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[Bd. 4 S. 450]
Rainer Maria Rilke, 1875-1926, von Franz Schultz

Rainer Maria Rilke.
Rainer Maria Rilke.
Foto, Künstler unbekannt.
[Nach casabibliofilia.blogspot.com.]
Eine weit verbreitete Sprechweise schließt, wenn es sich um die Ehrentitel maßgeblicher und seelenbestimmender deutscher Dichtung jüngster Zeit handelt, die Namen Stefan Georges und Rainer Maria Rilkes gerne durch das Bindewort zusammen. Richtiger wäre es, wenn sie schon nebeneinander gestellt werden, sie zu trennen durch ein Wort, das ihre letzte, in die untersten Gründe reichende Gegensätzlichkeit bezeichnet. Es verdient scharfes Aufhorchen, wenn im Zusammenhange der neben George wirksamen Zeitmächte, insbesondere eines religiösen Dichtertums, das Urteil von seiten des George-Kreises lautet: "Hier wurde uns vor allem Rilke angepriesen. Aber so wie dessen Dichtungen, die bei manchen schönen Wendungen doch über das von Hofmannsthal Erreichte nirgends hinausgehen, zur Aufnahme in den Blättern zu weichlich schienen, so gestehen wir, daß dessen Religiosität uns eher Abscheu erweckt hat. Dieses haltlose Sichwegwerfen hielten wir nur für schädlich zur Bildung eines höheren Lebens, und wir waren nie erschüttert von den Erschütterungen dieser durchaus slawisch gerichteten Seele" (Friedrich Wolters).

Ob man nun einer solchen ablehnenden Kennzeichnung Berechtigtes zuerkennen will oder nicht: bestehen bleibt, daß in George und Rilke zwei Möglichkeiten menschlicher Seelenhaltung Gestalt geworden sind, deren Gegenüber die philosophische Fachsprache als "dialektisch" bezeichnen würde. Es ist der "Held" und der "Heilige". Es ist der die Umwelt und Vorwelt nach eigener erlesener Geistesart und eigenem Recht sich Zueignende und auf der anderen Seite der, dessen Seele und Dichtung gleichsam stille hält, um aufzunehmen und zu empfangen und einen Widerschein zu geben von allem, auch von allem Armen und Demütigen. Durch ihn nehmen die "Dinge" – und dies ist jenes geheimnisvolle Urwort Rilkescher Weltanschauung und Dichtung – ihren Durchzug; das Leben, im biologischen wie im metaphysischen Sinne, rinnt in ihn hinein, der so ein Gefäß der Gnade erscheint, aber auch nahe daran, mit diesem ewigen und geheimnisvollen Strome mitgeschwemmt zu werden ins Unbekannte, ohne ihm mehr gebieten zu können als im wortmächtigen Festhalten der Stationen jenes Weges, welcher über alle durchsichtig werdenden Erscheinungen der Sinnenwelt nach innen und nur nach innen führt, mit jener Gleichsetzung der geheimnisreichen Magie von Dingwelt und Seelenwelt, die schon Novalis kannte. Ja, jede Trennung des Rilkeschen Ichs von den "Dingen" greift für die reife Gestalt des Dichters fehl. Das mystische [451] Einssein mit ihnen, zu deren Organ er gleichsam wird, macht in immer neu und immer mehr zur Mitte strebenden sprachlichen Wendungen den Sinn des Rilkeschen Dichtertums aus:

      Die, so ihn leben sahen, wußten nicht,
      wie sehr er eines war mit allem diesen,
      denn dieses: diese Tiefen, diese Wiesen
      und diese Wasser waren sein Gesicht.

      Oh, sein Gesicht war diese ganze Weite,
      die jetzt noch zu ihm will und um ihn wirbt;
      und seine Maske, die nun bang verstirbt,
      ist zart und offen wie die Innenseite
      von einer Frucht, die an der Luft verdirbt.

Wenig weiß der Außenstehende von dem täglichen Menschen George. Gewaltig ist die Menge der nunmehr im Inselverlag ans Licht tretenden Briefe Rilkes, die von seinem Ich – nicht nur dem geistigen, auch dem irdischen – erzählen, Briefe, in denen er diesem Ich gleichsam zuschaut und es als ein selbsttätiges auf sich nimmt. Rilkes menschlich-seelische Beziehungen und Freundschaften sind immer einmalig, nicht wiederholbar, keinerlei Schulfälle und Beispielgebungen oder bewußte Gemeinschaftsbildungen. Er ist letztlich immer allein mit sich, nie gestützt auf einen festverpflichteten und grundsätzlich gerichteten Kreis. Aber auf der anderen Seite ist sein Ich von einer grenzenlosen Ausdehnungsfähigkeit gegenüber der nach allen Seiten abgegrenzten Geschlossenheit. George ist "Gestalt" im Sinne des Umrißhaften und Einmaligen, das auch im geistigen Bereiche mit diesem Begriffe verbunden ist; Rilke ist "Raum" im Sinne unendlicher Möglichkeit, Erdachtem und Erschautem zur Voraussetzung zu dienen, und dieses, so viel Wahrnehmbares mit ihm verbunden sein mag, hat seinen Seinsgrund in einer gleichsam mathematischen Gesetzlichkeit. Das Eingehen des im Raume Möglichen in seinen Geist – das ist Rilkes Gedanklichkeit, und ihre Form ist die unendliche Reihe. Vielleicht tut man gut daran, in ihm nicht mehr immer nach den Bildern, deren seine Dichtung sich bedient, den religiösen Dichter, den Beter und Heiligen zu sehen, der um einen Gottesbegriff kreist. Vielleicht hat in ihm viel mehr der Geist eines Kopernikus und Kepler dichterische Gestalt angenommen als der eines Franz von Assisi.

Auch für Rilke stellt sich wie für George die Frage nach seiner deutschen Sendung, auch bei ihm prüfen wir Stamm und Art. Das ist um so notwendiger, als es gerade in dieser Richtung nicht an irrigen Annahmen und an Legenden gefehlt hat. Wohl ist er in Prag 1875 zur Welt gekommen, aber dies Prag war noch nicht das Prag aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, mit dessen literarischer Mischluft man ihn hat in Verbindung bringen wollen. Wohl aber steht er von [452] allem Anfang unter dem Schicksal des außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Deutschtums. "Äußerste Gleichgültigkeit der Umwelt begleitete Rilke bei seinem Eintritt ins Leben. Kein wirkliches Vaterhaus umstand schützend die Geburt, nicht ein zugehöriges Volkswesen empfing unbewußt die Geburt seines großen Dichters; Prag, diese Verkörperung des gespaltenen Österreich, sah hochmütig und abweisend durchs Fenster." Dies ist die Feststellung von Rilkes Schwiegersohn Kurt Sieber, der im Jahre 1932 über Herkunft, Kindheit und Jugend René Rilkes erstmals verläßliche Aufklärungen zu geben vermochte. Lange Zeit hat alles Wissen um Rilkes Herkunft und Ahnenerbe sich auf die "Weise von Liebe und Tod des Kornetts Christoph Rilke", dies volkstümlichste und gelesenste seiner Werke, gestützt, geschrieben 1899. Es erwuchs aus jener der Inselausgabe vorangestellten Aktennotiz aus dem Dresdener Staatsarchiv:... "den 24. November 1663 wurde Otto von Rilke aus Langenau, Gränitz und Ziegra zu Linda mit seines in Ungarn gefallenen Bruders Christoph hinterlassenem Anteile am Gut Linda beliehen; doch mußte er einen Revers ausstellen, nach welchem die Lehensreichung null und nichtig sein sollte, im Falle sein Bruder Christoph (der nach beigebrachtem Totenschein als Kornett in der Kompagnie des Freiherrn von Pirovano des kaiserl. österr. Heysterschen Regiments zu Roß... verstorben war) zurückkehrt..."

Es handelt sich da um ein kärntnerisch-deutsches, später nach Sachsen und Böhmen ausgewandertes Uradelsgeschlecht, als dessen letzten Sproß der Dichter sich fühlte. Zwar ist der genealogische Zusammenhang Rainer Marias mit diesem Geschlecht nicht urkundlich sicher zu beglaubigen. Aber in Rilke lebte, vielleicht als ein Bluterbe, der durch die Familienüberlieferung gestützte Glaube an diese Geschlechterfolge. So sah er sich als den zum Dichtertum gesteigerten Letzten einer adligen und kriegerischen Ahnenreihe an, der dem Geschlechte die Vollendung und Rundung gegeben habe:

      Zu unterst der Alte, verworren
      all des Erbauten
      Wurzel, verborgener Born,
      den sie nie schauten.

      Sturmhelm und Jägerhorn,
      Spruch von Ergrauten,
      Männer im Bruderzorn,
      Frauen wie Lauten...

      Drängender Zweig an Zweig,
      nirgends ein freier...
      Einer! O steig... O steig...

      Aber sie brechen noch.
      Dieser erst oben doch
      biegt sich zur Leier.

[453] Gleichviel, ob dies dichterisch wirksame Gefühl auch durch urkundliche Feststellungen zu retten ist oder nicht: heute weiß man Genaues über die unmittelbaren Vorfahren und die Familie des Dichters und vermag ihn mit Sicherheit zurückzuführen auf ein rein deutsches Bauerngeschlecht aus der Umgegend von Aussig, dessen erste urkundlich nachweisbare Glieder am Anfange des 17. Jahrhunderts erscheinen. Des Dichters Vater, der 1838 im Böhmischen geboren, sich als Offiziersanwärter im Feldzuge gegen Italien 1859 ausgezeichnet hatte, war nach dem Abschied aus dem militärischen Beruf Eisenbahnbeamter in Prag und an anderen böhmischen Plätzen. Rilkes Mutter, eine geborene Entz, führte ihre Familie väterlicherseits ins Elsaß zurück, so daß Rilke einmal meinen konnte, daß von dorther seine "doch offenbar so gründlichen Beziehungen zur französischen Geistigkeit sich erklären ließen". Wir hören im übrigen, daß die Erziehung Rilkes, der kein Wort Tschechisch sprach, bewußt deutsch war, namentlich von seiten der Mutter, die noch im Alter bestraft wurde, weil sie am tschechischen Nationalfeiertag nicht geflaggt hatte. Und auch die Eindrücke, die ihm in seiner Jugend seine Vaterstadt Prag gab, ließen das Deutsche überwiegen.

Schwierig ist die Frage, wie weit eine gewisse "Gebrochenheit" und "Bedrohtheit", die an der menschlichen und dichterischen Persönlichkeit Rilkes zum Ausdruck kommen, aus seiner Erbmasse stammen, wie weit sie auf Rechnung von Umwelt und Erziehung zu setzen sind. Da ist zunächst die Wirkung, die von dem Schicksal des alten österreichischen Kaiserstaates ausging. Rilke soll zeit seines Lebens die "Heimatlosigkeit des Österreichers" gefühlt haben. Die Stadt Prag, in der er aufwuchs, bot ihm nach eigenem Geständnis keinen rechten Boden, aus dem sich ein Heimatbewußtsein hätte entwickeln können: "Ihre Luft war weder die meines Atmens noch die meines Pflugs." Früh gehen Sinn und Sehnsucht auf Bodenständigkeit und Schollengebundenheit. Noch 1923 spielt er mit dem Gedanken einer Übersiedlung nach Kärnten, auf den Boden also, von dem er sein Geschlecht ausgegangen meinte. War ihm das österreichische Wesen, wenn man gelegentlichen unmutigen Äußerungen trauen darf, zuwider, so waren doch Land und Volk Österreichs und auch Böhmens liebevoll erfaßte Gegenstände seiner Frühdichtung. Namentlich die "Larenopfer" (zuerst erschienen 1896) zeigen solche Bindung an die Heimat und die schöne, vertraute Stadt seiner Kindheit. Aber immer war sein Verhältnis zu Heimat und Boden "sentimentalisch" und nicht "naiv". Er ist auch in dieser Beziehung der aufnehmende und wiedergebende Genüßling der Dinge mit jenem Beiklang der Spannung zwischen Ewigem und Endlichem, der durch seine ganze Dichtung schwingt.

Noch andere Umstände seiner Jugend außer dem Fehlen einer eigentlichen Heimaterde und den Reibungen zwischen Deutschtum und Slawentum um ihn herum haben ihn auf den Weg verwiesen, auf dem er von innen heraus die Zwiespälte im kosmisch-göttlichen Raume zu lösen versuchte. Die erzieherische Einwirkung, die vom Vater ausging, war militärisch: früh sollte er zu dem [454] ihm bestimmten Berufe des Offiziers brauchbar gemacht werden; die nach der Trennung der Eltern überwiegende Einwirkung der frömmelnden und auf gesellschaftliche Äußerlichkeit gerichteten Mutter verweichlichte und verzärtelte ihn. Alles in allem war die Erziehung nicht dazu angetan, ihn für eine Bezwingung des Lebens auszurüsten. Aber ist sie von entscheidender Bedeutung für Werden und Wesen seiner Persönlichkeit geworden? Die geschichtliche Wissenschaft vermag bei solcher Frage einstweilen nur unsicher zu tasten, um so mehr, als seine Selbstgeständnisse über diese Jugend vielfach aus der Rückschau eben des Dichters getan sind. Hier wie für die zwiespältige, körperlich und seelisch unbefriedigend verlaufende Zeit auf der Militärschule (1886–1891) gilt, daß viel eher die Überwindung aller Mängel seines Jugendlebens und das Gestaltwerden seines Geistes trotz ihnen hervorgehoben werden müßte, als daß man von dorther Erklärungen und Entschuldigungen für die Gebrechlichkeit seiner späteren leibseelischen Verfassung zu gewinnen sucht. Es folgte die Zeit auf der Handelsakademie in Linz (bis 1892), folgten gymnasiale und akademische Studienjahre in Prag (bis 1896). Der Übergang nach München (Ende 1896) bringt seine Jugendzeit zum Abschluß. Die ersten Gedichtsammlungen (Leben und Lieder, Wegwarten, Larenopfer) waren erschienen, die den großen Dichter der Folgezeit noch kaum erahnen lassen.

Doch von nun an weitet sich der äußere und innere Raum Rilkes. Die Sammlung Advent zeigt ihn, der nun in München in das eigentliche literatenhafte Getriebe hineingekommen war, unberührt von dem damals auf der Tagesordnung stehenden Naturalismus und Impressionismus. Hat er sich auch nicht wie George bewußt gegen den Naturalismus gestellt, so ist er doch ohne ihn oder neben ihm zum Dichter geworden. Schon die Sammlung Advent zeigt ihn ganz bei sich allein zu Hause, in Bereitschaft für ein Kommendes, das er vom Leben zu empfangen hätte. Hier zuerst greift des Dänen Jens Peter Jakobsen Stilkunst in seine dichterische Entwicklung ein. Der große dänische Erzähler, dessen Wichtigkeit für Rilke man kaum überschätzen kann, setzt sich für den Lyriker um in eine Zusammendrängung der ertasteten Anschauungsinhalte auf engsten Raum und in jene eigentümliche, psychologisch unterlegte seelische Nähe und Wärme zu allem, was Gegenstand seiner Dichtung ist, endlich in jene durch sprachlich-rhythmische Bindung und fließende Reihung erzielte Verhaltenheit, die von nun an den eigentlichen "Rilketon" ausmacht.

Mit der Sammlung Mir zur Feier (Ende 1899 erschienen und gezeichnet mit "Rainer Maria Rilke") darf man die eigentliche Rilkesche Lyrik anheben lassen, insofern von nun an seine Dichtung ihren im wesentlichen sich gleichbleibenden Inhalt gewinnt: die Auseinandersetzung des Dichters mit sich selbst, und das ist zugleich die Auseinandersetzung mit den "Dingen", mit Gott und mit dem Tode. Von nun möchte er "jedem Klange, der mir vorüberrauscht, mich schauernd schenken"; er "möchte blühen mit hundert Zweigen, nur um mit allen mich einzureigen in die einige Harmonie".

[455] Kann mir einer sagen, wohin
      ich mit meinem Leben reiche?
      Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche
      und als Welle wohne im Teiche,
      und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche
      frühlingfrierende Birke bin?

Von nun an ruht seine Dichtung auf einem Daseinsgefühl, in welchem das göttlich durchseelte All mit dem eigenen Ich zur Deckung gelangt ist, so aber, daß beides nur besteht und ist im bewegten, unergründlichen Strome des "Lebens". Es liegt nahe, hier ältere verwandte Überlieferungen des deutschen Geistes aufzurufen und Rilke an sie anzuknüpfen, Überlieferungen, die im Schnittpunkte der Anschauungen liegen, die man – mit der nötigen Vorsicht – als "Mystik", als "romantische Naturphilosophie", als "dynamisch-vitalistischen Pantheismus" bezeichnen kann. Aber mit solchen Abstempelungen ist es bei Rilke niemals getan; gerade für ihn ginge mit diesen Einordnungen das Eigentliche verloren. Welche Anknüpfung man auch immer für ihn gewinnt: Es kommt bei ihm hinzu eine vorher nicht dagewesene schärfste Durchgliederung und Durchmessung dieses Grundgefühls in einem Geist-Raume, eine beinahe "exakte" Durchmessung, doch nicht verstandesmäßiger Art, sondern in einer sprachlich-dichterischen, übervernünftigen Ergreifung, die alle Möglichkeiten in diesem durchgotteten Geist-Raum weit mehr auszuschöpfen und abzuwandeln vermag, als es in den Schranken der Vernunft je gelingen möchte. Die Gegenstände, die Bilder, die Sinnträger, die Stimmungen, die künstlerischen, sprachlich-stilistischen Formen werden wechseln und sich wandeln; die Grundhaltung wird und muß bleiben: denn sie war für den Dichter die Lösung aus dem Zustande der inneren Gehemmtheit und Verbautheit und damit die "Erlösung". Diese Grundhaltung, die die erlöste Selbsthingabe und demütige Selbstaufgabe an die Gotterfülltheit alles Fühlbaren und Denkbaren in sich schließt, verbunden mit immer wieder überraschenden, in dichterische Bilder umgesetzten, abgestuftesten Eindrücken der Außenwelt – dies ist es, was den Widerhall des "Rilketones" in der deutschen Jugend der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ausmachte, soweit diese Jugend selber sich im Zustande des Suchens und Ringens fühlte. In demselben Jahre 1899, in welchem Mir zur Feier erschien, entstand der erste Teil des Stundenbuches, überschrieben "Das Buch vom mönchischen Leben". Er erschien, um zwei weitere Bücher (Von der Pilgerschaft, 1901, Von der Armut und dem Tode, 1903) vermehrt, im Jahre 1905 im Insel-Verlag, der von nun ab das Werk des Dichters und sein Menschliches betreute und ihm zu der geschlossenen Wirkung und zu dem Namen von europäischem Klang verhalf. Mit dem Stundenbuch steht man schon inmitten des Rilkeschen Erlebnisses der drei Kraftströme, die aus dem Osten, dem Nordischen und dem Westen Europas ihn durchzogen und sich in jene zerfasernde Steigerung [456] der Fühl- und Gestaltungsfähigkeit umsetzten, die seiner Erscheinung das Ergreifende sichert.

Rainer Maria Rilke.
Rainer Maria Rilke.
Bronzebüste von Fritz Huf, 1917/18.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 457.]
Im Osten der russische Raum, mit dem, was zu ihm gehört: zweimal war Rilke in Rußland, im Frühling 1899 und zur gleichen Zeit des folgenden Jahres, zweimal besucht er Tolstoi. Er weilt in Moskau, in Petersburg, in Kiew. Da ist offenkundig, wie für ihn das Raumerlebnis mit dem Gotteserlebnis gleichbedeutend wird. Die Geschichten vom lieben Gott, 1900 erschienen, haben neben dem Stundenbuch hier ihre Wurzeln. Nicht um eine vermeintliche Verwandtschaft seiner Seele mit der slawischen handelt es sich bei Rilkes Rußlanderfahrung, sondern um die Erkenntnis der göttlichen Unermeßlichkeit, die sich ausdrückt in der russischen Landschaft, in der Dumpfheit und Tiefe des unmündigen russischen Volkes. Solches bezeugen die Geschichten vom lieben Gott: "Nach allen Richtungen erscheint alles grenzenlos. Die Häuser selbst können nicht beschützen vor dieser Unermeßlichkeit; ihre kleinen Fenster sind voll davon. Nur in den dunkelnden Ecken der Stuben stehen die alten Ikone, wie Meilensteine Gottes, und der Glanz von einem kleinen Licht geht durch ihre Rahmen, wie ein verirrtes Kind durch die Sternennacht..." "Und in diesem Land, in welchem Gräber die Berge sind, sind die Menschen die Abgründe. Tief, dunkel, schweigsam ist die Bevölkerung, und ihre Worte sind nur schwache, schwankende Brücken über ihrem wirklichen Sein." Das Erlebnis Rußlands wird ergänzt durch das Erlebnis der norddeutschen Heide in Worpswede, den Aufenthalt in jener Malerkolonie bei Bremen während der Zeit von 1900 bis 1902. Gewiß, er glaubte, jetzt erst "Bilder schauen" zu können. Die Gedichtsammlung des Buches der Bilder (1902) nimmt schon im Titel Bezug auf diesen Willen, loszukommen von dem, was novellistisch oder bloß lyrisch ist. Er ist hiermit auf dem Wege zur Vergegenständlichung in den Neuen Gedichten (1907 und 1908), die erst nach einem neuen Kunsterlebnis, dem Erlebnis der Gestaltung des plastischen Werkes, im Verkehr mit Rodin in Paris gewonnen, gegenüber den malerischen Eindrücken in Worpswede entstehen konnten. Tiefer aber als in die Entwicklung des künstlerisch-dichterischen Ausdrucks greift auch der Worpsweder Aufenthalt in sein Lebens- und Gottesgefühl und berührt dessen unterste Schichten. Auch in Worpswede wie in Rußland die Grenzenlosigkeit der Ebene und der Heide. So, wie die alten Gottsucher und Religionsstifter in die Wüste gingen, wo sich ihnen der Raum und der Himmel als Öffnung zu Gott auftaten, so schreibt Rilke in dem Buche über Worpswede (1903): "Wir leben im Zeichen der Ebene und des Himmels. Das sind zwei Worte, aber sie umfassen eigentlich ein einziges Erlebnis: die Ebene. Die Ebene ist das Gefühl, an dem wir wachsen." Es stimmt dazu oder ist jedenfalls aus dem Erlebnis der grenzenlosen Ebene, aus dem Erlebnis des Nördlichen und des Östlichen erklärlich, daß weder die Landschaft des Südens, noch das südliche Meer, noch das Hochgebirge ihn bezwingen konnten.

[456a-c]
Gedicht Rainer Maria Rilkes
Eigenhändige Niederschrift des Dichters
(Leipzig, Professor Dr. Anton Kippenberg)

[Bildquelle: Insel-Verlag, Leipzig und Prof. Dr. Anton Kippenberg, Leipzig.]

  [Abschrift folgt dem Faksimile.]

[456a] Abschrift:

    An den Engel

    Starker, stiller, an den Rand gestellter
    Leuchter: oben wird die Nacht genau.
    Wir vergeben uns in unerhellter
    Zögerung an deinem Unterbau.

    Unser ist: den Ausgang nicht zu wissen
    aus dem drinnen irrlichen Bezirk,
    du erscheinst auf unsern Hindernissen
    und beglühst sie wie ein Hochgebirg.

    Deine Lust ist über unserm Reiche
    und wir fassen kaum den Niederschlag;
    wie die reine Nacht der Frühlingsgleiche
    stehst du theilend zwischen Tag und Tag.

    Wer vermöchte je dir einzuflößen
    von der Mischung, die uns heimlich trübt,
    du hast Herrlichkeit von allen Größen,
    und wir sind am Kleinlichsten geübt.

    Wenn wir weinen, sind wir nichts als rührend,
    wo wir anschaun sind wir höchstens wach,
    unser Lächeln ist nicht weit verführend,
    und verführt es selbst, wer geht ihm nach?

    Irgendeiner. Engel, klag ich, klag ich?
    Doch wie wäre denn die Klage mein?
    Ach, ich schreie, mit zwei Hölzern schlag ich
    und ich meine nicht, gehört zu sein.

    Daß ich lärme, wird an dir nicht lauter,
    wenn du mich nicht fühltest, weil ich bin.
    Leuchte, leuchte! Mach mich angeschauter
    bei den Sternen. Denn ich schwinde hin.

 
Château Muzot bei Siders im Kanton Wallis.
[448c]    Château Muzot bei Siders im Kanton Wallis, in dem Rilke die letzten Jahre seines Lebens seit 1921 zubrachte.
[Bildquelle: Ch. Dubost, Crans.]
Endlich Paris. Im August 1902 trifft er dort ein und betritt damit die vielleicht wichtigste Station seiner inneren und äußeren Entwicklung. [457] Bis zum Kriege bleibt Paris die örtliche Mitte seines Lebens, das sich im übrigen zwischen männliche und weibliche Freunde, Gönner und Helfer, zwischen die Schweiz, Dalmatien, Spanien, Italien, Deutschland, Schweden teilt. Dann kam der Heeresdienst in Wien, der längere Aufenthalt in dem schon vorher immer wieder besuchten München, bis seit 1919 die Schweiz ihm von neuem und dauernd heimatlich wurde, wo sein Dasein als das des einsiedlerischen Bewohners von Muzot im Wallis 1926 vorzeitig erlosch. Wenn auch Rilkes äußeres Leben sich über einen großen Teil Europas erstreckte, so wird doch an seinem Wandern wiederum der Unterschied seiner Artung von der Stefan Georges deutlich. Immer mehr zog sich George ins Enge und Feste, in das deutsche Heimatland; immer mehr überwand Rilke die Heimatgebundenheit, dehnte er sich ins Gottweite und wurde ihm jeder Aufenthalt recht, der ihm wärmende und fördernde Vergesellschaftung der Seelen und dabei das Ertragen seiner selbst, "geopsychische" Enthemmung oder die Möglichkeit, bei sich allein zu sein, bot.

Rainer Maria Rilke, 1913.
[448b]      Rainer Maria Rilke, 1913.
Von der Pariser Zeit aus läßt sich die gesamte Dichtung des reifen Rilke überschauen. Seine Beziehungen zum französischen Geist und zur französischen Literatur dürfen trotz allem – auch trotz seinen Übersetzungen und seinen eigenen Gedichten in französischer Sprache, trotz seinen Berührungen mit André Gide und Paul Valéry – nicht überschätzt werden. Es ist bei ihm kaum eine Übereinstimmung zu verspüren mit dem, was das Besondere des französischen Geistes ausmacht. Maeterlinck, der auf den Ton seiner frühen dramatischen Versuche gewirkt hat und dessen geheimnisvolle Verhangenheit man auch sonst in Rilkes Frühzeit wahrnehmen möchte, ist Vlame und dem Geiste der deutschen Mystik und Romantik tief verpflichtet. Rodin aber, der große Bildhauer, der zugleich der Verfasser des Werkes über die gotischen Kathedralen in Frankreich war, wurde in einem höchstpersönlichen Sinne als Künstler und Mensch, nicht als Franzose, für Rilke wichtig. Sie trafen in tiefen Lagerungen ihres Geistes aufeinander. Für Rodin rührte der Weg zur Kunst nur durch eine nie aufhörende, angestrengteste Arbeit. Die Arbeit war für ihn Gottesbetrachtung, ließ die Schleier um Gott fallen. So wird die Kunst Gottesdienst und bietet dieselben Gewißheiten, deren die Menschheit zum Leben bedarf, wie die Religion. Mit solchen Gewißheiten reichte sich auch für Rilke ein Schlüssel und eine Sicherheit, deren er, mit seinem Schaffen gebunden an die Zeiten der Eingebung und immer wieder übernommen von Zuständen der Erschöpfung und Unfruchtbarkeit, bisher entraten hatte. Jedenfalls glaubte er nun unter dem Eindrucke von Rodins Vorbild und in jahrelangem Zusammenleben mit ihm in eine Wiedergeburt eingetreten zu sein. Ob sie anhalten würde, war ungewiß. Dieser Wiedergeburt aber werden die beiden Bände der Neuen Gedichte verdankt. Sind das die Schöpfungen Rilkes, die den stärksten sinnlichen Reiz entwickeln und, einmal gehört, infolge ihrer Gegenständlichkeit haften bleiben, so waren diese "Dinggedichte" doch das Ergebnis eines vorübergehenden Zustandes. Wie Rodin bei jedem bildhauerischen Vorwurf die [458] beherrschende, lebenwirkende Mitte suchte und traf, so nunmehr auch Rilke. Man weiß, welche Bedeutung der Begriff der "Dinge" längst bei ihm hatte. Aber bei dieser neuen Erfassung der "Dinge" handelte es sich um strengste Arbeit am dichterischen Stoff, zugleich darum, daß diese Gebilde, die seine Sinne und die Geschichte aller Zeiten und aller Bereiche ihm boten, aus einer Lebensmitte heraus und unter den Ausstrahlungen dieser Lebensmitte erfaßt wurden. Das "Tote" und das "Lebendige" kommen in diesen Gedichten, die um eine Sache oder eine Gestalt kreisen, zur Deckung, denn fließend ist der Übergang zwischen Leben und Tod. Das Gottesdienstliche dieser Dichtung wird am sinnfälligsten dadurch vermittelt, daß die gotische Kathedrale und ihre Teile so oft als Gegenstände erscheinen. Rodins Verehrung und Erkundung dieser Schöpfungen aus germanisch-fränkischem Geist trugen hiermit ihre besonderen Früchte. Wo aber die Neuen Gedichte scheinbar erzählen – aus Legende, Mythus und Sage –, auch dort handelt es sich immer um eine Situation der letzten und tiefsten Lebensmitte.

Auch das Stundenbuch kam in Paris zum Abschluß, auch die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge entstanden dort. Mit dem Stundenbuch hat die unkirchliche und undogmatische, religiöse Dichtung Deutschlands neuerer Zeit ein für allemal ihre Kristallisation gefunden. Und dies trotz oder gerade wegen der ganz persönlichen Form der Auseinandersetzung mit Gott. Es ist ein Verhältnis der Einheit und unlöslichen Verbundenheit mit ihm und doch wieder der Entgegensetzung. Diese Doppelpoligkeit, auf der hier die dichterische Betrachtung Gottes ruht, diese "Immanenz" und "Transzendenz" zugleich, dies Gottsein und dabei Gotteskindsein des Menschen, dies menschliche Teilsein von ihm und die göttliche Abhängigkeit vom Menschen, diese Umkehrungen und Gleichsetzungen von Armut und Tod, dieser Wechsel von Demut und Größenrausch – all dies ermöglicht dem Gewoge dieser rhythmischen Gebete die ins Unendliche weisende Abwandlung in immer neuen, bald lieblichen, bald schauererregenden Bildern. Jede folgende religiöse Dichtung Deutschlands war diesem Eindruck verhaftet, und alle Ausdeutung des Stundenbuches muß, wenn sie nicht nur Teile erfassen will, sich schließlich bescheiden vor dem Unvermögen, das dem einer Dichtung nachtastenden Worte innewohnt. Gibt doch die unerschöpfliche Umkreisung der Rilkeschen Dichtung überhaupt den festbannenden Zauber. Diese Unerschöpflichkeit aber – kommt sie nicht dem Geheimnis am nächsten, so, wenn es sich um die Kernfrage von Tod und Leben handelt? Seine Totenklagen bleiben, ohne kultische und konfessionelle Zutaten, die Breviere derer, die zurückbleiben, wenn die Liebsten die dunkle Pforte durchschritten haben.

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind das einzige größere erzählende Werk Rilkes, Rückschau und Vorschau auf das Leben zugleich, aber nicht im Sinne eines selbstbiographischen Romans, nicht im Sinne der modellartigen Gleichsetzung Maltes mit dem Dichter. "Manchmal", so schreibt er 1909 an seinen Verleger über diese Arbeit, "kommt es mir vor, als könnte ich sterben, wenn sie [459] fertig ist: so bis ans Ende kommt alle Schwere und Süßigkeit in diesen Seiten zusammen, so endgültig steht alles da und doch so unbeschränkt in seiner eingeborenen Verwandlung, daß ich das Gefühl habe, mich mit diesem Buche fortzupflanzen, weit und sicher, über alle Todesgefahr hinaus." Paris ist der Nährboden dieses Werkes, aber nicht die Stadt des Genusses, sondern die Stadt der grausamsten und düstersten Erfahrungen des Lebens, die Stadt, in der das Leben "in allen seinen Äußerungen so aufrichtig" geworden ist, in der die

Rainer Maria Rilke in Bad Rippoldsau, 1913.
[448d]      Rainer Maria Rilke in Bad Rippoldsau, 1913.

Schloß Duino bei Triest.
[459]      Schloß Duino bei Triest, in dem Rilke 1912 seine Duineser Elegien begann. Zeichnung von Karl Friedrich Schinkel, 1803. Berlin, Schinkel-Museum.
Einsamkeit herrscht und Armut, Tod, Liebe, Gott verschwistert sind. "Also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier", heißt es in Maltes Aufzeichnungen. Aber diese Stadt beförderte in Rilke nicht den Verzicht und die Flucht vor der Wirklichkeit, sondern das Verlangen nach großer Leistung, nach der Erfüllung der ihm obliegenden Lebensaufgabe und nach der letzten Einsamkeit, die allein dem Werke dient. So mußte er schließlich Paris überwinden. "Ich habe diese Stadt", so heißt es 1914, "weiß Gott aufgelebt." Der Weg führte zu den 1923 erschienenen letzten großen Schöpfungen Rilkes, den Duineser Elegien und den sie ergänzenden Sonetten an Orpheus, in langer qualvoller Entstehungszeit, die auch den Körper aufrieb, seit 1912 ausgetragen und schließlich doch dem Dichter wie eine Gnade von oben geschenkt. Hier ist furchtbares Ringen um ein Äußerstes, um den "Weltinnenraum", um die Ausgleichung zwischen dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen, zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen. Orpheus in den Sonetten, die mythisch-symbolische Gestalt des Dichters, der um beides weiß, um das Diesseits und das Jenseits, Orpheus, der den Tod schon einmal erfahren hat, der "Beschwörende", sieht die Zusammenhänge, in, unter und über der Schöpfung stehend, das ewige Sein, das durch alles hindurchgeht, und die ewige Klarheit, die das Verwirrt-Wilde sich dienstbar macht. Diese [460] letzten Rilkeschen Werke, deren reife Großformigkeit sich auch in der zyklischen Zusammenbindung bewährt, die sie durchwaltet, sind in jedem Sinne ein Abschluß geworden. Man sieht nicht, wie der Dichter über sie hätte hinausgelangen können. Ihre Weltschau, die Aufhebung und Lösung der Gegensätze, ihre Auseinandersetzung mit dem Sinne des Wirklichen und Seienden werden sich erst in der Zukunft noch weiter erschließen. In gewissem Sinne stehen sie auf dem Hintergrunde des Erlebnisses, das dem Dichter der

Raron im Rhonetal.
[448d]      Raron im Rhonetal (Kanton Wallis),
auf dessen Kirchhof sich Rilkes Grab befindet.

[Bildquelle: Ch. Dubost, Crans.]
Krieg brachte. Manche Lieblingsvorstellung war von ihm abgefallen, aber wesentliche Züge seiner Weltansicht forderten nun von ihm ihre schärfere Herausarbeitung. Vor allem aber steigerte das Kriegserlebnis den Drang nach großer und bleibender Leistung.

Versteht man, daß Rilke für manche des jüngeren Geschlechtes heute überwunden erscheint, so ist doch zu beachten, daß er in seinen späten und reifen Leistungen niemals bloß "ästhetisch" bewertet werden kann. Über alle einschmeichelnde Süße seiner Dichtung hinaus geht es bei ihm um Entscheidungen des Erfüllung suchenden Menschen, Entscheidungen, die in dem Sichselbstaufzehren des Individuums gewonnen wurden.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz