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[Bd. 3 S. 424]
Albrecht von Roon, 1803-1879, von Erich Marcks

Albrecht von Roon.
Albrecht von Roon.
Gemälde von Gustav Graef, 1882.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 329.]
Von den "drei Paladinen" des alten Herrschers, Kaiser Wilhelms I., die man dereinst nur miteinander zu denken gewohnt gewesen, ist Roon, der ihm am frühesten zur Seite trat und der ihm herzlich am nächsten gestanden hat, dem allgemeinen Bewußtsein am ehesten fremder geworden. Roon ist bereits 1873 zurückgetreten, bereits 1879 gestorben; der volle Schwung der monarchisch-nationalen Empfindungen, der die achtziger Jahre erfüllte und der damals die hohen Greisengestalten aus Kaiser Wilhelms Kreis erst ganz in das Heroische emporhob, traf ihn nicht mehr an. Überdies, er ist zeitlich enger bedingt und enger begrenzt als seine großen Genossen; und vollständiger als bei ihnen allen ist seine eigentliche Leistung mit dem bittersten Streite verknüpft, den Preußens Verfassungsleben durchgemacht hat. Er hat nicht das Leuchtende der beiden oder der drei anderen. Und doch ist seine allgemein geschichtliche Bedeutung erstaunlich groß und reich. Es ist ja der eine herrschende Zug unseres neunzehnten Jahrhunderts gewesen, daß das alte Preußen sich und seine Eigenart in das alte Deutschland hineingebildet hat. Preußen ist dabei innerlich deutscher, noch mehr aber Deutschland innerlich preußischer geworden: durchtränkt mit organisatorischer Kraft, mit Zucht, Festigkeit, Staatlichkeit. Unser Vaterland ist aus der Welt des Geistes in die der staatlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit übergetreten. Der größte Träger dieses Wirklichkeitssinnes und Wirklichkeitsstrebens, das Deutschland erzog und durchdrang, ist sicherlich Bismarck gewesen. Aber in seiner dichten Nähe wird eine jede Nachwelt Albrecht von Roon finden. Um Roon, eckig und mächtig inmitten der Strömungen seiner Tage, wird keine Betrachtung des vergangenen Jahrhunderts herumkommen: wenn sie ihn nicht ganz erfassen wollte, in aller herben Eigentümlichkeit und allem Reichtum seines Daseins, sie würde sich selber berauben. Der Historiker, der seinem Werden und Wesen nachgeht, folgt dabei ganz von selber zugleich dem Gange des alten Preußens in das neue Deutschland hinein.


Albrecht von Roon stammt aus altniederländischem Blute; seine Voreltern sind als stramme Kalvinisten im sechzehnten Jahrhundert aus Holland ausgewandert, sie haben dann als Bürger und Kaufleute zu Frankfurt am Main gelebt, spätere Generationen wandten sich nach Frankfurt an der Oder und wurden [425] preußische Beamte und Offiziere. In höchst unerquickliche Verhältnisse hinein ward Roon (30. April 1803) zu Pleushagen bei Kolberg geboren. Die Eltern lebten in einer zerrütteten Ehe. In früher Kindheit des Sohnes sind beide aus dessen Dasein geschieden. Der Knabe ward dann einem Landpfarrer in Pflege gegeben; der Schulmeister war zugleich Dorfschneider und komische Figur. Aus allen Jämmerlichkeiten holte 1812 den Neunjährigen die Großmutter heraus: es war die frühere Oberhofmeisterin von Borcke, eine strenge, energische und stolze Frau. Bei ihr erfuhr der Enkel zuerst festen, geregelten Ernst; er meinte noch als Siebziger, ihr Beispiel sei ihm unvergeßlich geblieben. Nur anderthalb Jahre lang lebte er unter ihren Augen; dann verlor er die Großmutter durch den Tod, und die Mutter verfiel in Schwachsinn. Nun endlich begegnete er liebevoller Pflege. Verwandte seiner Mutter nahmen sich des Vereinsamten und Verwahrlosenden an; sie brachten ihn 1814 auf die Schule nach Berlin und 1816 in das Kadettenhaus zu Kulm in Westpreußen. Für sein Leben fruchtbar wurde die väterliche Sorge, die ihm der Hauptmann von Chappuis zuwandte, ein jugendlicher Invalide aus dem Freiheitskriege, ein reiner und fester, ideal und streng gerichteter altpreußischer Offizier von reicher Bildung und warmem Herzen. Er ersetzte seinem Zögling einigermaßen den Vater und blieb ihm mit Rat und Liebe nahe. Sein junger Freund hat ihm Ehre gemacht; den Unterricht wie die Charakterzucht der Kadettenbildung genoß er mit Freuden, er wuchs in Sparsamkeit und Frische kräftig heran. Er wurde 1821 Leutnant und lernte im Laufe der Jahre den Frontdienst im Osten und Westen kennen, noch mehr freilich die zentralen Bildungs- und Arbeitsstätten in Berlin. Er besuchte seit 1824 die Allgemeine Kriegsschule und hörte zugleich an der Universität, er trat zumal Karl Ritter, dem Geographen, nahe. Er wurde 1828 Lehrer am Kadettenkorps und war ein eifriger und gestrenger Erzieher; "Albrecht mit der offenen Stirn" nannten ihn wohl die Kameraden, die Schüler "den groben Roon". Und er gelangte, an der Hand pädagogischer Arbeit für sein militärisches Lehramt, zu literarischer Tätigkeit, die für viel weitere Kreise fruchtbar wurde: er schrieb (1832 bis 1844) eine Anzahl geographischer Werke, zwei Lehrbücher zumal; man benutzte sie lange als den "großen und kleinen Roon".

Wie Moltke also ist Roon groß geworden: ein gut Teil geistiger und schriftstellerischer Tätigkeit vereinigt sich mit der militärischen, und die Honorare, die nicht eben fett sind, helfen doch auch wirtschaftlich nach. 1832 trat angesichts der niederländischen Wirren eine Art Mobilmachung in der Rheinprovinz dazwischen, die Roon mitmachen durfte und aus der er lernte. 1833 aber wurde er zum Generalstabe kommandiert, von 1835 an ihm dauernd zugeteilt; zugleich lehrte er an der Allgemeinen Kriegsschule. Reisen, die mit der Generalstabsarbeit zusammenhingen, führten ihn einmal im Jahre 1835, in Hinterpommern, in seines Neffen Moritz von Blanckenburg Gesellschaft, dem jungen, neunzehnjährigen

Anna v. Roon, geb. Rogge.
Anna v. Roon, geb. Rogge.
Lithographie o.J.
[Nach wikipedia.org.]
Studenten Otto von Bismarck zu; sie brachten ihm im Jahre darauf, bei einem Besuche von Verwandten in dem schlesischen Pfarrhause von Großtinz, in der [426] achtzehnjährigen Anna Rogge die Braut. Sie haben, beide ohne Vermögen und ohne Rang, den zuversichtlichen Entschluß nicht zu bereuen gehabt. Dem ernsten und wuchtigen Manne blieb bis an sein Lebensende die liebenswürdig helle Gefährtin erhalten.

Seine Laufbahn führte ihn das erste Ehejahrzehnt in stillen, aber sicheren Geleisen aufwärts. Dann wurde 1846 der Major von Roon zum militärischen Begleiter des Prinzen Friedrich Karl ernannt; neue, weitere Aussichten begannen sich aufzutun. Was war Roon bis dahin geworden? Er war vor allem ein durchgebildeter militärischer Fachmann, erzogen in der Schule des preußischen Heeres. Eine Familienheimat im vollen Sinne hatte ihm gefehlt, seine eigentliche Heimat war vom Eintritt in das Kadettenkorps an das Heer gewesen. Hier hatte er sich seine reiche Geistesbildung geholt; er nahm teil an der Welt, auch an der Welt der Forschung, am allgemeinen Leben seiner Zeit; aber sein Daseinskreis blieb die Armee.


Die Welt jedoch, inmitten deren er so zum Manne herangereift war, war das Preußen des alternden Friedrich Wilhelms III., das letzte Zeitalter des patriarchalisch altpreußischen Königstums. Aber überall reifen auch schon neue Gestaltungen heran: liberal die neuen staatlichen Gedanken; bürgerlich die aufsteigende Macht eines neuen wirtschaftlichen Lebens; ein Bürgertum als vornehmster Träger des geistigen wie des ökonomischen Daseins, mit eigenen Ansprüchen und Idealen. Aus dem Allgemeinen wendet der deutsche Geist sich langsam zum Besonderen hinüber, vom humanistischen Ideal des allumfassenden Menschentums und der allseitigen Durchbildung der Persönlichkeit zum Praktisch-Fachlichen, vom weiten und freien Gedanken zur einzelnen Tat, zum Einzelberuf. Der Philosoph tritt zurück, der Fachmann vor.

Auch im preußischen Heere scheiden sich die beiden Generationen, die sich in ganz Deutschland abgelöst haben: auf ein idealistisches Geschlecht, die Kinder der großen Bildungsepoche, folgt ein Geschlecht der Fachmänner und der Realisten: auf Boyen folgten König Wilhelm I. und Roon.

Der große Kriegsminister der preußischen Reformzeit Hermann von Boyen, der Nachfolger und Erbe Scharnhorsts, der Schöpfer des Wehrgesetzes von 1814, der Bildner des preußischen Volksheeres mit seiner allgemeinen Dienstpflicht, mit seiner Linie und Landwehr, auch er war ein durchgebildeter Offizier aus der Schule Friedrichs II. Aber bei ihm, der zugleich den ganzen Inhalt der Aufklärung und des Idealismus in sich aufgenommen, der zu den Füßen Kants gesessen hatte, stand auch die militärische Organisationsarbeit im Zusammenhange einer großen idealen Weltanschauung. Er hegte die humanistische Ehrfurcht vor der Persönlichkeit, der Freiheit und Freiwilligkeit, vor der Volksmäßigkeit und Volkstümlichkeit, vor Menschengleichheit und Menschenrecht; er wollte auch den Heeresneubau völlig in den Gesamtbau der sittlichen, sozialen und politischen Reformen [427] einfügen, dem er und die geistesverwandten hohen Männer seines Kreises ihre ganze Seele gewidmet hatten. Deshalb war ihm über der Zucht des Linienheeres die Landwehr der eigentliche Liebling; sie sollte möglichst frei auf sich selber stehen, als das Volksheer im eigentlichsten Sinne. Aber seine politischen Ideale sind 1819 gescheitert: die Reformpartei wurde aus der Leitung Preußens verdrängt. Und das jüngere Offizierkorps hörte auf, boyensch zu sein. Auf die liberalen Reformen von 1807 und 1814 folgte der Rückschlag der alten Monarchie: das alte Preußen, streng königlich, mit starkem aristokratischem Beisatz, betätigte sich von neuem, auch im Heere. Das Offizierkorps wurde wieder ganz, wovon Boyen es gern entwöhnt hätte: der feste aristokratische Berufsstand. Der oberste Führer dieses jüngeren Geschlechts wurde ziemlich früh der junge Prinz Wilhelm. Gegen das alte Ideal der weiten Menschlichkeit und manche ideologische Übertreibung erhob sich hier das neue, das jetzt modernere der strammen Berufsdurchbildung: keineswegs mit tauber Einseitigkeit, aber mit bewußter Konzentration. Es fand seine eifrigen Vertreter in den Söhnen der alten monarchisch-konservativen Schichten Preußens. Es war von früh auf, in Prinz Wilhelm, und in so manchem seiner Waffengenossen, verbunden mit einem starken Gefühle für staatliche Macht, mit einem friderizianischen Zuge, der Preußen und seinem Heere neue Betätigung in der Welt ersehnte: nur eine Großmachts- und Waffenpolitik könne den kleinsten der Großstaaten lebendig und zukunftsvoll erhalten.

Das waren die entscheidenden Bewegungen innerhalb des preußischen Heerwesens der Jahrzehnte nach 1815. Das war zugleich die Welt Roons: die Welt des alten Preußens: konservativ im sozialen wie im politischen Sinne, und gleichzeitig doch vorwärtsdrängend, von jener neuaufsteigenden, realistisch-fachlichen Geistesart des Jahrhunderts erfüllt. Roon selber war ganz ein Kind und ein Vertreter dieser Welt: all sein geistiges Leben, soweit es auch hinausblickte, doch in diese Schranken gebannt, mit diesen Zielen verbunden. Auch äußerlich ganz der Offizier, dem man den Schriftsteller wenig ansah: von hoher, breiter Gestalt mit "Bärenkräften", jeder Anstrengung gewachsen und gesund; ein prachtvoller Kopf mit ernsten, blauen Augen, festen Zügen, mächtiger Stirn. So zeigt ihn das Jugendbildnis in den Denkwürdigkeiten, so zeigen ihn seine Briefe. Sie stehen an Anmut, an silberner Klarheit denen Moltkes, an Wucht und Tiefe des inneren Lebens denen Bismarcks vielleicht nicht ganz gleich; sie erzählen vielleicht – auf Reisen – etwas viel Tatsachen; aber auch sie spiegeln, und von Anfang an, eine kraftvolle und in sich arbeitende Natur. Und seit die großen Gegenstände in Roons Dasein traten, von 1848 an, wächst wie ihr Inhalt, so die Empfindung und die Form: sie öffnen den Einblick in ein starkes, leidenschaftliches Herz und packen dann durch eine wundervolle Kraft und Größe der Bilder, durch den schlichten und doch dröhnenden Klang der Sprache, durch das elementare Überströmen einer Persönlichkeit, die sich sonst gewöhnt hat, sich selber zu erziehen und zu beherrschen.


[428] Zwei Jahre lang hat Roon den schwierigen Prinzen Friedrich Karl zu leiten gehabt: er war der Mann für die Aufgabe. Sie führte ihn nach Bonn und in die Universitätskreise hinein, dazwischen in das Ausland, nach Italien, Frankreich, in die Alpenländer, sie bereicherte sein Weltbild, sie brachte ihn auch dem Hofe nahe. Dann aber riß ihn, den Mann des alten Preußens, die achtundvierziger Revolution in ihre Wirbel. Er hat sie zu Potsdam, Berlin, Koblenz mit durcherlebt. Erst nimmt er die Bewegungen in der Hauptstadt leichter; dann überrascht ihn jäh die Unterwerfung Friedrich Wilhelms IV. Es siegt in Deutschland und in Preußen die neue Zeit, das liberale Bürgertum, der Gedanke der politischen Freiheit, und, wie es scheint, der nationalen Einheit. Die alten konservativen Gewalten sind geschlagen. Der König erreicht es weder, die neuen Kräfte niederzuschlagen noch sie zu leiten, er demütigt sich selber und seine Truppen vor der Barrikade. Roon war außer sich. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?" Aber er ist kein Mann der bloßen Klage. "Jetzt gilt es die Zähne zusammenzubeißen und sich wiederzufinden in der neuen Lage der Dinge; jetzt mit allen Kräften in das neue Schiff, wenn auch mit gebrochenem Herzen." Es ist der Entschluß des Offiziers. Roon hat dann Friedrich Wilhelms Potsdamer Ansprache an die Offiziere mitangehört, die Bismarck so packend schildert; er blieb tief unbefriedigt und hat die kommenden Monate in Groll und Sorge durchlebt. Sein Trost war die Armee: "Ja, das Heer, das ist jetzt unser Vaterland."

Der Sturm brauste vorüber; die Stimmung Roons blieb grimmig. Als der Prinz von Preußen und seine Gemahlin ihm Ende 1848 die Führung ihres Sohnes Friedrich Wilhelm antrugen, lehnte er sie ab: er meinte, für ein solches Amt nicht "zeitgemäß" genug zu sein. Der schöne Briefwechsel mit dem Elternpaare klang in eine hochherzige Würdigung von Roons charaktervoller Offenheit durch seinen künftigen Kaiser aus.

Das Schicksal Roons aber hielt ihn auch so in Wilhelms Kreisen fest. Unter des Prinzen Augen, als Generalstabschef des einen preußischen Armeekorps, machte er 1849 den badischen Feldzug mit. Dann erlebte er in Koblenz, der Residenz des Prinzen, den Einbruch der Reaktionszeit. Er beklagte mit Wilhelm die Demütigung von Olmütz bitter, er neigte in den fünfziger Jahren nicht eben der halbliberalen Opposition zu, wie der Prinz sie machte, aber seiner preußischen Opposition durchaus. Er stand äußerlich und innerlich der Gruppe des Thronfolgers nahe; mehrere seiner militärischen Freunde gehörten ihr zu, politisch brachte ihn sein Bonner Freund, der Rechtslehrer Clemens Theodor Perthes, mit ihr in Verbindung. Das bedeutsamste Ergebnis dieser Beziehungen war eine Denkschrift über die Erweiterung von Preußens militärischem Einfluß in Deutschland, die Roon für die Koblenzer verfaßte. Von der wissenschaftlichen Schriftstellerei hatte er sich abgewandt; die schriftstellerische Schulung, die er ihr verdankte, hat er für seine politische Arbeit auch künftig gut brauchen können. Seine Denkschriften sind vortrefflich geschrieben, wohlgegliedert im Aufbau und kräftig, lebensvoll, gelegentlich [429] von straffer Größe in der Form, gleich und über seinen Briefen. Der Aufsatz für Prinz Wilhelm erklärt die Lage Deutschlands, die Machtlosigkeit, die Zersplitterung, die Anmaßung der Kleinen, den Dualismus zwischen den Großen für unerträglich: Preußen muß früher oder später Deutschlands Schirmherr werden. Dafür muß ihm die Leitung des deutschen Kriegswesens zufallen. Nicht mit der Bundesverfassungsreform, sondern mit der der Heeresorganisation wird die deutsche Reform dann zu beginnen haben. Roon dachte an Militärkonventionen, an eine Gleichmachung des Heerwesens unter Preußen; auch Bismarck hat der Methode preußischer Militärkonventionen neben dem Bunde gelegentlich das Wort geredet; vor allem aber die politische Gesinnung führte die beiden zusammen. Auch in Roon war der ausschließliche Stolz des Preußentums, der ungeduldige Ehrgeiz des Großmachtgefühls: eine handelnde preußische Politik wird, so meint er, je nach ihren Leistungen, "uns entweder zur vollen weltmächtigen Ebenbürtigkeit oder von neuem nach Olmütz oder gar weiter führen". Aber wer vor solcher Gefahr zurückbebt, verurteilt Preußen zu einer "rein vegetierenden Fortdauer" und zum ruhmlosen Tode. Das zerrissene Deutschland wird der stärksten innerlichen Umkehr oder der "Heldentaten und Leichenhügel" bedürfen. Das waren Worte und Gedanken voll preußisch-deutschen Schwunges und kräftiger Einsicht: Gedanken eines deutsch, aber zunächst preußisch gesinnten Realisten und Offiziers; sie verdienen ihren Platz in der Vorgeschichte der Einigung, in der Nähe Bismarcks.

Da ward ihm endlich der Ruf zu höherer Tätigkeit. Im Herbst 1857 erkrankte der König, und noch vor dem Antritt der eigentlichen Regentschaft, im Juni 1858, ließ sich Prinz Wilhelm von Roon seine Klagen und Pläne entwickeln; er forderte ihn auf, sie schriftlich aufzusetzen; Roon verfaßte seine Denkschrift zur "vaterländischen Heeresverfassung". Seine große Zeit brach an.


Um welche Gebrechen des preußischen Heerwesens es sich handelte, ist oben angedeutet worden. Mängel der ersten Jahre waren seit 1819 ungeheilt geblieben; im einzelnen hatte Wilhelm vieles bessern dürfen – an die Gesamtreform konnte er erst jetzt herangehen, da er die Macht erhielt. Und es war gewiß: das Instrument der preußischen Größe war mannigfach eingerostet; die Landwehr war zu matt, zu wenig militärisch geschult; noch immer bedurfte es ihres festeren Anschlusses an die Linie; noch immer war das Heer als Ganzes zu klein, die Heeresziffer der seit einem halben Jahrhundert erheblich gestiegenen Bevölkerungsziffer nicht nachgefolgt. Roons Denkschrift griff in schneidender Kritik und eindringlich vorgetragenen Änderungsvorschlägen das Problem in allen seinen Teilen an: Vermehrung des Bestandes an Offizieren, Unteroffizieren, Mannschaften für das stehende Heer, enge Verschmelzung der jüngeren Jahrgänge der Landwehr mit der Feldarmee, in die sie tatsächlich, wenn auch nicht dem Namen nach, "einverleibt" [430] werden sollten, zeitigere Entlassung der älteren Landwehrleute in das zweite Aufgebot, Beibehaltung der dreijährigen Dienstzeit, Entwicklung des Kadettenwesens zugunsten der Söhne des armen Militäradels. Roons Plan und Roons Persönlichkeit haben in den kampfesreichen Vorberatungen der Militärreform während der Jahre 1858 und 1859 eine bedeutende Rolle gespielt, wenn es auch nicht Roon gewesen ist, der den Dingen den entscheidenden ersten Anstoß gab, und wenn auch seine Vorschläge nicht unmittelbar angenommen worden sind. Aber die Neuorganisation entsprach den Hauptsachen und dem Geiste nach seinen Wünschen durchaus. Es wurde erreicht, was man lange erstrebt hatte, und was auch Roon vor allem wollte: Vergrößerung und erhöhte Schlagfertigkeit der Armee, straffere Durcherziehung aller ihrer Teile, Stärkung des Berufsoffizierkorps und seines Einflusses: was an der älteren Einrichtung milizartig gewesen war, verschwand so gut wie ganz. Von all dem Neuen gehört, militärisch und vollends politisch, die eigentliche Urheberschaft dem Prinzen von Preußen zu: die Heeresreform war sein Werk. Aber unter seinen Mitarbeitern hat Roon sachlich an einer der ersten Stellen gestanden, persönlich an erster. Was er hauptsächlich hinzutat, das war die Geschlossenheit und feurige Kraft seines Charakters, des unbedingt auf das Ziel gerichteten Willens, die rastlose Mahnung, die über alle die Bedenken, die Widerstände am Hofe und im Ministerium, über die zögernde Milde des Regenten hinweg ihr stetes, ungeduldiges, schöpferisches Vorwärts hallen ließ. An dem Verdienste der Tat hatte er so, nächst Wilhelm I., den entscheidendsten Anteil.

Die Heeresreform ward beschlossen; der liberale Kriegsminister Bonin nahm seine Entlassung: es war so gut wie selbstverständlich, daß Roon in seine Stelle einrückte. Schon ein Jahr vorher hatte der Prinz es ihm angekündigt. Roon graute ein wenig vor den Schwierigkeiten des Amtes, aber Kraftgefühl und hoher Ehrgeiz, mit dem Pflichtgefühl des Königsdieners und des Reformators vereint, trieben ihn doch zugleich vorwärts: er nahm "mit Seufzen" und dennoch freudig an; er trat auf den Platz, für den er gemacht war. "Es gilt, Großes zu leisten; nur ein Schelm denkt immer nur an sich. Das Reformwerk ist eine Existenzfrage für Preußen, es muß vollbracht werden." Am 5. Dezember 1859 wurde er zum Kriegsminister ernannt. Von da ab hat er für die Durchführung der Reorganisation das Entscheidende getan. Und diese Leistung war die eigentlich große in seinem wie in seines Herrschers Leben. Das historisch und seelisch Besondere daran aber sei hier noch einmal ausdrücklich formuliert. Die reformierenden Offiziere waren Fachmänner: sie wollten feste fachmäßige Ordnung und feste Zucht, sie schoben das Volkstümliche zugunsten ihrer Berufsauffassung und ihres Berufsstandes in den Schatten.

Das alles aber geschah ja bereits in einem neuen Preußen. Seit 1848 hatte es eine Verfassung, das Volk nahm an seiner Regierung teil, ein Stück der liberalen Ideale war verwirklicht, das Bürgertum drang politisch vor. Neben ihm erhob sich jetzt die konservative Gegenmacht, das konservative Heer. Die Männer der Heeresreform vertraten neben dem Neuen das fortwirkende Alte, das [431] Altpreußentum, die Gedanken der Disziplin und der Autorität, das altpreußische Staatsgefühl; sie vertraten das alles im Geiste moderner Technik; und sie erfaßten das Staatsleben unter dem Gesichtspunkte der Macht, des großstaatlichen Ehrgeizes. So tat es Wilhelm I. selbst, so seine Offiziere. Der Ehrgeiz der Macht aber erwies sich auch ihnen, wie allen ihren Vorläufern in der großen Geschichte des preußischen Staates, als schöpferisch zugleich nach innen hin. Roon wollte in seiner Denkschrift die Notwendigkeit von Preußens Stärke und Selbstbehauptung aus den gottgewollten, menschheitlichen Aufgaben Preußens begründen, für die es sich erhalten müsse; er brachte aus seiner wissenschaftlichen Vergangenheit diesen Drang zum allgemeinen, ideologischen Denken mit. Aber das hinderte ihn nicht, seine weiteren Folgerungen im vollen Maße realistisch zu ziehen. Das Heer ist für Preußens Bestand und Schutz notwendig; wohl muß Preußen zugleich sparsam sein, aber es darf nicht kleinlich rechnen; Vernachlässigung der Waffenrüstung ist eine falsche und kostspielige Ersparnis, und auch die Wirtschaft gedeiht besser "unter den mächtigen Schwingen des Adlers als in dem engen Pfahlbürgertum eines machtbeschränkten Handels- oder Industriestaates". Für Roon war Macht, ihre Entfaltung und ihre Erweiterung gleichbedeutend mit Leben überhaupt; und sein Herrscher stimmte ihm bei.

Diese realistische Hochschätzung der Waffenmacht, der politischen Macht, der Weltstellung eines Landes ist das Neue, das von der konservativen Seite kam, oder, wenn man will: das erneuerte Alte, das wiederbelebte Erbe Friedrichs II., das Roon in seinen Tagen von entscheidender Stelle aus befürwortet, durchgesetzt, verkörpert hat: eine eigene, preußische, staatliche, eine realistisch-politische Weltansicht.


Doch gegen die konservative Neuerung erhob sich der Widerstand. Das Bürgertum war in Deutschland von jeher dem Militarismus abhold; auch das preußische Bürgertum traute den Militärplänen nicht. Der preußische Liberalismus idealisierte in Boyens Sinne die Landwehr, die als das eine der wenigen ganz ausgeführten und bisher unzerstörten Vermächtnisse der großen Reformperiode für heilig galt. Unter den Offizieren selber gab es Liberale, die das alte "Volksheer" gegen Roon verteidigen zu müssen glaubten; sein Vorgänger Bonin teilte ihre Ansicht; er warf Roon vor, daß er das "Heer vom Lande trennen" wolle. Im Lande selber klagte man über die drohende finanzielle Last, die den Volkswohlstand erdrücken müsse; über die Offiziers- und Adelsreaktion, der hier das große Werkzeug geschaffen werde – und in der Tat sind ja Monarchie und Aristokratie in der Reorganisation die leitenden und unmittelbar gewinnenden Mächte.

Ganz natürlicherweise schloß sich an die Heeresfrage die Verfassungsfrage an. Denn im neuen Preußen war das Verhältnis von Krone und Landtag tatsächlich noch ungeklärt und unentschieden. Die Liberalen wünschten die Parteiherrschaft in ihrem Sinne; [432] sie wollten sich durchsetzen. Dem Regenten schwebte von vornherein eine selbständige Stellung der Krone über den Parteien und über dem Parlamente vor. Der Zeit aber erschien es fast selbstverständlich, daß Preußen in die Reihe der parlamentarischen Länder einzutreten hätte. Überall im Westen regierten die Parlamente, in England, den Niederlanden, Italien, zu normalen Zeiten in Frankreich; mußte nicht auch Preußen, groß und lebensvoll, wie sein Staat doch ebenfalls war, in das gleiche Fahrwasser einlenken? Oder würde es eigene, erst noch zu findende Formen des konstitutionellen Wesens ausbilden? Die Frage war ungelöst; die Art ihrer Lösung konnte von vielerlei Einwirkungen abhängen: da rollte ihr gleich in den ersten Tagen des neuen Systems der Felsen der Militärreform in ihren Weg. Sollte diese Reform dem Königtum einen neuen, starken Zuwachs an Macht bringen? Oder dem Abgeordnetenhause? Der unausgetragene Gegensatz der Macht stand hinter der Heeresfrage. An das Heer war im brandenburgisch-preußischen Staate seit zwei Jahrhunderten auch alle innere Fortbildung des Staatswesens vornehmlich gebunden gewesen; es war in diesem Staate das bedeutendste, das maßgebende Organ. Nunmehr zeigte sich, daß der Kampf um das Heer zum Kampf um das Übergewicht in der Verfassung führte: jenes Machtverhältnis von Krone und Landtag wurde immer deutlicher zum eigentlichen Gegenstande des Ringens um das Wehrgesetz. Gewollt haben das von Anfang an weder der Herrscher noch die liberalen Parteien; aber es lag in den Dingen begründet: in wessen Sinne die Militärreorganisation mit ihren anscheinend technischen und finanziellen Streitfragen geregelt wurde, der wurde der Sieger überhaupt. Diesen weiteren Kampf hat Roon sehr früh aufgegriffen; untrennbar von der Heeresreform bildet diese Verfassungsentscheidung den zweiten, nicht minder wichtigen Inhalt seines politischen Lebens, und es ist merkwürdig: auf diesem, dem politischen Boden hat der Militär Roon noch schöpferischer gewirkt als auf dem militärischen; dort gab der Prinzregent den bestimmenden Anstoß, hier hat es für eine Weile Roon getan, der General.

Denn das ist nach allem, was wir wissen, der Hergang gewesen: Die Kämpfe um das Heergesetz beginnen, Roon führt sie, tritt aber dabei zunächst noch nicht in den eigentlich politischen Vordergrund; allmählich jedoch enthüllen sich jene politischen Gegensätze selbst, und sie erfaßt Roon mit mutiger Entschlossenheit. Er trat zuerst als Fachminister in ein gemäßigt liberales Kabinett ein; daß er Konservativer war, verbarg er niemandem, am wenigsten seinem Herrn; er wollte die Stelle ausfüllen, die jener ihm zuwies. Daß er dabei zugleich politischer Minister werden mußte, lag in der Sache: war doch eben das Heerwesen der nächste Quell der Streitigkeiten. Aus seinen eigenen Vorlagen gingen seine ersten Zerwürfnisse mit seinen Amtsgenossen hervor; dann aber erweiterte sich sein Widerstand. Der Konflikt zwischen Krone und Kammer stieg auf; um so mehr wollten die Minister den neuen König zu liberalen Maßnahmen drängen; es gab einen langwierigen, stillen Kampf. Wilhelm hat ihn erst in sich selber durchgerungen, er hat sich erst [433] langsam entschlossen, seine monarchische Ansicht, die allezeit in ihm war, handelnd gegen seine Umgebung und sein Land durchzusetzen: in diesem innerlichen Ringen ist ihm Roon überaus wichtig geworden. Roons Zuspruch, seine Mahnungen und Warnungen, die Schriftstücke, die wir aus den Denkwürdigkeiten kennen, müssen auf die innere Selbstbefreiung des Königs, dann auf seine offene Abkehr einen starken, vielleicht den entscheidenden Einfluß geübt haben. Roon trat neben seinen Fürsten als der Soldat, der es für ungeheuerlich hält, wenn andere den Herrscher nötigen wollen zu Einräumungen, die jener verwirft. Er bekannte sich zu der Lehre von dem starken Königtum, das sich nicht knebeln und nicht beugen lassen darf, wenn Preußens Staatsleben nicht das Rückgrat gebrochen werden soll; er trieb seinen König, zu tun, was dieser doch in sich selber für richtig hält, und bei grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Kabinett und Monarchen die einzig richtige Folgerung zu ziehen: die Abdankung nicht des Monarchen, sondern der Minister. Er handelte nicht ins Blaue hinein, er "kannte sein Terrain" und die Personen; er schlug Töne an, monarchische und militärische, wohlgeeignet, auf Wilhelm Eindruck zu machen: er tat damit nur das ihm Natürliche; denn er war wirklich genau der Gesinnungsgenosse seines Herrn. Man wird nicht sagen können, daß er für eine Partei handelte; er handelte in allem aus persönlichster Notwendigkeit.

Was er aussprach, klug erwogen, wie es war, quoll ihm zugleich aus tiefster Seele. "Das Vollgefühl Ihrer Königlichen Machtvollkommenheit darf Eurer Majestät nicht abhanden kommen, oder die Monarchie Friedrichs des Einzigen, Friedrich Wilhelms des Gerechten, ist keine Monarchie, ist überhaupt nicht mehr. Um ein solches Ende abzuwehren, muß jeder treue Mann Kopf und Kragen daransetzen. Wohlan! Ich wage es, Eurer Majestät die ganze volle Wahrheit zu sagen; es muß geschehen, auch auf die Gefahr hin, Mißfallen zu erregen." Er spricht von dem "Scheinkönigtum Belgiens, Englands oder Louis Philipps". Wilhelm kann auch Preußen dahin lenken, es zu einem Belgien machen, mit der Vergangenheit brechen; das gäbe Frieden, "und an Beifallsjubel würde es nicht fehlen". "Der andere Ausweg heißt: Geltendmachung des gesetzlich berechtigten königlichen Willens. Er löset die Fesseln des Adlers; der König von Gottes Gnaden bleibt an der Spitze seines Volkes der Schwerpunkt des Staates, Herr im Lande, unbeherrscht von ministerieller Vormundschaft und parlamentarischen Majoritäten; mit der Vergangenheit wird nicht gebrochen, und die bessernde Hand kann mit weisem Maße an den Ausbau unseres öffentlichen Lebens gelegt werden. Dieser Weg führt auf freilich anfangs rauher Bahn, aber mit allem Glanze und aller Waffenherrlichkeit eines glorreichen Kampfes zu den beherrschenden Höhen des Lebens; es ist der Preußens Könige allein würdige Weg." "Womit ich die Kühnheit dieses Schreibens rechtfertigen kann? Mit dem Eifer des tapferen Soldaten, der seinen Fürsten in Banden, des treuen Dieners, der seinen geliebten Herrn am Rande des Abgrunds erblickt."

[434] Das ist der ganze Roon: der Mann der Wirklichkeitsmächte, der starken Überlieferung, des Willens. Und sicherlich ein Schauspiel sondergleichen, in der Stille der königlichen Gemächer: der vierundsechzigjährige König, unbefriedigt, noch nicht durchgedrungen mit sich selber, ja zu sich selber; bei ihm sein Offizier, mit diesen Worten, mannhaft stolz und rückhaltlos groß – in diesem einsamen Kampfe und Zusammenwirken aber in Wahrheit die Krise unseres Verfassungslebens. Hier springt es zutage: blieb Wilhelm I. in jenen Jahren nicht fest – und von ihm läßt Roon sich nicht trennen –, so wich die Monarchie in schicksalsvollster Stunde, nach Menschenermessen wohl unwiderruflich, hinter das Parlament zurück; die Kräfte, die nach ihrer Erbschaft griffen, standen bereit. Jene Männer haben das alte Königtum gehalten, in Lagen, die den Zeitgenossen verzweifelt erschienen. Die Machtgegensätze entscheiden sich durch lebendige Tätigkeit lebendiger Menschen. So erst wurden die allgemeinen, die organisierten, die sozialen Gewalten, die hinter der Krone standen, wirksam, Gewalten, die natürlich da sein mußten, die aber selbst nicht handelten, das Heer, die Staatsmacht, die konservative Überlieferung; und die Weiterwirkung der leitenden Einzelnen auf eine lange Zukunft, in die Breite des Volkslebens hinaus, wurde riesengroß.


Das geistig Wesentliche aus Roons Geschichte ist entwickelt worden. Heer und Monarchie hat er ergriffen, mit der Eigenart des altpreußischen und des neurealistischen Offiziers. Die Tatsachen folgen daraus. König Wilhelm hat von 1860 bis 1862 den Kampf, den er nicht vermeiden konnte, immer vollständiger aufgenommen: der Kampf ward zum Verfassungskonflikt, die in sich berechtigten und historisch notwendigen Bestrebungen von rechts und von links stießen mit einer Wucht, die sie die Schranken des formellen Rechtes überspringen ließ, aufeinander. Nur in solcher Abrechnung voll harter und tragischer Ausschließlichkeit konnten die Gegensätze sich klären. Aus den inneren preußischen Problemen hatte sich der Kampf ergeben; bald wurde es klar, daß er nur mit den Mitteln und im Rahmen auswärtiger, das heißt zumal deutscher Politik entschieden werden konnte. Seit 1859 war die nationale Bewegung wieder im Flusse; neben und über die preußische Frage stellte sich die deutsche Frage; die Regierung konnte beide im positiven Sinne nur zusammen lösen. Roon wußte, daß er nicht der Mann, nicht der Staatsmann dazu war. Er holte sich Bismarck. Daß Bismarck der Berufene sei, empfanden so manche; aber es ist kein Zweifel, daß Roon es war, der Bismarcks Ernennung durchgekämpft hat. Ihrem Meinungs- und Nachrichtenaustausch vor diesem Erfolge verdanken wir Schriftstücke von hohem, charakteristischem wie tatsächlichem Werte; im September 1862 reichten sich dann die beiden alten Freunde von 1834, der fast Sechzigjährige und der Siebenundvierzigjährige, vor aller Welt die Hand zu ihrem gemeinsamen geschichtlichen Werke. Sie haben von da ab in treuester Waffenbrüderschaft zusammengestanden, Roon hat Bismarck [435] in allen Dingen gestützt, ohne Roon ist Bismarcks ja freilich genialere, erst im eigentlichsten Sinne schöpferische Wirksamkeit gar nicht denkbar.

Der König und seine zwei Minister wirkten ineinander. In der Heeresfrage behielt der König selber die Führung, in der Verfassungsfrage nahm sie Bismarck; in beidem war Roon für beide der unentbehrliche Helfer. Seine Kammerreden hatten sich 1860 und 1861 wesentlich auf die technisch-sachliche Vertretung seines Ressorts – Heer und Flotte – beschränkt; seit 1862 wurden sie weiter und voller. Sie zogen jetzt nicht nur die wirtschaftlichen Rücksichten, sondern alle die Streitfragen innerer und bald auch äußerer Politik in ihren Bereich, die sich mit der Heeresreorganisation verschlungen hatten. In Abwehr und Angriff, in tief und breit angelegter historischer, militärischer, allgemein-politischer Begründung, in der sicheren Erfassung des Augenblickes, in schlagfertiger Polemik gegen Richtungen und Einzelne, in der Stärke ihrer leitenden Gedanken – jener Gedanken von innerer und äußerer Macht, von Autorität, preußischem Großstaatsgefühl und preußischem Monarchismus: in allem wurden sie je mehr und mehr zu Staatsreden des großen Stiles, nicht von der überwältigenden persönlichen Kraft und dem genialen Reichtum der Bismarckschen Reden, aber auch sie, in ihrer geschäftlicheren Art, doch überaus umfassend und zugleich eindringlich, wuchtig, volltönend, mannhaft: auch sie gehören zu den klassischen Zeugnissen der eisernen Zeit. Den großartig kühnen Flug seiner auswärtigen Politik hat Bismarck, wie man weiß, ganz selbständig nehmen und hier auch seinen Herrscher erst mühsam und allmählich mit sich reißen müssen. Roon war auch dabei Bismarcks bester Bundesgenosse. In ihm war nicht von vornherein die alles vor sich niederwerfende, die umstürzende Rücksichtslosigkeit seines gewaltigen Freundes; er war seinem Wesen nach konservativer; aber die volle Wucht des preußischen Staatsgedankens besaß ja auch ihn. Er hätte der großen Politik weder ihre Ziele setzen noch ihre Bahnen suchen können so wie Bismarck – aber er hatte Staatsmannschaft und Charakterstärke genug in sich, um mit dem Allbefehdeten durch entsetzlich schwere Jahre hindurch getreu und heldenhaft zusammenzuhalten bis an das Ende. Er hat zu ihm gestanden gegenüber dem Widerstreben seines königlichen Herrn, bei dem er warb, vermittelte, drängte; gegenüber der Feindschaft der königlichen Familie; gegenüber den Parteien und aller Welt. Auch gegenüber seinem eigenen besten Freunde, dem Professor Perthes. Perthes schreibt mit freundschaftlicher Eifersucht Roon die entscheidendsten Verdienste zu und mahnt ihn angesichts des unberechenbaren Genius unablässig zu Argwohn und Wachsamkeit. Roons letztes Wort ist demgegenüber die bescheidene "Selbstverherrlichung": seine eigentliche Leistung sei gewesen, Bismarck zum Minister zu machen. Und getrost schritt er mit diesem vereint in wundervoller Ergänzung auf die Höhen des Sieges zu.

Auf der Höhe seines Lebens stand er schon damals, in den heißen Jahren von 1858 an. Es ist ergreifend, wieviel Liebe seine Briefe gerade damals ausstrahlen; dabei er selber ganz sichere und vordringende Kraft. Denn dieser Freund seiner [436] Freunde war damals ja der große Kämpfer. Es war etwas Grimmiges an ihm. Er schlug seine Landtagsschlachten; er meinte von Hause aus kein Redner und kein Debattierer zu sein, er erzog sich dazu; er war von Hause aus von auffahrender Hitze, er bändigte sich – scharf blieb sein Wort doch. Er stand stramm und hochaufgerichtet, die Stimme von dröhnender Kraft, der ganze Mann Geschlossenheit und Festigkeit. Allein hinter der stählernen Geschlossenheit barg sich ein Innenleben voll von Bewegung und nicht arm an Schmerzen. 1859 starb ihm sein siebenjähriges Lieblingskind; der Schlag, so schrieb er, traf ihn "niederschmetternd, erschütternd bis in die tiefsten Lebenswurzeln"; Glaubenszweifel peinigten ihn. Stets arbeitete es in ihm und an ihm; der Grundton seines Empfindens hatte etwas Herbes, beinah Düsteres. Wie einsam und hart war seine Jugend gewesen! Dann hatte ihn sein Leben mit den strenggläubigen Lutheranern in Hinterpommern in Berührung gebracht. Auch Roons Innenleben war religiös, auf religiöse Gedanken bezog er alles Irdische, aber zugleich haben ihn auch religiöse Kämpfe bis in sein Greisenalter begleitet. Eigentlich pietistisch empfand er wohl niemals, zur religiösen Ausschließlichkeit oder Absonderung, zu irgendwelcher Mystik neigte dieser Mann des Wirkens und der praktischen Klarheit nicht. Seine Gläubigkeit ist ganz persönlich; man möchte sagen: sie hat einen altprotestantischen Klang; sie ist, wie sein ganzes Wesen, positiv und streng, aber sie ist zugleich ruhelos, vom Sündengefühl durchdrungen; denn Zucht und Lebensdrang, Ewiges und Irdisches liegen in ihm im Streite. Er grollt in den tatenlosen Jahren vor 1859 über die Kleinheit seiner Arbeiten innerhalb des alltäglichen Dienstes: "das sind keine Hebel für den inwendigen Menschen." Er tröstet sich dann wohl über seine eigenen Klagen mit dem Gedanken, daß die göttliche Erziehung ihm Leiden auflege, um ihn innerlich zu reinigen; aber er ist so ehrlich, zu gestehen, daß er diesen Trost doch "bloß mit dem Kopfe" denkt. Ihn drängt es allzu mächtig auf das Irdische hin, und zwar auf die großen Aufgaben, auf die starken Taten, auf ein weitgedehntes Feld. Später hat er sich mehr als einmal rückblickend seiner Leistungen gefreut; sein starkes Selbstgefühl weiß sehr wohl, daß er den Grund gewaltiger Dinge gelegt hat – aber auch die Kritik ist stark in ihm; sie zeigt ihm zu deutlich "die Nichtigkeiten und Erbärmlichkeiten" an all den Erfolgen, "die die Welt anstaunt": wieviel eigene "Sünden, Verkehrtheiten, Unterlassungen, Übereilungen", "wieviel Zerrbilder, die man einst für Meisterstücke zu halten geneigt war!" Er verhehlt es sich gar nicht, daß das eine Ziel seines Strebens, der Krieg, ein "Entsetzliches" sei; er erklärt die Notwendigkeit dieses Schlimmsten aus menschlicher, allseitiger Schuld. Trotz alledem treibt es ihn gebieterisch in die Kämpfe hinaus; er muß handeln und streiten und sein persönliches Geschick durchleben: das bleibt immer das letzte Wort. Und dabei entringen sich den Lippen des Kämpfers, bereits des Sechzigers, Klagen über das allgemeine Menschenschicksal, das auch ihn trifft, über seine Stumpfheit, seine asthmatischen Leiden, seine Verbrauchtheit. Mit Wehmut besucht er 1867 das heimatliche Dorf Pleushagen: er hat "dieselben Dünen wieder [437] mühsam durchkrochen, die einst den kleinen Beinen des Bübchens wie Chimborassos erschienen". "O wie klein alles, was im Kinderspiegel so groß erschienen war!" Und zum Schlusse der resignierte Satz: "Die See aber hatte das alte Gesicht und das alte Lied."

Überall in Albrecht von Roon ein volles, drängendes, ringendes Menschenleben und Seelenleben; in stetem rastlosem Auf und Nieder wirklich ein ganzer Mensch. Freilich, zu einem Mittelpunkte wendet der Pendel sich immer wieder zurück; der Kern seines Wesens ist einheitlich: die preußisch-soldatische Tat. Da liegt die eigentlich belebende, die allgemeine und die ideale Gewalt seines Daseins. Auf der Schwelle des inneren Kampfes 1862 ist ihm "zu Mute, wie den Kämpfern in einem Gottesgerichte zu Sinn gewesen sein mag"; auf der des österreichischen Krieges 1866 wie "dem Kämpen und Ritter für Recht, Licht, Freiheit, Wahrheit und alle höchsten und heiligsten Güter des Erdenlebens". Diese feierliche Empfindung war ihm damals nicht die einzige, und er selber meint, dem Beobachter Perthes werde sie gewiß eine "eitle Donchixoterie" sein. "Aber war der Ritter von La Mancha nicht ein sehr ehrenwerter Mann? Ein jeder redlicher Kämpfer muß eine Ader von dem edlen Ritter in sich haben, um Großes und Neues hervorzubringen." Er selber mußte in die Welt hineinsprengen, um für sein Heiligstes zu fechten, und er glaubte inbrünstig an seinen Staat. Er sah das preußische Königtum aus nächster und menschlichster Nähe und sprach wohl auch über seine Träger, impulsiv, wie er war, einmal ein scharfes Wort. Dennoch hat er auch an die Monarchie geglaubt; das Wort "mein König" tönt mit einem Klange von tiefer Innigkeit aus diesem herben Munde. Er hat mit Wilhelm I. gerungen, gelegentlich um ihn und mit ihm diplomatisiert, er hat, der Starke und Rauhe, so manches Mal begütigend zwischen ihn und Bismarck treten müssen, auch er ist ungeduldig aufgeflammt – aber er hat dem Könige freudig gedient, er hat den erhabenen und ehrwürdigen Menschen geliebt und verehrt und ist ihm innerlich allezeit verwandt und vertraut gewesen. Er wußte genau, was der König dem gemeinsamen Werke bedeutete. Und er fügte sich ein, mit all seinen widerspruchsvollen Kräften, mit all seinem eigenen "trotzigen" Mute, bis die Stunde der großen Befreiung schlug.

Kein anderer unter den Werkmeistern des neuen Reiches kommt an persönlich fesselnder Gewalt wie an Breite und Wucht der Wirksamkeit Bismarck so nahe wie Roon. Bismarck ist souveräner in Wesen und Tat, ohne irgendeinen Zweifel der Führende über allen; Roon steht in jedem Belang zwischen ihm und dem Könige in der Mitte; wie hoch aber ragt, Persönliches und Allgemeinstes zusammengenommen, Roon unter den anderen empor! Er selber hat sich bescheidentlich einmal den "Feldwebel" seines Königs, als des Hauptmannes der preußischen Kompagnie, genannt: das Bild mag ihn, im höheren Sinne, bezeichnen. Und das andere Bild, in dem dies ganze, feste und tiefbewegte Wesen sich damals spiegelte, das Bild seiner äußeren Erscheinung. Er war "der alte Roon" geworden, die immer noch dichten Haare ergraut, die Falten um den Mund, unter dem Auge, [438] auf der Stirne vertieft; die Augen selber sind anscheinend kleiner geworden, das obere Lid hat sich etwas gesenkt; um so schärfer, sicherer, kriegerischer zeigt sich der Blick. Die Linien sind überaus vornehm geschnitten; alles in diesem Antlitz ist groß, kräftig, stark; charakteristisch der derbe graue Schnurrbart; alles militärisch, mannhaft und eisern. So war sein historisches Gesicht, das Gesicht des Sechzigers – ein Gesicht, das man niemals wieder vergißt.


Und sicherlich: auch seine Taten nicht. Er ward der wirkliche "Waffenschmied" der großen Kriege, der Erzieher und Einiger im Gefüge des Heeres; er hat sich in den sechziger Jahren durchgesetzt, der Fachmann wie der Monarchist; damals trug er, mit König Wilhelm und Bismarck zusammen, die besten elementaren Kräfte des alten Preußens in das künftige Deutschland hinüber.

Im Konflikte bis 1864, in der dänischen Angelegenheit, dann im dänischen Kriege war Roon ganz an Bismarcks Seite, im Kriege trieb er zu durchschlagender Tat; bis 1866 blieb er im innerpreußischen Kampfe wie in der Arbeit für die notwendige deutsche Entscheidung auf gleicher Bahn. Er nahm sein redliches Teil an der Kühnheit aller Wagnisse, an dem Bewußtsein ungeheurer Verantwortung auf sich. Endlich kam die Lösung, der Sieg, der Ruhm. "In Nikolsburg", so schreibt Roon am 28. Juli 1866 seiner Frau, "sprang" König Wilhelm nach der Unterzeichnung des österreichischen Friedens "auf, umarmte und küßte dankend und weinend mit viel beweglichen Worten zuerst Bismarck, dann mich und Moltke." "Alle Welt gratuliert und bückt sich tiefer, und ich – ich kann mich – Dir sei es gestanden, aber nur Dir – gar nicht so recht darüber freuen. Denn in diesem 'siebentägigen' Feldzuge habe ich keine Gelegenheit gehabt, mir besonderen Dank zu verdienen; höchstens hat er bewiesen, daß ich vorher kein fauler Knecht gewesen."

Er selber hatte im März 1864 im dänischen Kriege die Zuziehung des Generalstabschefs zu den entscheidenden Vorträgen beim Könige beantragt: jetzt traf ihn das Schicksal, daß der große Stratege, dessen volle, nach außen sichtbare Betätigung ja auf die kurzen Kriegszeiten zusammengedrängt war, den Kriegsminister eben für diese Zeiten der höchsten Tatenfülle in den Schatten drängte und daß ihm selber die höchste Befriedigung des Offiziers versagt blieb. Während der heißbewegten Juliwochen, als die französische Einmischung die Frage des französischen Krieges, des Krieges mit zwei Fronten brennend machte, war er, als der Staatsmann und Organisator, freilich zu seinem Rechte gekommen: er wäre fähig gewesen, auch den Doppelkampf zu organisieren, aber er wirkte mit Bismarck für die Selbstbescheidung des Siegers, für den Frieden. Vier Jahre des Friedens folgten. Er sah sein Werk bewährt, seinen Namen glorreich, seine Mühen dankbar belohnt, seine Reorganisation anerkannt, vollendet, über den Norddeutschen Bund ausgedehnt, in die Südstaaten übertragen. Schon wollte der Fünfundsechziger zusammenbrechen, er ging nach Italien, sich zu erholen. Da hob ihn noch einmal das Jahr [439] 1870 hoch empor. Alle Welt kennt den Auftritt im Bundeskanzlerpalais, wie ihn Bismarcks Erinnerungen geschildert haben, das Mahl der drei Paladine am 13. Juli, die Niedergeschlagenheit und die Aufrichtung der beiden Generale; und am 15., auf dem Potsdamer Bahnhofe zu Berlin, hallte aus der Gruppe, die den heimgekehrten König umgab, Roons mächtiger Baß heraus: "Es ist alles vorbereitet, Majestät!"

Die Wogen des großen Jahres strömten dahin: alles in machtvoller Ordnung – von neuem für den Namen Roons ein ewiger Ruhm und hier erst der höchste: die kostbarsten seiner Früchte sind erst jetzt gereift. Dennoch war es für ihn ein Jahr der Schmerzen. Wieder gab es von Anfang an gewisse Reibungen und Unzufriedenheiten mit Moltkes Stellung und gelegentlich mit Moltkes Kriegführung; vergeblich versuchte Roon am 18. August beim Könige der gewaltigen Offensive des Generalstabschefs, die ihm übermäßig erschien, entgegenzuwirken. Dann wurde bei Sedan sein Sohn Bernhard auf den Tod verwundet. Im höchsten Sinne heldenhaft hielten sich Vater und Sohn; Roon fand den Sterbenden noch bei Bewußtsein, er nahm Abschied von ihm, er durfte ihm weder die Augen zudrücken noch seinem Begräbnis beiwohnen, die Pflicht riß ihn weiter; und in eben der Stunde, da sein Sohn den letzten Seufzer aushauchte, sprach König Wilhelm an seiner Abendtafel seinen drei Großen in majestätischer Schlichtheit seinen Dank aus für die Fülle des Sieges. Verwunden aber hat Roon den Schlag, den er tapfer aushielt, nicht. Und nun folgten die schweren Wintermonate von Versailles: für keinen so schwer wie für ihn. Er war leidend, überlastet, aber er fand auch zu klagen und anzuklagen. In der dornigen Frage der Beschießung von Paris stand er, der sie eifrig forderte, mit Bismarck zusammen gegen Moltke, Blumenthal, den Kronprinzen. Die Leidenschaftlichkeit war auf beiden Seiten groß, selbst in dem Schriftwechsel zwischen Roon und Moltke klingt ein deutlich unfreundlicher Ton. Roon litt heftig unter diesen Kämpfen und Verstimmungen – der Wunsch, die Last seines Amtes bald von den alten Schultern abwälzen zu können, wurde ihm wieder lebhaft. Und er blickte ohne Freude in die Zukunft. Die Verhandlungen mit den Südstaaten hat er als Kriegsminister führen geholfen nach seiner zäh-preußischen Art. Das Gelingen der politischen Verhandlungen machte ihm lange Sorgen.

Dann sah er das neue Reich sich vollenden. Ihn feierte am 9. Januar bei seinem fünfzigjährigen Dienstjubiläum sein König und sein Heer; er aber war krank, an das Haus gefesselt und von weher Seele. Über Augenblicksärgernis hinweg kränkte ihn gerade das, was den anderen das Herrlichste an diesen Siegen war: das Deutsche Reich ersteht; sein altes Preußen, das konservative ostdeutsche Preußen, "die patriarchalisch-konservative Staatsidee", in der er groß geworden, wird zu Ende gehen. Das scheint ihm unvermeidlich, "eine Naturnotwendigkeit", die man unbefangen hinnehmen, über die man so wenig wehklagen soll, "als wenn man jammern wollte über sein eigenes zunehmendes Alter"; er weiß, es ist eine Frucht auch seiner Siege, auch seiner Arbeit – aber seine Welt ist es nicht mehr und kann es niemals werden.

[440] Hier stoßen wir an die Grenzen seines Wesens. Bismarck trat in das neue, weitere Zeitalter über; er hat in seinen eigenen Grundkräften den preußischen Heimatboden nie verleugnet, aber er wurde ganz zum Deutschen. Wilhelm I. wurde es schwerer. Indessen auch er lebte sich im neuen Reiche ein. Roon hat das nicht mehr vermocht. Er war fast siebzigjährig; er war krank und verstimmt, aber er war auch einseitiger, bei all seinem Wirklichkeitssinn doch politisch-gläubiger, prinzipiell-gebundener als sein jüngerer Freund. Und es geschah: alle Verhältnisse verschoben sich von 1871 ab, eine zweite "neue Ära" brach jetzt vollends durch, liberal und bürgerlich – es war nicht anders möglich. Die zweite Gewalt, die neben Heer und Preußentum Roons Lebensgang begleitet hatte, dieses deutsche Bürgertum, lebte all ihre Kräfte nun siegreich aus, das wirtschaftliche Leben entfaltete sich breit, der Reichstag stand in seinen glänzendsten Zeiten. Freilich, es war zugleich die Epoche der Gründer und ihres Zusammenbruchs; und der vierte Stand regte sich und drängte nach, eine ätzende Kritik, Drohungen sozialer Revolution überzogen Deutschland. Roon hatte nicht mehr die Frische, das alles zu überwinden. Er erkannte die Gegenwart wohl an, er begleitete Bismarcks mächtiges Wirken auch weiter mit Verständnis, und manchmal mit treffendem und großartig geprägtem Worte, er betonte seine Unentbehrlichkeit; er war nicht stets einverstanden mit ihm, aber blieb immer sein Freund und sein Verteidiger. Einmal, im Februar 1873, prallten – dem historischen Betrachter ein prächtiges Schauspiel – die beiden Eisernen aufeinander, und die Funken sprühten. Bismarck hatte Roon mündlich beschuldigt, er leiste seinem angegriffenen Rufe nicht die Hilfe, die der Freund von ihm erwarten könne, und es hatte heftige Worte beiderseits gegeben; Roon verteidigte sich in einem gehaltenen Briefe, bat um künftige Schonung auch seiner "Explosivität"; Verkennung und rücksichtslose Behandlung dulde er nicht – dann reichten sich beide doch wieder in ehrlicher männlicher Versöhnung die Hand. Und als Roon, krank und erschöpft, das Amt verläßt, da hören wir die Klage Bismarcks über den Verlust. Er hatte vor Jahren von seiner "von Jugendheimweh getragenen Freundschaft" für Roon gesprochen; er schreibt ihm jetzt, aus bitteren Kämpfen heraus, den traurig-schönen Abschiedsbrief: "Im gelben Sitzungszimmer werde ich die Lücke auf Ihrem Sofaplatze nicht ausgefüllt finden und dabei denken: Ich hatt' einen Kameraden –".

Albrecht von Roon.
[416b]      Albrecht von Roon.
Photographie, um 1875.

[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]
Denn Roon ging wirklich. Noch hatte er im Dezember 1872, zur konservativen Lösung innerer Schwierigkeiten im Ministerium, das preußische Ministerpräsidium übernommen – es konnte nur eine Aushilfe sein. Der Parteienkampf, der Kulturkampf, die Lasten des Amtes waren ihm zuviel; im November 1873 trat er endgültig zurück. Es war sein Wunsch seit Jahren. Jetzt rettete er sich in die Wärme des Südens; dann wurde sein Dotationsgut Krobnitz in der Lausitz der Sitz seines Greisenalters. Die dankbare Freundschaft seines Kaisers begleitete ihn; sie hatte ihn zum Grafen, zum Generalfeldmarschall erhoben; sie sprach ihn jetzt aus tiefgütigen Briefen an, in denen der alte Herrscher dem getreuesten und [441] seelenverwandtesten seiner Berater das Herz ausschüttete. Sie tauschten ihre Gefühle aus über die neue Zeit – Roon als der "alte Fuhrmann, der, wenn er auch nicht mehr fährt, doch noch gelegentlich mit dem Peitschenknallen sich erlustigt". Stets von neuem packen ihn die Sorgen dieser Zeit, obgleich "ein alter Mann wohl besser täte, an seiner Seele Seligkeit zu denken". Allein die demokratische und ungläubige Welt erschreckt ihn, ihre Zuchtlosigkeit, ihre Gottlosigkeit, ihre wilde Auflehnung. Er selber wird noch bitterer im Urteil, noch strenger in seinem Bedürfnisse nach starker Zucht von oben her als zuvor. So klagt er Wilhelm I. seine Nöte, so erlebt er 1878 in tiefem Herzensjammer die Attentate, er ruft Bismarck auf: "Handeln Sie!" Er möchte es noch erleben, daß jener "andere Bahnen sucht".

Er hat den Beginn der konservativen Ära noch eben kommen sehen. Nach fünf Ruhejahren sanken die Abendschatten schwerer hernieder. Die Briefe dieser Jahre spiegeln gelegentlich die ganze Innigkeit der Liebe zu den Seinigen, fast immer die Lebendigkeit gesteigerten religiösen Ernstes ab: er lebt dem Tode und dem Jenseits entgegen. Sein letztes Trostwort ist jetzt geworden: Gott sitzt im Regimente. Sein Sohn bezeugt, daß er auch in diese Jahre hinein mit Zweifeln "oder doch um die Gewißheit des Glaubens" zu ringen gehabt habe, bis er auch da zu einem letzten, zuversichtlichen Abschluß gekommen sei; die innere Arbeit war ihm also auch treu geblieben bis an das Ende. Er hat damals Betrachtungen aufgezeichnet, zu denen das Bruchstück einer Grabschrift gehört. Er prüft und beurteilt sein Wesen, er spricht von Sünden und Unterlassungen, von Reizbarkeit und Herbigkeit, von dem Bösen, das er nicht gewollt und dennoch getan, von Gläubigkeit und Freudigkeit: streng und aufrichtig wie stets, und in dieser Aufrichtigkeit seiner starken und bewegten Seele wahrlich ehrwürdig.

Im Februar 1879 suchte er seinen von den Wunden des Juni wieder geheilten Herrn in Berlin auf. Der Kaiser begrüßte ihn herzlich, umarmte und küßte ihn; bald danach warf eine Erkältung den beinahe Sechsundsiebzigjährigen auf das letzte Lager. Er blickte von seinem Krankenzimmer aus auf die Fenster des kaiserlichen Palais. Die Seinen umgaben ihn; zuletzt, am 21. Februar, zwei Tage vor Roons Tode, kam sein Kaiser oder, wie er es empfand und sagte, sein König zu ihm. Die Witwe hat geschildert, wie Wilhelm sich auf einen Lehnstuhl neben dem Bette niederließ, wie die Köpfe der beiden alten Herren dicht zusammen waren und sie leise sprachen, Roon immer von neuem das eine: "Dank, Dank, mein König." – "Dann stand der geliebte Herr noch am Bett, hielt die eine Hand, und die andere aus der Binde nehmend streckte er die Finger nach oben: 'Dort sehen wir uns wieder!', drehte sich langsam um, sah noch einmal zurück und rief: 'Grüßen Sie die alten Kriegskameraden! Sie finden viele!' Das war erschütternd. Im anderen Zimmer hielt er sich das Tuch vor die nassen Augen und schluchzte."

So schlicht-heroisch und so groß war das Lebewohl der beiden Greise, die so viel miteinander getan hatten. Sie werden in der Geschichte untrennbar sein. Eine jede Erzählung vom Leben Roons muß mit diesem Abschiede seines Königs schließen.

[Roons Lebensbild von Erich Marcks ist ein gekürzter und für die Zwecke dieses Werkes überarbeiteter Beitrag aus dem im Verlag Quelle und Meyer, Leipzig, 1911 erschienenen Werk von Erich Marcks "Männer und Zeiten"; der Aufsatz erschien zuerst 1903 in der "Deutschen Rundschau".]




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