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[Bd. 2 S. 357]
Friedrich Hölderlin, 1770 - 1843, von Paul Wiegler

Friedrich Hölderlin, Jugendbildnis.
[368a]      Friedrich Hölderlin, Jugendbildnis.
Pastell-Gemälde von F. C. Hiemer, 1792.
Marbach, Schiller-Nationalmuseum.
Hölderlin, am 20. März 1770 in Lauffen geboren, in einem Haus am Neckar, auf dem Ufer gegenüber der alten Regiswindis-Kirche, Sohn des Klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin, ist ganz Schwabe. In Nürtingen, wo seine verwitwete Mutter Bürgermeisterin und bald darauf ein zweites Mal Witwe wird, in Denkendorf, in Maulbronn und in Tübingen geht er den Weg vieler seiner Landsleute. Auch er tritt bei einem "Festin" zum Geburtstag des Herzogs Karl Eugen als Dichter auf. Er schreibt Verse, "womit bei der höchstbeglückten Ankunft Ihro herzoglichen Durchlaucht der Frau Herzogin von Württemberg Franziska in dem Kloster Maulbronn bezeugen und sich bei Höchstdero Durchlaucht zu höchster Huld und Gnaden untertänigst empfehlen wollte Johann Christian Friedrich Hölderlin". Und für Neuffer, seinen Freund, hat er in Tübingen mit dem Adlerwirt und mit dem Universitätssekretär Uhland, dem Vater Ludwigs, zu tun. Das Nürtinger Märchen vom dreigefüßten Roß am Hochgericht hat er im Lied gestalten wollen. Die Feste Tübingen besingt er, "schwarz und moosbewachsen Pfort' und Turm", und Kepler, den Ruhm Suevias, der "Mutter der Redlichen". Wie er Stuttgart loben wird, das Mailicht über seinen Hügeln, die Weinsteige. Und in einer Sprache, die schon rätselhaft wird, den "Winkel von Hardt" und Ulrich, den Schwabenherzog: "Hinunter sinket der Wald, und knospenähnlich hängen einwärts die Blätter, denen blüht unten auf ein Grund, nicht gar unmündig. Da nämlich ist Ulrich gegangen. Oft sinnt, über den Fußtritt, ein groß Schicksal bereit, an übrigem Orte."

Hölderlins Geburtshaus, Lauffen.
Hölderlins Geburtshaus in Lauffen.
Zeichner unbekannt (um 1840).
[Nach de.academic.ru.]
Wenn der jugendliche Hölderlin der "hehren Stille", der "Himmelswonne" dankt, so sieht er den Mondschein über dem Elternhaus, dem er zur abendlichen "Suppenzeit" sich nähert, den welken Erdbeerstrauß, den er unter seine Geschwister austeilt, das Stübchen, in das er, satt von Kartoffeln, sich schleicht, "wann so einsam von dem Turm die Glocke scholl". Erdbeeren bringt im Griechenland des "Hyperion" ein kleines Mädchen aus dem Wald, und ein Bauer sitzt Kirschen pflückend im Baume. Noch vor dem deutschen Frühling, der Hyperion beseligt, dem Frühling mit den Stimmen der Herde und dem Morgengeläut aus dem Tal, dem Quell und dem Säuseln in den Eichenzweigen. "Rückkehr in die Heimat"; das sind die in Homburg begonnenen, in Schwaben beendeten Strophen. Die Heimat beschwichtigt den vom Schmerz Erschütterten, dem zu Mute ist wie einem Schiffer nach langer Fahrt: "Versprechet ihr mir, ihr Wälder meiner Jugend, [358] wenn ich komme, die Ruhe noch einmal wieder?" Die Landschaft des Neckars leuchtet auf, von Blüten weiß: "Aber mit Wölkchen bedeckt am roten Berge der Weinstock dämmert und wächst und erwärmt unter dem sonnigen Duft." Irrend und bedroht, ehrt dieser Wanderer noch die "Engel des Hauses". Als sein Geist erloschen ist, sinkt er, nach Diotima befragt, in ein "vollständiges Bauernschwäbisch" zurück: "Und wisset Se, wies no ganga ischt? Narret ischt se worde, narret, narret, narret." Nun hat er das verwitterte, faltige, sorgenvolle Antlitz eines schwäbischen Schafhirten.


Sein äußeres Leben ist in den Raum von acht Jahren eingeengt. Vom Dezember 1793 bis zum November 1794 war er in Waltershausen Magister bei dem Sohn der Majorin Charlotte von Kalb. In den letzten Tagen von 1795 ist er aus Jena abgereist, um in Frankfurt Hofmeister im Hause des Bankiers Gontard zu werden. Im September 1798 hat er von Frau Susette Gontard, verzweifelnd, sich trennen müssen. Bis Mai 1800 dauert die Ruhepause in Homburg, bei dem Freunde Sinclair. Im Januar 1801 reist Hölderlin von Nürtingen nach Hauptwyl bei Sankt Gallen, zu Anton Gonzenbach. Am 11. April wird er verabschiedet. Am 10. Mai 1802 verläßt er Bordeaux und das Haus des Hamburger Konsuls, bevor Sinclairs Brief mit der Nachricht vom Tode der Frau Gontard dort eintrifft. Ganz zerrüttet erscheint Hölderlin

Der Hölderlin-Turm in Tübingen.
[359]      Der Hölderlin-Turm in Tübingen,
in dem der Dichter die letzten vierzig Lebensjahre zubrachte.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
im Park eines Schlosses in Frankreich. Was nun folgt, ist nur ein Nachleben. Im Sommer 1804 wird er durch Sinclair Bibliothekar beim Landgrafen von Hessen-Homburg, und sein Wahnsinn ist dem "Pöbel" ein Ärgernis. Nach einem Aufenthalt in der Tübinger Klinik Autenrieth bezieht er eine Stube beim Tischlermeister Zimmer in Tübingen, im Stadtturm am Neckar. Damals ist er siebenunddreißigjährig. Am 7. Juni 1843, mit dreiundsiebzig, erlöst ihn der "Retter Tod".

Er ist von jeher verletzlicher als sonst einer aus seiner Klasse von mittellosen Gymnasiasten und Studenten. In Maulbronn gesteht er, siebzehnjährig, in einem Brief an Immanuel Nast seine "wächserne Weichheit", "und darin ist der Grund, daß ich in gewissen Launen ob allem weinen kann". Die Mädchen der Verwaltung sprechen ihn an, zum ersten Male, und für ihn wird es ein Erlebnis: "Du solltest's gesehen haben – ich habe mich gefreut wie ein Kind, daß mich auch nur jemand angeredet hat – und das war doch keine so wichtige Sache zum Freuen." Sein einziger Trost ist seine Flöte; und dennoch lassen seine Mitschüler, wenn sie sich zu einer Privatmusik zusammensetzen, eher eine Lücke, als daß sie den Hölderlin rufen. Er ist der "ewige, ewige Grillenfänger". Wenn die Universitätsjahre vorüber sind, beabsichtigt er Einsiedler zu werden. Das ist sein "menschenfeindliches Wesen", das er bekämpft. "Wollte ich klug sein", hat schon der fromme Knabe dem Diakonus Köstlin in Nürtingen sich eröffnet, "so wurde mein Herz tückisch, und die kleinste Beleidigung schien es zu überzeugen, wie die Menschen so sehr böse, so [359] teuflisch seien, und wie man sich vor ihnen vorsehen, wie man die geringste Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse".

Sanft und wehrlos aber bleibt er, trotz des "Mißtrauens gegen jedermann", das er in Maulbronn zu hegen glaubt, und trotz eines seltsamen Zwischenfalles in Tübingen, wo er von einem Mädchenschulprovisor den Gruß fordert, der dem Stipendiaten, dem Stiftler, gebühre, und, als der Hilfslehrer sich weigert, ihm den Hut vom Kopf schlägt. Er wünscht dem Stift und der Theologie zu entrinnen, um Jura zu studieren. Er seufzt, daß der fortdauernde Verdruß, die Einschränkung, die ungesunde Luft im Alumnat ihn entkräften, und gibt seiner Mutter in einem Bittbrief die Selbstcharakteristik: "Sie kennen mein Temperament, das sich, eben weil es Temperament ist, schlechterdings nicht verleugnen läßt, wie es so wenig für Mißhandlung, für Druck und Verachtung taugt." Aber der Druck von außen wird ihn nach und nach vernichten.

Man halte ihn im Kloster Maulbronn für gefährlich melancholisch: das sagt Hölderlin im Herbst 1787, und es ist die Wirkung der ersten Liebe auf ihn. Kann sie anders sein als schwärmende, wirre Empfindsamkeit? "Wie's da in meinem Herzen tobte, wie ich beinah kein Wort reden konnte, wie ich zitternd kaum das Wort Luise hervorstammelte, das weißt Du, Bruder." Und: "O Bruder! Bruder! das waren schröckliche Tage – namenlose Leiden – noch nie gefühlte Raserei zerriß mir das Herz." Auch mit einem, auf den er eifersüchtig ist, "rast" der in Tränen Schwelgende, bis aus der Angst und dem "Unsinn" Freundschaft wird. Aber der Zwanzigjährige löst sich von seiner Luise, "mürrisch, mißmutig, kränkelnd". Eines "unüberwindlichen Trübsinns", der meist "unbefriedigter Ehrgeiz" sei, beschuldigt er sich. Noch zieht in Tübingen die Professorentochter Elise Lebret ihn an. Jedoch das ist nur eine Illusion seiner "Schwachheit".

In dem Fragment des "Hyperion", das Hölderlin in Waltershausen niederschreibt, ist die unbekannte Geliebte die Griechin Melita. Dieses "himmlische [360] Wesen" begegnet dem "Unmutigen", der freudeleeren, blutlosen Herzens ist. "Ich werde sie wiederfinden in irgendeiner Periode des ewigen Daseins." Melita verwandelt sich in Frankfurt am Main in Susette Gontard. Diotima, das ist der von Plato geweihte Name, mit dem der Hellene Hölderlin sie nennt. Denn staunend wird er inne, daß sie für seinen Drang, ihr zu huldigen, sie anzubeten, empfänglich ist. Plötzlich kommt ihm "Mut und Macht" vom Ideal, "da ich vor des Himmels Tage darbend wie ein Blinder stand, da die Last der Zeit mich beugte und mein Leben kalt und bleich, sehnend schon hinab sich neigte in der Schatten stummes Reich." Nun atmet er auf: "Könnt' ich werden, wie ich jetzt bin, froh wie ein Adler, wenn mir nicht dies, dies Eine erschienen wäre und mir das Leben, das mir nichts mehr wert war, verjüngt, gestärkt, erheitert, verherrlicht hätte mit seinem Frühlingslichte?" Es dauert Monate und ist Ekstase und geheimes Bangen: "Ich habe eine Welt von Freude umschifft. Die Woge trug mich fort." Dann wird die Metapher, der Hölderlin sich überläßt, aus einer des Stolzes eine Metapher des Untergangs. Der "Hyperion" sagt: "Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstände." In Hölderlins Brief an Neuffer vom 16. Februar 1797 heißt es: "Auf dem Bache zu schiffen ist keine Kunst. Aber wenn unser Herz und unser Schicksal in den Meeresgrund hinab und an den Himmel hinauf uns wirft, das bildet den Steuermann." Und ein Jahr später, in einem Schreiben an den Stiefbruder: "Ich spreche wie einer, der Schiffbruch gelitten hat." Dazwischen liegt der Abschied von Diotima, liegt die Verbannung aus dem Hause Gontard, aus einem nur in der Phantasie genossenen Glück. "Das Steuer ist in die Woge gefallen, und das Schiff wird, wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert."

Diotimas Verlust hinterläßt in Hölderlin ein Trauma, eine Wunde, die sich nicht mehr schließt. Es ist das "Tödliche", das nie zu Vergessende. So sehr Menon, um Diotima klagend, sich aufrafft zu Gedichten an sie, den Schutzgeist, die Heldin, die Athenerin: "Ja, es frommet auch nicht, ihr Todesgötter! wenn einmal ihr ihn haltet und fest habt den bezwungenen Mann, wenn ihr Bösen hinab in die schaurige Nacht ihn genommen, dann zu suchen, zu flehn oder zu zürnen mit euch." Die "traurige Komödie" ist abgespielt; und Hölderlin ist um sein Leben gebracht. "Wem einmal so wie dir", schreibt Diotima an Hyperion, "die ganze Seele beleidigt war, der ruht nicht mehr in einzelner Freude, wer so wie du das fade Nichts gefühlt, erheitert im höchsten Geist sich nur, wer so den Tod erfuhr wie du, erholt allein sich unter den Göttern." Es ist Hölderlins Ungemach, daß er sich von der Schmach, physisch und psychisch, niemals erholt. Grenzenlos ist er verarmt. "O gib mir meine Jugend wieder!" hat er in Frankfurt gestöhnt. "Ich bin zerrissen von Liebe und Haß." Nun ist ihm nichts beschieden als graues Einerlei der Entbehrung. "Ja, eine Sonne ist der Mensch", so verzagt er, "allsehend, allverklärend, wenn er liebt, und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Wohnung, wo ein rauchend [361] Lämpchen brennt." Vorher schien Hölderlin sich ein verdorrender Blumenstock, der mit dem Scherben auf die Straße gestürzt sei und nur durch ausgesuchte Pflege gerettet werden könne. Oder er schrieb an Schiller: "Ich bin vor Ihnen wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesetzt hat. Man muß sie zudecken um Mittag." Jetzt ist ihm, er habe seine Jahre in Gram und Irren verloren. In seinem Gemüt ist die Krankheit, die es ganz verfinstern wird.

Sein Zustand ist ein langsames Absinken in eine Passivität, die ihn entzückt und ihn zerrüttet. In Homburg noch klingt in ihm eine Melodie, "zu der man seine Zuflucht nimmt, wenn einen der böse Dämon überwältigen will". Er trägt in das Folioheft seiner Verse ein: "Vorwärts aber und rückwärts wollen wir nicht sehn. Uns wiegen lassen wie auf schwankem Kahn der See." Früh hatte er, leise erschauernd, die vorzeitige Zerstörung geahnt: "Willst du im Abendrot froh dich baden? Hinweg ist's, und die Erd' ist kalt, und der Vogel der Nacht schwirrt unbequem vor das Auge dir," und ahnend hatte er die Parzen gebeten, nur einen Sommer und einen Herbst in Reife ihm zu gönnen. Nun ertönt um ihn Hyperions Schicksalslied. Nun bekennt er "das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu" in den Strophen des "Chiron". "Das Herz ist wieder wach, doch herzlos zieht die gewaltige Nacht mich immer." Die ordnungslose "uralte Verwirrung" bricht herein.

Die letzte Landschaft, in der Hölderlin geschont wird, ist die Alpen-Szenerie von Hauptwyl. Die silbernen, ewigen Gipfel schimmern bis in ein freundliches Tal, "das überall an seinen Seiten mit den immergrünen Tannenwäldchen umkränzt und in der Tiefe mit Seen und Bächen durchströmt ist, und da wohne ich, in einem Garten, wo unter meinem Fenster Weiden und Pappeln an einem klaren Wasser stehen, das mir gar wohl gefällt des Nachts mit seinem Rauschen, wenn alles still ist und ich vor dem heiteren Sternenhimmel dichte und sinne." Er glaubt in dieser "Unschuld" an kommende Tage furchtloser Güte. Aber auch in Hauptwyl wird er entlassen, da er so wenig brauchbar ist. Wieder muß er gehen, schutzloser als jemals. Über das erhabene Idyll legt sich das aufwühlende Begebnis im Exil von Bordeaux.


Der junge Hölderlin, der seine Freunde bat, ihm nicht zu zürnen, wenn er sie stieße, sondern zu prüfen und zu richten, gab ihnen zu, daß er von Dichterehren träume: "Ist's schwacher Schwung nach Pindars Flug? Ist's kämpfend's Streben nach Klopstocks Größe?" Klopstock ist für den Maulbronner Schüler der Inbegriff der Messias-Sänger seliger Christen, die "mit Eloah unser Jubellied verbinden", der Gläubige, der den pietistischen Überlieferungen von Nürtingen und Denkendorf entgegenkommt. Auch der geistliche Liederdichter Hölderlin ruft als Gotteskind "Abba, lieber Vater", und in seiner Bildersprache von der Welt gibt es den Jammerstand, das Getümmel, den Spott der Toren und das Schlangengift der Lästerer. Aber es handelt sich nicht nur um die religiösen Oden [362] Klopstocks, die für die "Unsterblichkeit der Seele" das Muster sind, nicht nur um Eden und die Sionitin, auch um das Walhalla-Pathos des "Thuiskon" und der "Hermannsschlacht". Der Hofmeister Hölderlin reist mit Frau Gontard und ihren Kindern nach Westfalen, nach dem Bad Driburg bei Paderborn, "wahrscheinlich nur eine halbe Stunde von dem Tale, wo Hermann die Legionen des Varus schlug". "Ich dachte", so schreibt er seinem Stiefbruder, "an den schönen Nachmittag, wo wir in dem Walde bei Hardt bei einem Kruge Obstwein auf dem Felsen die Hermannsschlacht zusammen lasen." Nächst Klopstock haben ihn Young inspiriert und Macpherson. Aus den "Nachtgedanken" Youngs sind der Würger Tod und der "goldene Schlaf", aus dem "Ossian", dem "Schlachtenstürmer", die "Söhne der Schwachen", der See Lego, das Konatal. "Allmacht des Schaffenden ist nach Klopstock, Sohn der Nacht ist aus Ossian", erinnert Magenau den Freund. Auch seinem Landsmann Schubart empfindet Hölderlin nach, der das "Geäffe weicher Auslandssitte" verachtete und den deutschen Biedersinn pries. Auch Friedrich Leopold Stolbergs Aufzählung der Freiheitszeugen: "Brutus! Tell! Hermann! Cato! Timoleon!" und seinen Katalog der Stromnamen: "Ganges, Indus, Euphrat, Nil, Tiber, Eurotas, Orellana, Donau, Rheinstrom." Der Orellana ist der Amazonenstrom, der "Riese unter den Flüssen". Schwab hat den Anklang von Hölderlins "Burg Tübingen" an Matthissons Elegie "In den Ruinen eines alten Bergschlosses" nachgewiesen.

Jedoch das entscheidende Erlebnis des Werdenden ist Schiller. Von ihm hat er den Genius und die "Geistermutter Ewigkeit", die Orionen und Elysium, Urania und die "bessere Welt". Von ihm die Übersteigerung der Stimme: "Aber weg! In diesem toten Herzen bluten meiner armen Stella Schmerzen, folge! folge mir! Verlassene!" Oder, nach Schiller Wort für Wort, das Donnern im "Lied der Freundschaft": "Stärke, wenn Verleumder schreien, Wahrheit, wenn Despoten dräuen, Männermut im Mißgeschick." Und in der "Hymne an die Schönheit": "Feiert wie an Hochaltären dieser Geister lichte Schar, Brüder, bringt der Liebe Zähren, bringt, die Göttliche zu ehren, Mut und Tat zum Opfer dar!" Schillerisch, rezitatorisch ist in dem "bebenden Lobgesang" an den Herrn, den "Furchtbaren", die Fermate: "Eine Pause im Gefühl". Zu den "Räubern" bekennt sich Hölderlin, zu der Szene an der Donau, noch als er über die Ode an Bilfinger und die Zeile: "Dort im schattichten Hain wandelt Amalia" um fünfzehn Jahre hinaus ist. In den "Don Carlos" hat schon den Maulbronner Schüler, der über Hals und Kopf Verse macht und dem "braven Schubart" ein Paket schickt, Luise Nast eingeführt. "Weil Du den Don Carlos liest", dankt er der Tochter des Klosterverwalters, "will ich ihn auch lesen auf den Abend, wann ich ausgeschafft habe." "Die Unterredung des Marquis Posa mit dem König darin ist mein Leibstück", schreibt er seinem Stiefbruder. Und im September 1799 aus Homburg dem verehrungswürdigen Schiller, der "Don Carlos" sei lange die "Zauberwolke" gewesen, "in die der gute Gott meiner Jugend mich hüllte, daß [363] ich nicht zu frühe das Kleinliche und Barbarische der Welt sah, die mich umgab". Damals, in Homburg, hat Hölderlin den "Tod des Empedokles" begonnen, und er festigt sich in seinem Ringen um die tragische Form durch die Dramaturgie Schillers, des "edlen Meisters". "Ihren Fiesco habe ich schon studiert und gerade auch wieder den inneren Bau, die ganze lebendige Gestalt, nach meiner Einsicht das Unvergänglichste des Werks, noch mehr als die großen und doch so wahren Charaktere und glänzenden Situationen und magischen Maskenspiele der Sprache bewundert."

Mit seiner Generation und heftiger als Schiller wird Hölderlin von der Umwälzung in Frankreich erfaßt. Aus dem Achtzehnjährigen, der zur Freundschaftsfeier an rosenbestreuten Tischen, bei Weihrauchdampf "meine Laren und den Schatten meiner Stella und Klopstocks Bild und Wielands umkränzt", der von singenden, rosigen Mädchen und Kränze tragenden, blühenden Knaben phantasiert, von Saitenspiel, Flöten, Hörnern und Hoboen, wird der um einen Freiheitsbaum tanzende, den "großen Jean-Jacques" anbetende, von der Marseillaise hingerissene Student. Der Revolutionär gegen Karl Eugen und Urheber eines neuen "In Tyrannos", der Genosse Schellings und Hegels, die Schwaben und Stiftler sind wie er. 1793 läßt er sich brieflich aus: "Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, unsere Enkel werden besser sein als wir, die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem, erwärmendem Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus." 1791 hat er die "Hymne an die Menschheit" entworfen, deren Motiv ein Zitat aus Rousseau ist, Absage an die niedrigen Sklaven, die über die "Freiheit" höhnisch lächeln. Und in Schillers "Neuer Thalia" besingt er jakobinisch den "Genius der Kühnheit": "Du wogst mit streng gerechter Schale, wenn mit der Toga du das Schwert vertauscht. Du sprachst, sie wankten, die Sardanapale, vom Taumelkelche deines Zorns berauscht. Es schreckt' umsonst mit ihrem Tigergrimme dein Tribunal die alte Finsternis."

Hat der jugendliche Lyriker Hölderlin schon ein unanzweifelbar eigenes Antlitz? In dem Gedicht: "Die heilige Bahn" spricht er von "alternden Wolkenfelsen", und das ist ossianisch und dennoch schöpferisch. Der Hölderlin der späteren Jahre, der visionär verdichtende, kündigt sich an. Und mit ihm der Träger dessen, was Nietzsche "Amor fati" nennen wird, der Schicksalsbejahung in aller leidenden Gebrechlichkeit: "Im Heiligsten der Stürme falle zusammen meine Kerkerwand, und herrlicher und freier walle mein Geist ins unbekannte Land!"


Der Enthusiasmus für das Griechentum mischt sich in Hölderlins Frühzeit in die Namen und Gedanken der christlichen Welt, behutsam zuerst, dann lauter, bis Pindar den Klopstock verdrängt. In Maulbronn entsteht eine "Hero", aber in [364] Tübingen die "Hymne an den Genius Griechenlands". Bis die acht Strophen des Gedichtes für Gotthold Stäudlin "Griechenland", die sehnenden Klagen um den entschwundenen Stern der Liebe, um das holde Rosenlicht der Jugend, um die goldenen Stunden von Hellas in den Seufzer des Todesbegehrens ausklingen: "Mich verlangt ins bessere Land hinüber, nach Alcäus und Anakreon, und ich schlief' im engen Hause lieber bei den Heiligen in Marathon! Ach! es sei die letzte meiner Tränen, die dem heil'gen Griechenlande rann. Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen, denn mein Herz gehört den Toten an." Einer der "neuen Tyndariden" ist Hölderlin nun, und er folgt dem Wink der "unerforschten Pepromene".

Im Zeichen des Griechenkults wird er 1791 "Romanist", Romanschreiber. Heinses "Ardinghello", aber auch die "Neue Heloise" Rousseaus und Bouterweks "Graf Donamar" wirken auf ihn, als er 1791 den "Hyperion" aussinnt. In Bad Driburg hat er "Heinse, den Verfasser des Ardinghello", den "herrlichen alten Mann" kennengelernt: "Ich habe noch nie so eine grenzenlose Geistesbildung bei soviel Kindereinfalt gefunden." Von ihm hat er die Philosophie der Schönheit. Von Barthélemys "Voyage du jeune Anacharsis en Grèce" und Richard Chandlers "Travels in Asia Minor and Greece", die er in deutscher Ausgabe liest, entlehnt er Kolorit und Einzelheiten. Im Herbst 1792 sagt Magenau in einem Brief an Neuffer über den "zweiten Donamar", an dem "Holz", Hölderlin, schreibe, dieser Hyperion sei "ein freiheitsliebender Held und echter Grieche, voll kräftiger Prinzipien". Und im Juli 1793 wünscht der Autor selbst, dem "Werkchen", in dem er lebe und webe, einen Funken der "süßen Flamme" seiner klassizistischen Entzückungen übertragen zu können. Die Freunde und die Freundinnen sollen nach dem Fragment, das er an Stäudlin schickt, beurteilen, "ob mein 'Hyperion' nicht vielleicht einmal einen Platz ausfüllen dürfte unter den Helden, die uns doch ein wenig besser unterhalten als die wort- und abenteuerreichen Ritter". Er ist sich der Unvollkommenheiten seiner Skizze wohl bewußt: "Dieses Fragment scheint mehr ein Gemengsel zufälliger Launen als die überdachte Entwicklung eines festgefaßten Charakters, weil ich die Motive zu den Ideen und Empfindungen noch im Dunkeln lasse, und dies darum, weil ich mehr das Geschmacksvermögen durch ein Gemälde von Ideen und Empfindungen (zu ästhetischem Genusse) als den Verstand durch regelmäßige psychologische Entwicklung beschäftigen wollte." Ein Bruchstück in ungereimten fünffüßigen Jamben ist erstes Zeugnis der produktiven Tätigkeit. Dann richtet Hölderlin sie auf die "Umbildung der Materien" seines Romans. "Eine dieser rohen Massen" ist das Fragment von Waltershausen, das "Thalia"-Fragment. Im Winter auf 1795 geht er wieder zu Jamben über. Die vierte Fassung, nach Jena, ist die Prosa-Novelle "Hyperions Jugend". Das endgültige Werk der Roman "Hyperion oder der Eremit in Griechenland".

Im "Thalia"-Fragment schon teilt Hyperion, der Namensbruder des "herrlichen Hyperion des Himmels", des Helios, als den ihn Diotima begrüßt, sich in [365] Briefen an Bellarmin mit. Diesen nennt Hölderlin nach einem Jesuitenkardinal, wie er die lateinische Grabschrift des Loyola als Sentenz verwendet. In Chandlers "Travels" gab es einen Gorgonda Notara, gab es Melite. Adamas, der junge Tiniote, der nachher Hyperions Lehrer wird, heißt wie ein Troer in der "Ilias". Das griechische Symbol ist die Grotte Homers, vor der die Jünglinge, das Mädchen und Notara Rhapsodien der "Ilias" lesen und eine Nänie auf den Schatten des "lieben, blinden Mannes" singen: "Innen, im magischen Dämmerlichte der Grotte, das durch die verschiedenen Öffnungen des Felsens, durch Blätter und Zweige hereinbricht, stand eine Marmorbüste des göttlichen Sängers und lächelte gegen die frommen Enkel."

Der endgültige Roman ist Briefroman geblieben. Aber nun wagt Hölderlin die belletristische Erweiterung. Den russisch-türkischen Krieg von 1770 zieht er heran, Misistra, Tripolissa, Navarin und die Seeschlacht bei Tschesme, in der die türkische Flotte besiegt wird. Hyperion, der auf Paros verwundet erwacht ist, schreibt Bellarmin, dem Deutschen: "Von dem Diener, der mich aus der Schlacht trug, hört' ich nachher, die beiden Schiffe, die den Kampf begonnen, seien in die Luft geflogen, den Augenblick darauf, nachdem er mit dem Wundarzt mich in einem Boote weggebracht. Die Russen hatten Feuer in das türkische Schiff geworfen, und weil ihr eigenes an dem anderen festhing, brannt' es mit auf." Das ist eine ganze Romanszene. Anderes kommt aus der Lektüre der Reiseschilderungen. Unter den Steinhaufen des Altertums schreit der "Jakal", der Schakal. Britische Gelehrte halten inmitten der Ruinen von Athen ihre Ernte. Und elegisch spazieren Hyperion und Diotima den Lykabettus hinan zum Parthenon. "Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohen und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns wie die nackten Stämme eines Waldes, der am Abend noch grünte und des Nachts darauf in Feuer aufging."

In einem der Briefe an Diotima sagt Hölderlins Neuhellene, er habe seinen türkischen Kopfbund in den Eurotas bei Sparta geschleudert und trage seitdem einen griechischen Helm. Das Jahrhundert von Tschesme verwandelt sich in die Antike. Bei Diotimas Mutter erzählt Hyperion von Agis und Kleomenes, den "Halbgöttern". "Ich habe genug daran", schreibt Diotima an den Geliebten, "um freudig als ein griechisch Mädchen zu sterben." Aber diese Stilisierung ist nicht einheitlich. Die Griechin wohnt als "Königin des Hauses" unklassisch und nicht wie eine Hellenin. "Wohin ich sah, was ich berührte, ihr Fußteppich, ihr Polster, ihr Tischchen, alles war in geheimem Bunde mit ihr", sagt Hyperion; und es sind die Zimmer und die Möbel von Susette Gontard. "Kann ich noch weinen? O des albernen Mädchens!" So tadelt Diotima sich, als wäre sie eine ihrer deutschen Mitschwestern. In ein heiliges Tal der Alpen oder der Pyrenäen will Hyperion sie und sich flüchten, um dort "ein freundlich Haus und auch von grüner Erde soviel [366] zu kaufen, als des Lebens goldene Mittelmäßigkeit bedarf". Das ist deutsch geträumt, Kleistisch geträumt wie der Abschiedsbrief des nach Bordeaux reisenden Hölderlin in dem Brief an Böhlendorf: "Deutsch muß und will ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe." Deutsch ist der Ausgang des Romans, Hyperions Kritik an den "Barbaren von altersher", die Bellarmins Nation sind: "Ich kann mir kein Volk denken, das zerrissener wäre als die Deutschen." Deutsch ist Hölderlins Einwand gegen die Tübinger oder die Jenaer Studentenschaft: "Voll Lieb' und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln wie die Schatten, still und kalt." Und deutsch ist auch die Versöhnung durch den Frühling.

Hyperion selbst wird ungeachtet der Trauer um Diotima nicht zur Romanfigur. Alabanda ist es, den er fassungslos bewundert, seit er ihm vor den Toren Smyrnas reitend begegnet ist: "Wie ein junger Titan schritt der herrliche Fremdling unter dem Zwergengeschlechte umher, das mit freudiger Scheue an seiner Schöne sich weidete, seine Höhe maß und seine Stärke und an dem glühenden, verbrannten Römerkopfe wie an verbotener Frucht mit verstohlenem Blicke sich labte." Alabanda ist der große Gegensatz Hyperions, der wie Hölderlin ein "Grillenfänger" genannt wird. Der Abenteurer ist dieser Fremdling, das Genie, das Wunschbild. "Von früher Jugend an erbittert und verwildert und doch auch das innere Herz voll Liebe, voll Verlangen, aus der inneren rauhen Hülle durchzudringen in ein freundlich Element." Anstößig ist er, unverträglich und dennoch bestechend. Hyperion kann ihn nicht vergessen, den bis in den Tod Geliebten, den königlichen Jüngling, über dem ein Verhängnis schwebt. Als Knabe hat Alabanda auf einem Kaperschiff gedient, das scheiterte, in Sevilla als Achtzehnjähriger für Geld ein griechisches Lied gesungen, dann als Messerschärfer mit einem Schleifstein in Spanien und Frankreich vagabundiert. Zweimal verhaftet, ist er nach Triest gereist und hilflos an dessen Hafen umhergegangen. Ein Mann, dem er schon in Sevilla begegnet war, hat Alabanda in den "Bund der Nemesis" eingeführt, dessen Mitgliedern er Seele und Blut vermachte. Er hat um Hyperions willen den Eid gebrochen. Seine Bundesbrüder werden seine Richter sein. Dieser düstre Kämpfer ist ein Verächter der Menschheit: "Die Mine bereite mir einer, daß ich die trägen Klötze aus der Erde sprenge!" Und mit Hyperion war er ein lodernder Idealist: "Wie Stürme, wenn sie frohlockend, unaufhörlich, fort durch Wälder über Berge fahren, so drangen unsere Seelen in kolossalischen Entwürfen hinaus." Zwischen Karl Moor lebt er und dem Roquairol von Jean Paul.


Hölderlins ‘'Hyperion'‘.
[367]      Hölderlins "Hyperion"
mit handschriftlicher Widmung an Diotima.      [Vergrößern]
Der "Hyperion" krankt an dem Gefühl der Zeitlosigkeit oder der Zeitwidrigkeit. "Wie ein heulender Nordwind", so sagt er, "fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versengt sie im Entstehen." Angeklagt wird die [367] "Unheilbarkeit des Jahrhunderts". Der sich mäßigende Jakobiner, der noch 1796 an den "Riesenschritten der Republikaner" Freude gehabt hat, verfolgt die politischen Ereignisse, das "große Leben", bis zum Frieden von Campo Formio. "Er lebt und bleibt in der Welt", das ist die letzte Zeile einer Ode auf Buonaparte. Und im November 1799 schreibt der Dichter aus Homburg der Mutter: "Eben erfahre ich, daß das französische Direktorium abgesetzt, der Rat der Alten nach Saint-Cloud geschickt und Buonaparte eine Art von Diktator geworden ist." Im Frühjahr 1801 wiederholt er das Wort vom "moralischen Boreas" des Krieges und der Revolution. Aber alles in Hölderlin bezeugt eine tiefe Fremdheit gegenüber dem Realen.

Er selbst erkennt sie, zaudernd und befangen, und weiß von den Schwächen seiner geistigen Struktur. In Waltershausen ist er fest entschlossen, von der Kunst zu scheiden: "Übrigens komme ich jetzt so ziemlich von der Region des Abstrakten zurück, in die ich mich mit meinem ganzen Wesen verloren hatte." In Jena sagt er sich: "Ich muß mir heraushelfen aus Dämmerung und Schlummer, halbentwickelte, halberstorbene Kräfte sanft und mit Gewalt wecken und bilden, wenn ich nicht am Ende zu einer traurigen Resignation meine Zukunft retten soll, wo man sich mit anderen Unmündigen und Unmächtigen tröstet." Er sucht eine Stütze [368] in der Spekulation, bei Fichte, der "Seele von Jena", und seiner Bestimmtheit, die ihm, dem "Armen", ein Problem ist. Aus Frankfurt berichtet er Hegel, dem Tübinger Freund, die "metaphysischen Luftgeister", die ihn aus Jena geleiteten, hätten ihn verlassen. "Die metaphysische Stimmung", meint er 1797 in einem Brief an Schiller, sei eine "gewisse Jungfräulichkeit des Geistes", eine aus einer Lebensperiode zu erklärende "Scheue vor dem Stoff". Niemals sieht er seine Organisation deutlicher als 1798 in dem restlosen Geständnis: "Es fehlt mir weniger an Kraft als an Leichtigkeit, weniger an Ideen als an Nuancen, weniger an einem Hauptton als an mannigfaltig geordneten Tönen, weniger an Licht als an Schatten; und das alles aus diesem Grunde: Ich scheue das Gemeine und Gewöhnliche im wirklichen Leben zu sehr."

Dieser "Bürger in den Regionen der Gerechtigkeit und Schönheit" ist schon ursprünglich ein Pantheist. Die Schriften von Spinoza, "einem großen, edlen Manne aus dem vorigen Jahrhundert und doch Gottesleugner nach strengen Begriffen", haben den Theologiestudenten beeinflußt. Wie Schelling, der dritte Tübinger, über dessen Abtrünnigkeit er sich später beschwert, und dem er gleichwohl durch die "Humanität" fernerhin verbunden ist, hat er die Philosophie des "Eines zu sein mit allem". Sie ist die Philosophie Heraklits. "Einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles": so verabschiedet Hyperion sich von Bellarmin. Aber mit diesem heidnischen Pantheismus ist die Christenfrage des Jünglings durchaus vereinbar: "Hast du mich lieb, guter Vater im Himmel?"

Hölderlin ist gegen den Staat. Der Staat darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann, darf nicht zur Sittenschule werden. Hölderlin oder Alabanda redet von einer neuen Kirche, die aus den befleckten, veralteten Formen hervorgehen wird. Hölderlin oder Hyperion nennt das erste Kind der göttlichen Schönheit die Kunst, das zweite die Religion: "Religion ist Liebe der Schönheit." So sehr hat diese Wertung die Herrschaft, daß sie von einer Flucht der Schönheit (als des Primären) in den Geist spricht: "Ideal ist, was Natur war. Daran, an diesem Ideale, dieser verjüngten Gottheit, erkennen die Wenigen sich, und Eines sind sie, denn es ist Eines in ihnen, und von diesen, diesen beginnt das zweite Lebensalter der Welt." Hyperion sagt in einem Gespräch zu mehreren bei Diotima über das Verhältnis der Philosophie zur Poesie: "Die Dichtung ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft. Wie Minerva entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seins. Und so läuft am End' auch wieder in ihr das Unerreichbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen." Diotima erwidert, er sei ein paradoxer Mensch, aber sie ahne ihn. Keine Philosophie, so preist Hyperion das "Moment der Schönheit", komme aus bloßem Verstand und bloßer Vernunft, die die Könige des Nordens sind. Die heilige "Theokratie des Schönen", das ist die Zuversicht des deutschen Griechen, "muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben, und diesen Platz erobern wir gewiß". Zweifel lähmen die Zuversicht, Lebensmüdigkeit und Todesfurcht, Furcht vor dem [369] Alter, Furcht, "ärmlich zu werden" und gemein. Aber noch glaubt Hyperion an den Menschen so inbrünstig, daß Diotima weinen muß. "Das rettet ihn allein", sagt er zu dem göttlichen Mädchen, "daß er sich aufmacht und die Natter zertritt, das kriechende Jahrhundert, das alle schöne Natur im Keime vergiftet."


Auch die Wandlung Hölderlins nach diesem Weltbild ist die des Schiller-Jüngers, dem die Abhandlung des Meisters über Anmut und Würde alles war: Gedanke, Empfindung, Phantasie. Der "ewige Vollendungsgang der Natur", der Trieb als Bildungstrieb, die Entwicklung der schaffenden Kraft: sie sind die Stichworte, die Hölderlin fernerhin sich gibt. Die Studie "Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes" ist sein höchster ästhetischer Gestaltungsversuch. Aber er dichtet den "Empedokles"; und das Griechenland der Diotima wird ein mystisches und mythisches Hellas.

Welches Geheimnis um die Antike ist, hat er in ängstigender Inspiration sich gefragt: "Wer hält das aus, wen reißt die erschreckende Herrlichkeit des Altertums nicht um, wie ein Orkan die jungen Wälder umreißt, wenn sie ihn ergreift wie mich, und wenn wie mir das Element ihm fehlt, worin er sich ein stärkend Selbstgefühl erbeuten könnte?" Und in dem großen Homburger Brief von Weihnachten 1798 und Neujahr 1799 geht ihm die Erkenntnis über die Griechen auf: "Auch ich mit allem guten Willen tappe mit meinem Tun und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle." Lange habe er an den Kunstregeln von griechischer Vortrefflichkeit laboriert, schreibt er 1801 an Böhlendorf. Indes wie je ist ihm absolute Dichtung Homer, der seelenvoll genug war, "um die abendländische junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten".

Vom Begriff des Helden her läßt sich – Pigenot hat es gezeigt – Hölderlins Werk am reinsten erkennen. Den Heros ehrt er, Herkules, den "hohen Halbgott", den Sohn Kronions: "Was berief den Vaterlosen, der in dunkler Halle saß, zu dem Göttlichen und Großen, daß er kühn sich an dir maß?" Alabanda gesteht seine Karl-Moor-Abenteuer dem Hyperion; "und mir war dabei, als sähe ich einen jungen Herkules mit der Megäre im Kampfe". Ein "trauernder Halbgott" ist auch Adamas. "Ich liebte meine Heroen", gesteht Hölderlins zweites Ich, "wie eine Fliege das Licht. Ich suchte ihre gefährliche Nähe und floh und suchte sie wieder." Nichts hilft es, "die tobenden, herrlichen Träume von Ruhm und Größe wegzubaden". Die Freien sind Gegenstand des Sehnens, die Göttermenschen. Kaum jemals in dem prometheischen Stolz des Verses: "Im Arme der Götter wurde ich groß", sondern in zärtlich-leidvoller Entbehrung. Auf Herkules folgt Achill, der Göttersohn, der am Strande des Meeres weint. Achill, der Jüngling, der [370] "wechselweise klagend und rächend, unaussprechlich rührend und dann wieder furchtbar" auftritt. Das Heldentum versinnlicht sich (nach dem Beispiel von Goethes "Mahomets Gesang") im Motiv des Stromes. In der Rhein-Hymne ist dieses symphonisch durchgeführt, dem Päan auf den Halbgott, der herunterkommt von Treppen des Alpengebirges, "das mir die göttlich gebaute, die Burg der Himmlischen heißt". Der "gefesselte Strom" ist des Ozeans Sohn, des Titanenfreundes. Und das Bild der Ströme geht über in das der Kentauren.

Der Oberste in der Götterordnung ist Zeus, der "Vater Äther", der "Vater im Himmel". Er ist das Überirdische, die heilige Luft oder aber das milde, stille, klare, süße Licht: "Doch in der Mitte der Zeit lebt ruhig mit geweihter jungfräulicher Erde der Äther." Die sterblichen Wesen danken ihm: "Du nährst sie alle mit deinem Nektar, o Vater! und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens." Augen des Äthers, Blumen des Äthers sind die Gestirne. Das Geheimnis des Lichtes ist verwandt mit dem des Strahles, dem des Feuers: "Das Feuer geht empor in freudigen Gestalten aus der dunklen Wiege, wo es schlief, und seine Flamme steigt und fällt und bricht sich und umschlingt sich freudig wieder, bis ihr Stoff verzehrt ist, nun raucht und ringt sie und erlischt; was übrig ist, ist Asche. So geht's mit uns. Das ist der Inbegriff von allem, was in schreckend reizenden Mysterien die Weisen uns erzählen." Seele ist Wiedergeburt, und so wird auch Diotima als Wiedergeborene eine heilige "Fremdlingin" genannt, eine Versunkene, die neu auf grünendem Boden wandelt. Den Toten huldigt Hölderlin in den Strophen des "Ahnenbildes": "Und es tönen zum Dank hell die Kristalle dir; und die Mutter, sie reicht heute erstenmal, daß es wisse vom Feste, auch dem Kinde von deinem Trank."

Die innerste Wendung des Dichters nach dem "Hyperion" ist die Wendung zum Orphischen. Der "Archipelagus" feiert die abendländische, die "hesperische" Kultur Athens: "Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen, richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf untereinander und bauen die schönen Tempel und Städte fest und edel, sie gehn über Gestaden empor." Aber diese "junonische Nüchternheit", die fast die apollinische in Nietzsches "Geburt der Tragödie" ist, weicht dem Dionysos, dem syrischen Weingott der Priester und Sänger, dem Fackelschwinger, das Heilignüchterne dem Heiligtrunkenen. Asien blüht auf, "mit tausend Gipfeln duftend". Asien, "wo herab von Tmolus fährt der goldgeschmückte Pactol und Taurus stehet und Messogis und voll von Blumen der Garten, ein stilles Feuer". Die Briefe an den Verleger Wilmans, die Hölderlin als Sophokles-Übersetzer in Nürtingen schreibt, haben Daten aus den Monaten vor seiner Erkrankung. "Ich hoffe", sagt er im ersten von vier, "die griechische Kunst, die uns fremd ist durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herumbeholfen hat, dadurch lebendiger als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verleugnet hat, mehr heraushebe." Wenn er in der "Antigone" oder "Antigonä" die Worttreue verläßt, dann [371] erscheinen die Götter als Geister, als Dämonen. Ein Bruder des Dionysos wird für Hölderlin Christus, der ein Bruder des Herkules war.

In dionysischem Schauer fühlt der Dichter die Umnachtung voraus, und er sieht sie als herniederzuckenden Blitz. In der Ode "Patmos" sagt er, was dieser sei: "Den Blitz erklären die Taten der Erde bis jetzt, ein Wettlauf unaufhaltsam."

Das Gedicht auf Sinclair, das den Titel "An Eduard" hat, begeht in glühendem Traum den Blitz als ein Opferfest: "Schon sinkt der Stahl! Die Wolke dampft! sie fallen!" Und träumt den eigenen Fall mit. Das Gewitter ist für Hölderlin seit langem "das auserkorene Zeichen unter allem, was ich schauen kann von Gott". Als er den Anfang der "Bacchantinnen" des Euripides übertragen hat, schreibt er die Hymne an die Dichter. Er sagt darin über das "himmlische Feuer" und des Dichters schuldloses Herz: "Des Vaters Strahl, der reine, versengt es nicht." Nach der Katastrophe in Frankreich ist er in die Heimat zurückgekehrt, und er spricht noch wie im Fieber. "Das Gewitter", so läßt er in dem Brief an Böhlendorf gehemmt sich aus, "nicht bloß in seiner höchsten Erscheinung, sondern eben in dieser Ansicht, als Macht und Gestalt, in den übrigen Formen des Himmels, das Licht in seinem Wirken, nationell und als Prinzip und Schicksalsweise bildend, das uns etwas heilig ist, sein Gang im Kommen und Gehen, das Charakteristische der Wälder und das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Charakteren der Natur, daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort, und das philosophische Licht um mein Fenster ist jetzt meine Freude." Aber diese letzte Metaphysik erstickt nicht das Schluchzen eines Bedrängten, der aufschreien möchte. "Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen."


Der "Tod des Empedokles" (der aus einem geplanten "Tod des Sokrates" hervorgeht) ist Hölderlins einziges Drama. Verschollen ist ein Bruchstück "König Agis", in dem der Mitkönig des Leonidas von Sparta in einer Zeit des Zerfalls als Reformator auftrat. Der "Empedokles" macht mehrere Stufen durch. In Frankfurt entsteht er aus dem Kulturhaß von Hyperions Briefen. Die Skizze schließt damit, daß der Philosoph von Agrigent von einem Ärgernis durch ein Fest und von einem Zwist mit seinem Weibe Veranlassung nimmt, "seinem geheimen Hange zu folgen, aus der Stadt und seinem Hause zu gehen und sich in eine einsame Gegend des Ätna zu begeben". Er stürzt sich in den Krater. Sein Liebling findet die eisernen Schuhe des Meisters, die mit der Lava emporgeschleudert worden sind. Die erste Fassung, aus der Prosa in Jamben überleitend, schafft für Empedokles einen Gegenspieler in dem Priester Hermokrates und enthält in dem großen Monolog den tragischen Sinn und die höchste Schönheit des Ausdrucks: "In meine Stille kamst du leise wandelnd." Eine zweite Fassung zieht dem [372] jambischen Vers freiere Rhythmen vor. Die letzte Stufe ist "Empedokles auf dem Ätna": Pausanias, sein Freund, Strato, sein königlicher Bruder, der ägyptische Geist Manes, der "böse Geist", der den zum Abschied bereiten griechischen Denker versucht. Das Gedicht "Empedokles" ist ein Motto. Es widmet dem, der "in schauderndem Verlangen" sich in das göttliche Feuer stürzte, den Abgesang: "Doch heilig bist du mir wie der Erde Macht, die dich hinwegnahm, kühner Getöteter! Und folgen möcht' ich in die Tiefe, hielte die Liebe mich nicht, dem Helden."

Der "Empedokles" ist heroisches Pathos. Einmal nur ist Hölderlin in die Gattung des Sentimentalisch-Bürgerlichen abgebogen: 1799, als er dem Wunsch des Verlegers Steinkopf gehorchte, "er möge sich dem Publikum durch eine größere Arbeit bekannt machen". Das ist die Versnovelle "Emilie vor ihrem Brauttag", ein Taschenbuch-Gedicht, in Eilfertigkeit geschrieben, so tadelt Hölderlin sich, "leichtsinnig genug hingeworfen aus Notwendigkeit und Dienstfertigkeit". Sie hat die Form von Briefen Emiliens an eine Klara und malt das Gefühl des Mädchens für Eduard, den unter Paoli auf Korsika kämpfenden Bruder, eine Reise mit dem Vater durch die Landschaften, die Hölderlin gesehen hat, Main, Rhein, Teutoburger Wald, die Begegnung Emiliens mit einem Armenion, dem "Hohen, Gefürchteten, Geliebten", Armenions Werbung bei dem Vater, das Verlöbnis. Zart ist in dieser sublimierten, lauen Süßigkeit die Naturszenerie.

Indes umsonst, daß Hölderlin sich ablenkt, sich beschwichtigt. Er folgt als Dithyrambiker seinem Entwicklungsgesetz. Bis sich vollzogen hat, was Bettina in der "Günderode" mit weiblicher Intuition von ihm sagt: "Gewiß ist mir doch bei diesem Hölderlin, als müsse eine göttliche Gewalt wie mit Fluten ihn überströmt haben, und zwar die Sprache, in übergewaltigem, raschem Sturz seine Sinne überflutend und diese darin ertränkend; und als die Strömungen verlaufen sich hatten, da waren die Sinne geschwächt und die Gewalt des Geistes überwältigt und ertötet." Es ist, so läßt Bettina Sinclair dazu bemerken, "als wenn man es an dem Tosen des Windes vergleiche, denn er brause immer in Rhythmen dahin, die abbrechen, wie wenn der Wind sich dreht". Es ist, "wie wenn er nahe dran sei, das göttliche Geheimnis der Sprache zu erleuchten, und dann verschwinde ihm wieder alles im Dunkel". Überschritten ist in dieser Besessenheit vom tönenden Rhythmus die Grenze des Wahnsinns.

Die Dichtung wird zu einer Trümmerstätte. Nicht mehr ordnen sich die Vorstellungen, sie scheinen kunstvoll verwirrt. Beispiele hat Pigenot angeführt: das Einschiebsel in die Hymne "Colomb" mit der Erwähnung von Seefahrern und Seefahrten, das Bild von London am Ende des Hymnenentwurfs "Griechenland": "Gärten wachsen um Windsor"; oder das große "Vatikan"-Fragment. Nach 1806 schreitet die dumpfe Ohnmacht fort, in jenen kalendermäßigen Jahreszeitgedichten und friedlich moralisierenden Reflexionen des Tübinger Narren Scardanelli. Aber der sterbende und gestorbene Geist wird noch einmal schauend [373] in den Dissoziationen der "Hälfte des Lebens": "Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen."


Hölderlin ist für die Literaturgeschichte zuerst ein Adept der Dioskuren von Weimar. Lange ringt er um Schiller. Sein Wort "an die jungen Dichter" bezeugt es: "Wenn der Meister euch ängstigt, fragt die große Natur um Rat!" Jena und Weimar sind dem Hauslehrer bei Frau von Kalb die Welt. In Schillers Stube ist er so befangen, daß er mit Goethe sich unterhält, ohne vor dem Abend zu erkunden, wer der Fremde war. Nachher scheint er, dessen "bittren Zug" der Neuling beobachtet, ihm "oft ein recht herzensguter Vater". Goethe findet, Hölderlins Richtung ähnele der Schillers, er habe aber nicht dessen Fülle, Stärke und Tiefe. Seine Gedichte empfehle eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit und Mäßigkeit. "Ich habe ihm besonders geraten", das ist Goethes Meinung, "kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen." Ist ein deskriptiver und plastischer Hölderlin, wäre nicht der Zusammenbruch gekommen, denkbar? Schiller, dem Hölderlin als "res nullius" angehört, hält ihn sich fern. Voll Schmerz bescheidet er sich in dem Umgang mit dem Professor: "Weil ich Ihnen so viel sein wollte, mußt' ich mir sagen, daß ich Ihnen nichts wäre." "Ich friere", schreibt er aus Nürtingen an Schiller, "und starre in den Winter, der mich umgibt." Das Gedicht "An die Natur" nimmt der Meister in seinen Almanach nicht auf. Schiller verstummt. Und Hölderlin klagt es ihm als dem "einzigen Mann, an den ich meine Freiheit so verloren habe". Nun äußert Schiller sich über Hölderlins Mängel: Begeisterung ohne Nüchternheit, Künstelei, Weitschweifigkeit, "die, unter einer Flut von Strophen, oft den glücklichen Gedanken erdrückt". Aber er ruft diesem Ikarus auch zu: "Bleiben Sie der Sinnenwelt näher!" Hölderlins Zustand in seiner heftigen Subjektivität sei gefährlich, bemerkt Schiller in Zeilen an Goethe, "da solchen Naturen schwer beizukommen ist". 1798 antwortet er auf Hölderlins Bitte nicht, ihm "einen kleinen Posten in seiner Nähe" zu verschaffen; und nicht 1801 auf die Bitte, ihm zu einer Dozentur in Jena zu helfen.

Desto enger wird der Zusammenhang der Romantiker mit ihm, seit 1799 August Wilhelm Schlegel in der Jenaischen Literaturzeitung auf die "Beiträge von Hölderlin", ihren Geist, ihre Seele hinwies. Brentano und Arnim bringen einzelne seiner Gedichte in der "Zeitung für Einsiedler". Arnim nennt ihn gemeinsam mit Novalis und erhebt ihn: "Weder Lavater noch Klopstock noch irgendein Zeitgenosse Hölderlins kann als Funke seiner Flamme betrachtet werden. Was ihn erleuchtet, kommt aus weiter Ferne. Wir ersehen es aus einigen Ausdrücken heiliger Ferne, die sich vielleicht erst spät und überraschend ihm öffnete, daß er hier nur zu glauben brauchte, um zu dichten." Brentano ist Hölderlin-Enthusiast wie Bettina, seine Schwester. Justinus Kerner und Waiblinger, die Schwaben, sind dem Irren in Tübingen treu.

[374] Über die Jahrzehnte hinweg dauert die Erinnerung an den absoluten Dichter, in dem Friedrich Nietzsche, der Primaner von Schulpforta, sich erkennen wird. Dann findet ihn die junge Kriegsgeneration von 1914. Sie hält sich an den Hölderlin, der im Begriff war, "nationell" zu werden, der den "Deutschen Gesang" mit dem Ausruf weihte: "So krönet, daß er schaudernd es fühlt, ein Segen das Haupt des Sängers, wenn dich, der du um deiner Schöne willen bis heute namenlos geblieben, o göttlichster, o guter Geist des Vaterlandes, sein Wort im Liede nennet." Die jungen Deutschen von 1914 hören, umtost vom Weltkrieg, den erschütternden Hymnus an Germanien, die Priesterin, die "wehrlos Rat gibt rings den Königen und den Völkern". Der Sprecher dieser Generation ist Norbert von Hellingrath, der im Dezember 1916 fällt, nachdem er Hölderlins Werk wie einem Schicksal gedient hat.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz