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[Bd. 3 S. 266]
Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber, 1777-1855 bzw. 1804-1891, von Hans Schimank

Karl Friedrich Gauss.
Karl Friedrich Gauss.
Gemälde von Christian Albrecht Jensen, 1840.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 362.]
Aus dem Geschlecht der Gauß, Gooß oder Goeß, das sich in den braunschweigischen Dörfern Wendeburg und Völkenrode bis in den Beginn des siebzehnten Jahrhunderts zurückverfolgen läßt, stammte auch Gerhard oder Gebhard Dietrich Gauß, der zu Braunschweig als Lehmentierer, Gassenschlächter und Gärtner, später als Bote der allgemeinen Sterbekasse sein kärgliches Auskommen fand. Nach dem Tode seiner ersten Gattin war er mit Dorothea Benze, der Tochter eines Steinhauermeisters aus Velpke bei Vorsfelde, eine neue Ehe eingegangen, der als einziges Kind ein Sohn entsproß: Johann Friedrich Carl Gauß, der am 30. April 1777 zu Braunschweig geboren wurde und bestimmt war, dereinst der Stolz und Ruhm seiner engeren Heimat wie des ganzen Deutschlands zu werden.

Die erschreckende und gleichsam bannende Großartigkeit seines Genies wie die Entlegenheit des Gebietes, auf dem es sich äußerte, lassen die Erinnerung an Gauß im Bewußtsein seines Volkes nicht wahrhaft lebendig sein, und selbst denen, die von ihm wissen, erscheint er nur selten als das Glückskind, das er doch war. Denn wenige begabte Menschen haben so frühe und nachdrückliche Förderung erfahren wie er. Nicht im elterlichen Hause. Dazu waren die Verhältnisse zu ärmlich und die Menschen, die darin lebten, zu stark von der Sorge ums tägliche Brot in Anspruch genommen. Erst in der Schule vermochte sich der junge Gauß unter seinen Altersgenossen hervorzutun. Er selbst pflegte zu erzählen, daß er als Siebenjähriger die Aufgabe, sämtliche Zahlen von 1 bis 100 zusammenzuzählen, durch unmittelbares Erfassen des Summengesetzes der gleichstufig fortschreitenden arithmetischen Reihe gelöst und deshalb als Endergebnis sofort die Ziffern 5050 hingeschrieben habe. Durch dieses und ähnliche Beispiele seiner rechnerischen Begabung wußte er die Aufmerksamkeit seiner Lehrer Büttner und Bartels auf sich zu ziehen und konnte dank ihrer Förderung die höheren Schulen Braunschweigs besuchen, zunächst das Gymnasium Catharineum und im Anschluß daran das Collegium Carolinum, das eine Art Vorstufe der Universität bildete.

Hier gewann er bald in August Wilhelm Zimmermann, dem Professor der Mathematik, einen warmherzigen, väterlichen Freund, der die Aufmerksamkeit des regierenden Herzogs auf den vielversprechenden Schüler lenkte. Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig scheint erahnend die Anlage zu einer überragenden [267] geistigen Leistung gespürt zu haben, die in dem unscheinbaren jungen Menschen steckte. Denn auf seinen Befehl flossen fortan aus den staatlichen Kassen die Gelder für Gauß' Studienaufenthalt in Göttingen, für den Druck der Helmstedter Doktordissertation und schließlich für das Gehalt, das es dem jungen Mathematiker erlaubte, ohne Belastung durch irgendeine andere Verpflichtung sich ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen.

Gauß schwankte anfangs, ob er sich nicht lieber dem Studium der klassischen Altertumswissenschaft statt der Beschäftigung mit der Mathematik zuwenden sollte. Erst am 29. März 1796 fiel die Entscheidung, als er "bei einem Ferienaufenthalt in Braunschweig, am Morgen des gedachten Tages, ehe (er) aus dem Bette aufgestanden war", die Konstruierbarkeit des regelmäßigen Siebzehnecks mittels Zirkel und Lineal klar erkannte. Im Intelligenzblatt der Allgemeinen Jenaischen Literaturzeitung vom 1. Juni 1796 gab er auf Zimmermanns Veranlassung seine Entdeckung bekannt und wies in einer kurzen Mitteilung darauf hin, daß außer den seit Euklids Zeiten bekannten regelmäßigen Vielecken, dem Dreieck, Fünfeck und ihren Vielfachen, auch noch eine Menge anderer, zum Beispiel das Siebzehneck, einer geometrischen Konstruktion fähig seien. Im übrigen handele es sich bei dieser "Entdeckung... eigentlich nur (um) ein Korollarium einer noch nicht ganz vollendeten Theorie von größerem Umfange", die nach ihrer Vollendung alsbald der Öffentlichkeit vorgelegt werden solle. Die Fertigstellung des Druckes dieser hier angedeuteten arithmetischen Untersuchungen, der "Disquisitiones arithmeticae", zog sich aber noch längere Zeit hin. Die Saumseligkeit des Druckers ermöglichte Gauß – nicht zum Schaden des Werkes selbst – eine mehrfache Überarbeitung der in der Handschrift schon fertiggestellten Teile, so daß das Buch, als es 1801 endlich erschien, als ein Meisterwerk seinen Verfasser sogleich den bedeutendsten Mathematikern aller Zeiten zugesellte. Nach dem Urteil von Felix Klein schuf Gauß darin "im eigentlichen Sinne die moderne Zahlentheorie und bestimmte bis zum heutigen Tage die ganze folgende Entwicklung". Bei der Schwierigkeit der darin behandelten Fragen waren die "Disquisitiones" aber wenig geeignet, ihren Urheber außerhalb des engsten Kreises der Fachgenossen bekanntzumachen. Auch die Aufstellung einer bequemen Formel zur Berechnung des Osterdatums zog naturgemäß nur die Aufmerksamkeit einer kleinen Zahl von Mathematikern und Astronomen auf sich. Aber noch im Laufe des gleichen Jahres, in dem die "Disquisitiones arithmeticae" erschienen, sollte Gauß' Name zu den bekanntesten der ganzen gebildeten Welt zählen.

Am 1. Januar 1801, dem ersten Tage des neuen Jahrhunderts, hatte der Astronom Giuseppe Piazzi in Neapel ein Sternchen beobachtet, das im Laufe der folgenden Tage seinen Platz am Himmel veränderte, und das er daher für einen schweiflosen Kometen hielt. Der Eintritt nebeligen Wetters setzte seinen Beobachtungen ein Ende, und ehe noch auf Grund seiner Angaben das unbekannte Gestirn an günstiger gelegenen Beobachtungsplätzen hatte aufgefunden und weiter [268] verfolgt werden können, war es in den Strahlen der Sonne schon verschwunden. Da eine ausführliche Erörterung aller Piazzischen Beobachtungen inzwischen die Vermutung nahegelegt hatte, daß es sich nicht um einen Kometen, sondern um ein neues Mitglied unseres Planetensystems handle, so sahen alle Himmelskundigen mit Spannung dem Spätherbst des Jahres entgegen, wo das Gestirn, dem Piazzi den Namen Ceres Ferdinandea gegeben hatte, wieder aus dem Strahlenglanze der Sonne heraustreten und im Fernrohr sichtbar werden mußte. Aus den wenigen vorliegenden Beobachtungen war auch der voraussichtliche Standort des neuen kleinen Planeten bei seinem Wiedererscheinen berechnet worden. Die Suche nach ihm blieb aber ergebnislos, und die Ceres wäre wohl für lange Zeit den Astronomen wieder entschlüpft, wenn Gauß sich nicht der Sache angenommen hätte.

Ihn reizte die Aufgabe, aus grundsätzlich drei vollständigen Beobachtungen eines Planeten die volle Bahnellipse zu berechnen, besonders deshalb, weil ihre Lösung nicht unmittelbar möglich ist, sondern nur durch Näherungsverfahren erreicht werden kann. Sie bietet gerade darum der mathematischen Phantasie einen weiten Spielraum und gestattet die Entfaltung mannigfacher rechnerischer und algebraischer Kunstgriffe und Verfahren, über die Gauß wie kaum ein anderer verfügte. Neben meisterhafter Beherrschung der allgemeinen mathematischen Hilfsmittel nannte er auch eine bei reinen Mathematikern nicht eben häufige Fähigkeit zur gewandten Erledigung von Zahlenrechnungen und eine ausgesprochene Freude daran sein eigen. Er verdankte dieser Lust am Rechnen sogar einen nicht geringen Teil seiner rein wissenschaftlichen Erfolge. Denn manches Ergebnis der Zahlentheorie wie der Funktionentheorie erhielt er zunächst auf gleichsam experimentellem Wege und erbrachte erst später in oft langwieriger Arbeit den Beweis für die strenge Gültigkeit des anschaulich gefundenen Satzes.

Kein Wunder, daß er unter diesen Umständen erreichte, was allen seinen Mitbewerbern unmöglich gewesen war. Auf Grund seiner Angaben konnte die Ceres genau ein Jahr nach ihrer ersten Beobachtung wiedererkannt werden. Es war eine aufsehenerregende Leistung, die der vierundzwanzigjährige braunschweigische Mathematiker damit vollbracht hatte. Daß sie keinen Zufallserfolg bedeutete, sondern auf der Güte und Eigenart der von ihm entwickelten Berechnungsverfahren beruhte, konnte er noch im Laufe des gleichen Jahres an der Bahnbestimmung der im April 1802 von Olbers entdeckten Pallas und späterhin an der der Juno (1804) und der der Vesta (1807) erweisen. Aus allen diesen Bemühungen erwuchs als zusammenfassende Darstellung seiner Rechenmethoden schließlich Gauß' astronomisches Hauptwerk, die "Theoria motus corporum coelestium in sectionibus conicis solem ambientium" (Theorie der Bewegung der Himmelskörper, die sich längs eines Kegelschnittes um die Sonne bewegen). Das Werk erschien 1809 zu Hamburg und lehrte sowohl "aus drei vollständigen Beobachtungen die Bahn zu bestimmen, wenn man von dieser noch gar nichts weiß", [269] wie auch "aus vier Beobachtungen, wovon aber nur zwei vollständig sind, eine noch ganz unbestimmte Bahn zu bestimmen". Schließlich zeigte Gauß noch, wie "aus einer größeren Anzahl von Beobachtungsdaten, als unbekannte Größen sind, von denen sie abhängen, die wahrscheinlichsten Werte der letzteren zu bestimmen" sind, und gab durch die hier erstmalig von ihm beschriebene Methode der kleinsten Quadrate den Astronomen die Möglichkeit, eine zunächst nur angenähert ermittelte "Bahn so zu verbessern, daß sie den Beobachtungen so gut als möglich Genüge leiste". Das Werk steht als das Gesetzbuch der rechnenden Astronomie noch heute in unvermindertem Ansehen, und die darin entwickelten Methoden werden fast allgemein noch benutzt.

Bei solchen Erfolgen konnte es nicht ausbleiben, daß man von verschiedenen Seiten mit vorteilhaften Angeboten an Gauß herantrat. Er lehnte sie alle ab, auch diejenigen der russischen Regierung, die ihn unter höchst verlockenden Bedingungen als Mitglied ihrer Petersburger Akademie zu gewinnen suchte. Denn einmal fühlte er sich seinem Herzog für die ihm erwiesenen Wohltaten zu Dank verpflichtet, zum anderen bestand die Aussicht, daß er als Direktor einer neu zu begründenden Sternwarte in Braunschweig seinen Studien frei von jeder Lehrverpflichtung würde nachgehen können.

Aber auch eine aufkeimende Herzensneigung fesselte ihn hier. Im Hause seines Taufpaten Ritter hatte er 1803 Johanna, die Tochter des Weißgerbermeisters Osthoff, kennen und lieben gelernt. In einem Schreiben, das von tiefer Zärtlichkeit und männlichem Ernste zugleich erfüllt war, hatte er ihr am 12. Juli 1804 sein Herz eröffnet. "Ich kann Ihnen zwar jetzt nicht Reichtum, nicht Glanz anbieten", hatte er ihr geschrieben, "doch Ihnen, Gute,... sind ja Reichtum und Glanz ebenso gleichgültig wie mir. Aber ich habe mehr als ich für mich allein gebrauche, genug, um zweien genügsamen Menschen ein sorgenfreies, anständiges Leben zu bereiten... Das Beste, was ich Ihnen anbieten kann, ist ein treues Herz voll inniger Liebe für Sie. Prüfen Sie, geliebte Freundin,... ob Sie die Lebensreise Hand in Hand mit mir mit Wohlgefallen machen können."

Die Antwort auf diese Frage empfing der Liebende nicht ganz so schnell, wie er hoffte. Erst im November 1804 erfolgte die Verlobung, am 9. Oktober 1805 die Eheschließung. Infolge der Verantwortung, die er damit für das Schicksal eines anderen Menschen übernommen hatte, war Gauß jetzt geneigter, dem Rate seines Freundes Olbers zu folgen und eine Berufung als Direktor der Sternwarte nach Göttingen anzunehmen. Die Verhandlungen darüber zogen sich aber noch längere Zeit hin und fanden erst nach dem Tode des Herzogs von Braunschweig, der infolge einer in der Schlacht von Auerstädt erlittenen schweren Verwundung am 10. November 1806 zu Ottensen gestorben war, im Sommer 1807 ihren Abschluß.

Friedrich Carl Gauß in der Göttinger Sternwarte.
[272a]      Friedrich Carl Gauß in der Göttinger Sternwarte.
Zeitgenössische Lithographie. Berlin, Reichspostmuseum.

[Bildquelle: Johannes Schulz, Berlin.]

Kaum aber war Gauß im November des gleichen Jahres nach Göttingen übersiedelt, als ihm ebenso wie den anderen Angehörigen der Universität und den [270] Bürgern Göttingens ein Beitrag für die Zwangsanleihe zugunsten des neuerrichteten Königreichs Westfalen auferlegt wurde. Obwohl er noch keinen Pfennig Gehalt erhalten hatte, sollte er den Betrag von zweitausend Franken entrichten und geriet durch diese Anforderung in nicht geringe Verlegenheit. Doch "wurde wenigstens für die erste Not... durch Auszahlung von einem vierteljährigen Gehalte gesorgt", so daß er die Geldgeschenke, die ihm Olbers und andere Gönner auf die Nachricht von seiner Bedrängnis sogleich übersandt hatten, wieder zurückschicken konnte. Weit schlimmeres Ungemach brachten ihm die nächsten Jahre. Am 12. Oktober 1809 mußte er nach Bremen schreiben: "Lieber Olbers! Sie luden mich so freundlich ein, Sie zu besuchen, wenn meine Frau sich wohl befände. Jetzt befindet sie sich wohl. Gestern abend um acht Uhr habe ich ihr die Engelsaugen, in denen ich seit fünf Jahren einen Himmel fand, zugedrückt. Der Himmel gebe mir Kraft, diesen Schlag zu ertragen. Erlauben Sie mir jetzt,... ein paar Wochen in den Armen der Freundschaft Kräfte für das Leben zu sammeln, das jetzt nur noch als meinen drei unmündigen Kindern gehörend Wert hat." Aber auch aus der Schar dieser Kinder riß wenige Monate später der Tod das jüngste fort. Rastlose Arbeit und der tröstende Friede einer neuen Ehe, die Gauß mit Minna Waldeck, der vertrautesten Göttinger Freundin seiner ersten Frau, am 4. August 1810 schloß, halfen seinen Schmerz lindern.

Astronomische Rechnungen und Arbeiten, insbesondere die Ausarbeitung seiner "Theoria motus", nahmen in Göttingen zunächst seine Zeit in Anspruch. Dazu kam seit dem Wintersemester 1808 die ihm höchst lästige Verpflichtung, Vorlesungen zu halten, die aber auch das Gute hatte, ihm eine Reihe begabter junger Männer als Schüler zuzuführen. Zu ihnen gehörten unter anderen Heinrich Christian Schumacher, der spätere Direktor der Sternwarte in Altona, der nachmalige Professor der Physik in Marburg Christian Ludwig Gerling, August Ferdinand Möbius, Struve und Encke, so daß man für diesen Zeitraum geradezu von einer Gaußschen Astronomenschule sprechen kann. Daß trotz seiner ausgedehnten Tätigkeit auf dem Gebiete der theoretischen und praktischen Astronomie die Beschäftigung mit der reinen Mathematik nicht zu kurz kam, dafür sorgte Gauß' eigene Neigung. Denn so oft ihn "eine Art von Überdruß an dem toten, mechanischen Berechnen der Bahnen der neuen Planeten befiel", ließ er darin eine Pause eintreten, um seine "geliebten arithmetischen Untersuchungen wieder vorzunehmen".

Aber auch der Beschäftigung mit Fragen der mathematischen Physik wandte er sich nicht ungern zu. So fügte er beispielsweise einem Briefe an Benzenberg 1803 eine kleine Abhandlung "Über die Fundamentalgleichungen für die Bewegung schwerer Körper auf der rotierenden Erde" bei, die dieser in seinem Buche Versuch über die Umdrehung der Erde (Dortmund 1804) zum Abdruck brachte. Ein Jahrzehnt später wurde der Göttinger Akademie der Wissenschaften eine Abhandlung über die Anziehung homogener Ellipsoide vorgelegt. Die umfangreichen [271] "Principia generalia theoriae figurae fluidorum in statu aequilibrii" (Allgemeine Grundlagen einer Theorie der Gleichgewichtsgestalt der Flüssigkeiten) gehören hingegen einem wesentlich späteren Zeitraume an. Sie erschienen erst 1829, im gleichen Jahre wie die an Umfang kleine, an Bedeutung um so größere Veröffentlichung in Crelles Journal "Über ein neues allgemeines Grundgesetz der Mechanik". Das sogenannte "Prinzip des kleinsten Zwanges", von dem darin gehandelt wird, besagt, daß in jedem Falle, wo "die Bewegung eines Systems von materiellen Punkten nicht frei, sondern durch gegenseitige Relationen oder durch äußere Hindernisse beschränkt ist,... die Plätze, wo sie nach einem unendlich kleinen Zeitteilchen wirklich sich befinden, denen, wo sie infolge einer freien Bewegung (sich) befinden müßten, so nahe wie möglich" liegen.

Bei dem engen Zusammenhange, der zwischen geodätischen und astronomischen Messungen besteht, war bei Gauß schon 1803 anläßlich einiger Winkelmessungen der Umgebung Braunschweigs der Plan aufgetaucht, "einst das ganze Land mit einem Dreiecksnetz zu beziehen". Aber erst als Schumacher mit der Durchführung einer Gradmessung im dänischen Hoheitsgebiet beauftragt wurde und Gauß zur Teilnahme an Anschlußmessungen aufforderte, wurde es damit ernst. Im Spätherbst 1818 erhielt Gauß von der Regierung in Hannover die Weisung, sich an den Vermessungsarbeiten von Schumacher zu beteiligen, und reiste wenig später nach Lüneburg ab. Hier wurde er zu einer seiner schönsten und für das Vermessungswesen höchst bedeutsamen Erfindungen angeregt, als er "in der Entfernung von sechs Meilen das zufällig von einem Sonnenstrahl getroffene Fenster des obersten Kabinetts im Michaelisturm in Hamburg als einen überaus glänzenden Lichtpunkt sah". Ein Rechnungsüberschlag ließ ihn erkennen, "daß von einem gut gearbeiteten und hinreichend genau gerichteten Planspiegel von einem Zoll Durchmesser das reflektierte Sonnenlicht... in einer Entfernung von sechs Meilen und selbst in viel größeren durch Fernrohre, wie sie an den Theodoliten gebraucht werden, noch immer sehr schön zu sehen sein müßte", und die Erfahrung bestätigte seine Überlegung. So wurde er durch diese Erfindung des Heliographen oder Heliotrops in die Lage gesetzt, die geplanten geodätischen Dreiecke von großer Seitenlänge und unter ihnen auch das gewaltige Dreieck zwischen dem Brocken, dem Hohenhagen und dem Inselsberge bei Gotha mit einer bis dahin unerhörten Genauigkeit auszumessen.

Sowohl die praktischen Vermessungsarbeiten wie die Dreiecksberechnungen, die ihn noch jahrzehntelang in Anspruch nahmen, scheinen auf den ersten Anblick Gauß' Arbeitskraft in unerwünschter Weise von denjenigen Gebieten abzulenken, auf denen er die Kraft seiner mathematischen Phantasie am würdigsten und erfolgreichsten zu bewähren wußte. Doch war dies nicht der Fall. Denn angeregt durch die in Zusammenhang mit den Aufgaben der Landesmessung und ihrer kartographischen Wiedergabe stehenden Fragen wurde Gauß nicht nur zum Schöpfer der höheren Geodäsie, sondern empfing dadurch auch den Anstoß zu den [272] bedeutsamen Untersuchungen, die 1822 unter dem Titel Allgemeine Auflösung der Aufgabe, die Teile einer gegebenen Fläche auf einer anderen gegebenen Fläche so abzubilden, daß die Abbildung dem Abgebildeten in den kleinsten Teilen ähnlich wird und 1828 als "Disquisitiones generales circa superficies curvas" (Allgemeine Untersuchungen über krumme Flächen) veröffentlicht wurden.

Die gedankliche Entwicklung lenkt von hier aus bei Gauß unmittelbar zu der Betrachtung mehrdimensionaler Räume hinüber, letzten Endes also zu Fragen, wie sie durch die Darlegungen Bernhard Riemanns und neuerdings durch die Aufgabenstellung der allgemeinen Relativitätstheorie aufgeworfen wurden. Sie kreuzt sich dabei mit einer anderen Gedankenreihe, zu deren Verfolgung Gauß schon sehr früh angeregt worden war, ohne etwas unmittelbar darauf Bezügliches zu veröffentlichen. Ebenso wie sein Freund Wolfgang Bolyai hatte er sich bereits während der Göttinger Studienzeit gefragt, ob das berühmte Euklidische Parallelenaxiom beweisbar wäre, wonach sich durch einen gegebenen Punkt zu einer gegebenen Geraden nur eine einzige Parallele ziehen läßt. Seit 1817 war es ihm dann zur Gewißheit geworden, "daß die Notwendigkeit unserer (Euklidischen) Geometrie nicht bewiesen werden kann, wenigstens nicht vom menschlichen Verstande, noch für den menschlichen Verstand... (und daß) man die Geometrie nicht mit der Arithmetik, die rein a priori steht, sondern etwa mit der Mechanik in gleichen Rang setzen" müßte. Er erkannte auch, daß beim Verzicht auf das Parallelenaxiom sich eine "antieuklidische" transzendentale Geometrie entwickeln läßt, die in sich selbst widerspruchsfrei bleibt, in der die Winkelsumme des Dreiecks kleiner als 180 Grad ist und deren Lehrsätze unter bestimmten Bedingungen mit denen der Euklidischen Geometrie identisch werden. Da er selbst aus Besorgnis vor dem "Geschrei der Böoter" sich nur sehr zurückhaltend über diese Fragen äußerte, konnten jüngere Forscher, vor allem Johann Bolyai, der Russe Lobatschewskij und Riemann selbständig zur Begründung nichteuklidischer Geometrien gelangen.

So übte Gauß nur einen sehr mittelbaren Einfluß auf die Erörterungen über die Grundlagen der Geometrie aus. Dagegen hat er auf dem Gebiete der Algebra alles getan, um die Mathematiker davon zu überzeugen, daß "den komplexen Größen das völlig gleiche Bürgerrecht mit den reellen Größen eingeräumt werden müsse", und daß diese Größen "ebensogut wie die negativen ihre reale gegenständliche Bedeutung haben", wie sich bei ihrer "Versinnlichung durch die Punkte einer unbegrenzten Ebene" zeigt. In seiner Doktordissertation vom Jahre 1799, in der er nachwies, daß jede ganze, rationale, algebraische Funktion einer einzigen Veränderlichen in reelle Faktoren ersten oder zweiten Grades zerlegt werden kann, war er der Benutzung komplexer Größen noch ausgewichen und hatte sich "die Rechtfertigung ihrer Einführung sowie eine eingehende Erörterung dieser ganzen Sache für eine andere Gelegenheit vorbehalten". 1831 hielt er diesen Zeitpunkt für gekommen und entwickelte die Theorie der komplexen Zahlen in seiner zweiten Abhandlung zur "Theorie der biquadratischen Reste". Die Benutzung des Buchstaben [273] i für und die Darstellung komplexer Zahlen durch Punkte einer Zahlenebene erfolgten schon vor Gauß durch Euler (1777) bzw. den dänischen Feldmesser Caspar Wessel (1797 bis 1798). Das
Gauß-Denkmal auf der Potsdamer Brücke in Berlin.ċ
Gauß-Denkmal
auf der Potsdamer Brücke in Berlin.

Von Gerhard Janensch, 1898; 1944 zerstört.
[Bildarchiv Scriptorium.]
entscheidende Verdienst von Gauß besteht darin, daß er die umfassende Bedeutung der komplexen Größen als Zahlen in der Arithmetik und als Veränderliche in der Analysis erkannt und seinen Fachgenossen zum Bewußtsein gebracht hat.

Den ganzen Gedankenreichtum des Mathematikers Gauß, der sich erst uns Nachlebenden durch die Veröffentlichung seines wissenschaftlichen Nachlasses enthüllt hat, vermag auch heute noch nur der Fachwissenschafter zu würdigen. Dagegen sind andere Leistungen, die auf dem Gebiete der physikalischen Wissenschaften liegen, wenigstens in ihren Grundzügen dem allgemeinen Verständnis zugänglich. Die bedeutsamsten unter ihnen nehmen ihren Ausgang von der persönlichen Bekanntschaft, die Gauß auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1828 mit Alexander von Humboldt und einem jungen Physiker namens Wilhelm Weber machte.


Wilhelm Weber.
Wilhelm Weber.
Gemälde von Gottlieb Biermann, 1885.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 363.]
Wilhelm Weber kam am 24. Oktober 1804 in Wittenberg als Sohn des angesehenen Professors der Theologie Michael Weber zur Welt. Seine Mutter war Christiane Friederike Wilhelmine Lippold, die ihrem Gatten zwölf Kinder gebar, von denen aber nur vier Söhne und eine Tochter ein höheres Alter erreichten. In Wittenberg wohnte die Familie Weber im Hause des Professors Langguth, der über reiche Sammlungen von Naturalien, physikalischen Geräten und medizinischen Präparaten verfügte und mit dem Physiker Chladni befreundet war. Nach Aufhebung der Universität Wittenberg siedelte sie nach Halle über, wo Wilhelm das Pädagogium der Frankeschen Stiftungen besuchte.

Schon früh wurde er durch seinen älteren Bruder Ernst Heinrich zu wissenschaftlicher Mitarbeit herangezogen und veröffentlichte in Gemeinschaft mit ihm die Wellenlehre auf Experimente gegründet oder über die Wellen tropfbarer Flüssigkeiten mit Anwendung auf die Schall- und Lichtwellen. Von den Brüdern Ernst Heinrich Weber, Professor in Leipzig, und Wilhelm Weber in Halle. Das Werk, das 1825 in Leipzig erschienen und dem "verehrten Freunde Chladni, dem Begründer einer auf Versuchen beruhenden Akustik,... dem ersten Erforscher der auf die Erde niedergefallenen meteorischen Massen" gewidmet war, kann noch heute als eine klassische Einführung in die Wellenlehre auf versuchsmäßiger Grundlage gelten und erbrachte unter anderem den damals wichtigen Nachweis, daß bei Saiten oder in Pfeifen "die stehende Schwingung durch eine regelmäßige Begegnung von Wellen zustande kommt, die an den Grenzen des Körpers, den sie durchlaufen, so zurückgeworfen werden, daß sie denselben Weg oft hintereinander durchlaufen". Die schon in der "Wellenlehre" gewonnenen Erkenntnisse zur Theorie der Zungenpfeifen baute Wilhelm Weber in seiner lateinischen Habilitationsschrift weiter aus und behandelte darin die "Gesetze der Schwingungen von Körpern verschiedener Schwingungszahl, die so miteinander verbunden sind, [274] daß sie nur gleichzeitig und im Gleichtakt miteinander schwingen können. Erläutert am Beispiel der Zungenpfeifen". Wenige Monate nach ihrer Veröffentlichung wurde er zum außerordentlichen Professor an der Universität Halle ernannt und nahm als solcher an der Versammlung der Naturforscher und Ärzte in Berlin teil, vor der er über "Kompensation der Tonhöhen zusammenschwingender Körper, unter Vorzeigung erläuternder Instrumente" vortrug. Nach Abschluß der Tagung kehrte er nach Halle zurück, wo er – abgesehen von einem mehrwöchigen Studienaufenthalt in Berlin – bis zu seiner Berufung nach Göttingen blieb.

Als ordentlicher Professor der Physik siedelte er nach dorthin im September 1831 über, und damit begann für ihn die Zeit einer engen Zusammenarbeit mit Gauß, die für seine ganze weitere Entwicklung bestimmend werden sollte. Nur eine einzige größere Arbeit aus der Zeit des ersten Göttinger Aufenthaltes liegt außerhalb des Rahmens der von Gauß angeregten Untersuchungen. Es ist die Schrift über Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung von den Brüdern Wilhelm Weber, Professor in Göttingen, und Eduard Weber, Prosektor in Leipzig, Göttingen 1836. Die Verfahren der physikalischen Forschung waren hier in mustergültiger Weise auf ein physiologisches Problem in Anwendung gebracht, und neben vielem anderen wurde bei dieser Gelegenheit auch nachgewiesen, "daß das Hüftgelenk... einen luftdichten Verschluß hat, wodurch bewirkt wird, daß, wenn auch alle die Gelenke umgebenden Muskeln und Bänder völlig erschlafft sind, die beiden im Gelenke aneinandergrenzenden Körperteile doch schon durch den Luftdruck zusammengehalten werden".

Auf einem völlig anderen Gebiet bewegten sich die in Gemeinschaft mit Gauß unternommenen Arbeiten, die sich eine Verfeinerung und Ausgestaltung der Verfahren und Geräte zur erdmagnetischen Forschung zum Ziele setzten. Dabei entwickelte Gauß zumeist die Grundgedanken, während Weber ihre zweckmäßige Ausführung übernahm. Die Mehrzahl der so in gemeinsamer Arbeit gewonnenen Ergebnisse wurde in einer eigens dafür begründeten und von Gauß und Weber gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift veröffentlicht, den Resultaten aus den Beobachtungen des magnetischen Vereins, von denen während der Jahre 1837 bis 1842 sechs Bände erschienen. Sie enthalten außer der Mitteilung der erdmagnetischen Beobachtungsergebnisse für die Jahre 1836 bis 1841 noch fünfundfünfzig selbständige Abhandlungen, unter denen fünfzehn von Gauß und dreiundzwanzig von Weber verfaßt wurden.

Den Auftakt zu Gauß' erdmagnetischen Untersuchungen bildet die Abhandlung "Intensitas vis magneticae terrestris ad mensuram absolutam revocata" (Zurückführung der erdmagnetischen Kraft auf absolutes Maß), die der Göttinger Akademie der Wissenschaften am 15. Dezember 1832 vorgelegt wurde. Während nämlich bisher aus den Beobachtungen der Schwingungsdauer einer Magnetnadel nur Vergleichswerte der Intensität des Erdmagnetismus abgeleitet werden konnten und Änderungen ihres Betrages über lange Zeiträume hin gar nicht [275] erfaßbar waren, entwickelte Gauß jetzt statt "jener bloß komparativen Methode eine andere,... welche die Intensität des Erdmagnetismus auf ganz bestimmte, für sich feststehende, jeder Zeit mit größter Schärfe wieder nachzuweisende und von der Individualität der angewandten Nadel ganz unabhängige Einheiten zurückführt". Er lehrte gleichzeitig, durch geeignete Festsetzung neue physikalische Größen begrifflich scharf zu erfassen und in einen eindeutigen Maßzusammenhang mit schon festgelegten, insbesondere mechanischen Größen zu bringen. Von Anfang an war er sich auch darüber klar, daß dieses absolute magnetische Maßsystem mit den Grundeinheiten Millimeter, Milligramm und Sekunde auch auf die Messung galvanischer Ströme übertragen werden könnte.

Die Aufgabe, eine "allgemeine Theorie des Erdmagnetismus" zu entwerfen, in der "die magnetische Erdkraft (nicht als)... das Resultat von ein paar großen Magneten in der Nähe des Erdmittelpunkts (erscheint), die nach und nach viele Meilen weit sich von ihrem Platze bewegen", sondern als die Wirkung "aller in der Erde enthaltenen polarisierten Eisenteilchen, und zwar mehr derjenigen, die der Oberfläche, als der, die dem Mittelpunkte näher liegen", löste er erst einige Jahre später in einer Arbeit mit dem oben angegebenen Titel. Sie erschien im dritten Bande der Resultate und fand nach der mathematischen Seite hin ihre Ergänzung in den ein Jahr später (1840) veröffentlichten Allgemeinen Lehrsätzen in Beziehung auf die im verkehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung wirkenden Anziehungs- und Abstoßungskräfte. In allgemeinerer und tiefer dringender Weise, als es 1828 in der selbst in England wenig beachteten Arbeit von George Green geschehen war, wird in dieser Gaußschen Abhandlung der für die Entwicklung der theoretischen Physik bedeutsame Begriff des "Potentials" aufgestellt und klargelegt.

Gauß am Empfänger des elektromagnetischen Telegraphen.
Gauß am Empfänger des elektromagnetischen Telegraphen, den er 1833 zusammen mit Wilhelm Weber erfand.   –   Zeitgenössische Lithographie.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Im Zusammenhange mit den erdmagnetischen Messungen kam es dann auch zu der für die gesamte Nachrichtentechnik umwälzenden Erfindung des elektromagnetischen Telegraphen, über dessen erste Anfänge Gauß am 13. Juni 1833 folgendermaßen an Humboldt berichtete: "In der allerletzten Zeit sind wir beschäftigt mit galvanomagnetischen Versuchen in großem Maßstabe. Eine Drahtverbindung zwischen der Sternwarte und dem Physikalischen Kabinett ist eingerichtet; ganze Drahtlänge zirka fünftausend Fuß. Unser Weber hat das Verdienst, diese Drähte gezogen zu haben – über den Johannisturm und Accouchierhaus (die Entbindungsanstalt) – ganz allein. Er hat dabei unbeschreibliche Geduld bewiesen. Fast unzählige Male sind die Drähte, wenn sie schon ganz oder zum Teil fertig waren, wieder zerrissen – durch Mutwillen oder Zufall. Endlich ist seit einigen Tagen die Verbindung, wie es scheint, sicher hergestellt; statt des früheren feinen Kupferdrahtes ist etwas starker Eisendraht – gefirnißt – angewandt. Die Wirkung ist sehr imponierend, ja sie ist jetzt zu stark für meine eigentlichen Zwecke. Ich wünsche nämlich zu versuchen, sie zu telegraphischen Zeichen zu gebrauchen, wozu ich mir eine Methode ausgesonnen habe; es leidet keinen Zweifel, daß es [276] gehen wird... Wäre nur zu den Kosten Rat zu schaffen, so meine ich, würde man unmittelbar von Göttingen nach Hannover korrespondieren können." Schon Ende August konnte Gauß dann an Encke mitteilen, daß die Leitung seit längerer Zeil ungestört arbeite, und daß er und Weber "mit bestem Erfolge ganze kleine Phrasen einander signalisiert" hätten.

Die Beschäftigung mit den elektromagnetischen Vorgängen führte Gauß weiterhin auf die Induktionserscheinungen und im Zusammenhange damit zur Erfindung des Erdinduktors, eines ganz neuartigen Gerätes zur Ermittlung der erdmagnetischen Inklination, das aber zunächst die an seine Benutzung geknüpften Erwartungen enttäuschte. Erst Weber vermochte später das Verfahren so weit zu verbessern, daß sich "alle Vorzüge magnetometrischer Messungen, welche bisher auf Deklination und horizontale Intensität beschränkt waren, auch auf die Inklination ausdehnen" ließen. Bevor es so weit kam, sollten sich aber unter der Einwirkung politischer Ereignisse tiefgreifende Veränderungen an der Göttinger Universität vollziehen.

Ernst August, der am 20. Juni 1837 als deutscher Fürst in Hannover eingezogen war, hatte am 5. Juli das Staatsgrundgesetz vom Jahre 1833 außer Kraft gesetzt und das alte Ständegesetz von 1819 wieder eingeführt. Sieben Göttinger Professoren weigerten sich jedoch in einer von Dahlmann verfaßten Eingabe, "eine Ständeversammlung, die im Widerspruche mit den Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes zusammentritt, als rechtmäßig bestehend an(zu)erkennen", und erklärten weiterhin, sie seien "sich bewußt, bei treuer Wahrung ihres amtlichen Berufs die studierende Jugend stets vor

Die Göttinger Sieben.
Die Göttinger Sieben.
Oben: Wilhelm und Jacob Grimm.
Mitte: Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Chr. Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus.
Unten: Wilhelm Eduard Weber,
Heinrich Georg August Ewald.
Lithografie von Carl Rohde, 1837/38.
[Nach wikipedia.org.]
politischen Extremen gewarnt und, so viel an ihnen lag, in der Anhänglichkeit an ihre Landesregierung gefestigt zu haben. Allein das ganze Gelingen ihrer Wirksamkeit beruhe nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werte ihrer Lehren als auf ihrer persönlichen Unbescholtenheit. Sobald sie vor der studierenden Jugend als Männer erscheinen (würden), die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, ebensobald (sei) der Segen ihrer Wirksamkeit dahin".

Die Folge dieser mannhaften Erklärung war, daß die sieben unterzeichneten Professoren, unter ihnen auch Weber, ihres Amtes entsetzt und daß drei von ihnen außerdem des Landes verwiesen wurden. Weber, der von dieser strengeren Maßnahme nicht getroffen wurde, blieb zunächst als Privatmann in Göttingen, um die gemeinsam mit Gauß unternommenen Untersuchungen weiterzuführen. Bemühungen von Gauß und Humboldt, seine Wiedereinsetzung in die alte Stellung zu erreichen, scheiterten an der Unnachgiebigkeit des Königs und an Webers Weigerung, eine solche Wiedereinsetzung durch den Widerruf und die Verleugnung seiner bisherigen Haltung zu erkaufen. Als daher mit der Veröffentlichung eines Atlas, der Erdmagnetismus nach den Elementen der Theorie entworfen, für den Weber den erklärenden Text verfaßt und einen großen Teil der Karten gezeichnet hatte, sowie mit der Herausgabe des letzten Bandes der Resultate im Jahre 1842 die [277] erdmagnetischen Untersuchungen zu einem gewissen Abschluß gekommen waren, folgte er Ostern 1843 einem Ruf nach Leipzig und übernahm dort als Nachfolger Gustav Theodor Fechners die Professur für Physik.

Gauß empfand den Fortgang Webers als einen "schmerzlichen, nie zu überwindenden Verlust" und verlor die Freude an der Fortsetzung seiner magnetischen wie der physikalischen Arbeiten überhaupt. Zwar haben die Ergebnisse seiner 1840 veröffentlichten Dioptrischen Untersuchungen an praktischer Bedeutung eingebüßt, seitdem unter der Führung Ernst Abbes neue Grundsätze für den Bau optischer Vorrichtungen maßgebend wurden, aber daß Gauß nach der Abreise Webers auch seine elektrodynamischen Untersuchungen einstellte, wird immer bedauerlich bleiben. Denn er hatte nicht nur mit der Niederschrift einer Abhandlung über die "Zurückführung der Wechselwirkung zwischen galvanischen Strömen und Magnetismus auf absolute Maße" verheißungsvoll begonnen, sondern auch in seinen weiteren Betrachtungen einen bis dahin nie betretenen Weg eingeschlagen und sich um die "Ableitung der Zusatzkräfte (bemüht), die zu der gegenseitigen Wirkung ruhender Elektrizitätsteilchen noch hinzukommen, wenn sie in gegenseitiger Bewegung sind, aus der nicht instantanen (zeitlos schnellen), sondern auf ähnliche Weise wie beim Licht sich fortpflanzenden Wirkung".

Statt dessen wandte er sich jetzt wieder rein mathematischen Forschungen zu. 1843 erschienen seine Untersuchungen über Gegenstände der höheren Geodäsie. Nächst ihnen beschäftigte ihn als großangelegte Aufgabe auf dem Gebiete der Versicherungsmathematik die Neugestaltung der Universitätswitwenkasse, die er mit gewohnter Meisterschaft durchführte. Schließlich griff er in den Beiträgen zur Theorie der algebraischen Gleichungen noch einmal den Gegenstand seiner Doktorarbeit auf und lieferte einen weiteren Beweis für den Fundamentalsatz der Algebra, daß jede ganze Funktion einer veränderlichen Größe x mit rein reellen Zahlenfaktoren wenigstens eine reelle oder komplexe Wurzel besitzt. An der Festsitzung anläßlich seines goldenen Doktorjubiläums, in der Gauß (1849) diese letzte von ihm verfaßte Abhandlung vorlegte, nahm auch Weber erneut als sein Amtsgenosse teil, nachdem er zu Ostern des gleichen Jahres die Leipziger Professur wieder mit seinem einstigen Göttinger Lehrstuhl vertauscht hatte.

Zu einer neuerlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden Freunden kam es freilich nicht mehr. Denn auch Gauß' schier unerschöpfliche Schaffenskraft begann zu erlahmen, und er ging leichteren Beschäftigungen nach. Körperliche Altersbeschwerden gesellten sich bald dazu. Er litt an Schlaflosigkeit und Atemnot, und schon Anfang September 1854 rechnete man mit seinem baldigen Tode. Ein unerwartetes Aufflackern der Lebensgeister schob die Frist noch einmal hinaus. Kurz nach der Mittagsstunde des 22. Februar 1855 setzte der Todeskampf ein, und am 23. Februar früh ein Uhr und fünf Minuten tat Gauß den letzten Atemzug. Wenige Tage später wurde in feierlichem Zuge eines der größten deutschen Genies zu Grabe getragen, ein Mann, der unter seinen Zeitgenossen nur mit Kant oder [278] Beethoven vergleichbar ist und mit dem sich auf dem Gebiete seiner Wissenschaft nur Archimedes und Newton messen können.

Wilhelm Weber.
[272b]      Wilhelm Weber.
Photographie, um 1870.
Weber als dem überlebenden Freunde war es vergönnt, auf dem Gebiete der Physik fortzusetzen und zu vollenden, was Gauß begonnen hatte. In seinen meisterhaften Elektrodynamischen Maßbestimmungen knüpfte er in der Fragestellung wie in der meßtechnischen Ausgestaltung unmittelbar an die in Gemeinschaft mit Gauß durchgeführten Untersuchungen an und gab in der ersten 1846 erschienenen Abhandlung zunächst ein neues und entwicklungsgeschichtlich höchst bedeutsames Meßgerät an, das Elektrodynamometer mit bifilarer Aufhängung, das im Gegensatz zu den sonst gebräuchlichen Geräten auch zur Messung von Strömen wechselnder Richtung brauchbar war. Gemäß dem Untertitel der Arbeit: "Über ein allgemeines Grundgesetz der elektrischen Wirkung", sollten ihm seine genauen Maßbestimmungen ermöglichen, durch ein einheitliches, allgemeingültiges Gesetz alle bekannten elektrostatischen, elektrodynamischen, elektromagnetischen und induktiven Erscheinungen zahlenmäßig genau zu erfassen und damit auf dem Gebiete der Elektrizitätslehre eine ähnlich fruchtbare Entwicklung einzuleiten, wie sie wenige Jahrzehnte früher im Bezirke der optischen Erscheinungen durch die Young-Fresnelsche Wellentheorie angebahnt worden war. Ein theoretisches Unternehmen mit so weit gestecktem Ziele ist aber nur durchführbar, wenn einheitliche und weitgehend willkürfreie Maßfestsetzungen für die elektrischen Grundgrößen erfolgen, die sich zugleich auch praktisch verwirklichen lassen. Daß Weber in dieser Beziehung eine für alle Zeiten vorbildliche Arbeit leistete und die Grundlagen unseres noch jetzt gültigen elektrischen Maßsystems schuf, bedingt den Wert seiner Lebensarbeit für die Physik wie für die Elektrotechnik. Wie stark er selbst sich gerade der praktischen Bedeutung seiner Untersuchungen bewußt war, geht überzeugend aus der Tatsache hervor, daß er als erster schon 1844 vergleichende Untersuchungen an elektrischen Maschinen durchführte und in einem Aufsatz "Über das Maß der Wirksamkeit magneto-elektrischer Maschinen" nachdrücklich auf den praktischen Wert solcher elektrischen Leistungsmessungen und Prüfvorschriften hinwies.

Schließt man sich der von Weber vertretenen Anschauung an, daß ein elektrischer Strom stets in der Bewegung einzelner Ladungsträger besteht, so erhebt sich die Frage, mit welcher mechanischen Geschwindigkeit eine elektrostatische Ladungseinheit bewegt werden müßte, um die gleiche Wirkung wie eine – beispielsweise elektrochemisch festgelegte – Einheit der Stromstärke hervorzubringen. In einer gemeinschaftlich durchgeführten Untersuchung Über die Elektrizitätsmenge, welche bei galvanischen Strömen durch den Querschnitt der Kette fließt, zeigten Rudolf Kohlrausch und Wilhelm Weber, daß diese Geschwindigkeit 59 320 Meilen oder rund 300 000 Kilometer in der Sekunde zu betragen hätte und somit praktisch mit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes übereinstimmt.

[279] Durch dieses Zahlenergebnis wurde wenig später Maxwell in seiner Auffassung des Lichtes als eines elektromagnetischen Schwingungsvorganges bestärkt und damit eine Entwicklung eingeleitet, die grundsätzlich andere Bahnen ging als die durch Webers Gesetz gewiesenen. Während man nämlich bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nur die unvermittelten und augenblicklichen Fernwirkungen schwerer Massen, magnetischer Pole, elektrischer Ladungen oder Ströme ins Auge faßte und an dieser seit Newtons Zeiten gebräuchlichen Betrachtungsweise keinen Anstoß nahm, gelangte jetzt die unter dem Einfluß der bildhaften Anschauungen Faradays entstandene und durch Maxwell in mathematisches Gewand gekleidete Theorie des elektromagnetischen Feldes zur Herrschaft, für dessen mit endlicher Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkungen Heinrich Hertz 1887 einen bündigen Beweis durch die Entdeckung der elektrischen Wellen erbrachte.

Gerade bei solcher Gegenüberstellung muß aber andererseits auch betont werden, daß die Fernwirkungsvorstellung ja nicht den einzigen Grundpfeiler der Weberschen Theorie bildet. Ebenso bezeichnend für sie ist die atomistische Auffassung der Elektrizität, und durch sie hat Weber in hohem Maße befruchtend auf spätere Forschungen gewirkt, wie sie etwa von Hittorf über den Stromdurchgang durch Elektrolyte und Gase oder von Riecke zur Elektronentheorie der Metalle angestellt wurden. Besonders Webers Gedanke, den elektrischen Ladungen eine bestimmte Masse zuzuschreiben,

Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen.
Gauß-Weber-Denkmal in Göttingen.
Von Carl Ferdinand Hartzer, 1899.
[Nach wikipedia.org.]
ist grundlegend für die moderne Atomphysik geworden. Wenn daher in einer achten nachgelassenen Abhandlung der Elektrodynamischen Maßbestimmungen Weber sich der Erörterung der Frage zuwandte, wie Atome, Moleküle und Kristalle sich durch das Spiel der elektrischen Kräfte aufbauen, wurde er damit zum Vorläufer der Entwicklung, die sich im zweiten und dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts vollzogen hat.

So leiten die letzten Äußerungen seines langen, an Erfolgen und Arbeit reichen Lebens unmittelbar zu den Fragestellungen der Gegenwart hinüber. Es war das Leben eines Mannes, dem die äußere Anerkennung wenig, die Leistung alles galt und der darum das Recht hatte, am Ende seines Lebens zu sagen: "Ich habe keine Lust mehr, auf dieser dunklen Erde zu arbeiten." Dem Lichte zugewandt, den letzten Blick auf die scheidende Sonne gerichtet, starb Wilhelm Eduard Weber am Abend des 23. Juni 1891 im Garten seines Hauses in Göttingen.




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