und Pack (einschließlich der zahmen Hyänen) das gesündere Ägypten aufzusuchen, die ganze Reise sollte auf dem Wasserweg zurückgelegt werden. Auch hier boten sich vielerlei Arbeitsmöglichkeiten; die Stromschnellen brachten Aufregung und Gefahr. Kairo, die von Brehm über alles geliebte Märchenstadt, schenkte nun Wochen der Ruhe und Erholung; gekräftigt traten die Reisenden Ende des Jahres eine neue Fahrt nach dem Mensaleh-See an, wo alljährlich ungeheure Scharen von Zugvögeln einfallen. Brehm schwelgte in herrlichen Erlebnissen, und die Sammlung wuchs gewaltig. Mitte Februar 1849 fuhr Baron Müller mit der seitherigen Ausbeute nach Europa, von dem gutmütig versöhnlichen Alfred Brehm als verehrter Freund verabschiedet. Der Zurückbleibende sollte eine zweite, viel längere Forschungsreise nach Innerafrika vorbereiten. Er unternahm zunächst kleinere Jagdzüge zu Wasser und auf Kamelrücken und empfing schließlich in Kairo den lang ersehnten Geleitbrief des Vizekönigs, der für jedes weitere Vordringen unentbehrlich war. In der Zeit des Wartens vervollkommnete Alfred Brehm durch den täglichen Umgang [69] mit der Bevölkerung seine Sprachkenntnisse so, daß er – fast könnte man sagen – bodenständig wurde, orientalische Kleidung anlegte und sich statt "Brehm" – "Chalihl-Efendi" nannte. Baron Müller verfügte aus der Heimat, daß die neue Reise bis nach Uganda führen solle; Erforschung der Nilquellen, Vorstoß zur Westküste. Brehm bekam den Auftrag, einen Kostenvoranschlag auszuarbeiten; er errechnete nach genauester Überlegung die Summe von fünftausendsechshundert preußischen Talern, schickte den Bericht ab und wartete monatelang vergebens auf Antwort. Mitte August kam freudigste Nachricht: Brehms Bruder Oskar war unterwegs, wollte die neue Afrikareise mitmachen. Aber leider blieben die Geld- und Materialsendungen des Barons weit hinter dem Notwendigen zurück; endlose, unerfreuliche Schreiberei und immer wieder – warten! So wurde die Wiedersehensfreude mit dem Bruder getrübt, bis dann der Baron wieder etwas Geld schickte und sein Ehrenwort gab, am 1. Juli selber in Khartum einzutreffen. Nun entschloß sich Alfred Brehm, die Expedition auf den Marsch zu setzen. Schwere Verantwortung für ihn; denn seiner Führung folgten der Bruder, ein Köthener Freund, Doktor Vierthaler, der türkische Kawaß Ali, ein deutscher und mehrere nubische Diener. Die Fahrt begann glückverheißend; kurze Zeit, dann wurde ihr Verlauf tragisch: Oskar Brehm ertrank im Nil, und tief erschüttert begrub ihn Alfred unter Anteilnahme der Bevölkerung in der Wüste. Die Durchquerung der Bajuda-Wüste, schon das erstemal sehr beschwerlich, wurde zur gräßlichen Pein; die Kameltreiber verbrannten sich trotz der Sandalen die Fußsohlen am glühendheißen Sand; nach vier Wochen war man – am Ende der Kräfte – in Khartum. Dort empfing Brehm von Baron Müller statt des vielversprochenen Geldes nur beleidigende Briefe, so daß er die Beziehungen seinerseits löste und sich nur bereit erklärte, die für Ende Juli zugesagte Ankunft Müllers abzuwarten. Leider kam nicht einmal die zur Rückreise erforderliche Summe; das nackte Leben stand auf dem Spiel; Brehm mußte sich von türkischen Bekannten Geld borgen, um mit seinen Kameraden nicht völlig tatenlos herumzuliegen. Trotz heftigen Fiebers sammelte er weiter, bis im November die Kräfte einfach nicht mehr ausreichten. Beinahe wäre er Wucherern in die Hände gefallen, wenn ihm nicht der neue Generalgouverneur des Sudans, Latif-Pascha, in großzügigster Weise geholfen hätte. Nun konnte er fünfzehn Wochen durch die Urwälder bis fast nach Abessinien reisen und empfing dadurch – wie er noch im Alter immer wieder sagte – die schönsten Natureindrücke seines Lebens. Er sah u. a. eine Elefantenherde zur Tränke ziehen, traf (einmal unter Lebensgefahr) mit Flußpferden zusammen. Nach Beendigung der Fahrt erhielt er die Nachricht vom Bankrott des großsprecherischen Barons von Müller, der nach wie vor in Europa geblieben war. Nur die Arbeit, der Verkehr mit dem deutschen Kaufmann Bauerhorst aus Petersburg und der Umgang mit den Tieren, vor allem mit seiner zahmen Löwin, retteten Alfred Brehm vor völliger Verzweiflung. Er mußte Kleider, Waffen, [70] Bücher, selbst seine Taschenuhr für die Lebensnotwendigkeiten verkaufen; aber wenn ihm der Gouverneur nicht ein zweites Mal geholfen hätte, wäre er trotzdem nicht von Khartum nach Kairo zurückgekommen. Den folgenden Winter blieb er zur Kräftigung seiner Gesundheit in dieser seiner Lieblingsstadt, machte noch mit Dr. von Heuglin und Bauerhorst eine Studienreise nach dem Roten Meer und dem Sinai, verpackte dann die toten und lebendigen Tiere, nahm schweren Herzens Abschied von Afrika und erreichte nach fünfjähriger Abwesenheit am 16. Juli 1852 das Elternhaus.
Diese wechselvolle und alle Kräfte erfordernde Reise durch Urwald und Steppe hat den dreiundzwanzigjährigen Alfred Brehm begreiflicherweise nicht mehr zum Baumeisterberuf zurückkehren lassen; jetzt mußte er – man kann wohl sagen: – naturgesetzmäßig – Zoologie studieren. Er tat es von 1853 bis 1856 in Jena und Wien, trat bei den Jenenser "Saxonen" ein, und obwohl er auf seiner Bude "allerlei wilde Tiere" hielt, genoß er wie jeder junge "Fuchs" die studentische Fröhlichkeit. Aber er war schon in dieser Zeit auch literarisch tätig, schrieb in ornithologischen Zeitschriften, wurde 1853 Mitbegründer der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft, und als 1855 die Reiseskizzen aus Nordostafrika erschienen, war er Doktor der Philosophie und Mitglied der Kaiserlich Leopoldinisch-Karolinischen Akademie und anderer gelehrter Gesellschaften. Wieder lockte die Ferne; 1856 unternahm er mit seinem in Madrid lebenden Bruder Reinhold und dem Baron von der Gabelentz eine abenteuerliche Forschungsreise durch Spanien und brachte dem Vater wertvolle Beiträge für die Vogelsammlung heim. Nach Leipzig zurückgekehrt, fand Alfred Brehm zwei für seine weitere Entwicklung entscheidende Menschen, den Schriftsteller E. A. Roßmäßler, in dessen Zeitschrift Aus der Heimat mancher Naturbericht von ihm erschien und mit dem er später gemeinsam Die Tiere des Waldes herausgab; vor allem aber Ernst Keil, den Leiter der damals volkstümlichsten deutschen Wochenschrift Die Gartenlaube. Mit treffsicherem Blick erkannte Ernst Keil die große Begabung des jungen Forschers, ließ ihn unentwegt an hervorragender Stelle in der Gartenlaube zu Wort kommen und machte dadurch Brehms Namen überall bekannt. Keil ermöglichte auch finanziell Brehms Nordlandreise, so daß die in Afrika und Deutschland gemachten Vogelstudien in Norwegen, Lappland und am Nordkap weitergeführt werden konnten und 1861 ein neues Brehmbuch Leben der Vögel erschien. Allmählich suchte nun der Weltwanderer einen festen Standort, wurde Lehrer der Geographie und Naturwissenschaft in Leipzig, vermählte sich mit Mathilde Reiz zum glücklichsten Ehebund. Dr. Ernst Krause schreibt in seiner trefflichen Brehm-Biographie: "Die zierliche, behende Frau wurde der gute Genius von Brehms Leben." 1862 begleitete sie den Gatten auf einer wissenschaftlichen Reise [71] nach den Bogosländern in Abessinien, die der Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha ausrüstete. Obwohl die Fahrt nicht von langer Dauer war und Brehm zuletzt wieder unter Fieber litt, bot sie seinen empfänglichen Forscheraugen Stoff genug zu einem neuen Buch. Jetzt war der Meister reif geworden zur Großtat seines Lebens. Der Verleger Herrmann J. Meyer, Inhaber des damals noch in Hildburghausen beheimateten Bibliographischen Instituts, regte Alfred Brehm an, seine Tieraufsätze zu sammeln, zu ergänzen und in Buchform als eine große neue "Tierkunde" herauszugeben. Sofort erfaßte Brehm die Bedeutung des Vorschlages. Seine Einstellung kennen wir aus den Sätzen, die den vorliegenden biographischen Umriß eröffnen; noch im Jahre 1863 kamen die ersten Lieferungen heraus, und 1869 war das Tierleben, erste Auflage in sechs Bänden, vollständig erschienen. Vier der großen Bände hat Brehm selbst geschrieben; die Ausführungen über Insekten, Spinnen und wirbellose Tiere übernahmen Fachgelehrte. Wir wollen über das Tierleben anläßlich der dreizehn Jahre später vorliegenden zweiten Auflage im einzelnen sprechen; gerade jetzt drängen die Ereignisse weiter, denn schon 1863, während des Erscheinens des ersten Bandes der Erstauflage, erhielt Alfred Brehm das Angebot, die Direktion des Hamburger Zoologischen Gartens zu übernehmen. Was hätte den Tierleben-Forscher mehr reizen können als die praktische Tiergärtnerei! Brehm griff mit beiden Händen zu; es wurde ihm versprochen, daß er den Garten völlig umgestalten könne, und tatsächlich hat der ehemalige Architekt auch auf diesem Gebiet Mustergültiges geleistet. Aber der Schwung seiner genialen Pläne wurde durch die Abhängigkeit von einer vielköpfigen Zoologischen Gesellschaft gehemmt, durchkreuzt und vernichtet. Brehms fachlich begründetes Selbstbewußtsein ertrug nicht die Fesselung; gegen Ende 1866 verließ er Hamburg.
Aber es kam auch hier zu Schwierigkeiten; Reibereien verwaltungstechnischer Art machten Brehm müde und krank; nach achtjähriger erfolgreichster Führung [72] schied er Anfang 1874 vom Berliner Aquarium; eine Gehirnentzündung gefährdete sein Leben... Brehm suchte und fand Kräftigung im Riesengebirge; wiederhergestellt, verzichtete er nun für alle Zukunft auf feste Berufsbindungen, wirkte ausschließlich als freier Schriftsteller und Naturforscher, hielt während der Wintermonate begeistert aufgenommene Vorträge in allen großen Städten. Zwei neue Werke erschienen: der zweite Band der Gefangenen Vögel – der erste war 1872 veröffentlicht worden –, ein Hand- und Lehrbuch für Liebhaber und Pfleger einheimischer und fremdländischer Käfigvögel, das durch sein gründliches Wissen der Stubenvögelzucht und ‑liebhaberei gewaltigen Auftrieb gab, und die Neubearbeitung von Roßmäßlers Süßwasser-Aquarium. Zugleich begann Brehm die Herausgabe der zweiten Auflage seines Tierlebens, dessen erster Band 1876 vorlag und das gegenüber der sechsbändigen Erstauflage beinahe verdoppelt wurde.
Kronprinz Rudolf von Österreich, selbst ein eifriger Jäger und Vogelfreund, ermöglichte Brehm zwei weitere Reisen, besonders zum Studium der Adlerformen, 1878 nach Ungarn, 1879 nach Spanien. Aber zwischen diesen beiden Expeditionen lag jener Unglücksfall, der Brehms Lebenskraft endgültig erschütterte und ihn auch die nun vielseitig zuströmenden äußeren Ehrungen kaum beachten ließ: bei der Geburt des fünften Kindes starb Brehms Gattin. (Bereits 1864 hatte er seinen Vater verloren.) Was nützte aller Erfolg, da die "Sonne seines Lebens" untergegangen war! Der Tierforscher Alfred Brehm zog sich nach Renthendorf zurück und – züchtete Rosen, arbeitete in aller Stille weiter an der Neuauflage seines Tierlebens. Während der Wintermonate unternahm er lange Vortragsreisen, um für seine Söhne und Töchter etwas Vermögen anzusammeln. Aus diesem Grunde sagte er für Ende 1883 auch eine Tournee durch Nordamerika zu, und obwohl kurz vor Antritt der Fahrt sämtliche fünf Kinder an Diphtheritis erkrankten, zwang ihn der unerbittliche Kontrakt zur Abreise. Die seelischen Qualen der Sehnsucht und Angst, die körperlichen Strapazen zerstörten Brehms Energie und Gesundheit. Sein jüngster Sohn, das Vermächtnis der toten Gattin, starb, noch ehe Brehm den amerikanischen [73] Hafen erreicht hatte. In dumpfer Pflichterfüllung hielt der Forscher seine fünfzig ausbedungenen Vorträge, kam greisenhaft müde ins Vaterland zurück und starb – noch nicht sechsundfünfzig Jahre alt – am 11. November 1884.
Als Abschluß seien nun die beiden von Brehm persönlich veröffentlichten Ausgaben seines Tierlebens beleuchtet. Gewiß hatte die erste Auflage Schlacken und Mängel; Brehm selbst erkannte dies völlig klar. In der zweiten Auflage jedoch sehen auch wir Heutigen noch immer das Fundament einer neuen Tiereinstellung, das große Hausbuch der volkstümlichen Tierkunde, das inzwischen durch die Fachgelehrten Zur Straßen, Ludwig Heck und andere in der vierten Auflage (dreizehn Bände 1911 ff.) auf den heutigen Stand der Wissenschaft ergänzt worden ist. Die Meinungen sind geteilt, ob dieser von manchen Gefühlsbekenntnissen "gereinigte Brehm" restlos seines Schöpfers Wesen entspricht. Neben dieser Originalausgabe gibt es, seit Brehm urheberrechtlich "frei" geworden ist, noch eine Reihe anderer Bearbeitungen; es sei besonders auf die wohlfeile Jubiläumsausgabe von Carl W. Neumann verwiesen, in der als großer Vorzug die Zusatzstellen des Bearbeiters deutlich vom Originaltext abgetrennt sind. Die Zeit ist noch gar nicht lange entschwunden, da besonders gescheite Menschen behaupteten, daß Brehms Werk eine vermenschlichende, unwahre und sentimentale Auffassung der Tiere vermittle; denn was wir zum Beispiel als Mutterliebe beim Tier bewundern, sei keineswegs ein seelisches Gefühl, sondern nur der unpersönliche Trieb zur Arterhaltung. Die Wissenschaft habe das Rüstzeug der modernen Gehirnforschung, habe die Auswertung der Instinkte; damit allein könne man das Tier ergründen. Doch was heißt – Instinkt? Instinkt ist ein Wort, das die "Herren der Schöpfung" gern anwenden, um die Unvollkommenheit menschlichen Wissens zu verschleiern. Es stimmt, daß Brehm zuweilen gefühlsmäßig überschwenglich war; manche seiner Ansichten können heute als überholt bezeichnet werden. Grenzen gibt es zwischen Tier und Mensch; man schadet dem Tier nur, wenn man es in unsere Sphäre ziehen will, Wesenszüge in die Kreatur hineingeheimnißt, die sie nicht besitzt und nicht zu besitzen braucht. Aber Brehms Tierleben wird auch noch für viele kommende Geschlechter das deutsche Volksbuch bleiben, das unvergleichlich zum Bewußtsein bringt, wie reich nach innen und außen der Tierkreis ist, wie "eins sich in das andere fügt" und wie armselig eine Welt sein würde, auf der die Tiere ausgerottet sind...
Der Mensch von heute ist verwöhnt durch die Vervollkommnung der Technik; er kann überall vortreffliche fotografische und filmische Naturdokumente von Tieren sehen, und es wird deshalb zu leicht unterschätzt, welches Verdienst Alfred [74] Brehm auch um die bildliche Darstellung der Tiere sich erwarb. Er hat in die zweite Ausgabe seines Tierlebens mehr als tausendfünfhundert Text-Illustrationen aufgenommen, meist ebenso künstlerische wie naturgeschichtlich richtige Holzschnitte. Außerdem sind darin fast zweihundert ganzseitige Tafeln enthalten. Die besten jener Zeichnungen wurden auch in die neueste Auflage übernommen und bestehen durchaus neben den fotografischen Gegenwartsberichten.
Sieht man beispielsweise die Tafel mit den Stellungen verschiedener Menschenaffen an, die Gustav Mützel vor sechzig Jahren in Holz geschnitten hat, so wird einem die dokumentarische Richtigkeit auch des kleinsten Fingergliedes klar. Dabei muß man sich vor Augen halten, wie unecht, ausgestopft und ohne Zusammenhang mit der Natur die meisten Darstellungen exotischer Tiere in jener Zeit gewesen sind. Welch unerhörte Suggestionskraft mag durch Brehm die Zeichner seines Tierlebens beflügelt haben! Eine ganze Generation bildender Künstler wuchs so heran, von Kretschmer, Specht, Hartig, Heubach, Kerschensteiner zu Wilhelm Kuhnert. In Brehms Persönlichkeit vereinigte sich aufs glücklichste eine Fülle trefflicher Eigenschaften: er war zugleich Führer und Erzieher, Naturforscher und Gelehrter, Baumeister und Tierfreund, Beherrscher der deutschen Sprache und ein beschwingter Dichter. Aus diesen Quellen kam sein Werk, das den Tieren Gerechtigkeit verschaffte, sie aus der Sphäre der Reflexmaschinen hob und zu fühlenden Lebewesen machte, zu Geschöpfen mit Empfindungen für Freude und Schmerz, die infolgedessen der Menschen Schutz verdienen und ihre Liebe.
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