[Bd. 2 S. 434]
So etwa könnte man die Jugendgeschichte Fichtes ins Märchenhafte übersetzen. Es gab im achtzehnten Jahrhundert dergleichen märchenhafte Jugenderlebnisse, sie gehören fast zum Stil jener Zeit: Fichte, Jung-Stilling und vor allem die abenteuerliche Kindheitsgeschichte Gneisenaus. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß es sich nicht um proletarische Armut, sondern um Armut im Sinne des Märchens handelt. Fichtes Eltern waren durchaus nicht arm in der Weise eines Industriearbeiters im Elendsviertel der großen Stadt. Sie lebten vielmehr in jenem sozialen Bereiche, den Goethe in "Hermann und Dorothea" vor allem glücklich preist: "Und Heil dem Bürger des kleinen Städtchens, welcher ländlich Gewerb mit Bürgergewerb paart! Auf ihm liegt nicht der Druck, der ängstlich den Landmann beschränket, ihn verwirrt nicht die Sorge der vielbegehrenden Städter."
Fichtes Großvater betrieb neben der kleinen Landwirtschaft einen Handel mit leinenen Bändern, die er auf eigenen Webstühlen webte. Seinen Sohn Christian schickte er, um ihn handwerklich zu fördern, nach Pulsnitz in eine Leinwandfabrik. Christian stieg bald in dem Betrieb auf, er heiratete die Tochter seines Lehrherrn, die Johanna Dorothea Schurich. Der Bau eines Hauses und acht Kinder nötigten [435] freilich zu einer knappen Haushaltung. Der junge Fichte hat in der Tat seines Vaters Gänse gehütet. Das Elternhaus hätte ihm kein Studium ermöglichen können, so sehr auch des Vaters Sinn aufwärts strebte. Christian Fichte unterrichtete den Knaben zunächst selbst. Der Siebenjährige erhielt vom Vater die "Historie vom gehörnten Siegfried". Das war etwas andres als Bibel und Gesangbuch. Ganz von der Geschichte hingenommen wurde er nachlässig. Als er das bemerkte, wollte er sich selbst und das Buch strafen. Mit heftiger Selbstüberwindung schleuderte er das geliebte Buch in den Bach, der "bei seines Vaters Hause vorbeifloß". "Als er es aber dahinschwimmen sah, übermannte ihn der Verlust, und er fing bitterlich an zu weinen." Für diese Tat erhielt er, da er über die Gründe seines Tuns schwieg, eine Tracht Prügel. Da haben wir im Kinde schon den künftigen Mann und seine Philosophie. Der kleine Fichte ging seinen Weg still für sich, er hatte einen Hang zur Einsamkeit und zum Sinnen. Er tobte nicht mit der Rotte der Dorfbuben. Der Pfarrer des Ortes, dem er auffiel, nahm sich seiner an und gab ihm besonderen Unterricht. Als der Freiherr von Miltitz eines Tages zu Gast kam bei seinem Schwager, dem Rammenauer Gutsherrn Hofmann von Hofmannsegg, und bedauerte, zur Predigt des angesehenen Pfarrers zu spät gekommen zu sein, erzählte man ihm halb scherzend: da sei ein kleiner Gänsejunge, der sei imstande, die Predigt aus dem Gedächtnis zu wiederholen. Das Wunderkind wurde herbeigeschafft. Zum Erstaunen der Tischgesellschaft wiederholte der Knabe die Predigt und "geriet" während des Redens "in Feuer". Der Freiherr von Miltitz erkundigte sich beim Pfarrer nach den Umständen des Jungen, und auf dessen Rat beschloß er, für eine gelehrte Erziehung des ungewöhnlich begabten kleinen Redners zu sorgen. Die Eltern gaben das Kind nicht ohne Widerstreben in die Fremde. Miltitz brachte den kleinen Fichte zum Pfarrer Krebel in Niederau bei Meißen, wo er für einige Jahre ein zweites Elternhaus fand. Auch besuchte er die Meißner Stadtschule. Von da kam er, auf Rat des Pfarrers, am 4. Oktober 1774 nach Schulpforta. Die Familie Miltitz unterstützte Fichte weiterhin von Zeit zu Zeit. Ein Staatsstipendium kam zu Hilfe. So geriet Fichte durch eine sonderbare Fügung aus dem Dorf- und Handwerksleben in die Laufbahn eines Gelehrten.
Fichte ertrug die Brutalität seiner älteren Mitschüler schwer. Angeregt durch Campes "Robinson", beschloß er nach Hamburg zu fliehen, auf ein Schiff zu gehen, auf einer fernen Insel zu landen und dort einsam "herrliche Tage der Freiheit" zu leben. Aber schon vor Naumburg kniete der Flüchtling zum Gebet auf einem Hügel nieder. Da fiel ihm ein, wie seine Eltern sich ängstigen würden, und er beschloß umzukehren und das Martyrium der Schule wieder auf sich zu nehmen. (Herrliches achtzehntes Jahrhundert!) Alsbald lief er denen, die den [436] Ausreißer suchten, in die Hände. Eine Aussprache mit dem Rektor brachte Erleichterungen für den empfindlichen Knaben. Dem Geist der Zeit war das Eindringen in die Anstalt verboten. Klopstock und Gellert – in Auswahl, versteht sich – durften immerhin gelesen werden, aber beileibe nicht Goethe und Lessing. Dennoch drang der Geist der Zeit auf nächtlichen Schleichwegen ein. Bei verhangenen Fenstern las Fichte heimlich Lessings Anti-Goeze. So muß man Lessing gelesen haben! Auch ein wenig Rousseau scheint, mittelbar, zu Fichte geklungen zu sein. Sein großer Landsmann Lessing wurde ihm Leitstern für die Zukunft. Und als Wahlspruch schrieb er in seine Bücher den Vers aus der dritten Römer-Ode: "Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae!" Im Herbst 1780 ging Fichte als Student der Theologie nach Jena. Aber er hörte außer theologischen Vorlesungen auch klassische und juristische. Im nächsten Jahre ging er nach Leipzig. Da nun infolge einer hämischen Denunziation die Unterstützung durch die Familie Miltitz aufhörte, mußte Fichte seinen Lebensunterhalt selbst verdienen: als Hauslehrer in adligen sächsischen Familien, als "Hofmeister" vornehmer Studenten. In einer Eingabe an den sächsischen Konsistorialpräsidenten schrieb er 1787: "Ich habe in meinen akademischen Jahren nie einen Anteil an den öffentlichen Wohltaten für Studierende gehabt, nie ein Stipendium oder des etwas genossen, ohnerachtet meine Armut klar zu erweisen ist." Aber auch diese Eingabe war nutzlos – Fichte stand im Geruch mangelnder Rechtgläubigkeit. Am Vorabend seines 26. Geburtstages saß er, aller Mittel entblößt, hoffnungslos in seinem Zimmer; da sandte ihm der Steuereinnehmer Christian Felix Weiße, der Dichter von Rokoko-Schäferspielen und leichter Lyrik, einen Brief: er habe für ihn eine Hauslehrerstelle in Zürich, bei einem Gasthofbesitzer. Weiße half ihm über die Zeit bis zum Antritt der Stellung hinweg. Fichte wanderte zu Fuß nach Zürich und traf am 1. Oktober dort ein, um einen Knaben und ein Mädchen zu erziehen. Er machte sich zugleich auch an die Erziehung der Eltern, die sich seinem "herrscherlichen Geiste" fügten. Der Aufenthalt in Zürich war für Fichte von großer Bedeutung. Hier kam er in einen Kreis geistig aufgeschlossener Menschen sowie in andere politische Verhältnisse. Er wurde mitten in das Leben der Zeit gerissen. Zu seinen Freunden zählte Lavater. Er übersetzte viel, darunter Montesquieu und Rousseau, besonders auch Sallust. Er entwarf den Plan einer Rednerschule. Auch gepredigt hat er im Züricher Münster. Aber nirgends eröffnete sich ihm eine Aussicht auf selbständige Tätigkeit. Den Mittelpunkt der geistigen Gesellschaft bildete das Haus des Waagmeisters Hartmann Rahn. Lavater führte Fichte dort ein. Rahn hatte eine Schwester Klopstocks zur Frau. Die Tochter des Hauses, Johanna Rahn, wurde Fichtes Braut. So kam Fichte mit Klopstock (er ehrte ihn als Dichter, lehnte aber dessen Orthodoxie ab) in verwandtschaftliche Verbindung. Der Briefwechsel zwischen Fichte und Johanna Rahn gehört zu den schönsten, die uns aufbewahrt sind. [437] Nun wollte Fichte, ausgerüstet mit Empfehlungen von Rahn und Lavater, auf Klopstocks Fürsprache hoffend, sich eine Stellung schaffen, vielleicht bei Hofe. Das mißlang. Er ging über Stuttgart und Weimar wieder nach Leipzig. Um seinen Unterhalt zu verdienen, sagte er einem Studenten zu, der von ihm Unterricht in der Kantischen Philosophie verlangte. Er studierte im August 1790 zu diesem Zwecke Kant, und das war wiederum ein bestimmender "Zufall" seines Lebens. Über den Eindruck, den Kants Schriften auf ihn machten, schrieb er an seine Braut: "Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie empfunden; ich habe bei einer schwankenden äußeren Lage meine seligsten Tage erlebt... sage Deinem teuren Vater,... ich sei jetzt gänzlich überzeugt, daß der menschliche Wille frei sei und daß Glückseligkeit nicht der Zweck unseres Daseins sei, sondern nur Glückwürdigkeit." Die Schriften Kants riefen eine innere Revolution in Fichte hervor; er, der gegen seine innerste Empfindung aus logischen Gründen die Unfreiheit des Willens anerkannt hatte, drang zu der ihm gemäßen Überzeugung durch, daß der menschliche Wille frei sei. Von nun an wurde er der Philosoph der Freiheit, der die Freiheit aus Vernunft bis dorthin verfolgte, wo sie zu einem Müssen aus sich selbst wird. Damit sind Fichtes Lehrjahre zu Ende, es beginnen seine Wanderjahre.
Die Tage der Seligkeit – die Braut und Kant – wurden bald durch die trostlose äußere Lage getrübt. Rahn verlor 1791, infolge des Bankrotts eines Geschäftsfreundes, den größten Teil seines Vermögens. Pläne, nach Lessings Vorbild Redakteur zu werden oder von der Schriftstellerei zu leben, konnte Fichte nicht verwirklichen. Er nahm den Antrag an, den Sohn des Grafen von Platen in Warschau zu erziehen. Ende April 1791 machte er sich auf den Weg. Das Reisetagebuch zeigt, daß Fichte nicht nur ein scharfer Denker, sondern auch ein scharfer Beobachter war. Bemerkenswert ist, was er über den ersten Anblick des polnischen Militärs schreibt: "Sie selbst meistens schöne, wohlgewachsene Leute, mit schwarzen Augen; ihre Züge mit einem Anflug von Orientalismus, und doch welch ein Unterschied zwischen ihren und den Judengesichtern! Sie stammen freilich aus dem nördlichen Asien, diese aus dem südlichen; aber sollte nicht diese Gesichtsvergleichung im großen durchgeführt über die Völker-Origines und ihre Verwandtschaft Licht geben können?" In Warschau mißfiel Fichte der Gräfin (und sie ihm). Sie war besonders mit seinem Französisch unzufrieden. Danach weigerte sich Fichte, die Stellung anzutreten. Er ließ sich die Reiseunkosten zahlen und – nun erfolgte wieder eine der überraschenden Wendungen – beschloß, nach Königsberg zu fahren, um den begeistert verehrten Kant aufzusuchen. Das Reisetagebuch sagt: "Den 4. (Juli) Kant besucht, der mich indes nicht sonderlich aufnahm; ich hospitierte bei ihm und fand auch da meine Erwartungen nicht befriedigt. Sein Vortrag ist schläfrig." Aber Fichte ließ nicht ab, er schrieb binnen einer Woche die [438] "Kritik aller Offenbarung" ganz im Sinne der Kantischen Philosophie und übersandte sie dem Meister. "Am 26. speiste ich bei Kant... und fand einen sehr angenehmen, geistreichen Mann an Kant; erst jetzt erkannte ich die Züge in ihm, die des großen in seinen Schriften niedergelegten Geistes würdig sind." Welchen Eindruck Fichte in Königsberg machte, davon zeugt ein Bericht des jungen Theodor von Schön (des nachmaligen preußischen Ministers), der ihn an der Wirtstafel kennenlernte: "Für einen Gelehrten von Profession war er zu elegant, modern gekleidet, für einen reisenden Kaufmann war er zu wissenschaftlich gebildet, von den offiziellen Schranken, welche bei den Beamten sich bald verraten, war keine Spur. Ein alter Kapitän hob nur die gewaltigen Muskeln und die große Nase heraus. Am andern Mittage war Fichte wieder da. Hier ließ man von ihm das Gespräch schon in einzelnen Momenten leiten... Fichtes einzelne Andeutungen ließen hohe philosophische Bildung voraussetzen, und indem wir zusammen die Treppe hinabgingen, war dies Gespräch der Anfang unserer Bekanntschaft und späteren Freundschaft." Wieder waren die Barmittel aufgezehrt, das Nichts drohte. Es war das dritte Mal. Kant sollte helfen. Der Alte erwies sich spröde. Schließlich schlug er dem begeisterten Schüler vor, er solle doch seine Arbeit "Kritik aller Offenbarung", die ja "gut geschrieben" sei, einem Buchhändler verkaufen. Aber ehe das gelang, besorgte der Hofprediger Schulz, der bekannte Kantianer, ihm eine Hauslehrerstelle beim Grafen von Krockow in der Nähe von Danzig. Von Kant empfohlen, wurde er würdig aufgenommen. Es war die erste und einzige glückliche Hauslehrerstelle des nun nicht mehr jungen Fichte. Hier, in einem hochgebildeten und geselligen Hause, konnte er sich auch literarischen Plänen widmen. Inzwischen hatte der Buchhändler Hartung die "Kritik aller Offenbarung" angenommen. Sie erschien nicht ohne Zensurschwierigkeiten. Und nun ein neuer Zufall: gegen Fichtes Willen erschien (1792) die Schrift anonym. Da man damals eine religions-philosophische Schrift Kants erwartete und da das neue Buch Kants Geist atmete, meinte man, das sei eine vorsichtigerweise anonym erschienene Schrift Kants. Die angesehene Jenaer Allgemeine Literaturzeitung deutete das an und pries das Buch in den höchsten Tönen. Als Kant mitteilte, es sei die Arbeit eines Kandidaten der Theologie, konnte man mit dem Urteil nicht zurück. So wurde Fichte ein berühmter Mann. Jetzt glaubte er mit Ehren heiraten zu können. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse Rahns hatten sich wieder gebessert. 1793 fand die Hochzeit statt. Fichte wollte in Zürich als Schriftsteller leben. Er wollte die Idee des vernünftigen Staates entwickeln. Es war die Zeit der Französischen Revolution, für die Fichte heftig Partei ergriff. (Er hat stets an der großen Bedeutung der Revolution festgehalten, ebenso wie Kant, im Gegensatz zu Klopstock, der 1793 in der Ode "Mein Irrtum" bekannte, daß "des goldenen Traumes Wonne dahin ist.") Fichte warf zunächst zwei flammende Schriften in die Öffentlichkeit: "Beiträge zur [439] Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" und "Rückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die diese bisher unterdrückten". Es waren zwei In-tyrannos-Schriften im Stile des Marquis Posa. Dadurch wurde Fichte ein Führer der jungen Generation. Zugleich aber schrieb er die erste große Konzeption seiner Philosophie nieder: die Idee der "Wissenschaftslehre". Sie ging wirklich aus einem plötzlichen Einfall hervor. In dieser Zeit traf ihn die Berufung nach Jena. Der Kantianer Reinhold, Fichtes Freund in Jena, hatte eine Berufung nach Kiel angenommen. Goethe hat selbst auf Fichte hingewiesen, der für eine Professur in Jena geeignet sei. Die wilden politischen Schriften hatten ihm bei Karl August nicht geschadet. Die Leistung imponierte, man meinte: seine "demokratische Phantasie oder Phantasterei werde sich mäßigen". (So Geheimrat Voigt.) Mit dem Sommersemester 1794 begann Fichte in Jena zu lehren. (Auf der Reise nach Jena besuchte er in Tübingen "zuerst Hofrat Schiller, meinen künftigen Kollegen. Er gehört unter die ersten, geliebtesten und berühmtesten Professoren von Jena. Ich habe in Tübingen schon gehört, daß er mir sehr zugetan sei, und hier [in Jena], daß er auf mich gewartet habe, um mit mir zurückzureisen, welches aber nicht möglich war".) Die erste Vorlesung fand statt am 26. Mai 1794 morgens sechs bis sieben. Fichte schreibt darüber: "Das große Auditorium in Jena war zu eng; die ganze Hausflur, der Hof stand voll, auf Tischen und Bänken standen sie übereinander... Mein Vortrag ist, soviel ich gehört habe, mit allgemeinem Beifall aufgenommen worden." Damit sind Fichtes Wanderjahre zu Ende, es beginnen seine Meisterjahre.
In Jena holte Fichte zu gewaltigem Schaffen aus. Hier zuerst baute er sein "System". Die "Wissenschaftslehre" erhielt ihre erste große Darstellung. Er faßte sie zunächst in der Lehre vom absoluten Ich, vom Ich und Nicht-Ich. Die Terminologie fand rasch Eingang, und in ganz Jena disputierte man über Ich und Nicht-Ich. Da Fichte sich zuweilen nach Osmannstädt zurückzog, pflegten Goethe, Schiller, Wieland ihn "das große Ich in Osmannstädt" zu nennen. (In den Ur-Xenien von 1795 findet sich ein Distichon von Goethe: "Wer nicht Ich ist, sagst du, ist nur ein Nicht-Ich. Getroffen, Freund: So dachte die Welt längst und so handelte sie.") Fichte hat die "Wissenschaftslehre" später immer von neuem dargestellt, und er hat jedesmal die Terminologie gewechselt: wie er ausdrücklich sagt, um die Leser zu zwingen, nicht an Worten zu kleben, sondern das Gedachte mitzudenken. Aber das naive Mißverständnis, als rede Fichte vom psychologischen Ich, hat nie verstummen wollen. Es handelt sich für ihn um das Wesen der Vernunft, das in der "Ichheit" besteht. Es handelt sich darum: wie ist Vernunft und Wissenschaft möglich? Er gebraucht einmal das Bild: Wie man eine Uhr erkläre, indem man die einzelnen Teile auseinandernehme und zusammensetze, um die [440] Beschaffenheit und das Ineinandergreifen der Teile deutlich zu machen, so mache er es mit dem Bewußtsein. Oft wiederholt er: die "Wissenschaftslehre" sei eine Fachangelegenheit der Philosophen, die große Menge der Gebildeten möge sich damit besser nicht beschäftigen. In Jena schrieb er auch ein staatswissenschaftliches Werk: "Grundlage des Naturrechts", womit er die Reihe seiner staatsrechtlichen Schriften begann. Hier wird das zugleich freie und sittlich gebundene, das verantwortliche Ich, das eben in der sittlichen Verantwortlichkeit Gemeinschaft bildet, zur Grundlage des Staates gemacht. Es sind Gedanken darin, die gerade heute wieder von höchstem Interesse sind: Fichte lehnt die "Trennung der Gewalten" (Montesquieu, Kant) ab. Seine "Demokratie" wächst sich aus zu einer Art Diktatur des Sittlichen. Der Rechtslehre folgte das erste große "System der Sittenlehre". Die Welt existiert für Fichte nur als Material des sittlichen Handelns. Er kämpft für einen unbedingten, unbeugsamen sittlichen Rigorismus, der aber, fern aller Kleinlichkeit und Enge, etwas Großzügiges und Allumfassendes hat. Nicht vergessen sei, daß Hölderlin zu den Schülern Fichtes zählte. Am 16. April 1795 schrieb Hegel an Schelling: "Hölderlin schreibt mir oft von Jena, er ist ganz begeistert von Fichte, dem er große Absichten zutraut." Fichte hat wiederholt den engen Zusammenhang zwischen der Philosophie und dem Charakter des Philosophierenden betont. "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist: Denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen und annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat." Bei Fichte ist die Philosophie der genaue Ausdruck seines Charakters. So konnte es nicht ausbleiben, daß er, der Lehrer des unbeugsamen Gewissens, mit der Welt um ihn her in Widerstreit geriet. Gleich vom ersten Semester an suchte er die Studentenschaft zu einer sittlichen Gemeinschaft umzubilden. Die (geheimen) Verbindungen mit ihrem damals äußerst wüsten Treiben wollte er aufheben, wie er sich denn immer nicht nur als Gelehrter, sondern zugleich als ein Führer der Studenten fühlte. Die Studenten zu erziehen, hielt er die Vorlesung über die "Bestimmung des Gelehrten". Er gewann das Herz seiner Hörer, sie beschlossen ihre Ordensverbindungen aufzugeben, ihm die geheimen Listen usw. auszuliefern und ihm einen Entsagungseid zu leisten. Fichte meinte, den Eid nicht annehmen zu können, und verwies sie an den Prorektor. Die Sache ging von da weiter an die Regierung. Die Studenten wurden mißtrauisch bei dem Hin und Her. Tumulte gegen Fichte. Er zog sich empört zurück und verbrachte einige Zeit in Osmannstädt bei wissenschaftlicher Arbeit. Schlimmer lief ein Zusammenstoß mit der Geistlichkeit aus. Forberg, Konrektor in Saalfeld, hatte ihm einen Aufsatz über den "Begriff der Religion" gesandt für das von ihm und Niethammer herausgegebene Philosophische Journal. Fichte hatte Bedenken gegen den skeptischen und nicht durchaus sauberen [441] Aufsatz, wollte aber nicht kleinlich sein. Er veröffentlichte ihn, stellte aber im gleichen Hefte einen eigenen Aufsatz voran: "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltanschauung", worin er sich der Terminologie seiner "Wissenschaftslehre" bediente, die freilich dem simplen Leser unzugänglich und also verdächtig war. Schon lange hatte sich rings um Fichte, wie es bei Männern, die berühmt werden, zu gehen pflegt, Unmut angesammelt. Er wurde als "gefährlich" bezeichnet, man schrieb ihm Demokratismus und Gottesleugnung zu. Das Gemunkel wuchs. Die freien Worte des aufrechten Mannes wurden belauert. Nun zog sich das Unwetter zusammen in anonymen Broschüren denunziatorischer Art. Ein subalternes und anonymes Machwerk gegen Fichte geriet dem Kursächsischen Oberkonsistorium zu Dresden in die Hände, es wandte sich, im Oktober 1798, an den Kurfürsten Friedrich August den Gerechten, er möge gegen die von Fichte ausgehende Verderbnis der Zeiten einschreiten. Er schritt ein, indem er Fichtes Bestrafung forderte, sonst würde er seinen Landeskindern den Besuch der Universität Jena verbieten müssen. Einige besorgte Serenissimi der umliegenden Ländchen, einschließlich Hannover, schlossen sich an. Nur der preußische König Friedrich Wilhelm III., bekanntlich ein persönlich frommer Mensch, machte nicht mit, sondern antwortete: "Ich besorge indessen hiervon (von den Aufsätzen im Philosophischen Journal) keine gemeinschädlichen Folgen, weil der Glaube an Gott durch ihn selbst so fest und unerschütterlich gegründet ist, daß alle Angriffe gegen denselben ewig so ohnmächtig bleiben werden, als sie es bisher gewesen sind." Fichte antwortete auf die öffentlichen Angriffe öffentlich mit seiner glänzend geschriebenen "Appellation an das Publikum". Um eine Beengung seiner Lehrfreiheit abzuwehren, schrieb er an Voigt einen Brief: Würde man ihn bestrafen, so würde er sein Amt niederlegen. Goethe war, obwohl er Fichte sehr geneigt war (er begegnete ihm auch später stets mit herzlicher Achtung), durch diesen schroffen Brief des im Geruch der Demokratie stehenden Mannes verstimmt. Man zog sich aus der Affäre, indem man Fichtes (privaten) Brief als Demissionsdrohung auffaßte und die Demission annahm. Die andern Professoren, die sich Fichte verpflichtet hatten, zu gehen, wenn die Lehrfreiheit angetastet würde, hatten nun keinen Grund, ebenfalls zu gehen. Das Eintreten der Studenten für Fichte war vergebens. Er war entlassen. In der Öffentlichkeit schlugen die Wogen noch lange weiter. Fichte war wieder "freier Schriftsteller". In Jena konnte er nicht wohl bleiben. Er versuchte nach Rudolstadt zu gehen, da der Rudolstädter Fürst in derselben Loge war wie er. (Fichte war einige Jahre Freimaurer, aber als er die Logen nicht nach seinen Ideen umbilden konnte, trat er aus: "Die Freimaurerei hat mich so ennuyiert und zuletzt indigniert, daß ich ihr gänzlich Abschied gegeben habe.") Aber Rudolstadt winkte ab. Friedrich Schlegel bewog ihn, nach Berlin zu kommen. Hier erkundigte sich die Polizei nach dem berühmten und verdächtigen Fremdling, aber Friedrich Wilhelm III. entschied mit königlich-preußischer Großartigkeit: [442] "Ist es wahr, daß er mit dem lieben Gotte in Feindseligkeiten begriffen ist, so mag dies der liebe Gott mit ihm abmachen, mir tut das nichts." Die herzliche Aufnahme bewog Fichte, seine Familie nachzuholen und als freier Redner und Schriftsteller in Berlin zu wirken. In Berlin wurde aus dem Revolutionär ein Nationalist. In Berlin wuchs Fichte vom akademischen Lehrer zum Redner der deutschen Nation empor.
Fichte war im Grunde immer Redner. Auch seine besten Schriften sind rednerisch geschrieben, hin und wieder finden sich Dialoge. Wie er als Redner wirkte, wird am deutlichsten aus einer Schilderung, die Henrich Steffens 1798 gab: "Der kurze, stämmige Mann mit seinen schneidenden, gebietenden Zügen imponierte mir, ich kann es nicht leugnen, als ich ihn das erstemal sah. Seine Sprache selbst hatte eine schneidende Schärfe; schon bekannt mit den Schwächen seiner Zuhörer, suchte er auf jede Weise sich ihnen verständlich zu machen... Fichtes Vortrag war vortrefflich, bestimmt, klar, und ich wurde ganz von dem Gegenstande hingerissen und mußte gestehen, daß ich nie eine ähnliche Vorlesung gehört hatte." Varnhagen berichtete 1807 über die nationalen Reden: "Der treffliche Mann sprach mit kräftiger Begeisterung dem gebeugten und irr gewordenen Vaterlandssinn Mut und Vertrauen zu... Man konnte sie nicht ohne Ergriffenheit und Begeisterung anhören, diese Reden, welche mit Recht über den Kreis der unmittelbaren Zuhörerschaft hinaus sich als Reden an die deutsche Nation erklärten." (Goethe "rühmte" die Reden an die deutsche Nation "und besonders ihren wunderschönen Stil".) Sehr lebendig ist die Schilderung, die Dorow von der ersten Vorlesung Fichtes in Königsberg am 5. Januar 1807 gibt. "Die Ankunft Fichtes brachte eine große Bewegung bei alt und jung in allen Ständen hervor. Dieser Mann mit seinem eisernen, tiefen und ausgearbeitet modellierten Gesicht und den alles durchdringenden Feueraugen... begann sehr bald Vorlesungen zu halten, die sich wohl des brillantesten Publikums aus allen Ständen zu erfreuen hatten." Die Opposition freilich versammelte sich ebenfalls. "Die erste Vorlesung begann in der Abendstunde; Fichte erschien und imponierte uns allen durch sein markiertes, tüchtiges, geistiges Gesicht mit dem festen, mutvollen Blick." Dann beginnt der Redner mit einer Herausforderung: Die Hörer müßten zuerst überzeugt sein, noch gar nichts zu wissen. "Von der Erschaffung der Welt bis zu Plato waren die Erde und deren Bewohner im Dunkeln; von Plato bis Kant desgleichen; von Kant bis jetzt ebenso, daher..." Furchtbares Scharren der Mißbilligung. Fichte mit funkelnden Augen: "Meine Herren, ich habe geglaubt, meine Vorlesungen vor einer Versammlung von Menschen zu halten: sollte ich mich darin getäuscht haben? Was unterscheidet den Menschen vom Tier?..." Hohn über die Gegner. Es fiel kein Laut mehr. Die Opposition war gebändigt. Nachts wurden freilich der Professorin Pörschke, bei der Fichte wohnte, die Fenster eingeworfen. [443] Fichte arbeitete seine Vorträge wörtlich aus. Die Betonung bezeichnete er im Manuskript mit roter Tinte. Auf dieser Unterlage las er nicht, sondern sprach: angespannt, bohrend, immer tiefer dringend, leidenschaftlich, endlich sich erhebend zu den unsterblichen "Stellen", die alle Hörer hinrissen. Zuweilen schloß er die Rede mit Bildern von unerhörtem Glanz. Der Schluß der Reden an die deutsche Nation ist ein unüberbietbares Meisterstück aller Redekunst. Fichte war der größte philosophisch-politische Redner der deutschen Nation.
Berlin hatte keine Universität. Aber es war in der Gesellschaft üblich, wissenschaftliche Vorträge zu hören. Fichte hielt öffentliche Vorträge, die Zulauf hatten. Dem Bestreben, sich über die Kreise der Wissenschaft hinaus verständlich zu machen, verdankt auch eine seiner schönsten Schriften ihre Entstehung: "Die Bestimmung des Menschen" (1800). Es ist eine klassische Darstellung dessen, was Fichte als Philosoph erstrebt. Im gleichen Jahre schrieb er eines der merkwürdigsten Bücher, die es gibt: Der geschlossene Handelsstaat. Das ist der erste Entwurf eines deutschen Sozialismus. Er zielt auf einen autarkisch geschlossenen Staat mit Planwirtschaft. Als Grundbegriff der Wirtschaft nimmt er nicht die Güter, nicht das Kapital, nicht die "Bedürfnisbefriedigung", sondern die Arbeit. Fichte stellt hier einen ethisch fundierten Wirtschaftsbegriff auf. Seine Ausführungen sind oft verlästert worden, heute haben sie einen besonderen Klang. 1804/1805 gab Fichte dann seine Geschichtsphilosophie in den siebzehn Vorlesungen über "Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters". Darin sehr tiefe Erkenntnisse über Wesen und Aufgaben des Staates. ("Unterwerfung ist der Ursprung des Staates." "Daß in unserm Zeitalter mehr als je zuvor jeder Bürger mit allen seinen Kräften [444] dem Staate untergeordnet, von ihm innerlich durchdrungen und sein Werkzeug sei, und daß der Staat strebe, diese Unterwerfung allgemein und vollkommen zu machen..." Der Staat hat seine Grenzen an der Religion, an der Wissenschaft, an der Tugend. "Der Staat, in seiner wesentlichen Eigenschaft als zwingende Gewalt, rechnet auf den Mangel des guten Willens, sonach auf den Mangel der Tugend und auf das Vorhandensein des bösen Willens." Wunderbar wird dann die Vollendung des Staates geschildert.) Endlich folgte, 1806, Fichtes Religionslehre, die mystisch-schöne "Anweisung zum seligen Leben", die aus dem Studium des Johannesevangeliums erwachsen ist. Fichte stand in persönlichem Verkehr mit den Romantikern, auch mit Schleiermacher. Doch verhielt sich Schleiermacher innerlich ablehnend. Varnhagen: "Es reizte ihn (Schleiermacher) weniges so auf, als wenn man Fichtes Geist und Richtung rühmte." Schleiermacher: "Fichte ist mir durch die Grundzüge, wenn ich das rechte Wort gebrauchen soll, so ekelhaft geworden..." Der gehässigste Gegner Fichtes in Berlin war der Rationalist Nicolai, ihn erledigte Fichte satirisch in der Polemik "Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen" mit einer wahrhaft lessingschen Schärfe. Um Fichte nicht an eine ausländische Universität zu verlieren, gab man ihm (Kabinettsorder vom 9. April 1805) eine Professur in dem damals preußischen Erlangen, mit der Erlaubnis, im Winter in Berlin leben zu dürfen. Aber schon 1806 wurde seine Erlanger Tätigkeit unmöglich gemacht durch den Krieg mit Napoleon und durch den Zusammenbruch des preußischen Staates. Von diesem Jahre an wird Fichte der große geistige Gegner Napoleons, der die deutsche Bildungsschicht, die in Weltbürgertum zu versinken drohte, politisierte im höchsten philosophischen Sinne. Fichtes Charakteristik Napoleons (von 1813) hat Max Rieß mit Recht "das größte Stück historischer Prosa in deutscher Zunge" genannt.
Halle war von Preußen abgetrennt worden. Die Professoren von Halle regten an, in irgendeiner Weise ihre Hochschule zu retten. Der König äußerte die Meinung: [445] "Der Staat muß durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat." Es wurden mehrere Gelehrte aufgefordert, Pläne für eine neue Universität in Berlin zu entwerfen, auch Fichte. Er schrieb seinen "Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt", worin er eine Universitätsidee von radikal antiliberalem Geist entwickelte. Doch Humboldt ging beim Aufbau der Universität andere Wege. Aber es war nicht Fichtes Art, auf eine Organisation des Geistes zu warten. Er erkannte die Niedergeschlagenheit und die Kümmerlichkeit der Gesinnung um sich her. Wenn keiner dagegen arbeiten wollte, so wollte er selbst es unternehmen, das Volk emporzureißen. Am 13. Dezember 1807, mittags um zwölf Uhr, begann er im Akademiegebäude seinen Weckruf an die Deutschen: die erste Rede an die deutsche Nation. Er hatte Ende 1806 an Clausewitz geschrieben: "Man muß dadurch der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt." Das eben wollte er nun erreichen. An seinen Freund, den Minister Beyme, schrieb er nach Beginn der Vorträge: "Ich weiß, daß ebenso wie Palm ein Blei mich treffen kann. Aber dies ist es nicht, was ich fürchte, und für den Zweck, den ich habe, würde ich gern auch sterben." Spitzel saßen in den Vorträgen. Zuweilen wurde die Stimme des Redners von den Trommeln der draußen vorüberziehenden französischen Truppen übertönt. "Mehrmals lief sogar das
Fichte hielt sich damals in Berlin zu den Nationalisten, die sich in der "Deutschen Tischgesellschaft" trafen. Hier kam er mit Heinrich von Kleist zusammen, hier disputierte er mit dem begeisterten Fouqué, der ihm bald ein lieber Freund wurde. Achim von Arnim und Clemens Brentano verkehrten ebenfalls dort. Als nun 1809 die Universität gegründet wurde, machte man Fichte zum Dekan der philosophischen Fakultät. Als die Universität zum erstenmal selbst ihren Rektor wählen konnte, am 17. Juli 1810, wurde Fichte gewählt; sicherlich nicht nur aus wissenschaftlicher Anerkennung – noch am 28. März 1805 hatte die Preußische Akademie der Wissenschaften seine Aufnahme mit fünfzehn gegen dreizehn Stimmen abgelehnt –, sondern weil man von seinem unbeugsamen Charakter einen erwünschten "Widerstand gegen oben" erhoffte. Die Hoffnung wurde im Übermaß erfüllt, denn Fichte widerstand auch gegen unten und geriet in endlose Kämpfe. Er wollte als Rektor seinen alten Plan durchführen, die Studentenschaft zu einer sittlichen Gemeinschaft zusammenzuschließen, dazu wollte er zunächst die Landsmannschaften ausräumen. Die liberaleren Gelehrten machten das nicht mit. Als bei einer studentischen Ehrensache Fichte seinen Rigorismus durchsetzen wollte, ließ der Senat ihn im Stich. Darauf legte Fichte das Rektorat nieder. Um so eifriger widmete er sich seinen Vorlesungen. In einem Gutachten, das Fichte 1811 über einen Plan zu Studentenvereinen abgab, findet sich der denkwürdige Satz: "Deutsch heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches und selbständiges, nicht als zu einem Andern gehöriges und Nachbild eines Andern." Es dürfte hier zum erstenmal das Wort "völkisch" erklungen sein. Am 3. Februar 1813 erließ der König von Breslau her den Aufruf zur Bildung von Freikorps. Am 19. Februar brach Fichte sein Kolleg über die Wissenschaftslehre mit einer Ansprache an die Studenten ab. Wiederum meldete er sich, als Redner des Staates mit ins Feld zu ziehen: "Mein Plan ist, einen Versuch zu machen, die in letzter Instanz Beschließenden und Handelnden durch Beredsamkeit in die geistige Stimmung und Ansicht zu heben, von dem uns vorliegenden Vehikel der geistigen Ansicht heraus, dem Christentume." Es wurde ihm abgeschlagen. Darauf trat er in die Landsturmriege ein. Im Sommersemester 1813 nahm er seine Vorlesungen wieder auf. Er sprach über das "Wesen des Staates" und über den "Begriff des wahrhaften Krieges", darin die berühmte Charakteristik Napoleons.
Goethe hatte zu Zelter am 28. August 1810 gesagt, als er Fichte auf der Promenade von Teplitz sah: "Da geht der Mann, dem wir alles verdanken."
Fichte war seiner Art nach ein Kämpfer; auch wenn er philosophiert, kämpft er. Karl Immermann meint in seinen Memorabilien, daß Fichte "zu den merkwürdigen Geistern gehöre, in welchen sich ein Urzwiespalt zwischen dem, wonach sie streben, und ihren Mitteln befindet". "In Fichte ist von Anfang an ein Krieg zwischen Charakter und Erkenntnisvermögen. Der Charakter will das Erkennen zwingen, zu sehen, was ihm beliebt, verwirrt es dadurch und treibt es in Widersprüche, die er dann aber auch rechtschaffen genug ist, geradezu einzubekennen. Fichtes ganze geistige Erscheinung hat etwas Gewaltsames, aber freilich etwas Heroisch-Gewaltsames. Wenn es möglich wäre, mit dem Willen in das Allerheiligste der Wahrheit einzudringen, so hätte es ihm gelingen müssen; denn gewiß war nie ein Wille stärker und reiner." Fichtes Philosophie sei durch seinen Charakter "perturbiert" worden. Dabei ist vorausgesetzt, daß es ein vom Charakter unabhängiges "Erkenntnisvermögen" gebe. Kann es aber eine philosophische Erkenntnis geben, die nicht zugleich und zuerst ein charakteristisches Bild des Philosophierenden ist? Niemand hat schärfer als Fichte betont, daß Erkennen eine Aktivität sei. Aber damit hat er nicht etwa eine Willkür der Erkenntnis zugegeben. Für Fichte gibt es eine "allgemeine" Erkenntnis, die von allen Menschen erkannt und anerkannt werden kann. Irrtum ist ihm nur Mangel an Klarheit, Fülle und Kraft des Denkens. Daß es allgemeingültige Erkenntnis geben könne, ist für ihn dadurch möglich, daß er ein "reines" Erkenntnisvermögen voraussetzt, das allgemeingültige Erkenntnisse "setzt". Irrtum ist Zufälligkeit, Wahrheit ist Notwendigkeit. Wirklich erkannt ist nur, was als notwendig erkannt ist. Ebenso ist nur der wirklich "frei", der nicht mehr willkürlich wollen kann, sondern der das als wahr erkannte Notwendige wollen muß. Wahrheit und Freiheit, diese beiden herrschenden Begriffe der Fichteschen Philosophie, sind beide Notwendigkeiten, denen gegenüber es keine "Willkür" gibt. Zu ihnen hindurchzudringen, ist die Aufgabe des wahrhaft Philosophierenden. Aber der Charakter der Philosophen ist auch nach Fichte das Entscheidende. Fichte läßt freilich nur zwei Charaktermöglichkeiten zu: Charakter und Charakterlosigkeit. [448] Wie alle kämpferischen Naturen spitzt er die Dinge auf einen Gegensatz, auf ein Entweder–Oder zu. Das eine wird anerkannt, das andere verworfen. Fichtes Denken ist immer ein Polemisieren gegen etwas. Darum entfaltet es sich am prachtvollsten dort, wo er mit der ganzen Wucht seines Charakters auf den Feind eindringt. Jede seiner Schriften und Reden ist ein Schlachtfeld. Noch unter den sublimsten Abstraktionen spürt man das Zittern des angestrengten Ringens. Und zuweilen erklingt am Schluß der stolze Fanfarenstoß des Siegers über die Walstatt. Daß Fichte zum Denken wie zu einem Kampf schreitet, beweist sein Wort in der ersten Vorlesung der "Anweisung zum seligen Leben": "Wir haben Vorrat an Mute; und für einen löblichen Zweck, sei es sogar vergebens, sich angestrengt zu haben, ist auch der Mühe wert." Das ist der Geist des preußischen Exerzierreglements in der Philosophie: Angreifen! Untätigkeit ist das Laster aller Laster und das einzig Unverzeihliche. Der Charakterlose – das ist der Feind schlechthin – wird von Fichte in eben jener "Anweisung zum seligen Leben" mit Hohn geschildert als der, in dem nichts anderes ist als der "Trieb des persönlichen, sinnlichen Wohlseins". Wer nichts anderes kennt als dies, muß alles Höhere verleugnen: "sie kämpfen für ihr Leben, für die Möglichkeit, sich selber zu ertragen. Aller Fanatismus und alle wütende Äußerung desselben ist vom Anfange der Welt an, bis auf diesen Tag, ausgegangen von dem Prinzip: wenn die Gegner recht hätten, so wäre ich ja ein armseliger Mensch." Wahrheit erstreben und Charakter haben ist für Fichte ein und dasselbe. Denn Wahrheit ist ihm nicht ein Leer-Abstraktes, sondern eine mit "Anschauung" erfüllte "Idee". In der "Idee" wird die Einheit von Individuum und Gemeinschaft, von Individuellem und Allgemeinem praktisch vollzogen. Es sei ein Irrtum, wenn ein "Individuum" "sich einbilde", daß es "für sich selber dasein und leben, und denken und wirken könne", wenn "einer glaubt, er selbst, diese bestimmte Person, sei das Denkende zu seinem Denken, da er doch nur ein einzelnes Gedachtes ist aus den Einen allgemeinen und notwendigen Denken". Dieses "Allgemeine" ist nicht eine logische Abstraktion, vielmehr "die Idee ist ein selbständiger, in sich lebendiger und die Materie belebender Gedanke". "Das Leben der Gattung ist ausgedrückt in den Ideen." Nach Ideen leben, heißt also, im Dienste der Gattung leben. "Die Ideen gehen auf die Gattung als solche, und auf ihr Leben; und sonach besteht das vernunftgemäße und darum rechte, gute und wahrhaftige Leben darin, daß man sich selbst in den Ideen vergesse, keinen Genuß suche noch kenne, als den in ihnen und in der Aufopferung alles Lebensgenusses für sie." Soweit gelangt Fichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters. Weiterhin setzt er Charakter und Deutschsein in eins. Da die Deutschen Charakter haben (und freilich nur, soweit sie ihn haben), sind sie "wahrhaft" Volk, sind sie "Idee". Die "wahre" Philosophie ist eben bei den Deutschen hervorgebrochen. [449] Das ist der weltgeschichtliche Wert des Charakterhaft-Deutschen. Dafür alle Kraft und das Leben selbst einzusetzen, heißt wahrhaft leben. Fichte gelangt also nicht etwa zu einer nationalen oder nationalistischen Philosophie, sondern zu einem philosophischen Nationalismus. Nation ist "Gattung", ist konkrete "Idee", Nationalcharakter ist "wahre" Idee. So steht in Fichte die Philosophie auf für die deutsche Nation gegen Napoleon. Der preußische Philosoph erhebt sich zugleich mit dem preußischen Dichter. Die Reden an die deutsche Nation sind desselben Ursprungs wie die Kampflieder Heinrichs von Kleist. Unerträglich ist dem wahrhaft Freien die Knechtschaft. "Wir haben Vorrat an Mute..." "Wenn der Kampf nur fackelgleich entlodert, wert der Leiche, die zu Grabe geht." Urströme deutschen Dichtens und Denkens brachen in jenen Tagen hervor. Wir Nachgeborenen hören ihr Brausen in der Geschichte, und wir erkennen, es ist das Brausen unseres Blutes. Fichte, der mitten zwischen dem klassischen Idealismus und der Romantik stand, der die Leidenschaft zur Wahrheit und die Leidenschaft zur Nation ineinanderschmolz, der Kant und Macchiavell verband, gab als erster den Deutschen ein großes nationalpolitisches Ethos.
|