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[Bd. 5 S. 312]
Carl Schurz, 1829-1906, von Walter Manggold

Carl Schurz.
Carl Schurz.
Foto von M.B. Brady, 1877.
[Nach Library of Congress.]
Am 17. November 1850, es war ein frostiger Herbsttag, schleppte ein kleiner Dampfer den Segelschoner "Anna" aus dem Hafen von Warnemünde aufs offene Meer hinaus. Nachdem der Schlepper die Trossen abgeworfen hatte, nahm die "Anna", von einer leichten Brise über die nicht sehr bewegte See getragen, Kurs auf England.

An Deck des Seglers standen zwei Männer und sahen dem Dampfer nach, auf dem, mit Pistolen Abschiedssalut feuernd, ihre Freunde zurückfuhren, zurück in die Heimat, deren Küste im heraufdämmernden Abend verschwand. Den beiden Männern auf der "Anna" aber schien die Heimat für immer verschlossen. Sie waren Flüchtlinge. Gottfried Kinkel, der Bonner Universitätsprofessor für Kunstgeschichte, und Carl Schurz, der Bonner Burschenschaftler, wegen ihrer Teilnahme an den Kämpfen der Revolution von 1848/49 von preußischen Kriegsgerichten verfolgt und verurteilt, verließen Deutschland als politische Verbrecher und Ausgestoßene unter falschem Namen.

Wenn sie beide trotz der Bitterkeit dieser Stunde die zuversichtliche Hoffnung hatten, durch einen neuen, siegreichen Volksaufstand zurückgerufen zu werden, so war doch im Augenblick alles zu Ende, was sie erträumt und gewollt, wofür sie gekämpft hatten. Gescheiterte Existenzen und vernichtete Aussichten, das waren die vorläufigen Ergebnisse ihres bisherigen Lebens.

Aber in der Erscheinung und im Leben von Carl Schurz offenbart sich wieder einmal der tiefere Sinn eines Schicksals, das sich, scheinbar durch Zufälle bestimmt, nach einem Gesetz erfüllt, unter dem der Mensch, ohne es zu kennen, sein Leben vollendet. Als sich der junge Carl Schurz 1847 an der Universität Bonn eintragen ließ, um Geschichte zu studieren, erschien es ihm als höchstes Ziel, selbst einmal Geschichte zu lehren, ihre Hintergründe und ihre Zusammenhänge zu deuten. Als er, etwas mehr als zehn Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland, zum erstenmal wieder deutschen Boden betritt, nicht um dem Ruf und den Fahnen einer neuen Revolution zu folgen, sondern als Gesandter der Vereinigten Staaten von Nordamerika in Spanien, da ist er selbst schon fast eine geschichtliche Persönlichkeit. Im Verlauf seines in der Geschichte der Vereinigten Staaten so bedeutsamen Wirkens zeigt sich immer mehr, daß er eine ausgesprochen politisch-aktivistische Natur ist, ein Mensch, dem die Beteiligung an der Bewegung von 1848 nicht eine romantische Schwärmerei, sondern eine persönlichkeitsbedingte [313] Notwendigkeit war. Der Lehrstuhl, den er sich einmal gewünscht hatte, hätte ihm nie die Möglichkeit zu solcher Auswirkung gegeben, wie sie ihm das größere Forum der Politik eröffnet hat. Aus der ursprünglichen Laufbahn herausgerissen, treibt es ihn in die Kämpfe der Politik. Aber nicht aus egoistischen Interessen, nicht um persönlichen Vorteil zu erlangen, betritt er diese Bahn, sondern, wie in Deutschland, so folgt er auch in Amerika nur seiner politischen Überzeugung: "Was ich vor allen Dingen erstrebe, ist die Förderung bestimmter Ziele im Interesse des Gemeinwohls. Und deshalb muß ich versuchen, mir als Privatmann einen gewissen Einfluß auf die öffentliche Meinung und die Hochachtung von Männern zu gewinnen, deren Respekt es sich zu besitzen lohnt. Das kann ich vor allem dadurch erreichen, daß ich den Leuten sage, was ich nach innerster Überzeugung für wahr halte und wofür ich auch den Beweis der Wahrheit antreten kann."

Man mag es vielleicht bedauern, daß auch hier, wie in so manchem anderen Fall, dem deutschen Volk ein Mann verlorenging, der seine ganze Kraft dem Aufbau eines fremden Staatswesens zur Verfügung stellte. Man mag es bedauern und wird, wenn man nach der tieferen Bedeutung des Wirkens von Carl Schurz fragt, doch erkennen, daß selbst die amerikanische Laufbahn dieses Politikers und Staatsmanns in einem höheren Sinn auch Arbeit am Deutschtum war, das Schurz nie verleugnet hat, zu dem er sich, wo immer er Gelegenheit hatte, voll Stolz bekannte. Alle Angriffe auf die deutsche Nation und das deutsche Volk hat er stets mit geradezu zorniger Leidenschaft zurückgewiesen. So mischt sich in das Gefühl des Bedauerns für uns ebenso ein berechtigter Stolz auf die sittliche Kraft unseres Volkstums, die mit Carl Schurz auch der amerikanischen Politik und Staatsführung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wesentlichen Antrieb gegeben hat. Denn das ist – von Deutschland aus gesehen – wohl das Wesentlichste der Erscheinung des Amerikaners Schurz, daß er seine Ideale, für die er in Deutschland gekämpft und geblutet hat, auch in seinem neuen Vaterland mit der gleichen leidenschaftlich besessenen Überzeugungstreue vertreten, sie während seiner ganzen öffentlichen Tätigkeit ein halbes Jahrhundert lang auch zur Geltung gebracht hat.

Als Schurz in die amerikanische Politik eintrat, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, herrschten, bedingt durch die politisch-staatliche Entwicklung der nordamerikanischen Union und durch das manchmal noch heftig und fast gärend aufbrausende Temperament eines jungen, noch nicht in der Tradition erstarrten Staatswesens, eigenartige und eigenwillige Anschauungen von politischer Führung und politischen Gebräuchen. Es galten staatsrechtliche Begriffe, deren unbekümmert naive Anwendung nur zu begreifen ist aus der Entstehung der nordamerikanischen Staaten, die, aus Urwald und Steppe förmlich herausgehauen, in ihren Anfangszeiten nur das Recht des Besitzes und seine Verteidigung kannten.

[314] Schurz hat gegen solche Mängel im amerikanischen Partei- und Staatswesen, solange er in der Öffentlichkeit stand, mit Erfolg angekämpft. Er hat dabei begreiflicherweise viele Gegner und Anfeindungen erlebt. Aber mit unerschrockenem Mut, den er immer bewiesen hat, mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit und Beharrung bei einmal als richtig erkannten Anschauungen hat er sich für Änderung und Besserung vieler öffentlicher Einrichtungen eingesetzt. Und gerade in diesem Kampf hat er immer wieder, und am meisten dann, wenn er deshalb angegriffen wurde, seine deutsche Abstammung betont. So sehr er ein treuer Bürger seines neuen Vaterlandes wurde, so sehr ist er immer Deutscher geblieben. Und es ist für das deutsche Volk das schönste Zeichen seiner Wirksamkeit, daß er, dank seiner Fähigkeiten und Begabung, nicht nur zur höchstmöglichen Würde und zum höchsterreichbaren Amt aufstieg, die ein im Ausland Geborener erreichen konnte, zum Mitglied des Senats und zum Minister, sondern daß gerade seine typisch deutschen Charaktereigenschaften, die ihn nie dazu verführten, politischen Einfluß und staatliche Stellung zum eigenen Vorteil auszunutzen, seine nie zu doktrinärer Enge erstarrende Grundsatztreue vom amerikanischen Volk anerkannt und gefeiert wurden.

Verfolgt man die Laufbahn von Carl Schurz, so erstaunt schon in rein zeitlichem Ausmaß die Summe von bedeutenden Ereignissen, mit denen der Name Carl Schurz in zwei Nationen aufs engste verbunden ist. Sucht man aber hinter der äußeren Erscheinung einer großen glanzvollen Laufbahn nach den Triebkräften, die dieses Leben bestimmen, so wächst die Größe der Persönlichkeit über das Maß einer außerordentlichen politisch-staatsmännischen Begabung und wird zur vorbildlichen Leistung eines reinen Charakters, dem Treue und Recht die unverrückbaren Eckpfeiler seines politischen Weltbildes waren.

Carl Schurz ist am 2. März 1829 in Liblar geboren, in einem kleinen Dorf, linksrheinisch, ein paar Wegstunden von Köln gelegen. Sein Vater, der 1815 auf preußischer Seite den Feldzug gegen Napoleon mitgemacht hatte, ohne allerdings noch ins Gefecht zu kommen, besuchte nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst das Lehrerseminar zu Brühl und war dann Anfang der zwanziger Jahre als Dorfschulmeister nach Liblar gekommen. Dort heiratete er Marianne Jüssen, die Tochter eines landwirtschaftlichen Pächters, des Burghalfen Jüssen. Halfen hießen ursprünglich die Pächter, die mit ihren Gutsherren den Ernteertrag teilten. Die Burg, nach der der Großvater von Carl Schurz seinen Titel hatte, war das Schloß der Grafen von Wolf-Metternich.

In ländlich-bäuerlicher Umgebung wächst so der erstgeborene Sohn des Dorfschulmeisters von Liblar auf. Und die Ereignisse bäuerlichen Lebens sind es, die als erste Eindrücke in seiner Erinnerung haften: Feste, bei denen der bärenstarke Großvater Jüssen immer eine Hauptrolle spielt, Abende in der Spinnstube, die unter der Leitung der Großmutter stehen, Belustigungen des "Volks" – so wird das Gesinde genannt – in dem großen, von Kerzen erhellten Gesinderaum, der [315] "Volkshalle". "Mit besonderem Behagen" gedenkt Schurz in seinen Lebenserinnerungen "des großen Kuhstalles, welcher wie eine Kirche gebaut war, mit einem hohen, spitzbogig gewölbten Mittelschiff und zwei niedrigeren Seitenschiffen, in denen die Kühe standen". So waren Leben und Umgebung der Jugendzeit eine Idylle. Und sicher hat Carl Schurz seine Lebenskraft bis in sein hohes Alter immer wieder aus diesem bäuerlichen Ursprung erneuert.

Der Vater, der bald nach der Geburt seines ältesten Sohnes den schlechtbezahlten Lehrerberuf aufgegeben hatte, um eine Eisenwarenhandlung zu eröffnen, ließ sich die Erziehung seiner Kinder sehr angelegen sein. "Wie so manche, die einen Wissens- und Bildungsdrang in sich fühlen, dem nur geringe Befriedigung geworden ist, so hegte er den Wunsch, daß seinen Kindern durch eine gute Erziehung dasjenige werden solle, was ihm selbst das Schicksal versagt hatte." Er erzählt seinen Kindern viel von "Dichtern, Geschichtsschreibern und Männern der Wissenschaft, die seine Helden waren". Schon früh gab er dem jungen Carl deutsche Klassiker, Klopstocks "Messias", selbst Voltaire und Rousseau in deutscher Übersetzung zu lesen.

Die dörfliche Idylle hörte auf, als Schurz mit zehn Jahren nach Köln aufs Gymnasium geschickt wurde. Auch diese Zeit verlief zunächst geruhsam und ohne besondere Ereignisse, bis der Vater ein Jahr vor dem Abiturientenexamen Carls durch eine verfehlte Getreidespekulation einen finanziellen Zusammenbruch erlitt. Der Sohn verließ die Schule, um die Geschäfte des Vaters, der ins Schuldgefängnis kam, in Ordnung zu bringen. Dank seiner trotz der frühen Jugend erstaunlichen Umsicht gelang es ihm, den Vater aus der Haft zu befreien und die Verhältnisse der Familie wieder zu regeln. Ein Jahr später holt er als "Auswärtiger" das Examen nach und bezieht 1847 die Universität Bonn. Ernsthaft betreibt er seine Studien, die vor allem der Geschichte gewidmet sind, und erweitert und vertieft im Kreis der Bonner Burschenschaft Frankonia seine geistigen Interessen.

Da bricht in den Frieden des studentischen Daseins, in alle Hoffnungen und Zukunftspläne ein Gewitter, das dem Studium ein frühes Ende setzt und sein Leben mit fast brutaler Gewalt in neue Bahnen führt.

In Paris war im Februar 1848 die Revolution ausgebrochen. Stark ist ihre Wirkung auch in Deutschland. In der Studentenschaft, vor allem in den Burschenschaften mit ihrer politisch-freiheitlichen Tradition, ist die Erregung groß. Es scheint, daß alle Ideale, die seit dem Wartburgfest von 1817 unbeirrt verfochten und überliefert wurden, die Ideale einer neuen Freiheit, der großdeutschen Einheit in einem durch Verfassung begründeten Rechtsstaat jetzt in Erfüllung gehen sollten. Bei Schurz zündete der Funke, der von jenseits der Grenzen nach Deutschland herübersprang, und entfachte in ihm ein Feuer, das bis zu seinem Lebensende nicht mehr erlosch. Die neue Bewegung macht Schurz, ohne daß es ihm selbst schon zum Bewußtsein kommt, zum politischen Menschen. Die Politik wird ihm zur Leidenschaft. Sie beherrscht ihn so sehr, daß all sein Denken und Handeln [316] von nun an wesentlich durch sie bestimmt wird und er mit der ganzen Heftigkeit seines Temperaments sich den politischen Problemen hingibt.

In seinen Erinnerungen, die er über fünfzig Jahre später schrieb, ist noch der Nachhall der Erregung zu spüren, in die ihn das Ereignis der Revolution versetzt hatte, und die nicht nur durch die äußere Bewegtheit der Begebenheiten verursacht war. Auch wenn man in Betracht zieht, daß in der Rückschau auf Ereignisse, die sich Jahrzehnte vorher abgespielt haben, vieles im Urteil sich ruhiger darstellt als im Augenblick des Geschehens, so ist doch aus der Art der Schilderung, in der Schurz über den Ausbruch der Revolution berichtet, zu spüren, wie sehr der Druck der Vorgänge auf ihm lastete, wie stark die Erschütterungen gewesen sein mußten, die durch die neue Volksbewegung ausgelöst wurden:

"Man war von einem vagen Gefühl beherrscht, als habe ein großer Ausbruch elementarer Kräfte begonnen, als sei ein Erdbeben im Gange, von dem man soeben den ersten Stoß gespürt habe... Ich erinnere mich, von dem, was vorging, so gänzlich erfüllt gewesen zu sein, daß ich meine Gedanken kaum etwas anderem zuwenden konnte."

Carl Schurz wird in den Strudel der revolutionären Ereignisse gerissen. Er beteiligt sich an allen Kundgebungen der Studentenschaft, fällt durch seine starke Rednerbegabung auf, gründet mit Kinkel zusammen den Demokratischen Klub und als dessen Organ die Bonner Zeitung, deren Schriftleitung er mit Kinkel gemeinsam übernimmt. So verläuft das Jahr 1848 mit Versammlungen, Reden, Organisationsarbeiten in der Studentenschaft und journalistischer Arbeit. Der Schwung der ersten Wochen und Monate schien schon zu erlahmen, als im Frühjahr 1849 die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. und die allgemeine Erregung darüber die revolutionäre Welle wieder von neuem hochtrugen. Der bewaffnete Aufstand in Süddeutschland bricht aus. Schurz geht, nach einem mißglückten militärischen Unternehmen auf das Zeughaus zu Siegburg, zur pfälzischen Revolutionsarmee, mit der er, zum Leutnant befördert, nach Baden zieht, erhält bei Bruchsal die Feuertaufe und wird mit dem Rest der Armee in der Festung Rastatt eingeschlossen. Bei der Kapitulation weiß er sich der kriegsgerichtlichen Verurteilung durch eine abenteuerliche Flucht in einen unterirdischen Abzugskanal zu entziehen und entkommt in die Schweiz.

Dort verlebt er den Rest des Jahres 1849, mit militärischen, strategischen und taktischen Studien beschäftigt, in der Hoffnung, sie bei einem neuen Aufstand verwerten zu können. Auch der Gedanke einer Professur für Geschichte an einer Schweizer Hochschule taucht auf und wird ernsthaft verfolgt. Da greift das Schicksal wieder ein. Frau Kinkel schreibt ihm von der Verurteilung ihres Mannes zu lebenslänglichem Zuchthaus und läßt zwischen den Zeilen durchblicken, daß sie von Schurz die Befreiung ihres Mannes erhoffe. In Schurz reift der Entschluß, die Tat zu wagen. Nach langen Vorbereitungen wurde das Werk im November 1850 ausgeführt. Mit Hilfe eines Zuchthauswärters, den man durch [317] eine große Summe zur Mithilfe gewonnen hatte, wurde Kinkel in einer stürmischen Nacht aus der Zelle des Zuchthauses in Spandau geholt und vom Dach mit einem Seil heruntergelassen. Die Schilderung dieser Befreiung und der Flucht liest sich in den Erinnerungen von Carl Schurz wie ein spannender Abenteurerroman. Im Wagen eines Freundes flohen Kinkel und Schurz in der Nacht noch nach Mecklenburg, von wo aus vierzehn Tage später die Fahrt mit dem Schoner "Anna" nach England erfolgt. Damit ist seine politische Rolle in Deutschland ausgespielt.

Einer der bemerkenswertesten Wesenszüge von Carl Schurz war sein Blick für die Realitäten des Lebens. Bei allem Idealismus, den er sich, trotz aller Enttäuschungen, bis an sein Lebensende bewahrt hat, bei aller leidenschaftlichen Hingabe an die Verbesserungen der politischen und sozialen Verhältnisse, hat er doch nie den festen Boden gesunder und nüchterner Anschauung verlassen; er verlor sich nicht in das Wolkenkuckucksheim politischer Träumereien, sondern sah die Wirklichkeit und die Gegebenheiten der jeweiligen Situation. Wie er schon in den Tagen der Revolution in Deutschland sich das Urteil nicht trüben ließ und die Mängel der Aufstandsbewegung und der Organisation erkannte, er, der Zivilist, sogar die strategischen und taktischen Fehler des pfälzisch-badischen Feldzuges kritisch beobachtete, so ließ er sich auch durch die Phantastereien der Emigranten in London und Paris nicht verwirren und behielt seinen kühlen Verstand. "Mich der illusorischen Hoffnung einer baldigen Rückkehr ins Vaterland noch weiter hinzugeben, wäre kindisch gewesen. Weiter zu konspirieren und dadurch noch mehr Unheil auf andere zu bringen, schien mir ein frevelhaftes Spiel. Das Flüchtlingsleben hatte ich als öde und entnervend erkannt."

Carl Schurz war ein Mann der politischen Tat, nicht der politischen Phrase. Wie er ohne Zögern in den Kämpfen der Revolution sich nicht mit der Rolle des erfolgreichen Versammlungsredners und Journalisten begnügte, sondern mit seinem Leben für seine Überzeugung einstand, wie er mit selbstlos sich aufopferndem Mut seine Treue zu seinem Freund Kinkel durch die Befreiungstat bewies, so genügte es ihm nicht, in Emigrantenkonventikeln nur leeres politisches Stroh zu dreschen und revolutionäres Garn zu spinnen. Er fühlte den "ungestümen Drang", sich nicht nur "eine geregelte Lebenstätigkeit zu schaffen, sondern für das Wohl der Menschheit etwas Wirkliches, wahrhaft Wertvolles zu leisten".

Die Heimat war ihm verschlossen, in Frankreich hatte der Staatsstreich Louis Napoleons alle Hoffnung auf Verwirklichung der achtundvierziger Ideale vernichtet, in England dachte kein Mensch an eine staatspolitische Änderung. Da taucht der Gedanke an Amerika auf. "Die Ideale, von denen ich geträumt und für die ich gekämpft, finde ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mithelfen können." Im Herbst 1852 kommt Schurz, der wenig Wochen vorher eine Hamburgerin geheiratet hatte, mit seiner jungen Frau nach Amerika.

[318] Kaum ist er einigermaßen mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen des neuen Landes vertraut, sucht und findet er Gelegenheit, Einfluß auf seine Umgebung zu gewinnen. Sein lebendiger Geist, seine Begeisterung für die Ideale von Freiheit und Recht lassen es ihn nicht ertragen, untätig nur das Leben eines unpolitischen Bürgers zu führen; auch die bald errungene Stellung eines Anwalts und Notars genügen seinem Ehrgeiz nicht. Hochfliegende Pläne beschäftigen ihn unablässig, und er sieht nicht nur Möglichkeiten einer politischen Laufbahn, sondern er fühlt schon jetzt die Verantwortung, eine besondere Aufgabe zu erfüllen: "Wir müssen uns an die amerikanischen Politiker machen, ihnen eine gesunde Vorstellung von europäischen Zuständen beibringen und ihren Blick auf Deutschland lenken."

Zunächst will er die Deutschen in Amerika zusammenfassen, sie zu einer mächtigen Organisation verbinden, die den amerikanischen Politikern eine klare Vorstellung davon geben soll, wie notwendig es sei, "die künftigen Interessen Amerikas und Deutschlands enge miteinander zu verknüpfen... Wie verschieden die beiden Länder auch in ihrem Wesen sind, so wird die Gemeinschaft ihrer Gegner sie bald zu einer korrespondierenden äußeren Politik führen. Der amerikanische Einfluß in Europa wird sich auf Deutschland basieren, und Deutschlands Stellung in der Welt wird sich wesentlich auf den Succeß Amerikas stützen müssen." Aus diesem Grunde sucht Schurz mit Mitgliedern des Kongresses und anderen politischen Persönlichkeiten Fühlung zu bekommen, um damit die deutschamerikanischen Beziehungen enger zu gestalten. So zeigt sich in seinem ersten Wirken in Amerika, wie stark er noch an seiner alten Heimat hängt und daß seine politische Tätigkeit im neuen Vaterland auch dem alten nützen soll.

Die Entwicklung seiner persönlichen Verhältnisse, sein Auftreten in der Öffentlichkeit, und die Leidenschaft, mit der er sich allmählich auch in inneramerikanische Verhältnisse mischt, bewirken aber, daß er immer stärker zum Amerikaner wird. Bald erregt er durch Wahlreden ein Aufsehen, das weit über die Grenzen seines engeren Distrikts hinausgeht. Dabei kommt es ihm immer nur auf die allgemeine Sache des Rechts und der Freiheit an, nie auf die Geltung, die er für sich und seinen Namen erringt. Immer mehr steigt sein Ansehen, besonders, nachdem er sich im Wahlkampf für Präsident Lincoln als dessen begeisterter Vorkämpfer eingesetzt hat, und im Einsatz für Lincoln zugleich auch für die Prinzipien der Gerechtigkeit gegen die südlichen Sezessionsstaaten und ihre brutalen Sklavereimethoden.

Es ist nicht nur seine außerordentliche Beredsamkeit, es ist nicht nur sein aggressives und kampflustiges Temperament, die ihn immer weiter in die vorderste politische Front bringen. In diesem jungen Land, in dem er vielen Politikern gegenüber eine Überlegenheit des Wissens und des Geistes hat, geht sein Weg erstaunlich rasch in die Höhe, weil er in diesen Kämpfen sich selbst und seinen Idealen treu bleibt, in dem festen Glauben und durch immer wieder bewiesene [319] Tat, dem "alten Vaterland keine höhere Ehre zu erweisen als dadurch, dem neuen Land ein gewissenhafter und treuer Bürger zu werden". Als seine oberste Pflicht hat er erkannt, nie für sich etwas zu wollen, um für die größere Sache des Rechts mit Erfolg eintreten zu können. Immer ist er sich der moralischen Verantwortung bewußt, die er als öffentlicher Redner hat, und er macht es sich zur Regel, niemals in seinen Reden etwas zu sagen, für das er nicht "mit ganzem Gewissen einstehen konnte."

Dieses Verantwortungsgefühl und diese Gewissenhaftigkeit ziehen sich wie Leitmotive durch die öffentliche Tätigkeit von Carl Schurz. Alle Ideale seiner Jugend und alles, was er als Recht erkannt hat, will er auch zu den besten Grundsätzen des Staatslebens in Amerika machen. Und als ihm ein Gegner einmal den Vorwurf macht, daß für ihn nicht der alte englische Wahlspruch gelte: "Right or wrong, my country!" erwidert Schurz, daß für ihn wohl auch dieser Spruch Geltung habe, aber mit dem Zusatz: "if right, to be kept right; if wrong, to be set right." (Recht oder Unrecht – es gilt mein Vaterland! "Recht" – dann, um es zu erhalten; "Unrecht" – dann, um Recht zu schaffen.)

Es ist kein Zufall, daß Abraham Lincoln, der unnachgiebige Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, und Carl Schurz, der leidenschaftliche Streiter für Ehrlichkeit und Sauberkeit des politischen Lebens, sich zu so enger Zusammenarbeit fanden. Lincoln erkannte in diesem Deutschen, der durch den Zwang der Verhältnisse ein Amerikaner geworden war, einen Menschen, der nicht nur einen klaren Blick für die politischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten hatte, er spürte die sittliche Kraft dieses Mannes, die aus demselben Ursprung wie bei ihm selber wuchs.

In seiner Jugend wollte Carl Schurz Professor werden und lehren, wie die Geschichte zu verstehen ist. Und als Mann wurde er, wenn auch nicht auf dem Katheder, Lehrer in einem höheren Sinn. Er deutet zwar nicht aus der Überheblichkeit des Besserwissenwollens mit drohend erhobenem Zeigefinger auf Fehler und nicht gelernte Lektionen. Gelehrt aber hat er durch sein Vorbild und die Kraft seiner sittlichen Grundsätze und ist so doch ein Erzieher geworden.

Damit hat er für sich und durch sein Beispiel schon vorgelebt, was heute zum selbstverständlichen Begriff des Politikers und Staatsmannes geworden ist: die volkserzieherische Tätigkeit als verantwortungsvollste Pflicht zu erkennen. Die Aufgabe, die der politische Erzieher Schurz stellte, war einmal die Erfüllung eines ethischen Prinzips in der Politik, das vor ihm in solchem Maße in Amerika ein Staatsmann von den Bürgern des Landes nie gefordert hat, und weiter die unbeirrbare Festigkeit in der Treue zu den Prinzipien. In dieser Forderung war und blieb Schurz bis zu seinem Tode sich selbst und den anderen gegenüber unerbittlich. Voll stolzem Selbstbewußtsein sagt Schurz nach zwanzigjähriger Tätigkeit im Staatsleben: "Ich habe niemals Verrat an meinen Prinzipien begangen oder an meinen Freunden oder an denjenigen, die mir zur Macht verholfen haben... [320] Er (ein politischer Gegner) soll mir in meiner Vergangenheit ein einziges Prinzip zeigen, das ich je verraten habe. Er soll mir und den politischen Programmpunkten, für die ich eingetreten bin, einen einzigen Widerspruch nachweisen. Es wird ihm nicht gelingen."

Stufe um Stufe geht die Entwicklung. Nach der Wahl Lincolns zum Präsidenten, als der drohende Schatten des Sezessionskrieges schon über Nordamerika lag, wurde Schurz als außerordentlicher Botschafter nach Madrid geschickt, um zu verhindern, daß die Sympathie Spaniens für die Südstaaten zur offenen Teilnahme wird. Seinem diplomatischen Geschick gelingt die Aufgabe, obwohl er zu der Vorstellung bei Hofe nicht im Diplomatenfrack, sondern, weil der Schneider ihn sitzen ließ, im einfachen Abendanzug vor der Königin erschien. Und ein anderes heiteres Zwischenspiel ereignete sich bei dieser diplomatischen Mission: Als Schurz in den Königspalast fuhr, stellte er fest, daß er sein Beglaubigungsschreiben verlegt hatte. Die Zeit drängte, und die Königin konnte er nicht warten lassen. Da nahm er schnell entschlossen eine Zeitung und packte sie "vorsichtig gefaltet in ein Kuvert von der offiziellen Größe, an die 'Donna Isabel, Königin von Spanien' adressiert". Dieses Kuvert hat er der Königin bei der Zeremonie überreicht. Das richtige Beglaubigungsschreiben wurde am nächsten Morgen dem Minister des Auswärtigen zugeschickt.

Carl Schurz als Generalmajor im Sezessionskrieg, 1863.
[321]      Carl Schurz
als Generalmajor
im Sezessionskrieg, 1863.

[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]
Nachdem er seine Mission in Madrid erfüllt hat, hält es ihn nicht mehr am Diplomatenschreibtisch. Er fährt nach Amerika zurück und setzt es durch, daß er in der Armee, die schon im Kampf mit den südlichen Rebellenstaaten steht, einen Posten erhält. Seine Erfahrungen im deutschen Revolutionsfeldzug von 1849, seine militärwissenschaftlichen und strategischen Studien in der Schweizer Flüchtlingszeit kommen ihm jetzt zugute. Bald steigt er zur höchsten militärischen Rangstufe der nordamerikanischen Armee auf: er wird Generalmajor und Korpskommandant. Und er beweist, wie in seinen deutschen Kämpfen, nicht nur soldatischen Mut und Unerschrockenheit, er führt seine Truppen mit sicherer Überlegenheit.

Der Krieg ist, für die Nordstaaten siegreich, zu Ende. Im Augenblick des Triumphs wird Abraham Lincoln ermordet. Aber so tief der Schmerz um diesen Verlust bei Carl Schurz ist, er versinkt nicht in apathische Trauer. Er folgt dem Ruf des neuen Präsidenten Johnson in verantwortungsvoller Pflichttreue und macht eine Inspektionsreise durch die besiegten Südstaaten. Sein Bericht, in dem er ohne Beschönigung Fehler und Mängel der neuen Verwaltung und der Befriedungsaktion aufdeckt, findet nicht den Beifall des Präsidenten und seiner Clique, die nach altbewährtem Brauch auch jetzt das "Beutesystem" ohne Hemmung zur Anwendung bringen wollten. So nannte man den Brauch im amerikanischen Staatsleben, daß jeder Regierungswechsel auch einen Beamtenwechsel mit sich brachte. Die siegende Partei verteilte die Ämter. Es war eine alltägliche Erscheinung, daß es Staatsmänner gab, deren Hauptgeschäft es war, "den Parteikleppern und persönlichen Anhängern Post- und sonstige Ämter, Konsulate [321] und Indianeragenturen zu verschaffen". Und es war ebenso keine außergewöhnliche Erscheinung, daß ein Beamter, der mit seinem Gehalt nicht auskommen konnte, sich noch mehr Geld "durch Benutzung seiner Stellung manchmal auf ehrliche, manchmal aber auch auf andere Weise verdiente". Dagegen nahm Schurz aufs schärfste Stellung.

So ist zwischen ihm und Johnson kein Verstehen. Schurz trennt sich von der offiziellen Politik und sucht seine Anschauungen auf anderem Wege dem amerikanischen Volk deutlich zu machen. Als Journalist an der Detroit-Post und an der Westlichen Post, als Redner in vielen Staaten Nordamerikas kämpft er gegen den Mißbrauch der Ämter, gegen Korruption in Partei und Staat. Er, der sich bei seiner Ankunft in Amerika vorgenommen hatte, "alles von der günstigsten Seite zu betrachten und sich von keiner Enttäuschung entmutigen zu lassen", steht nun den schlimmsten und unerfreulichsten Erscheinungen des öffentlichen Lebens gegenüber. Aber entmutigen läßt er sich nicht. Im Gegenteil. In diesem Kampf gegen alles Unredliche und Unsaubere, in diesem Ringen um die Wiederherstellung ehrlicher und gerechter Staatsführung ist er in seinem Element. Immer wieder greift er die Mißstände und seine Gegner an. Keine Drohung, keine Verleumdung schrecken ihn. Mit Schmerz aber erfüllt es Schurz, wenn er die Demagogen am Werk sieht, und die Angst, daß dem politischen Leben Gefahr droht, beunruhigt ihn, wenn er feststellen muß, daß "bei vielen Menschen der bloße Parteigeist... die Furcht vor der Parteityrannei jeden anderen Einfluß und jede andere Rücksicht bei ihrem Verhalten überwog". Und die Erfahrung, "daß der Despotismus der [322] Parteiorganisation eine der größten und tückischsten Gefahren ist, welche die Lebensfähigkeit freier Institutionen bedrohen", bestärkt ihn, noch energischer und noch schonungsloser dagegen anzugehen.

Die Zeit, bis wieder ein staatliches Amt seine Kraft beansprucht, ist ausgefüllt mit diesem Kampf.

Schurz, der in seiner alten Heimat das preußische Beamtentum, dessen selbstlose Pflichttreue, Ehrenhaftigkeit und Korrektheit erlebt hatte, sah sein Ziel darin, diese Begriffe eines wahren Beamtentums auch in Amerika zur Geltung zu bringen. So wird er der leidenschaftlichste Vorkämpfer für die Zivildienstreform, deren Bestreben es ist, die Beamten nicht mehr von dem Wahlergebnis, von dem Erfolg einer Partei abhängig zu machen. Es wurden Eignungsprüfungen verlangt, und nur deren Resultate sollten über die Anstellung entscheiden. Das war für Amerika etwas unerhört Neues. So neu war es, daß es sofort die Politiker der alten Schule auf den Plan brachte. Ihr Hauptangriff aber galt Schurz. Auf ihn vereinigten sich die konzentrischen Angriffe der Parteikrippenanhänger. Vor allem, nachdem Schurz durch die Wahl vom November 1868, die den General Grant in das Amt des Präsidenten brachte, Senator wurde und von da an von der Tribüne dieses Hauses aus seine Ansichten mit der ganzen Heftigkeit seines Temperaments vertrat. Jetzt griff er erbarmungslos jeden Gegner an, brandmarkte ohne Rücksicht auf Parteibindungen alle Schäden und Fehler der öffentlichen Einrichtungen, ließ nichts gelten, was nicht vor dem unbestechlichen Urteil der Vernunft bestehen konnte, und gab in nichts nach, wenn das Wohl des Staates auf dem Spiele stand. Höhnend erklärte er, daß "das Knallen mit der Parteipeitsche seine Macht verloren" habe, voller Verachtung charakterisierte er das Treiben der engstirnigen Politiker als "ödes Parteigeschwätz", das dem Volk "erbrechenerregend im Magen" liege. Immer wieder, und immer mit der gleichen unerbittlichen Schärfe sagte er den Kampf an "jener Klasse von Politikern, die immer bereit ist, jeden Mißbrauch zu vertuschen, jedes Unrecht zu verteidigen, wenn die Bloßlegung der Schäden, wäre sie dem Gemeinwohl auch noch so nützlich, der Regierung mißfallen oder der Partei nachteilig sein könnte".

Er schreckt auch nicht davor zurück, sich von der Partei, die ihn in den Senat gewählt hatte, zu trennen, als er sah, daß zwischen ihm und den Parteidoktrinären keine Zusammenarbeit in seinem Sinn mehr war. Mit Gesinnungsgenossen gründete er die "liberal-republikanische Partei."

Carl Schurz.
[320a]      Carl Schurz, ca. 1900

Wie er als Senator nicht von seinen Anschauungen ließ, so noch weniger, als er im Jahre 1877 vom Präsidenten Hayes als Minister des Innern berufen wurde und nun auch alle staatliche Vollzugsgewalt zur Verfügung hatte, um seine Reformen durchzuführen. Eine der ersten Handlungen in seinem Amtsbereich war die Einführung der Zivildienstreform, die Eignungsprüfung für Beamte.

Eine Reihe weiterer wichtiger Maßnahmen und Verordnungen hat der Innenminister Schurz erlassen, die sich teilweise noch heute segensreich für das amerika- [323] nische Volk auswirken. Unter anderem wurde vom "Department of the Interior" unter seiner Leitung auch der Erlaß zur planvolleren Forstwirtschaft herausgegeben, der der Verwüstung der staatlichen Wälder durch die hemmungslose Profitgier der Holzindustrie vorbeugen sollte. Allerdings gelang ihm dies nicht in dem Maße, wie er es gewollt hatte, und Amerika hat heute darunter zu leiden.

So führte er sein Amt zum Wohl seines Landes und im tiefsten Verantwortungsgefühl:

"Seit dem Tage, wo ich zuerst ein öffentliches Amt antrat, habe ich es mir zur unverbrüchlichen Regel gemacht, jedesmal das Amt, das ich gerade bekleidete, so anzusehen, als ob es das letzte wäre, das ich je innehaben würde, und als ob es deshalb für meinen Ruf als Mann, der im öffentlichen Leben steht, entscheidend wäre. Man kann nur dann seine Pflicht ganz erfüllen, wenn man sie um ihrer selbst willen tut."

Nie denkt er an persönlichen Vorteil, verzichtet auf jede persönliche Bereicherung. Als ihm Freunde nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst in einer Zeit, in der es ihm finanziell nicht gut ging, eine große Summe (hunderttausend Dollar) anbieten, lehnt er es ab. Er verdient sich sein Geld durch journalistische Tätigkeit und durch Vortragsreisen. Drei Jahre war er der Generalvertreter der Hapag in New York.

Carl Schurz war Deutscher und Amerikaner. Beide Staaten und Völker dürfen ihn mit Stolz und vollem Recht als zu den Besten ihrer bedeutenden Männer zählen, weil er selbst sich zu beiden bekannt hat. Als er nach der Bismarckschen Reichsgründung im August 1871 in Chikago zu den Deutschen Amerikas sprach, da gab er dem Gefühl Ausdruck, "welches der Deutsche lange nicht gekannt... das stolze, freudige Gefühl, das Kind einer großen Nation zu sein. Möge es in dem Herzen eines jeden Deutschen nicht das Strohfeuer eitler, knabenhafter Überhebung entzünden, sondern das ernste Bewußtsein unserer Pflicht, uns der großen Mutter würdig zu zeigen. Und nirgends ist diese Pflicht gebieterischer als hier, wo der Deutsche... die unbeschränkteste Gelegenheit hat, von seinem wahren Wert Zeugnis abzulegen. Und der deutsche Stolz soll uns hier zu dem Entschluß begeistern, zu den besten der amerikanischen Bürger zu zählen."

So steht Carl Schurz in der historischen Betrachtung vor uns als ein Mann, der seine beste Kraft, die in seinem Deutschtum wurzelte, einem anderen Volk zur Verfügung stellte. Es ist müßig zu fragen, was er für Deutschland hätte leisten können, wenn er, wie andere seiner Mitkämpfer von 1848/49, in sein deutsches Vaterland zurückgekehrt wäre. Die Versuchung, in der alten Heimat eine

Carl Schurz bei Graf Bismarck.
Carl Schurz beim Grafen Bismarck.
Holzschnitt, aus "Daheim" Nr. 36, Beilage, 1888.
[Bildarchiv Scriptorium.]
neue Laufbahn zu beginnen, ist, besonders nach einem Besuch bei Bismarck im Jahre 1868, verlockend an ihn herangetreten. Als er im Januar 1868 nach Berlin kam, erfuhr Bismarck von seiner Ankunft und lud ihn sofort zu sich ein. [324] Zwei Abende verbrachten die beiden so wesensverschiedenen Männer, die nicht nur räumlich jeder einer anderen Welt angehörten, in angeregtem, lebhaftem Gespräch. Bismarcks überlegene Art, Menschen zu behandeln, bewies auch hier wieder ihre Zauberkraft. Er wirkte auf Schurz als eine "gewaltige Persönlichkeit, die Verkörperung einer mehr als königlichen Macht".

Die Begegnung fand zwei Jahre vor dem für die Reichsgründung entscheidenden Kriege statt. Da mochte es für den Kanzler des Norddeutschen Bundes wichtig genug sein, von dem angesehenen Politiker Amerikas zu erfahren, wie man drüben zu der deutschen Frage stehe. Auf wessen Seite würden die amerikanischen Sympathien im Falle eines Krieges der deutschen Staaten mit dem Frankreich Louis Napoleons sein? Mit verblüffender Offenheit sprach Bismarck über seine Pläne, und Schurz antwortete mit großer Unbefangenheit.

Bei aller Bewunderung für Bismarck und seine geniale Staatsführung fühlte Schurz sich nicht einen Augenblick gedrängt, es manchen seiner Revolutionskameraden von 1848 gleichzutun und sich in Deutschland, unter Bismarcks Führung, politisch zu betätigen. Er berichtet selbst, wie Bismarck im Gespräch mit ihm "verschiedentlich seine Freude aussprach über die freundlichen Beziehungen, welche zwischen ihm und den deutschen Liberalen von 1848 bestanden. Er erwähnte viele meiner alten Freunde, Lothar Bucher, Kapp u. a. m., die nach Deutschland zurückgekehrt waren, die sich in den neuen Verhältnissen sehr wohl fühlten und denen die Wege zu hohen öffentlichen Stellungen und zu hervorragenden, einflußreichen Tätigkeiten offen standen. Er betonte dies und ähnliches mehrmals und so nachdrücklich, daß es mir fast wie eine Aufforderung klang, es ebenso zu machen."

Schurz aber wollte diese Anspielungen nicht verstehen. Er war schon zu sehr Amerikaner geworden, um sich in preußisch-deutsche Verhältnisse und ihre so ganz anders gearteten Bedingungen des öffentlichen Lebens zurückfinden zu können. Dazu kam das Gefühl der Dankbarkeit und der Verpflichtung dem nordamerikanischen Staat gegenüber. Vielleicht fühlte er auch instinktiv, daß neben Bismarck für ihn keine Aufgabe war, die ihn so hätte ausfüllen können wie sein Wirken in Amerika. Zwischen dem demokratischen Republikaner und dem Aristokraten gab es in diesem Falle keine Brücke. Er hätte sich bescheiden dem Willen eines Größeren fügen müssen. Und es schien ihm, der in Amerika die steile Bahn zum Erfolg so rasch emporgestiegen war, diese unmittelbare und weiter reichende Wirkungsmöglichkeit, wie sie ihm in den freieren Verhältnissen der Vereinigten Staaten geboten wurde, in Deutschland nicht gegeben. "Hier muß man mehr Geduld haben, als ich mir zutraue. Und dieser Mangel, fürchte ich, würde meine Wirksamkeit beeinträchtigen."

Carl Schurz.
Carl Schurz.
Federzeichnung von Fanny Enders.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 399.]
So war aus dem deutschen Revolutionär ein Bürger der amerikanischen Republik geworden. Ein Bürger, im besten Sinne des Wortes, ist Schurz zeit seines Lebens gewesen. Auch als er in jugendlicher Begeisterung zu den Waffen [325] griff, war der Revolutionär nie ein Umstürzler. Er kam aus der politischen Vorstellungswelt des liberalen Bürgertums. Schurz und seine Gesinnungsgenossen wollten nicht niederreißen und zersetzen, sie wollten aufbauen, ein neues, freieres Deutsches Reich errichten, als es das Metternichsche System zuließ. Bürgerlich war Schurz in all seinen Empfindungen, in seinem ganzen Denken. Er war gewiß auch befangen in manchen Dingen seiner Zeit und kam oft über die Bindungen, die ihm Zeit und Verhältnisse auferlegten, nicht hinaus. Er hielt zäh und beharrlich an Anschauungen fest, die er, der geistige Nachfahr der Lehren der Französischen Revolution von 1789 und Kämpfer von 1848, in seiner Jugend begeistert als die Grundlagen einer neuen Gesellschaftsordnung gefeiert hatte, selbst dann noch, als um ihn herum schon die Gloriole der Gleichheit, Brüderlichkeit und demokratischen Freiheit stark zu verblassen anfing.

Er war und blieb der liberale Bürger, der leidenschaftlich für das Recht kämpft. Hier war seine Größe und seine Grenze zugleich, die Grenze, die ihn von dem Genie trennte. Er wagte nie den großen Wurf, er sah alles nur vom Standpunkt der Vernunft und des durch sie bestimmten Rechts. Alles andere lehnte er ab.

Nie, nicht in der erregten Stimmung der Revolution, nicht in der noch mehr zu gewalttätigen Dingen drängenden Zeit der Verbannung in London und Paris hat er sich für extreme Pläne erwärmen können. Da er unerschütterlich an das Recht glaubte, vertraute er auf die Kraft der Idee, die einmal doch die Veränderung in seinem Sinne bringen müßte. Gewalt lehnte er ab, wo sie ihm begegnete. Und nichts war ihm verhaßter als jene "Fanatiker, wie revolutionäre Kampfe sie nicht selten hervorbringen". In ihnen sieht er Menschen, denen das "beständige Hinstarren auf einen Punkt jegliches Verständnis der sittlichen Weltordnung verwirkt hat, denen jeder gewöhnliche Begriff des Rechts abhanden gekommen ist."

Recht und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, Verantwortung und Treue, all diese Begriffe waren immer Leitsterne seines Tuns. Sein höchstes Ziel war es, eben jene sittliche Weltordnung zu erkämpfen. Und es ist eine der tragischen Verkettungen des Schicksals, daß dieser Mann, der seine Ideale in einem großen, freien Deutschen Reich erfüllt sehen wollte, die Verwirklichung dieser Ideale in einem fremden Land zu suchen gezwungen wurde. Versöhnend aber ist dabei, daß er eben als Deutscher in fremdem Land durch die Treue zu einer Überzeugung bei der amerikanischen Nation dem deutschen Namen doch unendlich viel Achtung und Geltung verschafft hat, mehr vielleicht, als er es in Deutschland selbst vermocht hätte. Und wenn im Gedenken an diesen Deutschen, der auch ein großer Amerikaner war, die beiden Nationen sich noch besser verstehen lernen, so hat das Wirken von Carl Schurz seinen höchsten Sinn erfüllt.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz