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[Bd. 3 S. 295]
Robert Schumann, 1810 - 1856, von Hans Teßmer

Robert Schumann.
[304a]      Robert Schumann.
Daguerrotypie, 1850.
Zwickau, Schumann-Museum.
Inmitten jener Epoche der deutschen Dichtung und Musik, die wir als das Zeitalter der Romantik bezeichnen, kam Robert Schumann am 8. Juni 1810 in der sächsischen Industriestadt Zwickau zur Welt.

Romantik, das hieß: innerste idealistische Abkehr von allem Materialismus, allem Rationalismus. Romantik, das war: glaubensmächtiger Kampf für alles Gut eines verinnerlichten, eines tief geistigen und seelischen Lebens. Die Dichter und Musiker jener Epoche rangen freilich selbst noch vielseitig um eine gültige, endgültige Deutung dessen, was sie als Romantik empfanden und ansahen. So erklärte etwa Ludwig Tieck das Wesen der Romantik fast schlagwortartig, indem er sagte, daß er "zwischen romantisch und poetisch keinen Unterschied" sehe. Alle Romantiker bekennen übereinstimmend, daß "das Romantische" in der Tiefe, Breite und Bewegung des Gemüts liege; und wohl alle, insbesondere aber Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, sprechen irgendwo einmal die Musik als die eigentlichste romantische Kunst an. "Musik, Gesang wird der Ausdruck der höchsten Fülle des Daseins", sagt E. T. A. Hoffmann, der Dichter und Musiker. Und die musikalische Romantik entwickelte sich immer stärker neben der romantischen Dichtung und gar über deren Höhepunkt hinaus. Die Romantik, von den Dichtern ihrer Zeit mit Worten aus dem Geiste der Musik beschworen, erfüllte sich vollends unermeßbar reich in der Musik. Und ein Großmeister der romantischen Musik war Robert Schumann, für den schon in jungen Jahren Franz Liszt das sehr charakteristische Wort prägte: "Er ist ein seelenvoller Dichter und ein großer Musiker."

Eben die romantischen Genies standen als Sterne an seinem Jugendhimmel, vor allen bewundert und geliebt Jean Paul und Franz Schubert. Früh schon regte sich in dem Jungen der Trieb zu eigenem Schaffen. Auf der Schule wurden Dichtung und Musik in kameradschaftlichen Vereinigungen lebhaft gepflegt, und der frühreife Sechzehnjährige besang in formvollen Distichen die Kunst und hielt eine bekenntnishafte Schulrede "Über die sinnige Verwandtschaft der Poesie und Tonkunst." Zu dieser Zeit waren ihm die ersten schmerzlichen Erlebnisse beschieden; seine ältere Schwester Emilie machte ihrem Leben im Fieberwahn ein Ende; und der Vater August Schumann – ein schriftstellernder Kaufmann, der sich zu einem nicht erfolglosen Verleger entwickelt hatte – starb plötzlich. Nun hatte die beherzte, ein wenig schwärmerische, innerlich kluge Mutter allein die schwere Entscheidung zu treffen, vor die sie von Robert gestellt wurde: ob er sich völlig der [296] Musik ergeben solle. Er selber war sich lange nicht klar darüber, ob er zum Dichter oder zum Musiker geboren sei; aber er erkennt schon die entscheidende Wendung, die sich in ihm vorbereitet: "Es ist sonderbar, daß ich da, wo meine Gefühle am stärksten sprechen, aufhören muß, Dichter zu sein." Indessen musizierte er eifrig auf ein noch undeutliches Ziel hin, wurde er der sehr beliebte Gast kunstliebender Häuser, und nach bestandenem Abiturium verschönte er sich auch im ersten Semester in Leipzig die Zeit des einstweilen von ihm ergriffenen Jurastudiums wiederum durch Musik, durch stetige Lektüre romantischer Dichtung, kurz durch eine immer deutlichere Hingabe an die Kunst. Und diese Hingabe fand noch ihren besonderen Halt in dem Klavier- und Kompositionsunterricht bei dem angesehenen Musikpädagogen Friedrich Wieck.

Ein Semester in Heidelberg sodann, eine Reise in die Schweiz und nach Oberitalien, fortschreitender Widerwille gegen die "kalte Jurisprudenz" endlich bringen ihn weiter auf seinem eigenen Wege. Muß er auch den Gedanken an die Pianistenlaufbahn infolge einer unvernünftigen Überanstrengung der rechten Hand bald aufgeben, so gerät er um so mehr in eignes Schaffen. Und allmählich bekennt er sich der Mutter stürmischer als je vorher: "Jetzt stehe ich am Kreuzwege, und ich erschrecke bei der Frage: wohin? Folg' ich meinem Genius, so weist er mich zur Kunst, und ich glaube zum rechten Weg." Und die Mutter in ihrer Sorge wendet sich an Wieck; und da dessen Rat sehr zuversichtlich ausfällt, so gibt sie dem Jungen ihren Segen zu seinem innerlich längst feststehenden Entschluß, und Robert kehrt von den Pandekten aus Heidelberg zurück in die Lehre zu Wieck in Leipzig. Die erste Etappe ist beendet – und es beginnt das Leben für die Kunst.

Wie hat sich doch dieses Musikerleben gerade in den wichtigsten Jugendjahren überraschend schnell reich und weit entfaltet! Sturm und Drang echter Künstlerjugend war gebunden an ein Inneres von seltener Seelenhaftigkeit, von stiller Bewußtheit einer höheren Sendung. So konnten dem jungen Menschen bei aller Lebensfreude gewisse äußerliche, lärmvolle Manieren des Studentenlebens nichts sagen; aber desto glücklicher fühlte er sich, desto lebensvoller entwickelte sich sein Wesen im Kreise weniger, die ihm wirklich Freunde waren und mit ihm gemeinsam für die höchsten künstlerischen Ideale sich begeisterten und einsetzten. Den Zwanzigjährigen schlug zudem das Erleben erster tiefer Liebesahnung in Bann – Clara Wieck, seines Lehrmeisters kindlich geniale Tochter, begann bald und immer mehr seine Seele zu beschäftigen. Die Dreizehn-, Vierzehnjährige war schon eine berühmte Pianistin; vor Jahren bereits hatte ihr Goethe sein Bild mit einer herzlichen Widmung geschenkt, ihr Name strahlte zum Stolze des Vaters weithin. "Es macht Freude, wie sich ihre Herzens- und Geistesanlagen jetzt immer schneller, aber gleichsam Blatt für Blatt, entwickeln" – so schrieb Robert der Mutter, bevor seine junge Freundin einmal in Zwickau konzertieren sollte. Und dort fand Roberts Mutter so viel Gefallen an ihr, daß sie in voller Ergriffenheit über Claras herrliches Talent zu dem jungen Mädchen die ahnungsvollen Worte sprach: "Du [297] mußt einmal meinen Robert heiraten." Sie hatte sofort die ganz ungewöhnlichen Möglichkeiten der menschlichen und künstlerischen Ergänzung in den beiden jungen Künstlernaturen erkannt.

Inzwischen trat Robert Schumann schon mit gedruckten Klavierwerken: den Variationen (über a – b – e – g – g) op. 1 und den tänzerisch beschwingten "Papillons" op. 2, sowie mit schriftstellerischen Arbeiten an die Öffentlichkeit. Der Welt des Klaviers schenkt er nun in seinen ersten dreiundzwanzig Werken, die in wenigen Jahren aufeinander folgten, eine neue, echt romantische Kompositionsform: das Phantasiestück, um es mit einem allgemein verständlichen Wort zu sagen. Das sind vorwiegend Charakterstücke von vielfältigstem musikalisch-poetischem Ausdruck, dem Schumann die von ihm in vieler Hinsicht sehr verfeinerte Technik des Klaviers nutzbar macht. Kein Wunder, daß diese Kompositionen, die in Form und Tonsprache ihre eigenen Wege gehen, von der eingesessenen konservativen Kritik zunächst oft verkannt wurden und ihre Zeit brauchten, ehe sie sich durchsetzten.

Leidenschaftliche Bewegtheit und in sich ruhende Stille – das waren die beiden wesentlichen Seiten in Schumanns Natur. Sie waren beide völlig seelisch begründet, waren Komponenten eines höchst sensiblen Inneren, das schon in jungen Jahren Zeichen von Übersteigerung, ja fast von Krankhaftigkeit erkennen ließ. Der Student in Heidelberg hatte beispielsweise diese merkwürdige Beobachtung gemacht: "Beiläufig gesagt, so grenzt mein Logis rechts an das Irrenhaus und links an die katholische Kirche, daß ich wahrlich im Zweifel bin, ob man verrückt oder katholisch werden sollte." Wir sahen im übrigen den Beginn eines frühen Abbröckelns der Familie Schumann. Nun setzt sich das fort; der dreiundzwanzigjährige Robert betrauert in einem Jahre den Tod seiner ihm sehr befreundeten Schwägerin Rosalie und den seines älteren Bruders Julius. Da treten in diesem Leben zum ersten Male starke melancholische Strömungen und ernste Nervenstörungen auf. "Wenn Du eine Ahnung dieses ganz durch Melancholie eingesunkenen Seelenschlafes hättest" – so schreibt er der Mutter, gleichzeitig die tiefe Angst betonend, die ihn abhalte, zur Beisetzung seines Bruders nach Zwickau zu fahren.

Aber neue Ideen, neue Arbeit bannten dann wieder derlei Beunruhigungen. In diesem Jahre der zwei schmerzlichen Todesfälle begann gleichzeitig auch wieder ein Kapitel neuen Lebens – wie es Schumann später in der Einleitung zu seinen Schriften erzählt hat: "Zu Ende des Jahres 1833 fand sich in Leipzig... eine Anzahl meist jüngerer Musiker zusammen, zunächst zu geselliger Versammlung, nicht minder aber auch zum Austausch der Gedanken über... die Musik. Man kann nicht sagen, daß die damaligen musikalischen Zustände Deutschlands sehr erfreulich waren... Da fuhr denn eines Tages der Gedanke durch die jungen Brauseköpfe: laßt uns nicht müßig zusehen, greift an, daß es besser werde, greift an, daß die Poesie der Kunst wieder zu Ehren komme. So entstanden die ersten [298] Blätter einer neuen Zeitschrift für Musik." Das erste Heft dieser Neuen Zeitschrift für Musik unter Schumanns Leitung erschien im April 1834, und das in ihr vertretene Programm hieß kurz gefaßt: Kampf gegen alles Philistertum, alle Seichtheit in der Kunst; und selbstverständlich leidenschaftlicher Einsatz für alle echte Jugend, alles wesentliche Neue. Von nun ab wurde der Tondichter zum energischen Streiter in allen wichtigen Fragen der Musik, und in den später gesammelten drei Bänden seiner Schriften erweist er sich als ein Schriftsteller, der die Zeitgenossen auf seinem Gebiete an Geist, Phantasie und Sprachgestaltung weit überragte, der in seinen Aufsätzen, Aphorismen und Kritiken geradezu eine der ersten und bedeutendsten Vorbilder einer deutsch-aktivistischen Kulturpolitik aufstellte.

Schumann gab nun der Zeitschrift in ihrem kämpferischen Charakter überdies noch eine romantische, geheimnisvolle Note, indem er den sogenannten "Davidsbund" erfand, der zuerst allein in seinem Kopfe bestand, und durch den er in mehreren Pseudonymen zu seinen Lesern sprach. So nannte er sich "Florestan" – das ist die stürmisch enthusiastische Seite seiner Natur; und "Eusebius" – das ist der träumerische, sensitive Gefühlsmensch; und endlich "Meister Raro" – worin er den reifen Mann erblickt, der die Verbindung zwischen den beiden andern darstellen sollte. Allmählich wurde dann wirklich ein Bund daraus, in den die Mitarbeiter der Zeitschrift und manche künstlerische Gesinnungsgenossen einbezogen wurden. Sie alle führten Bündlernamen, und Schumann feuerte sie an: "Davidsbündler, d. i. Jünglinge und Männer, die ihr totschlagen sollet die Philister, musikalische und sonstige!" Und die Haltung des Blattes wurde sofort in Bekenntnissen folgender Art überaus deutlich festgelegt: "Das Zeitalter der gegenseitigen Komplimente geht nach und nach zu Grabe; wir gestehen, daß wir zu seiner Neubelebung nichts beitragen wollen. Wer das Schlimme einer Sache nicht anzugreifen sich getraut, verteidigt das Gute nur halb."

Titelblatt der Erstausgabe von Schumanns ‘Carnaval', 1837.
[299]      Titelblatt der Erstausgabe von
Schumanns "Carnaval", 1837.
Reich waren indessen diese Jahre vor allem an musikalischen Schöpfungen. Nur die wichtigsten können hier Erwähnung finden, wie z. B. die "Davidsbündlertänze" (op. 6), keine Tänze im üblichen, sondern in einem höheren Sinne aus jenem romantischen Davidsbündlergeist, der hier in 18 Klavierstücken von größter Mannigfaltigkeit der Rhythmen und Stimmungen seine Kräfte spielen läßt. Dann der "Carnaval" (op. 9), eine Folge von Stücken, in denen vielfach eignes Erleben und Erinnern seinen Ausdruck findet. In den wechselnden Erscheinungen des oft verwandelten tänzerischen Hauptthemas bezaubert die Fülle der Gedanken und Formen, die tief poetische Grundhaltung. Überwiegend im Zeichen Clara Wiecks stehen die folgenden Werke: die fis-moll-Sonate (op. 11), von Schumann selbst als "ein einziger Herzensschrei nach Dir" charakterisiert; und die Sonaten in g-moll (op. 22) und in f-moll (op. 14), die beide nicht weniger leidenschaftlich in ihren Hauptsätzen dem gleichen aufgewühlten Empfinden der Liebe, Sehnsucht, Bangnis bis zur Resignation gelten – alle drei übrigens ihrem Gehalte, ihrer [299] Gedanklichkeit nach nicht eigentlich Sonaten im ganz strengen klassischen Verstande, sondern mehr ins Große gesteigerte Phantasien, die der Tondichter nur in den Formen der Sonatensätze bannte. Aber dann macht er sich in der monumentalen C-dur-Phantasie (op. 17) wieder frei davon und entwickelt die drei Sätze dieses Werkes in einem einzigen großen Zuge von überlegenster, unbeschreiblich packender Gestaltung; und in einem Briefe an Clara rückt er diese Phantasie wiederum in die eben angedeuteten Bezirke der innersten Beziehungen: "Die Phantasie kannst Du nur verstehen, wenn Du Dich in den unglücklichen Sommer 1836 zurückversetzest, wo ich Dir entsagte." – Und noch eines seiner großen Klavierwerke wollen wir gedenken, der "Sinfonischen Etüden" (op. 13), die zweifellos Schumanns virtuosestes Werk und dennoch nicht als reines Virtuosenwerk anzusehen sind. Niemals hat dieser Musiker die Virtuosität als Selbstzweck gelten lassen, sondern sie lediglich als Mittel zum Zweck benutzt. So sind diese "Etüden" vor allem doch kleine sinfonische Charakterstücke in Variationenform.

Überblickt man endlich die große Reihe der Klavierwerke aus diesen ersten Schaffensjahren, so fühlt und erkennt man mit Hans Pfitzners wahrem Worte, daß "nicht Beethoven und nicht Mozart, nicht Bach und nicht Wagner, noch sonst ein Komponist mit solcher Meisterschaft, solcher Originalität, solcher Vollendung in sich, bei seinem Schaffen eingesetzt hat wie Robert Schumann". Er sucht wirklich nicht erst durch junge Entwicklungsjahre seinen tondichterischen Weg, sondern er schafft sich zu Anfang, wie wir schon sahen, seine eignen Formen und erfüllt sie zugleich aus einem begnadeten Reichtum von Einfällen und Gestaltungskraft. Er wird von Inspirationen oft geradezu getrieben und in einen Rauschzustand [300] versetzt. "Ich habe das meiste, fast alles, das kleinste meiner Stücke, in Inspiration geschrieben. Vieles in unglaublicher Schnelligkeit, so meine erste Sinfonie in vier Tagen" – so bekennt er in späteren Jahren einmal.

Und neben seiner Musik bereichern im Laufe der Zeit wesentliche menschliche Beziehungen sein Leben. Er gewinnt persönliches hohes Ansehen bei vielen bedeutenden Künstlern, so bei Carl Loewe, dem Balladenmeister; bei Franz Liszt, bei Chopin, dessen Erscheinen in Deutschland Robert mit einer wahren Fanfare in einer Zeitschrift begrüßt hatte; bei Mendelssohn, der anfänglich Schumanns Kompositionen fernstand, sich später aber um so mehr für das Schaffen des ihm nun befreundeten Meisters einsetzte.

Die innerlichste Beziehung verbindet ihn natürlicherweise mit Clara Wieck. Der Fünfundzwanzigjährige hatte sich mit ihr heimlich verlobt; aber das verborgene Glück der beiden jungen Menschen wurde durch Claras Vater oft und endlich mit einer unverständlichen Brutalität gestört. Er verbannte Clara nach Wien und verbot ihr gar die briefliche Pflege ihrer Herzensfreundschaft. Wieck hatte ursprünglich seine hohe und treffende Meinung über Robert als einen "etwas launigen, störrischen, aber noblen, herrlichen, schwärmerischen, hochbegabten, bis ins Tiefste geistig ausgebildeten genialen Tonsetzer und Schriftsteller" bekundet. Aber eben diesen Menschen hielt er dann für nicht bedeutend genug zu einer Verbindung mit Clara; er verfolgte die Absichten und Pläne des Paares mit einer zu Haß gesteigerten Ablehnung und scheute endlich nicht vor einer unwahrscheinlich gemeinen Intrige zurück, mit der er sein Kind für immer von Robert zu trennen hoffte. Dieser jedoch, dem erst viel später die Intrige offenbar wurde, verstärkte seine Liebe zu Clara um so mehr, als er seine Mutter im Februar 1836 verlor, die herrliche Beschützerin seiner Jugendjahre, deren Tod sein Dasein und seine Arbeit lange Zeit überschattete.

Robert Schumann, Jugendbildnis.
      Robert Schumann, Jugendbildnis.
Pastellminiatur, um 1834.
Zwickau, Schumann-Museum.
Clara Wieck, Schumanns spätere Gattin.
      Clara Wieck, Schumanns spätere Gattin.
Zeichnung von Elvire Leyser, 1836.
Zwickau, Schumann-Museum.

Indessen gewann die Neue Zeitschrift für Musik in immer weiteren Kreisen Ansehen und Einfluß. Ihre Haltung und ihr Erfolg machten den Namen ihres Herausgebers in der Musikwelt schneller und eindringlicher bekannt, als dies bisher seinen Tondichtungen zu vollbringen gelungen war. Doch auch diese setzten sich allmählich durch, und als Clara Wieck im August 1837 wieder einmal in Leipzig konzertierte, bereitete sie dem Freunde mit der Wiedergabe einiger Klavierstücke von ihm einen großen Sondererfolg. Diese Gelegenheit benutzten die jungen Menschen im übrigen zu einer neuerlichen heimlichen Übereinkunft, und in einem unsagbar ergreifenden Briefe versuchte Schumann abermals Claras Vater umzustimmen. Indessen, der dünkelhafte eitle Wieck blieb unzugänglich – er sah nur in den Ehren des Ruhmes das Glück seines Kindes.

Schumann suchte und fand das seine auch weiterhin in neuen Werken. "Die ganze Woche saß ich am Klavier und komponierte und schrieb und lachte und weinte durcheinander" – so schreibt er in dieser Zeit einmal an Clara. Ihr gehören seine tiefsten Empfindungen, und der Gedanke an sie löst in ihm immer neue [301] Eingebungen zu vielen freudig oder schmerzlich bewegten Musikgebilden aus. So entstehen die phantastischen und bisweilen dämonischen Stücke der "Kreisleriana" (op. 16), die überwiegend schwerblütigen "Nachtstücke" (op. 23), der hierzu völlig gegensätzliche, hinreißend schwungvolle "Faschingsschwank aus Wien" (op. 26), die von melodischer Schönheit fast über-erfüllten "Romanzen" (op. 28); und der Jugend schenkt Robert Schumann in diesen Jahren in den "Kinderszenen" (op. 15) und im "Album für die Jugend" (op. 68) einen ewig klassischen Hausschatz.

Wie jeden deutschen Musiker, so zog es nun auch Schumann einmal nach Wien, an die Stätte der großen Meister, und als er im Herbst 1838 dort eintraf, war er voller Hoffnungen auf gute Zukunftsaussichten für seine Kunst in der Stadt Franz Schuberts. Aber Wien enttäuschte ihn, je mehr er es kennenlernte. "Ernstere Menschen und Sachen werden hier wenig gesucht und wenig verstanden", so klagt er nach einigen Monaten. Aber Musik strömt ihm hier in Fülle zu, und das Jahr 1839 wird ein höchst fruchtbares Schaffensjahr. Und etwas sehr Überraschendes bietet sich ihm dar; gelegentlich eines Besuches bei Schuberts überlebendem Bruder Ferdinand nämlich findet er unter zahllosen Manuskripten die bisher unbekannte Partitur der großen C-dur-Sinfonie Franz Schuberts! Ohne Schumanns Aufenthalt in Wien wäre das geniale Werk vielleicht verschollen geblieben, wäre es nicht beglückender Besitz der deutschen Musikwelt geworden. Dieser unerwarteten Freude eines großartigen Fundes und dem guten Fortschreiten der tondichterischen Arbeiten standen freilich auch in den Wiener Monaten manche verzweifelten Stunden gegenüber, die durch Friedrich Wiecks dauernde Feindseligkeit hervorgerufen wurden. Je schneller Schumann dem Ziele der Vereinigung mit Clara zustrebte, desto ferner schien es ihm durch ihren Vater entrückt zu werden. Und der feinfühlige Tondichter hatte wieder einmal unter melancholischen Depressionen zu leiden, die in beklemmenden Zuständen banger Ahnungen sich steigerten – als plötzlich die Nachricht eintraf, daß Roberts Bruder Eduard im Sterben liege. So war es oft: daß Schumann schmerzliche Ereignisse vorausahnte und ‑fühlte. Welche schwerwiegende Bedeutung muß da für diese sensitive Natur der endliche Entschluß zum Kampfe gegen Wiecks Terror haben! Denn es blieb ja kein anderer Weg mehr, wollten die beiden Liebenden zueinander kommen. Sie riefen das Gericht an, sie gingen noch durch unsagbare Gehässigkeiten und Verleumdungen, die der eigne Vater in lächerlicher Raserei um sie entfesselte, und sie konnten auf anderthalb Jahre zermürbender gerichtlicher Auseinandersetzungen zurückblicken, als sie endlich am 12. September 1840 in einer Dorfkirche der Leipziger Umgebung den Lebensbund schlossen.

Es ist kein Zweifel, daß die aufreibenden Erfahrungen dieser letztvergangenen Jahre verhängnisvoll und nachhaltig auf das empfindsame Nervensystem des Meisters einwirkten. Und es mag wie eine Erlösung über ihn gekommen sein, als nach Überwindung der übelsten Umstände im Frühjahr 1840 ein wahrhaft reißender [302] Strom musikalischer Eingebung ihn wieder froh werden ließ und gleichzeitig die hohe Auszeichnung des Ehrendoktortitels von seiten der Universität Jena die besondere Anerkennung seines Genies vor aller Welt bekräftigte. Dieses Jahr wurde das große Liederjahr im Leben des Tondichters; die Mittel des Klaviers schienen einstweilen erschöpft, und wie in einem Sturmwind schuf der begnadete Musiker die Welt seiner Lieder – es war kein normales Schaffen mehr, es waren Eruptionen, vergleichbar den ungeheuerlichen Lieder-Ausbrüchen im Leben Schuberts oder Hugo Wolfs. "Ach, ich kann nicht anders, ich möchte mich totsingen wie eine Nachtigall" – das ist die Maienmelodie in Schumanns Briefen an Clara.

Schumanns eigenhändige Niederschrift seiner Komposition der ‘Mondnacht'.
[302]      Schumanns eigenhändige Niederschrift seiner Komposition
des Eichendorffschen Gedichts "Mondnacht", 9. Mai 1840.      [Vergrößern]

Der dichterisch veranlagte Musiker umfing ja leicht und mit untrüglichem Geschmack das große Gut der deutschen Lyrik, die ihm seit langem vertraut war: Eichendorff, Chamisso, Rückert, Goethe, Hebbel, Lenau, Geibel – aus diesen Dichtern und manchen andern noch wählte er mit völliger Sicherheit Gedichte, für deren Gehalte die Musik in ihm vorbereitet war; es ist in den wesentlichen Teilen seines Liederwerkes ein fortwährendes Empfangen aus der Dichtung und Geben an die Dichtung. "Einen Kranz von Musik um ein wahres Dichterhaupt schlingen – nichts Schöneres", das ist eines jener unverwechselbaren Schumannworte. Wie jeder große Gesangskomponist wurzelt er im übrigen im sinnfällig wahren schlichten Ausdruck des Volksliedes; aus ihm wuchs ja auch Schuberts Liedkunst, die für Schumann Vorbild war: die der subtilsten musikalischen Ausdeutung des Gedichts, des inneren Vorgangs. Die Kunst ferner der genauesten Verbindung von Gesang und Klavier; hierin mußte es ja den Klavierpoeten locken, das Instrument in der Welt des Liedes zu neuen besonderen Aufgaben zu befähigen. Und aus der intensiven Beteiligung des Klaviers an der Deutung des Gedichts ergibt sich etwas für Schumanns Lyrik sehr Charakteristisches: die nicht seltene Erweiterung des Liedes durch Vor- und Nachspiele auf dem Klavier.

Wie gesagt: die lyrische Haupternte brachte der Meister in diesem Jahre ein, die großen Zyklen "Liederkreis" op. 24 nach Heine und einen gleichnamigen nach Eichendorff, op. 39, den "Liebesfrühling" nach Rückert, op. 37, "Frauenliebe und Leben" nach Chamisso, op. 42, die "Dichterliebe" nach Heine, op. 48, und noch eine ganze Reihe von Liederheften – wer wollte in so knappem Rahmen auch nur ein annähernd genügendes Bild von dem ungeheuren lyrisch-melodischen Reichtum, der Ausdrucksfülle und ‑kraft, und von den Formenkünsten dieses großen Liederwerkes geben! Genug, es steht in seiner Vielgestalt gewichtig inmitten des Schumannschen Lebenswerks, wie inmitten der deutschen Liedwelt, wo es seinen hohen Platz zwischen Schubert und Brahms einnimmt.

Die Künstlerehe zwischen den beiden edlen genial begabten Naturen gestaltet sich nun vollends im Sinne des schönen Wortes, das Franz Liszt einmal über sie sprach: "Die Annalen der Kunst werden beider Gedächtnis in keiner Beziehung trennen und ihre Namen nicht vereinzelt nennen können..." Sie leben endlich [303=Faksimile] [304] gemeinsam ihrer Kunst, schaffend, lernend, nachschaffend, einander ergänzend und anspornend, und in der Umfriedung der sorglich behüteten Innenwelt findet ihr Leben seine eigene Gesetzlichkeit und Form. Und Robert Schumann kann in seinem Hause nach Belieben sein, was er so gern ist: still. Aber die Stille ist vor allem Beschützerin eines unabsehbar sich aufschwingenden Schaffens, in welchem der Tondichter sich jetzt die große sinfonische Form erobert. In das Jahr 1841 tritt er mit der fast vollendeten Ersten Sinfonie B-dur (op. 34); und es wiederholt sich jetzt die schon in seinem Klavier- und Liederschaffen auffällige Erscheinung, daß er für ihn neue Kompositionsgattungen sogleich mit ganzen Gruppen von Werken bedenkt. So erfindet er nun vorerst nur für Orchester, und kaum hat die B-dur-Sinfonie ihre höchst erfolgreiche Uraufführung im Leipziger Gewandhause unter Mendelssohns Leitung erlebt – da steckt Schumann bereits tief in neuen Orchesterwerken: dem sinfonischen Zwischenwerk "Ouvertüre, Scherzo, Finale" op. 52, dem Klavierkonzert in a-moll op. 54, und der zweiten Sinfonie d-moll (die später als "Vierte" op. 120 bezeichnet wird). Dabei erreicht er in dem Klavierkonzert den überwältigenden Höhepunkt aller seiner Klavierwerke, er schenkt in diesen drei Sätzen (Allegro affettuoso, Intermezzo und Finale) der Gattung des Klavierkonzerts ein herrliches Juwel, das wiederum völlig abseits vom Typ des Virtuosenkonzerts steht und alle poetischen und phantastischen Elemente der Schumannschen Tonsprache in einer ungemein glücklichen Anwendung auf die große Form in sich vereinigt.

Der Schwung des Schaffens hält an und treibt ihn weiter, wieder in ein ihm neues Gebiet: das Jahr 1842 gehört in erster Linie der Kammermusik. In zwei Sommermonaten entstehen die drei Streichquartette in a-moll, F-dur und A-dur, op. 41; im September kommt das Klavierquintett in Es-dur op. 44, im Oktober das Klavierquartett in Es-dur op. 47 dazu. Und auch hierin meistert er von Anbeginn die Form, den Stil der Kammermusik; er ist sogleich fertig darin; von selbst weiten sich die Eingebungen in die größere Form, in die ganz besondere Klangwelt von mehreren zusammenstimmenden Instrumenten. Schon die Streichquartette strotzen von einer Fülle blühender, feingeformter, tief aus den Klangbereichen der vier Instrumente empfundener Musik. Aber dann ist es dem Meister offenbar nicht genug damit – das Klavier bietet eine allzu verlockende Erweiterung zu den Streichinstrumenten; und in dem Klavierquartett und ‑quintett, die beide in kraftvollem Es-dur stehen, gelingen dem Tondichter seine bedeutendsten,

Federzeichnung von Moritz Schwind, 1866.
[305]      "Katzensymphonie."
Federzeichnung von Moritz v. Schwind, 1866.
Robert und Clara Schumann hatten einen "Orden der schwarzen Katze" gegründet.
Frankfurt a. M., Privatbesitz.
[Vergrößern]
erfülltesten Kammermusiken. (Sie gehören mit dem Streichquartett in A-dur heute noch zu den meistaufgeführten Werken der Gattung überhaupt.)

Ein neues Moment nun bereichert übrigens – und beunruhigt bisweilen – Schumanns Leben: das Paar unternimmt gemeinsame Konzertreisen; Clara wiederholt auch allein – Robert wird hier und da eingeladen, seine sinfonischen Werke zu dirigieren; und große Erfolge wechseln mit gelegentlichen Enttäuschungen. Um ihn noch fester mit dem Leipziger Kunstleben zu verknüpfen, [305] beruft Mendelssohn als Direktor des neu gegründeten Konservatoriums den Freund in das Lehrkollegium. Und mit dem in vier Monaten entstehenden Oratorium "Das Paradies und die Peri" op. 50 – "ein Oratorium nicht für den Betsaal, sondern für heitere Menschen", so charakterisiert der Meister es – erringt er in dieser Zeit nun auch auf dem Gebiete der Chorkomposition großen Stils die Palme; die von Schumann selbst dirigierte Uraufführung des vorwiegend lyrischen Stückes bedeutet für seinen Schöpfer einen überwältigen Triumph.

Das alles sind gewiß Zeichen immer höheren glücklichen Aufstiegs, immer deutlicherer Prägung der geschichtlichen Stellung Schumanns. Aber daneben entwickelt sich seinem Innern jenes schon angedeutete, zunächst noch unerkannte Leiden, das ihn von Jahr zu Jahr mit unheimlichen Symptomen peinigt. Es sind nicht mehr nur Zustände gelegentlicher Überarbeitung; auffälliger vielmehr ist eine öfter auftretende krankhafte Apathie. Da gibt es dann Wochen einer nicht mehr natürlich erscheinenden Abgeschlossenheit Schumanns, einer Insichgekehrtheit, in die nicht einmal Clara recht einzudringen vermag. Und hierdurch wird beispielsweise eine mehrwöchige Konzertreise in Rußland ganz empfindlich gestört. Nach der Rückkehr von dort stellt sich vorübergehende Besserung ein; aber nach kurzer Zeit quälen den Leidenden neuerlich bedenkliche Zustände – was geht vor in ihm? Niemand weiß das genau zu sagen; da beschließen Schumanns, nach Dresden zu übersiedeln – eine völlig andere Umgebung, neue Menschen, neue Pläne, das verspricht seelische Hilfe.

In dieser Stadt ist der Meister, sind seine Werke nur ganz wenigen Menschen bekannt, unter ihnen vor allem dem Komponisten Ferdinand Hiller und Richard [306] Wagner, der zu dieser Zeit schon den "Tannhäuser" schreibt und als Hofkapellmeister eine führende Stellung einnimmt. Schumann kannte Wagner schon flüchtig; nun begegnen sie einander als berühmte Künstler wieder, und Wagner, der dem Davidsbündler einst begeistert zugestimmt hatte, mag denken, daß er in ihm jetzt einen kämpferischen Bundesgenossen auf dem Dresdner Boden bekomme. Doch Schumann ist kein Davidsbündler mehr, er hat die Leitung der Zeitschrift in andere Hände übergeben, er lebt nur noch seinen Werken und hält sich abseits; er mißbilligt Wagners "enorme Suade", und dieser wiederum ist tief enttäuscht von Schumanns Abgekehrtheit, von seiner Stille und Wortkargheit, und so können die beiden höchst verschieden gearteten großen Zeitgenossen nichts miteinander anfangen.

Indessen wächst und reift des Tondichters Lebenswerk weiter hinan. Eine große unerfüllte Sehnsucht ist noch in ihm: zur Oper; und auf einem Umwege gelangt er schließlich auch dorthin. Der Umweg aber bestand in der Komposition von "Szenen aus Goethes Faust", die ihn jahrelang beschäftigten und ein umfangreiches, in seinen Teilen sehr wertverschiedenes Werk für Soli, Chor und Orchesters wurden. Es waren durchaus die szenischen Vorstellungen, die ihn zu dieser Tondichtung inspirierten, und es ist verständlich, daß er von hier aus seine Gedanken immer lebhafter auf die Opernbühne richtete. In der romantischen Märchenoper "Genoveva", nach Hebbels Dichtung, wagt er den Schritt, und in fiebernder Arbeit, in etwa sieben Monaten des Jahres 1848, stellt er das Werk in der Skizze fertig – nicht seine glücklichste Schöpfung freilich. Die Oper konnte sich trotz des äußeren Erfolges ihrer Uraufführung in Leipzig nicht im Spielplan der deutschen Opernbühnen einbürgern. Sie teilt das Schicksal von Webers "Euryanthe" und das der Opern von Marschner: bei aller Fülle und Schönheit ihrer Musik vergessen zu sein, einfach, weil diesen Werken keine Klarheit und Wirkung auf der Bühne beschieden ist. "Genoveva" ist in ihrem unklaren Stil ein Versuch der Vermittlung zwischen alter Oper und dem Musikdrama; ihr Text hat große dramaturgische Schwächen, die vor allem in der Ungleichheit der Charakterisierung der Personen liegen; und der Musik, die an lyrischen Schönheiten reich ist und auch hier und da äußerliche dramatische Akzente aufweist, mangelt eben doch die eigentlich dramatische Grundkraft, die ursprüngliche Bühnenanlage. Schumann war ein großer Musiker, aber kein geborener Dramatiker – das zeigt eben diese Oper.

Aber etliche andere Werke, von denen die Zeit der "Genoveva" umrahmt wurde, sind wieder um so vollgültiger. So entstand noch vor der Oper die C-dur-Sinfonie; so bereicherte Schumann seine Kammermusik durch die reifen, formvollendeten Klaviertrios in d-moll und F-dur. Und sofort an "Genoveva" anschließend komponierte der Meister eines seiner bedeutendsten und für seine Natur charakteristischsten Werke: Byrons "Manfred" (op. 105). Es ist eine Art von dramatischem Oratorium für Soli, Rezitation, Chor und Orchester, und die Gestalt Manfreds, der erst in der Unterwelt Erlösung und Todesruhe vor seinem durch tödliche [307] Treulosigkeit belasteten Gewissen findet, diese der Erlösung zustrebende Gestalt kam Schumanns seelischer Verfassung entgegen und gab ihm mit seine herrlichste Musik von leidenschaftlicher Melancholie und Sehnsucht ein. Und diese Musik offenbart insbesondere in der Ouvertüre ihre Genialität.

Heiße, füllige Jahre vielseitigen Schaffens waren das also, diese Zeit von 1845 bis 1850, in der die Arbeit freilich auch viele Unterbrechungen erfuhr, durch Konzertfahrten wiederum, durch ein erstes Schumannfest in seiner Heimat Zwickau, später ein anderes in Leipzig, auch durch traurige Ereignisse, wie den Tod Mendelssohns und den des Bruders Karl, persönliche Verluste, die Schumann sehr tief trafen, wie ihn andererseits der Dresdner Aufstand im Mai 1849 in die heftigste Erregung versetzte. Doch weitaus bedeutungsvoller wurde für Schumann sein trotz mancher Erholungskuren und Gegenmaßnahmen offenbar unaufhaltsam fortschreitendes Nervenleiden. Immer häufiger zwang es ihn in diesen Dresdner Jahren, die Feder und das Klavier ruhen zu lassen, in immer neuen Symptomen übte es seine grausam beunruhigende Wirkung auf Geist und Gemüt des Meisters aus. Bald waren es plötzliche, erschreckende Schwächezustände des Körpers, bald Tage voll quälender Todesfurcht, dann wieder lang anhaltende Melancholie, endlich geradezu zerstörende Gehörshalluzinationen, die seine Ohren mit tagelangem Brausen und mit dem Erklingen des Tones "a" erfüllten; und zu Zeiten wie denen

Robert Schumann.
Robert Schumann, 1850.
Kreidezeichnung
von Eduard Bendemann, 1859.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 342.]
jener Todesfälle geistern durch seine Briefe an Freunde bisweilen Gedanken von trübster Ahnung. Blickt da sein inwendiges Gesicht nicht schon manchmal über die Grenzen des Geistes, so daß die Schau der jenseitigen Welt sein Unterbewußtsein berühren mag?

Dennoch: der Vierzigjährige, auf der Höhe seines Ruhms, übersiedelt mit Clara und den drei Kindern, die sie ihm bisher geschenkt hat, nach Düsseldorf, wo das Paar nun noch einmal ein wirklich neues Leben beginnt. Die Rheinländer kommen ihnen mit Ehrfurcht und Enthusiasmus zugleich entgegen, der bedeutende Name besitzt "Zugkraft" beim Publikum der Sinfoniekonzerte, die zunächst sehr erfolgreich verlaufen, und die rheinische Geselligkeit umfängt die beiden Menschen mit allem Frohsinn der weinreichen Landschaft. Sofort entstehen hier auch neue gewichtige Werke, wie das Cellokonzert in a-moll und die Es-dur-Sinfonie, von zahllosen Kompositionen der verschiedensten Gattungen und Grade nicht zu reden.

Die Sinfonie in Es-dur ist die letztentstandene in der Reihe der vier Sinfonien Schumanns, auf die nun noch ein Blick notwendig wird. Man darf in diesen Sinfonien nicht, wie es vielfach geschehen ist, Vergleiche zur Sinfonik etwa eines Beethoven suchen. Es gibt in diesen vier sinfonischen Werken keine großen Probleme, es sind ja Sinfonien eines poetischen Musikers, keines Dramatikers, und ihre Inhalte stimmen im wesentlichen mit denen der großen Klavierwerke und der Kammermusik überein. Kernige Lebensfreude, leidenschaftliche Aufwallung von Melancholie, innige friedevolle Träumerei, das sind die hauptsächlichen Empfindungskomplexe, wie im gesamten Lebenswerk, so hier wiederum [308] in die große Form geweitet; und diesem Grundgehalt entsprechen die kräftigen und warmen Klangfarben der Instrumentation. Die Erste Sinfonie B-dur op. 38 eröffnet kraftstrotzend mit ihrer unbeschwerten schönen Melodik die kleine Reihe, in der als "Zweite" die C-dur-Sinfonie op. 61 erscheint und eine wesentlich wichtigere Stellung behauptet. Hier beherrscht ein fanfarenhaftes Motiv das ganze Werk, dessen Ecksätze eine abermals kraftvolle Thematik doch in viel kunstvolleren Verwandlungen und Entwicklungen zeigen, als die Hauptsätze der B-dur-Sinfonie. Die hinreißende Lebensfülle dieser Sinfonie ist ein großartiger Ausdruck der "florestanischen" Seite von Schumanns Natur, wie die "Vierte" in d-moll op. 120 ihrerseits noch einmal den schwärmerischen Melancholiker, den sinnierenden Tonpoeten in einem herrlich inspirierten, großgearteten sinfonischen Bau offenbart, der erst im Schlußsatz auch die lebensfreudige Haltung gewinnt, von der die andern Sinfonien vorwiegend bestimmt sind. Zwischen diesen beiden Sinfonien großen

Robert-Schumann-Zimmer im Schumann-Museum in Zwickau.
[304b]      Robert-Schumann-Zimmer
im Schumann-Museum in Zwickau.
Stils steht als "Dritte" in Es-dur op. 97 die "rheinische" Sinfonie, die unter dem Einfluß der neugewonnenen Düsseldorfer Heimat als ein einziges frohes Lied an das Leben sich gestaltete.

Doch indem Robert Schumann dieses Lebenslied sang, trat er schon in den letzten Abschnitt seines Daseins ein. Seine Dirigierkunst fand im zweiten Winter in Düsseldorf vielfach Ablehnung, und im dritten mußte er den Dirigentenstab in andere Hände legen. Es zeigte sich doch, daß er als Dirigent nichts Führendes und Faszinierendes hatte, daß er bisweilen dem Orchester nicht voll gewachsen war – um so tiefer versank er in diesen Jahren in seine geliebte Stille, versponn er sich in seinen Empfindungen und Empfindsamkeiten. Noch trägt ihn der Lebensstrom; Reisen, in die Schweiz, nach Holland, begeistern ihn nicht weniger als die Erscheinung des jungen Johannes Brahms, dem er noch einen prophetischen und zugleich seinen letzten Aufsatz widmet. Aber allmählich gewinnen doch die Dämonen der Nacht Herrschaft über dieses gesegnete Schöpferleben, und zu Beginn des Jahres 1854 setzen sie zum letzten Sturm an. Merkwürdige Zeichen hatten schon vorher auf eine entscheidende Veränderung in Schumanns geistigem Wesen hingedeutet. Er hatte überzeugtes Vergnügen am – Tischrücken gewonnen, und eine gewisse religiös-mystische Begeisterung hatte ihn gepackt. Jetzt begann er verzückten Gefühls engelhafte Musik zu hören, die sich aber schnell auch in das Brüllen wilder Tiere zu verwandeln schien; die Nerven spielten ihm immer heftiger mit, er geriet in einen "förmlichen Nervenparoxysmus", und nun ist kein Zweifel mehr über das entsetzliche Leiden des Tondichters, der endlich in einem Anfall aufs höchste gesteigerter Melancholie am 26. Februar 1854 in den Rhein springt. Er wird von dem Tode des Ertrinkens gerettet – aber niemand kann seinen Eingang in die Nacht des Wahns aufhalten. Schon im April wird er in eine Irrenheilanstalt nach Endenich bei Bonn gebracht, und dort durchläuft er langsam, allzu langsam alle Stadien der geistigen Auflösung, bis er am 29. Juli 1856 seine ewige Ruhe findet: der große romantische Genius der deutschen Musik.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz