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[Bd. 4 S. 461]
Stefan George, 1868-1933, von Franz Schultz

Stefan George.
Stefan George.
Gemälde von Reinhold u. Sabine Lepsius.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 456.]
Stefan George soll einmal gesagt haben, es sei ein Irrtum, ihn zur "modernen Literatur" zu rechnen. Dies Wort, weit entfernt, zu befremden, zeigt den Weg, der zu ihm führt. Seine Ausklammerung aus dem Bereiche dessen, was "modern" geheißen wird, wie aus dem Getriebe des literarischen und literatenhaften Lebens schafft erst den Raum, innerhalb dessen die Erkenntnis seiner Sendung gewonnen wird. Diese Sendung reicht nach Zielsetzung und Ergebnis so weit, daß der Blick aus zeitlicher und menschlicher Nähe ihr nicht gerecht zu werden vermag. Die Gestalt Georges bedarf von vornherein mehr als eines zeitlichen und zeitbedingten Hintergrundes. Und sie bedarf vor allem mehr als einer Feststellung des bloß Ungewöhnlichen, das sich in Äußerlichkeiten und Begleiterscheinungen dem stumpfen Blicke darbietet. Sie ist mit dem Anspruch und dem Kennzeichen des Ewiggültigen ausgestattet. Reicht sie so über zeitliche und räumliche Schranken hinaus, so hat sie doch nur in dem Deutschland vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts ihren Ansatz finden können. Für Deutschland wurde George wirksam in einem Maße, das erst die folgenden Zeiten recht werden abschätzen können. Er traf hier auf eine sich vorbereitende Zeitwende, durch die er getragen wurde. Er speiste wiederum die Kraftquellen eines neuwerdenden Deutschlands. Er hielt sich abseits von allem, was Masse macht, und doch ging von der erlesenen Gemeinschaft, in deren Mittelpunkt er stand, von der ordensmäßigen Bindung seiner Jünger an ihn, eine Welle der geistigen Hochspannung und kulturellen Neugeburt aus, die sich noch immer weiter fortpflanzt.

Dies alles geschah vom Dichter und vom Dichterischen her. Es hatte zunächst nichts zu tun mit dem öffentlichen, staatlich-politischen oder wirtschaftlichen Leben. George stand von allem Anfang an über jeder Weltordnung, die durch die neuzeitlichen Ausbildungsformen der Wirtschaftsmacht bestimmt wird. Im Gefolge dieser Gestaltung vom Geiste und von der Seele her formte sich in seinem Kreise die Auffassung des gesamten Kulturlebens in Deutschland und wurde Deutschland in einen neu sich öffnenden geschichtlichen Raum verwiesen. Auch bei solchen wirkte er, die nicht in unmittelbarer Berührung mit ihm lebten, ja kaum sein Werk kannten. So drang er schließlich wie jede große Erscheinung des Geistes durch viele mittelbare Rinnsale auch in die Breite vor, von der er sich und die Seinen anfangs durch hohe und geheimnisvolle Hecken abgezäunt hatte. Heute steht man in Deutschland mitten in der Auseinandersetzung über Wesen und Wert seiner Erscheinung. Man wird sich [462] dessen bewußt, daß er das deutsche Geistesleben bis zu tiefen Schichten durchsetzt hat. Das Georgetum ist eine Macht geworden. Die Nennung seines Namens genügt, einen ganzen Atemraum mit allen Auswirkungen und Zugehörigkeiten fühlbar werden zu lassen, gleichviel ob dabei Mitgehen oder Ablehnung ist.

Das alles aber kam von einem Dichter, und zwar von einem Dichter im letzten Wortsinne. Hier liegt das Wundersame der Stefan-George-Frage. Daß der Dichter Gestalter auch des öffentlichen Lebens sein könne oder sein müsse, ist seit Plato oft gehörte Weisheit. Frankreich und England haben in neuerer Zeit Dichter gesehen, die mit diesem Anspruche Ernst machten und zur Stimme des öffentlichen und staatlichen Gewissens ihrer Völker wurden. Die deutsche Klassik hat von der Dichtung und Kunst her den ganzen Menschen erfassen und formen wollen, aber nicht mit den hochgehenden Wellen der Zeit, sondern über sie hinwegsteuernd. Sie stellte nicht den Anspruch, das gesamte Volk auch in seinen öffentlichen Angelegenheiten bestimmen zu wollen. Näher steht solchem Streben die deutsche Romantik: die Welteroberung durch das schlechthin Poetische ist ein Traum von Novalis. Hölderlin wurde schließlich einsame und gebrochene Stimme einer ersehnten neuen Volksgemeinschaft. Achim von Arnim hat die Sendung des Dichters für das Volksganze unklar empfunden. Die politische Lyrik der Befreiungskriege und der Folgezeit ging auf die Willensbestimmung des Volkes aus. Die Erziehung des deutschen Volkes von der Kunst und Dichtung her war die Aufgabe, die sich Richard Wagner gestellt hatte. Sieht man von der mehr auf rednerische als auf künstlerische Wirkungen ausgehenden politischen Lyrik ab, so bediente sich das Bestreben, vom Dichterischen her auf einen Gesamtgeist des Volkes Einfluß zu nehmen, vornehmlich der großen Gattungen der Poesie, des Dramas und des Romans; oder es handelte sich eben um eine unmittelbar anfeuernde Haltung und um rednerischen Aufschwung. Bei George liegen die Fragen, die die erziehende Macht der Dichtung betreffen, tiefer gebettet. Bei ihm ging alle Wirkung von früh bis spät aus von "dem Gedicht": das ist bei ihm ein Gebilde, das abgelöst ist von allen Beziehungen auf Zweck oder Nutzen, auf Augenblickswirkungen und Massenerfolge, auf Belehrung oder Unterhaltung, ja selbst auf Genuß oder Reiz. Ein Gebilde dieses Georgesche Gedicht, das zunächst und grundsätzlich einmal sein Dasein nach eigenen Gesetzen in einem Bezirke führt, von dem keine sichtbaren Fäden zu der Umwelt und Außenwelt und zu der alltäglichen Wirklichkeit führen – ein Gebilde, ruhend und schwingend in sich nach tiefverborgenen, feinsten Wachstums- und Klanggesetzen. Damit ist in Deutschland eine Erkenntnis Form geworden, die letztlich auf die große geistige Bewegung des deutschen Idealismus zurückdeutet. Schon der nachkantischen Philosophie waren Kunst und Dichtung die Seele der Welt, wie das Georgesche Gedicht diesen Anspruch erhebt. Schon dem Schellingschen Idealismus waren Natur und Geschichte das göttliche Weltgedicht, und die geniale menschliche Dichtung fing dieses Weltgedicht in ihrer Form auf. So war die Dichtung die höchste Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit und Wesentlichkeit und [463] das eigentlich Seiende stellt die Georgesche Dichtung dar. Damit steht er schon in seiner Frühzeit abseits von der aus Frankreich ihm nahegebrachten Forderung, daß die Kunst nur für die Kunst da sei. Ein solcher

Holzschnitt von Reinhold Lepsius, 1907.
[463]    Stefan George. Holzschnitt
von Reinhold Lepsius, 1907.
Lehrsatz, der ihn in einen rein ästhetischen Bereich verweisen würde, ist schon für seine Frühwerke zu eng. Auf der anderen Seite erscheint aber auch die alte und abgebrauchte Auffassung von einem Gegensatz zwischen romanischer oder südlicher Formkraft und deutscher Formlosigkeit durch das Auftreten Georges überwunden. Hiermit eröffnet sich der Blick auf Georges Entwicklungsgeschichte.

Soweit sich erkennen läßt, ist Stefan George rein deutscher Abkunft. Dies sei ausgesprochen gegenüber den Behauptungen, daß in seinem Blute französische, keltische oder wallonische Beisätze vorhanden gewesen seien. Er gehört nach Ahnenschaft und Entwicklung dem Stromgebiet des Rheines zu. Auf die fränkische Erbmasse berief er sich selbst. Unter der deutschen liegt dort die alte römische Schicht. Aber in seinem Verhältnis zu Frankreich und französischen Dichtern ist auch etwas von den Beziehungen zu der alten geschichtlichen Grundlage des Gesamtfränkischen zu spüren (man erinnere sich des Gedichtes "Franken" im Siebenten Ring). Die napoleonische Zeit löste die Bande seiner Vorfahren mit dem deutsch-lothringischen Heimatboden und brachte ihre Verpflanzung ins Rheinhessische. Am 12. Juli 1868 wurde Stefan George in Büdesheim geboren. Fünf Jahre später verlegten die Eltern ihren Wohnsitz nach dem nahen Bingen. Hier dringt zweitausendjährige Vergangenheit auf ihn ein. Über dem alten römischen Grunde erhob sich hier für ihn das deutsche Mittelalter. Dann bildet ihn das Gymnasium in Darmstadt. Das Verständnis seines Vaters und eine günstige äußere Lage geben ihm die Möglichkeit, sich ganz von seinem früh bekundeten Dichtertum tragen zu lassen. Es beginnt jenes Wanderdasein, das ihn durch die meisten Länder Europas führt. Er [464] ist dabei überall umgeben von Freunden, Verehrern, Anhängern und Gönnern. Die Huldigungen und Förderungen, die Vergesellschaftungen in seinem Zeichen sind dem Begnadeten und Geweihten, dem Sendling einer in dichterischer Erlesenheit sich offenbarenden, in sich fest geschlossenen, überlegen in sich ruhenden Lebenshaltung selbstverständlich. Aber war er früh fertig und früh reif, so stand doch auch er unter den Gesetzen entwicklungsgeschichtlichen Werdens.

In diese Richtung gehende Erörterungen erscheinen heute besonders notwendig. Will man das Deutsche in George recht erkennen, wie es sich an ihm immer deutlicher herausstellte, so muß das rechte Verständnis gewonnen sein für die Frage, was England und die romanischen Länder ihm waren. England ließ den von der Schule kommenden Neunzehnjährigen frei und sicher werden, gab ihm den Mut zu sich selbst und zu seiner nationalen Art und bestärkte ihn in der herrenhaften Gehobenheit, die sich noch längere Zeit auch in gewissen Äußerlichkeiten des "Dandys" an ihm bemerkbar machte. Vielleicht ist die Selbststärkung, die ihm England gab, bedeutungsvoller als alles das, was er in seinen frühen Lehr- und Wanderjahren in den romanischen Ländern, in Frankreich vor allem, gewann. In Paris trat er den französischen Symbolisten und ihrem Anhang nahe:

      Und in der heitren Anmut Stadt, der Gärten
      Wehmütigem Reiz, bei nachtbestrahlten Türmen
      Verzauberten Gewölbs umgab mich Jugend
      Im Taumel aller Dinge, die mir teuer – –
      Da schirmen Held und Sänger das Geheimnis:
      Villiers sich hoch genug für einen Thron,
      Verlaine in Fall und Buße fromm und kindlich
      Und für sein Denkbild blutend: Mallarmé.

Hinter den hier Genannten und den ihnen näher oder ferner stehenden Dichtern, die das Leben als einen magisch geordneten Vorgang ansahen, der nur durch die in Wort und Vers zu erreichende Sinnbildlichkeit von Gebärden wiedergegeben werden könnte, stand der Schatten des 1867 gestorbenen Baudelaire. Die Verdeutschung der "Fleurs du mal" ist neben der Übertragung der Göttlichen Komödie und der Umdichtung der Sonette Shakespeares das gewichtigste Zeugnis für Georges Begehren nach der großen Dichtung der westlichen und südlichen Völker. Er hat auch eigene Gedichte in französischer und englischer Fassung zu geben vermocht, hat in seiner frühesten Zeit in jener romanischen Sprache gedichtet, die er sich vor allem in Anlehnung an das Spanische selber zurechtgemacht hatte.

Spanien gehörte ebenfalls zu seinen frühesten und stärksten Eindrücken. Dort brach, wenn wir ihm selber und dem maßgeblichsten Schilderer seines Lebens und seiner Wirkung, Friedrich Wolters, folgen, "ein unheimlicher Tiefenraum der Erinnerung in ihm auf und wurde das Dunkel-Ersehnte eines [465] herrscherlichen Lebens im Traum einer früheren Wirklichkeit erkannt". Aber dennoch: man kann George aus allen diesen, offen zutage liegenden, früheren und späteren Eindrücken von Sprache, Dichtung, Kultur und Geschichte anderer Völker nicht "herleiten". Taten sich vor ihm Räume, Zeiten und Prächte aller Zonen auf, wurde das Instrument seiner sprachlichen und dichterischen Kunst eingestimmt in die Tonfolge und Klangfarbe, die er bereits in der Dichtung anderer Länder vernahm, fand er sich durch fremde Dichtung bestätigt in seiner Vorstellung, daß Dichtung keine Wiedergabe von Geschichten oder Gedanken, keine Schilderung von Zuständen und niederen "Wirklichkeiten", sondern begleitendes Symbol einer Welt sei, die nach gültigeren Gesetzen geordnet ist als nach denen, die der Verstand um sich herum wahrnimmt – so war doch immer er selber die Kraftmitte, aus der heraus dies alles seine Vereinheitlichung und Sonderprägung empfing. Wie spricht doch der "Engel" im "Vorspiel" zum Teppich des Lebens (1899)?

      Und leidest du am Zagemut der Väter,
      Daß der Gestalten wechselnd buntes Schwirren
      Und ihre Überfülle dich verirren:
      Vernichtet dich die Weltenzahl im Äther:

      So komm zur Stätte, da wir uns verbünden!
      In meinem Hain der Weihe hallt es brausend:
      Sind auch der Dinge Formen abertausend,
      Ist dir nur Eine – Meine – sie zu künden.

Wenn in solchen Zeilen die ganz persönliche Haltung Georges zur Welt ihren Ausdruck gefunden hat, so ist diese Haltung doch kein "Individualismus", wie denn George ebensoweit absteht von jedem "Intellektualismus". Von beidem ist er geschieden durch die kultische Gemeinschaftsbindung, in der er, sein Werk, sein Kreis von allem Anfang an standen. Bis ihm das Göttliche mit dem Jüngling Maximin im Leben begegnet, sucht und findet die Georgesche Dichtung von der Phantasie erfaßte und erhöhte Gestalten aus Geschichte, Mythe und Legende, die der Verehrung und Vergottung und damit einer kultisch-religiösen Bindung dienen – für den Dichter selbst und durch ihn für seinen Kreis. Mit dieser kultisch-religiösen Gemeinschaftsschöpfung wird das Wesen Stefan Georges erst ganz und in der Mitte getroffen. In dieser Vergesellschaftung ist das Dichterische Werkzeug, Mittel zum Zweck, tragendes und vereinigendes Element, alles durchdringender "Stoff". Im übrigen jedoch geht das Religiöse mit dem Geschichtlichen, Volklichen und Kulturellen und im letzten Sinne Politischen, das Seelische mit dem Leiblichen, das Mystische des Gehaltes mit dem Kristallenen der Form, das Heldische mit dem Hingebenden einen Bund ein. Dies alles zusammen, diese Mehrseitigkeit, diese Stellvertretung des einen durch das andere macht den Sinn [466] und das Wesen der Georgeschen Kreisbildung aus und verleiht ihr eine gewisse Ganzheit und die Wirkung eines unübersehbaren Kraftfeldes. Ebensowenig wie der Blick bei George und den Seinen im Zeitpunkte der reifen Ausbildung des Georgetums nur auf das Äußerlich-Dichterische fallen sollte, ebensowenig sollte George etwa vornehmlich als "ein religiöser Genius erster Ordnung" verehrt werden. Im Sinne dieser Abgelöstheit von jedem bloßen Teilgebiete menschlichen Verhaltens mußte das Organ, durch welches die Ganzheit von Georges Sendung sich folgerechterweise verständlich machte, eben die Dichtung, von der reinsten Vollendung sein, entsprechend dem "Absoluten", welches der Wille des Meisters in sich schloß; es mußte alles an dieser Dichtung wesensnotwendig und gesetzlich sein, nichts bloßes Spiel und Äußerlichkeit: es mußte sein eben "Auswahl, Maß und Klang".

Stefan George.
[464a]      Stefan George.
[Bildquelle: Fr. Müller-Hilsdorf, München.]
Der für die neuere geistige Geschichte Deutschlands schicksalhafte Augenblick ergab sich, als George mit der kulturell-künstlerischen Verfassung in Deutschland am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts zusammenstieß. Der Gegensatz konnte nicht wohl größer sein, als er war, und ging übrigens über die Front gegen den in der deutschen Literatur damals herrschenden "Naturalismus", gegen die flache und unkünstlerische, vermeintliche "Wiedergabe des Wirklichen" und gegen die auf der Tagesordnung stehende soziale Schablone schon damals weit hinaus. Die erste für die Öffentlichkeit getroffene Auslese aus den Blättern für die Kunst, 1899 erschienen und die Jahre 1892 bis 1898 umfassend, herausgegeben von dem Treuesten der Treuen, Karl August Klein, zeigt George und seinen Kreis als "unzeitgemäß" im Sinne Nietzsches. Daß George den Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert führte wie Nietzsche und Richard Wagner, daß dieser sein Kampf letztlich im Namen aller naturhaft und geschichtlich gewachsenen und bewiesenen Mächte gegen die rassische und bürgerliche Entartung gerichtet war wie bei jenen beiden, wird nunmehr immer klarer, mochten auch die Blätter selber zunächst nur die unmittelbar greifbaren Ansatzpunkte sehen, wenn sie behaupteten, "daß Mitarbeiter und Leser durch keinen anderen Gedanken verbunden waren als den, auch bei uns gegen das unvornehme Geräusch des Tages der Schönheit und dem Geschmack wieder zum Siege zu verhelfen".

Titelblatt von Melchior Lechter für ‘'Das Jahr der Seele'‘.
[467]      Titelblatt von Melchior Lechter
für "Das Jahr der Seele"
von Stefan George, 1897.
Inzwischen war auch die Georgesche Dichtung in weitere Kreise gedrungen. Sie führte von der Sammlung Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal über Die Bücher der Hirten und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten, das Jahr der Seele, den Teppich des Lebens, den Siebenten Ring, den Stern des Bundes zu der letzten im Jahre 1928 erschienenen Sammlung Das Neue Reich. Die Kunst Stefan Georges ist sich von der ersten bis zur letzten Sammlung gleichgeblieben, die Kunst, wohlverstanden, im besonderen Wortsinne. Diese Bücher sind vom Kleinsten des Rhythmus, der Laut- und Wortwahl, der Klangfarbe und Klangentsprechung, der Satzbildung und Akzentverteilung bis zu der Bannung aller einzelnen dichterischen Gebilde in den Raum [467] eines Buches in strengster Folgerichtigkeit und zu letzter und vollkommener Einheit durchgebildet. Alle Kunst fließt nach George aus einem Momente. Demzufolge ist ihm jede ausgedehnte Schöpfung niemals reiner und einheitlicher Stimmungsausdruck. Darum besitzt man von ihm weder Epos noch Roman noch Dramen (als welche die Gespräche weder gelten können noch wollen). Alle diese größeren Gattungen können für ihn nicht jene erstrebte letzte Verdichtung erreichen. Sie sind niemals nur Atem eines schöpferischen Augenblickes, sie müssen immer auch ein willkürliches und verständliches Verketten unzusammengehöriger Lebensäußerungen bieten. Im Zusammenwirken des Instinkts und der Kunstberechnung wird das Gedicht zur erfaßten Stimmung und verkörperlichten Vision. Die Gedichte fügen sich zu Zyklen zusammen, die Zyklen zu einem Buche. Und jedes dieser Bücher ist als Ganzes der Ausdruck eines bestimmten Lebens- und Entwicklungsabschnittes. Druckanordnung, Druckschrift, Druck- und Satzzeichen sind in ihrer Besonderheit nichts Abseitiges und Geschmäcklerisches, sondern notwendiger Ausdruck dieses so und nicht anders beschaffenen, einmaligen dichterischen Seins. Diese Dichtung erscheint oft hart geschmiedet und gläsern, oft eisig und in dünner, hoher Luft beheimatet, manchmal dunkel, gewaltsam, und selbst ihrem Wortsinne nach nicht leicht zugänglich. Selten schwingt Georges Dichtung in der Gattung des leichten "Liedes", und auch dann nicht ohne fühlbaren Zwang. Es wird keine Wertverletzung sein, auszusprechen, daß die Masse dieser Dichtung eine Aussiebung verträgt nach solchen Versen, in denen das Letzte, was dichterisch sagbar erscheint, Wort geworden ist, und anderen, die – ungelöst – gleichsam nur durch einen [468] fortwirkenden Selbstantrieb die einmal festgewordene Höhenlage halten. Und es muß ebenso gesagt werden, daß manche geschmäcklerischen Nachahmer und Anhänger gelehrig nur das Außenwerk dieser Dichtung betrieben haben.

Für den Meister selbst barg sich unter der im wesentlichen gleichgebliebenen dichterischen Form und Haltung eine Fülle des menschlich-innerlichen Sichwandelns, Leidens und Erschüttertseins. Zwei Stationen liegen vornehmlich auf diesem Wege: eigentlich bezeichnen sie nur eine und dieselbe Entwicklungslinie. Die eine liegt vor dem Erscheinen des Siebenten Ringes (1907). Es ist jene Krisenzeit um die Wende des Jahrhunderts, die den Dichter den Anfechtungen wehren ließ, die von einem neuaufsteigenden Lebensgefühl innerhalb seines Kreises in München herrührten, dem der "kosmischen Runde". Gegenüber dem Willen zum Rauschhaft-Gelösten, Formlos-Herrschaftslosen, aus dunkler, urmenschlicher Tiefe Aufsteigenden beharrte er auf der klaren Bändigung seiner selbst, der anderen und der Dinge. Es waren die Jahre am Anfang des neuen Jahrhunderts, in denen ihm der Abstieg Deutschlands in Nützlichkeitssucht, Plattheit, Charakterlosigkeit und Materialismus immer gewisser wurde. Immer mehr geriet er in eine Seelenverfassung, ähnlich der Hölderlins, dessen großformiger, völkisch-vaterländischer Gemeinschaftsdichtung George nun näherrückt. Es ist die Stimmung, daß in größter Not des Volkes und damit des einzelnen der rettende Gott nahe sei. Er erschien ihm mit dem Jüngling "Maximin" und wurde nach seinem kurzen Erscheinen wieder von der Erde genommen.

Eigenhändige Niederschrift eines Gedichtes von Stefan George.
[469]      Eigenhändige Niederschrift
eines Gedichtes von Stefan George

aus dem Werk "Das Neue Reich".

[Bildquelle: Verlag Georg Bondi, Berlin.]
Für George, den europäischen Wanderer, wird nun Deutschland würdigster Aufenthalts- und Ansatzbereich. Immer stärker stellt er sich gegen die entartende deutsche Menschheit und die gleichmacherische und ausgehöhlte Zeit. Fester schloß sich nun der männliche Bund derer, die, gleichen Geistes und Fühlens, wußten, worauf es ankam. So konnte, wie George selbst im Vorwort sagt, der Stern des Bundes (1913) für manche als "ein Brevier fast volksgültiger Art erscheinen... besonders für die Jugend auf den Kampffeldern". Das Neue Reich (1928) zeigt diese zweite Station seines Werdens erreicht. Es umfaßt die Gedichte der Kriegs- und Nachkriegszeit. Hier ist, zum Teil mit unmittelbaren Beziehungen zum politischen Geschehen und neuen Wollen der Zeit, der große deutsche Staatsdichter erstanden in Prophetie, seherischer Ahnung und Warnung und herbster Abstrafung. Nie vorher ward noch ein solcher rauher Pessimismus bei George erhört: "Weit minder wundert es, daß so viel sterben, als daß so viel zu leben wagt." Aber: "Die Jugend ruft die Götter auf." Immer noch auch in dieser Zeit ist der Dichter der Führer: "Er fernab fühlt allein das ganze Elend und die ganze Schmach." Unbekannt ist noch, wann und wie das neue Deutschland sich gestalten wird. Es ist Geheimnis, auch vom Dichter nur erahnt. Aber ihm steht über jedem Zweifel, daß ein solches neues Deutschland zu kommen im Begriffe ist, in welchem der Dichter vor dem großen Volksführer zurücktreten wird. Die größeren Dichtungen dieses Bandes: "Der Krieg", "Der Dichter in Zeiten der Wirren", "Einem jungen Führer im ersten [469] Weltkrieg", "Geheimes Deutschland" sind von einer Hellsichtigkeit, die mit dem Aufrufe zu einer neuen heldischen Haltung einen erschütternden Bund eingeht. So läßt die Georgesche Dichtung zuletzt einen Sinn erkennen, der dem politischen deutschen Tatmenschen vorfühlt. Hätte nicht ein zu früher Tod den Meister hinweggenommen, so würde dieser Weg ihn vermutlich noch weitergeführt haben. Auch nun aber übte für ihn der Geist das oberste Richteramt aus. Wo immer es [470] in dem Deutschland der ersten dreißig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts um Entscheidungen ging, in denen der geistige Mensch sich seiner Verpflichtung gegenüber einer alltäglichen und handwerksmäßigen Gesinnung, aber auch gegenüber der leiblich-seelischen Einheit des Vollmenschen und Vollvolkes bewußt war – vor allem auch in den Geisteswissenschaften, die alle von George befruchtet worden sind –, stand hinter solchen Verantwortungen das strenge und eherne, das edle und heilsbringerhafte, danteske Gesicht des herrscherlichen Tempelhüters.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz