[Bd. 2 S. 304]
Im ganzen vermochte die Politik nicht, Europa eine neue Stetigkeit zu geben, nach der es fieberhaft suchte, sie steigerte nur die Unruhe, die über dem Ausgang der vorrevolutionären Welt gebrütet hatte, in immer neuen Umstürzen, Unruhen, Kriegen, in Spannungen zwischen immer neuen Parteien, [305] Koalitionen und Gruppen, die alle allen Erlösung und Rettung versprachen und doch nur die Macht letzten Endes in ihrem Interesse wollten. Pestalozzi stand und wirkte in dieser Zeit als eine völlig anders geartete Kraft. Daß er Schweizer war, nach der eigenen Aussage zutiefst verbunden mit einem Land, dem die volksstaatliche Daseinsform seit Jahrhunderten geläufig war, Zögling des Züricher Carolinums (1757–1765) in seiner Glanzzeit unter bedeutenden, über die Schulstube hinaus blickenden und öffentlich wirkenden Vertretern des langsam aus den westlichen Kulturländern vordringenden neuhumanistischen Geistes, gab seinen Interessen die Wendung zu den allgemeinen Angelegenheiten, zu dem "freien Forschen nach den Ursachen der Landesübel und dem lebendigen Eifer, ihnen abzuhelfen", hätte ihn also zu einem im geläufigen Sinne des Wortes politischen Leben und Beruf führen können. Aber das Ahnenerbe im Nachkömmling ehrenfester Pfarrherren, und um ihres evangelischen Glaubens willen aus der Heimat am Comer-See ausgewanderten Bergbauern, deren Bild in seiner äußeren Erscheinung ("der schwarze Pestaluz") unverkennbar ist, bestimmte die Richtung seiner Entwicklung stärker. Die ererbte Neigung zu grüblerischer Selbstversenkung und einem Leben aus letzter Tiefe führte ihn von der leicht angefaßten Existenz erfolgreicher Klugheit und Tagesgeschäftigkeit zu den ewigen Fundamenten der Gemeinschaft. Nicht blind oder unempfindlich für die Härten, Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen des überlieferten Systems, das namentlich auf den duldenden Massen lastete, hat er in seiner Jugend in der Gemeinschaft seiner Altersgenossen in der "Gerwe" selbst an die Erlösung der Welt durch die Politik geglaubt, sich dem Natur- und Freiheitsevangelium westlich-demokratischer Gesinnung erschlossen, sich an Rousseau, an Deklamationen über griechische und römische Freiheitshelden, an Studien über die altehrwürdige volksstaatliche Eidgenossenschaft und an neuesten gärenden Ideen des "poetischen Tyrannenhasses" berauscht. Man kann das ganze Leben Pestalozzis beschreiben als eine Kette von Versuchen, Anschluß und Einfluß zu gewinnen auf die Strömungen, Kreise und Kräfte der Epoche: von der Zeitsorge erfüllt wie er selbst, stellten sie die erst später so genannten sozialen Fragen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, sei es, daß sie als zerstörende Kritiker und politische Sozialrevolutionäre im Glauben an "Volk", "Natur", "Freiheit" die Utopie einer besseren Gesellschaftsordnung, den Idealstaat als Aufgabe des Zeitalters betrachteten, sei es, daß sie als Gegenspieler der drohend sich vorbereitenden und dann erobernd ausgreifenden Revolution im besten Sinn konservative Reformer wurden, als bauernfreundliche Physiokraten, volksfreundliche Fürsten, Bauherren einer neuen Freiheit der großen Völker. Die Volksverbesserung wurde die Aufgabe auch seines Lebens; aber er sah und suchte sie mit instinktiver Gewißheit von Anfang an und aus den Erfahrungen seines Schicksalsweges lernend mit immer klarerer Bewußtheit aus anderen Tiefen als die Heerlager der Politiker. Die Politik, der gewaltsame Umsturz oder die Gewalt der Diktatur ändert wohl [306] die "Verhältnisse" (insofern in der Geschichte nicht zu entbehren, wenn die Beharrung überfälliger Verhältnisse zum Hindernis wird), aber "nicht die Verhältnisse machen den Menschen, sondern der Mensch die Verhältnisse". Tiefer als die meisten seiner Zeitgenossen erblickte Pestalozzi die Ursachen des "Elends", unter dem Europa in seinen Jugend- und Mannesjahren litt, nicht nur in den politisch-sozialen Verhältnissen, gegen die mit politischen Mitteln anzugehen sinnvoll war, er sah sie in der Überordnung und Überbetonung der Verhältnisse über den Menschen, gegen die mit einer politisch bewirkten Änderung der Verhältnisse nichts getan ist. Die Tatsache einer gesellschaftlichen Ordnung als solcher ist ihm nie Zwang und Unnatur gewesen (wie den Rousseauisch bestimmten Freiheitsschwärmern, die letzten Endes anarchisch fühlten), die Beschränkung der individuellen Freiheit durch das Gesetz nicht nur Hemmung und Verkümmerung, die geschichtliche Entwicklung nicht nur Abfall und Niedergang; der gesellschaftliche Zustand (wie er später klar darlegt) ist eine Veranstaltung der Natur selbst in der Entwicklung des Menschengeschlechts, das nicht nur auf Freiheit, sondern auf ein Gesetz der Freiheit angelegt ist, ist für den Menschen eine notwendige Hilfe. Über den Wert einer Gesellschaftsordnung entscheidet der Mensch, der als Werk seiner selbst freie Sittlichkeit ist. Pestalozzi lehnte die in seine Lebenszeit fallenden Bestrebungen der Schweiz, des französischen Volkes, der von Napoleon beherrschten Nationen, sich mit politischen Mitteln der Revolution, des Krieges, der militärischen Gewalt um eine Neuordnung ihrer Verhältnisse zu bemühen, nicht etwa unbedingt und in allen Fällen ab. So sehen wir ihn den Ausbruch der Französischen Revolution mit Sympathie begrüßen, mit tätiger Teilnahme die mäßigen Forderungen des Landvolks von Stäfa gegen den Rat von Zürich unterstützen, und in den Tagen der "helvetischen Republik" war er publizistisch tätig. Aber zutiefst war er doch davon überzeugt, daß nicht ein Kulissenwechsel der Macht, sondern allein die innere Bekehrung des Menschen die Grundlage befriedigender und befriedender Verhältnisse schaffen kann, nach denen sich das Zeitalter sehnte. Nicht der politische Mensch gestaltet, beherrscht, bestimmt den sittlichen Menschen, sondern dieser jenen. Das ist die Erkenntnis, von der aus Pestalozzi seiner Zeit dient. Er hat in der Jugend in einer bei aller Dürftigkeit von Liebe und sorgender Frauengüte erfüllten Häuslichkeit die Gemeinschaftskraft und die Größe des Menschen in der schlichten Seele erfahren, er hat selbst durch die Kraft seiner Liebe Gemeinschaften gehalten und gewirkt, um diese Fundamente der Wohlfahrt zu übersehen. Er ist von einer unkonventionellen und unkonfessionellen Religion ganz und gar durchdrungen und getragen, um das irdische Wirken des Menschen losgelöst von den ewigen Grundlagen der Natur allein auf Vernunft und kluge Gewalt zu gründen. Auch er will an der Besserung der Verhältnisse arbeiten, aber nicht mit neuen Staatsformen, veränderter Gesetzgebung, Besitz- und Wirtschaftsordnung, mit reformierender Gewalt, sondern durch den Abstieg [307] zu den Tiefen der menschlichen Natur, die all das erzeugt, und wenn es fehlerhaft ist, nur durch ein Selbstmißverständnis erzeugen kann. Denn in seinem Wesen ist der Mensch Sittlichkeit, seine Natur entfaltet sich folgerichtig nur in einem Leben und in Ordnungen, die den Stempel der Sittlichkeit tragen. Soweit der einzelne nicht Kraft und Klarheit genug besitzt, seine wahre und ganze Menschennatur ins Spiel zu setzen, soweit jeder Mensch in den Phasen der Kindheit, Jugend, Unmündigkeit der Anleitung, Stütze und Orientierung bedarf, als Werk seiner selbst sich zu vollenden, ist die Erziehung berufen, ihn zu leiten. Der Ansatz zur Weltumkehr und Erneuerung, nach der das Zeitalter Ausschau hielt, wird von Pestalozzi in die innere Bekehrung des Menschen zu seiner naturgemäßen, sittlichen Bestimmung gelegt und in die – im weitesten Sinn des Wortes – erzieherische Arbeit an der eigenen Veredelung. Der pädagogische Genius wird zum Sozialreformer. So behielt er die Freiheit, der Politik unmittelbar zu dienen, wo sie sowohl in ihren Zielen wie in ihren Mitteln dem Gericht des sittlichen Gewissens standhielt, sie zu kritisieren, wo sie sich unter dem Deckmantel von Ideologien aller Art nur als Fortsetzung des tierischen Kampfes aller mit allen enthüllte, ihr mittelbar zu dienen, wo eine Aufbaupolitik – von der gleichen sittlichen Überzeugung getragen, die ihn selbst beseelte – die Erziehung als eines ihrer Instrumente im Geist der sittlichen Selbstverantwortung arbeiten ließ. Gewiß hat Pestalozzi in vielfacher Verbindung mit den produktiven Kräften seiner Zeit gestanden, tiefer und ausgebreiteter, als man bei seinem jahrelang einsiedlerischen Leben lange geglaubt hat, die geistigen Auseinandersetzungen teilnehmend miterlebt, aber auch die genaueste Erforschung seiner Beziehungen zu den politischen Patrioten, zu Rousseau, den Physiokraten, zur Kantischen Philosophie hat immer wieder davon überzeugt, daß seine Welt nicht übernommen, daß sie nicht die Kreuzung zeitgenössischer Anregungen aller Art auf dem Boden seiner Individualität war, sondern eigene Schöpfung, Offenbarung der Eigenart seiner Menschlichkeit: sie ließ ihn die gleichen Fragen, die andere als politische, wirtschaftliche oder philanthropische empfunden haben, als im reinsten und umfassendsten Sinn des Wortes sittlich erleben und auf dem Boden einer religiösen Menschenbestimmung mit der Genialität des Herzens um ihre Lösung ringen. Man kann den Lebenstag Pestalozzis nach den Hauptstätten seiner Wirksamkeit, Neuhof (1771–1798), Stans (1798), Burgdorf (1798–1804), Münchenbuchsee (1804), Ifferten (1805–1825), Neuhof (1825–1827), in mehrfacher Hinsicht beschreiben: als die Stationen, in denen er selber zu seinem inneren Beruf als Prediger der Erziehungsverantwortung in den Eigenerfahrungen der Vaterschaft, des Waisenfürsorgers und Kinderpflegers, des Schullehrers, Lehrerbildners und Erziehungsorganisators reifte und sich zu den Grundlagen seines nie einheitlichen und abgeschlossenen, aber doch erkennbaren Systems der Volkserziehung hindurchexperimentierte. Man kann dasselbe Leben und die in ihm sich gestaltenden Ideen am Leitfaden seines literarischen Schaffens verfolgen, das, [308] anfänglich Begleitung der praktischen Wirksamkeit als Landwirt auf einem als Mustergut gedachten "neuen Hof", schließlich einer Erziehungsanstalt für arme Kinder, zugleich zur Erwerbsarbeit und Menschlichkeit, dann fast zwei Jahrzehnte lang im Notberuf des Schriftstellers geübt wurde, im späteren Alter wieder zur Bekanntmachung, Verteidigung und Rechtfertigung seiner pädagogischen Reformen aus der praktischen Wirksamkeit als Erzieher floß. Aber immer muß man die eigentümliche Doppelzielung seiner Lebensarbeit sehen: die immer erneute Ausscheidung ihm wesensfremder Anregungen, Zeiteinflüsse, Selbsttäuschungen, die kritische und selbstkritische Abkehr von ursprünglich verfolgten oder doch wenigstens auch für möglich, gut und brauchbar gehaltenen Idealen, Richtungen, Kräften, den innerlich konsequenten Aufbau einer pädagogischen Welt auf einer allen zeitlichen Schwankungen der Meinung entrückten ewigen Philosophie des Menschen. Schon im Jüngling war bei allem Gleichlauf seiner Absichten und Ideen mit den politisierenden Freunden der Keim einer unpolitischen Entwicklung des Denkens und der Leidenschaft erkennbar: "Daß doch jemand einige Bogen voll einfältiger guter Grundsätze der Erziehung, die auch für den gemeinen Bürger und Bauern verständlich und brauchbar wären, drucken ließe"... ist der emphatische Wunsch, in dem ihn seine Natur ihm selbst noch undurchsichtig überwältigt. Nach Lockerung seiner Beziehung zu den politischen Schwarmgeistern, in der Zeit seiner Verlobung ist es wieder der Gedanke einer Verbesserung der Erziehung, der sich ihm als Erlösungsmittel aufdrängt, auch wenn er selbst das Bewußtsein hat, "in Ansehung der Auferziehung der Kinder noch viel nachdenken zu müssen". Wie er selbst den Ruf "Zurück zur Natur!" praktiziert und Bauer wird, so träumt er: "Wenn ich einst auf dem Lande bin und einen Sohn eines Mitbürgers sehe, der eine große Seele verspricht und kein Brot hat, so führe ich ihn an meiner Hand und bilde ihn zum Bürger, und er arbeitet, ißt Brot und Milch und ist glücklich". Aber all das bleibt noch Programmatik, bis die Geburt seines Sohnes Jaqueli (13. 8. 1770) ihn praktisch vor die Aufgabe der Erziehung stellt, bis der Fortgang der Revolution ihn über die Abgründe einer erlösenden Neuordnung mit nur politischen Mitteln, die er instinktiv immer geahnt und vielfach schon ausgesprochen hat, endgültig belehrt und von aller unmittelbar politischen Wirksamkeit trennt. Nicht eigentlich überrascht und enttäuscht von den Greueln des Terrors, wie Schiller oder Klopstock, spricht er aus, daß es auch "Verirrungen der Freiheit" gibt und nur "das, was am Freiheitswunsch der Menschheit wahr ist, mit Redlichkeit verfolgt werden darf", tritt er "von allem, was geschieht, zurück und muß für sich selbst unter den Schrecknissen, an denen wir keinen Teil nehmen, die von allen Begegnissen unabhängigen Wahrheitsfundamente suchen, die mit keinem Zeichen weder der demokratischen noch der aristokratischen Zeitwut gebrandmarkt" sind, "zertritt er den Geist des Anspruchs im Volk, sondert das [309] Wesen des Freiheitsgenusses von dem Irrtum der harten, tierischen Form, in welchem das Zeitalter diesen Segen unserer Väter anspricht, zeigt er, daß Demokratismus eine Lüge ist und ein Zustand, der nirgends existiert". Schritt für Schritt mit der Lösung vom Glauben an die Allmacht der Politik (der Führer seines Zeitalters, Napoleon, hat das Wort geprägt: "Das Schicksal ist die Politik") war in Besinnung und Versuch der Weg zu einer Umordnung schon in Angriff genommen worden, nicht nur gegen die Verirrungen der Macht, weit "entscheidender gegen den allgemeinen Weltgeist des Zeitalters" in der Entdeckung der lebenseinigen Familie, dem Hausglück, in dem alle Gemeinschaften, auch der Staat, nicht nur ihre natürliche Grundlage haben, sondern auch das Modell ihrer Lebensformen suchen sollen, in der Entdeckung der Arbeit als des ältesten, besten und sichersten Erziehungsmittels der Menschheit, in der Sicherheit der sittlichen Kräfte, die, tiefer als Klugheit, Anpassung und Gewalt in der Natur des Menschen liegend, diese immer wieder antreiben und befähigen, durch allen "Kot" sich in der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit strebend zu erheben. Jetzt, auf dem Höhepunkt der politischen Revolution spricht er aus: "Ich enthülle das Wesen der Liebe und des Wohlwollens und gehe tief in das Wesen der Grunderkenntnis aller menschlichen Kraft gegen seine tierische Gewaltsamkeit hinein." Ist die Erziehung die Wegweisung für den Menschen zu sich selbst, die Leitung zum Menschen als Werk seiner selbst, so muß sie wissen, was der Mensch ist – vor allem, wozu konkrete Geschichte, Gesellschaft, Macht ihn immer wieder machen, was er als "Natur" ist, "wessen er in dieser Stellung bedarf, was ihn [310] in seiner naturhaften Wesenheit erhebt, erniedrigt, stärkt, schwächt". Der Mensch als Natur ist ein Inbegriff von Segenskräften, den "spezifisch menschlichen Grundanlagen, die jeder einzelne wirkliche Mensch auf eigenartige Weise eingepflanzt in sich trägt, die ohne Verkünstelung und Beirrung, nach einer in ihnen selbst" – also wieder in der "Natur" – "liegenden Ordnung entfaltet, die Bedürfnisse der Natur im Innersten befriedigen, den Menschen glücklich, sein Leben richtig machen". "Allgemeine Emporbildung der inneren Segenskräfte der Menschennatur zur reinen Menschenweisheit ist der allgemeine Zweck der Erziehung auch noch der niedersten Menschen." Um die Erforschung dieser Natur müht sich Pestalozzi von der "Abendstunde eines Einsiedlers" (1780) über die "Nachforschungen" (1799) bis zu den Altersschriften über Methodik und Erziehungskunst (seit 1800). Die Menschenbildung, die Bildung des Menschen als solchen, die Uraufgabe und der Grundsinn aller Erziehung kann nicht von bestehenden oder geforderten besonderen Verhältnissen des Standes, Berufes, Staates aus entwickelt werden, sie muß aus der sittlichen Wesenheit des Menschen erfolgen. So gewiß Pestalozzi lebenslang die Erziehung als Gang der menschlichen Selbstvervollkommnung unter die gleiche Naturkategorie gestellt hat wie Rousseau, so gewiß ist, daß er doch von Anfang an mit einem anderen Begriff und Bild der Natur lebte und dachte wie dieser, der die Anarchie des Gefühls und wechselnden Impulses, die souveräne Willkür des Individuums allein für Natur erachtete. Natur ist ihm schon in der ersten Niederschrift der "Abendstunde" etwas völlig anderes als den "Naturalisten" seiner Zeit oder später, nicht die äußere Gegebenheit der Dinge, nicht die psychologische Gegebenheit der Kräfte, die, sich entwickelnd, entfaltet und zu immer größeren Leistungen emporgebildet werden wollen und sollen. Natur ist, in einem fast mystisch-pietistischen Sinn gesehen, das Ganze, in dem alles einzelne nur eine teilgeschöpfliche, eine mitgeschöpfliche Existenz und Bestimmung hat, und speziell die Natur des Menschen enthüllt sich aus dieser seiner mitmenschlichen Existenz, die ihn zu der als solche sittlichen Aufgabenerfüllung der Teilnahme, des Wohlwollens, Dienens, Sichselbstüberwindens (als maßlos überwuchernden Einzelanspruch) befähigt. Die Natur, in der sich reines Menschentum und reine Menschenweisheit gewissermaßen unabhängig von aller Geschichte dartun, sind die Urbeziehungen von Vater und Sohn, Mutter und Kind, Eltern, Geschwistern und Nachbarn, ist die in ihnen intendierte Entsprechung von Liebe und Vertrauen, Hilfe und Dankbarkeit, Fürsorge und Anhänglichkeit und in ihnen grundgelegte Sittlichkeit der Gemeinschaft. "Die häuslichen Verhältnisse der Menschheit sind die ersten und vorzüglichsten Verhältnisse der Natur, alle andere spätere und (scheinbar) höhere Ordnung kann nicht anders gewonnen werden denn durch die Verknüpfung von Familie und bürgerlichem Verein, von Ordnung im Haus und im Staat." Die als Naturgemeinschaft betrachtete Familie ist nicht nur soziologisch, geschichtlich, [311] politisch der Mutterboden, aus dem die Völker, Staaten, Gesellschaften erwachsen, sie ist auch der Ursprungsort des spezifisch menschlichen Geistes. "Der befriedigte Säugling lernt seine Mutter lieben, ehe er das Wort dafür hat und es ihm als Pflicht mit diesen oder jenen Gründen
Mit diesen Erkenntnissen wird nicht etwa nur der Wert und die grundlegende Bedeutung der Familienerziehung als einer der vielen Formen der Erziehung ausgesprochen (Gedanken, die er später immer wieder und sehr viel eindeutiger ausführt, in "Lienhard und Gertrud" und in der Zeit, da er die Bildung des Volkes in "die Hände der Mütter legen" wollte), er wollte damit die reine Naturbildung der Menschheit, den Ursinn von Menschenbildung überhaupt treffen. Denn in einer sehr eigentümlichen Wachstumsverschlingung entspringt aus Kindersinn, Dankbarkeit, Gehorsam, kurz, aus dem Glauben des Kindes an seinen Vater der Glaube an Gott, den Vater des Vaters, immer neu, wie anderseits menschlicher Vatersinn wurzelhaft mit dem Glauben an Gott verbunden ist. Mit dem Gottesbewußtsein aber ist die Idee der sittlichen Ordnung des Menschendaseins geboren.
Die Philosophie des Menschen, die der Einsiedler in den Gedanken seiner "Abendstunde" in Umrissen festlegte und die ihn schon hoch über politischen Betrachtungsebenen zeigt, war aus der in seiner Natur und Lebenshaltung Fleisch gewordenen Bergpredigt hervorgewachsen, aus der Gewißheit, daß die Wahrheit des Christentums mit der von den Schwärmern für reine Natur und reine Vernunft gesuchten innersten Weisheit der natürlichen Ordnung sich decke (anima naturaliter christiana), daß demgemäß die Rückkehr zur Urverfassung des Lebens in organischen Kreisen, vor allem zum Hausglück mit seinen inneren Segnungen und seiner durch das Vertrauen auf Gott gehobenen Selbstbescheidung in das Sittlich-Richtige unter dem Menschenmöglichen das Heilmittel für die Schäden und Leiden der zerrissenen Zeit sei. Aber als sie Pestalozzi schrieb, hatte er weder alle Abgründe des "Kotes" noch alle Wunder des "Engelgangs der Liebe" erfahren. Die Nachtseiten der menschlichen Natur traten dem umgeschüttelten Mann aus der eigenen Seele, aus dem drastischen Bilderbuch der Revolution, aus manchen Enttäuschungen lauteren Wollens so brutal entgegen, daß er die im enthusiastischen Glauben jüngerer Jahre allzu vereinfacht gesehene Aufgabe der "Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechtes" wieder aufnahm, nicht, wie manche meinen, unter innerem Bruch, durch Übernahme des Kantischen Ethizismus, des Fichteschen Idealismus oder anderer [312] fremder Weltanschauungen, durchaus seinem eigenen Wesen treu, das nur gründlicher und kritischer von dem Bergmann seiner eigenen Tiefe durchforscht wurde. Man mißversteht die Schrift, wenn man in ihr eine der vielen in seinem Jahrhundert üblichen Geschichtsphilosophien erblickt, die drei Zustände, die er unterscheidet, den tierischen, gesellschaftlichen, sittlichen als historische Begriffe von Phasen betrachtet, die im Gang der Geschichte eines Volkes – allgemein der menschlichen Gattung – sich ablösend aufeinanderfolgen, oder als biographisch-psychologische Begriffe, als die in Kindheit, Jugend, Mannesalter sich darstellenden Stadien der persönlichen Entwicklung. Gewiß schillern seine Ausführungen nach allen diesen und noch einigen anderen Seiten; aber an den entscheidenden Überlegungen entdeckt man, daß der Mensch in jeder Phase und Lage seiner Geschichte, in jedem Augenblick seines persönlichen Lebens als tierisches Lebewesen, Gesellschaftsmitglied und sittliche Potenz zugleich existiert, oder auch – gegen alle Logik einer persönlichen Entwicklung oder alles angebliche Phasengesetz der Geschichte – sich wesentlich einseitig und dann zugleich "unnatürlich" aus den Kräften eines dieser ihm möglichen Zustände auslebt. Die drei Zustände stellen sich somit als die Wesensschichten der menschlichen Natur dar; ihre Bedeutung für die Kennzeichnung von geschichtlichen Zeitaltern oder Lebensphasen des Individuums ist durchaus abgeleitet. Die Folge der Zustände ist nicht primär eine zeitlich-geschichtliche, sie ist eine wertmäßig-sachliche. Der Mensch ist auch in seiner geschichtlichen Existenz jederzeit Tier, Sozialglied, sittlicher Geist gewesen; insofern ist kein Zustand in dem Sinne überwunden worden oder überwindbar, wie der Fortschrittsgedanke in seinem Glauben, es herrlich weit gebracht zu haben, meint, er ist auch im persönlichen Leben nicht in dem Sinn überwindbar, daß der vollendet sittliche Mensch aufhören würde, Tier und Gesellschaftsexistenz zu sein und doch Mensch bliebe. Das Wesensgesetz der Gattung setzt dem Menschen eben diese Bestimmung: Ausformungen zu suchen, in welchen das richtige Verhältnis dieser drei Seiten seiner Natur den Stil bestimmt, die deutlich als dienend empfundenen nicht verleugnet, unterdrückt, übersprungen, vergewaltigt werden und die ganze Auszeugung doch das Gepräge der sittlichen Kraft trägt. Nur als das richtig proportionierte Ineinander der einander unentbehrlichen Seiten seiner Natur ist der Mensch Mensch, "das hohe Wunder im chaotischen Dunkel der Natur... das von Anfang an war und immer so ist". Der tierische Zustand wird überwiegend als Folge der "Selbstsorge", der naiven Selbstsucht des Erhaltungstriebes geschildert, durch Erscheinungen gekennzeichnet, die an Hobbes' Status naturalis, an den Kampf ums Dasein der späteren naturalistischen Gesellschaftslehre erinnern. Aber ebenso bestimmt werden Erscheinungen als zu ihm gehörig bezeichnet, die einem ursprünglichen, nicht aus wohlverstandenem Eigennutz herleitbaren "Wohlwollen" entspringen und mit Rousseaus Verherrlichung des Naturzustandes sich berühren, übrigens sehr [313] fein und tief schon in den Betrachtungen der "Abendstunde" dargelegt waren. Wird der Zustand auch als tierisch bezeichnet, so ist er doch der natürliche Zustand des Menschentiers, nicht der des Wolfs oder der Koralle, und eben als Menschentier prägt der Mensch auch in vorbürgerlichen und vorsittlichen Phasen seine Existenz, sein Wesen aus. So entwickelt der Mensch im "tierischen Zustand" tierische "Unschuld", Anhänglichkeit, Dankbarkeit, Liebe, ja natürliche Religion, sofern er nicht durch Erfahrungen, Menschen, Umstände sich in Existenz und Sicherheit bedroht fühlt, wird er andererseits sofort die "Wildheit des Tieres" betätigen, wenn Leben, Eigentum, Ansehen gefährdet sind. Er tut das eine nicht, weil es gut, recht göttlich ist, sondern weil ein Hang zum Wohlwollen, reine Sympathie und Hilfsbereitschaft ohne Reflexion als naturgegebener Trieb ihn bestimmen, er tut das andere ohne Bewußtsein des Bösen und der Sünde, weil der Urtrieb der Selbsterhaltung nicht anders kann. Der tierische Zustand ist diesseits von Gut und Böse, Keim zu den entgegengesetzten Möglichkeiten, unreflektiert natürlicher Ausdruck und darum in seiner Richtung schwankend nach Umstand und Reizung, gesetzlos und in sich widerspruchsvoll. Der gesellschaftliche Zustand (in den ersten Teilen der "Nachforschungen" noch nicht immer vom tierischen unterschieden, sondern mit ihm zum Naturzustand zusammengefaßt und dem sittlichen entgegengesetzt) wird weniger durch die Tatsache der sozialen Verbundenheit als durch die Existenz von Zwangsrecht und Gesetz und die auf Macht beruhenden andersgesetzlichen Lebensordnungen gekennzeichnet. Richtiger wäre der gesellschaftliche Zustand als bürgerlich-staatliche Legalität zu bezeichnen. Das Leben des Menschen ist nicht mehr naiver Ausdruck seines mehrspaltigen Wesens, sondern durch erzwingbare Normen geregelt, die – einerlei, ob immer richtig oder nicht –, im Laufe der Geschichte hier so und dort anders gekommen, den Menschen nach sich ausrichten, insbesondere in der Absicht, die Exzesse der tierischen Selbstsorge zu unterbinden, den Kampf aller mit allen in einem rechtsgeordneten Zustand zu beenden, in dem jeder weiß, wie weit er ungestraft den tierhaften Antrieben folgen darf nach den für alle gleich "gesetzten" Normen, einerlei, ob eines Despoten, einer herrschenden Schicht, einer Volksversammlung. Auch der gesellschaftliche Zustand ist menschlich, sein Prinzip, der Zwang durch das Gesetz, kann nicht entbehrt oder überflüssig gemacht werden (wie eine Freiheitslehre will und verheißt, die den tierischen Zustand in den anarchischen verkehrt, als den wahren Naturzustand empfindet). "Nicht die Macht, der Mensch, der sie in der Hand hat, ist schuld an dem Verderben meines Geschlechts." Auch die geschichtlich entwickelte Verschiedenheit von Besitz, Stellung, Stand, Rechtsfülle ist nicht als solche "unnatürlich", "unmenschlich" und wert, durch die "Gleichheit" überwunden zu werden. "Der Mensch ist schon in seiner Höhle nicht gleich." "Der Schwächere wird, ob er will oder nicht, zu dem Starken sagen: Sei du mein Schild!, zu dem Listigen: Sei du mein Führer!, zu dem Reichen: Sei du mein Erhalter!" Da der gesellschaftliche Zustand – ebenso [314] wie der tierische – zugleich notwendig ist und "doch nicht schon selbst die Übereinstimmung der berechtigten Naturansprüche mit den gesetzlichen Forderungen" bewirkt, muß sein Prinzip, das Gesetz, noch einer anderen Deutung fähig sein: der Durchdringung sowohl der Tierheit wie des positiven Gesetzes und auf ihm beruhenden Gesellschaftsbaues mit dem Geist des Sittengesetzes der Sittlichkeit, "die nicht unter zweien ist". "Ich vervollkommene mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will." Nur als sittlich Handelnder ist der Mensch ganz in Übereinstimmung mit sich selbst, sind die tierische und gesellschaftliche Seite in ihrem Recht und ihrer Bestimmung entwickelt, die, jede für sich genommen, zwar auch menschlich blieben, aber nicht vollmenschlich, zu Entstellungen und Verkrüppelungen des Menschenwesens und zu einer Unnatur der Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse führen. Pestalozzi hat nicht aus Büchern, kaum aus dem Austausch mit Menschen zu lernen vermocht; auch diese ethische Anthropologie ist aus der Selbsterfahrung geschöpft, die ihn die Kraft des sittlichen Willens "im Innern seiner Natur selbständig, in keiner Weise als Folge irgendeiner anderen Kraft seines Wesens" erleben ließ, als "höchste Anstrengung, auch gegen uns selbst die Hand aufzuheben zu einem unbegreiflichen Kampfe"; sie ist ihm aus der "inneren Entwicklung der reinsten Gefühle der Liebe" zugeflossen, als Offenbarung der "ganz anderen Seite", das Bekenntnis einer großen Seele, die sich in ihrem irdischen Wirken in der Einsamkeit des persönlichen Gewissens und dem letzten Sinn ihrer wesentlichen Kraft, der Liebe, mit einer überirdischen und ewigen Ordnung des Seins verbunden fühlte. Trotz aller Anklänge an Kants Autonomiebegriff ist der sittliche Zustand Pestalozzis nicht das chemisch reine Erlebnis der Pflicht, nicht Ausdruck einer gewissermaßen nur sich selbst garantierenden Wertordnung, sondern die religiöse Selbstgewißheit, allein durch reine tätige Liebe am Gesetz der Welt teilzuhaben und Gott zu wirken.
Der Didaktiker Pestalozzi sucht nun, die "Mechanik" im zielstrebigen Gang der menschlichen Natur in ihrer Entwicklung zur Humanität der Sittlichkeit in einem "sozietätischen" Leben zu ergründen und als Erziehungskunst herauszustellen. Erst in dieser Epoche seines Lebens treten Unterricht und Schule – immer im Ganzen der Menschenbildung gesehen – stärker in den Vordergrund, während ihm früher die Wohnstube, Arbeitsstätte, ganze Individuallage eines Menschen eine getrennte Schule nicht unbedingt zu erfordern, ja diese durch ihre Inhalte und Atmosphäre die Einheit der Erziehung zu zerreißen und mit Unnötigem zu belasten schien. Er hat fast immer in Anstalten, nicht Stundenschulen wirkend, den erziehenden Unterricht praktiziert, ehe Herbart aus der Anschauung von Pestalozzis Praxis deren Formel prägte.
Dazu muß der planmäßige Unterricht "die ewig sich selbst gleichen Entfaltungsmittel" der menschlichen Natur ins Spiel setzen, die drei Grundrichtungen des Lebensausdrucks der leib-seelischen Einheit Mensch, die Grundkräfte des Geistes, Herzens und der Kunst, oder wie Pestalozzi mit symbolisch anschaulicher Kürze meistens sagt: Kopf, Herz und Hand in einheitlichem Gebrauch ausbilden, nicht eine dieser Kräfte als seine Domäne allein bevorzugen, muß er nicht nur die aufnehmenden, nachbildenden Wirkungsformen aller dieser Kräfte pflegen, sondern auch ihren aktiven, spontanen, produktiven Möglichkeiten Spielraum schaffen, Anregungen geben, Aufgaben stellen. "Nur was den Menschen in der Gemeinkraft seiner Menschennatur ergreift, ist für ihn wirklich, wahrhaft und naturgemäß bildend." "Die Einheit der Kräfte ist unserer Natur, unserem Geschlecht als wesentliches Fundament aller menschlichen Mittel zu unserer Veredlung göttlich und ewig gegeben." "Auf der Harmonie der Kräfte beruht die Gemeinkraft der Menschlichkeit." Bleibt auch zweifelhaft, ob Pestalozzi die Identität der seelischen Energie in den drei Grundkräften, die Einheit in einer Gemeinkraft als eine Tatsache behaupten oder nur die Forderung der Vereinheitlichung, ihrer verhältnisrichtigen Zusammenfassung in der Lebenstat als Ziel hinstellen wollte, Einheit und Totalität als Normen der Bildung hat er bestimmt erkannt, damit die Milieupädagogik, die er noch in "Lienhard und Gertrud" für ausreichend hielt, überwunden. "Die Realansprüche der individuellen Existenz unseres Geschlechts als Ansprüche der Menschennatur selber müssen den Ansprüchen der Kollektivexistenz derselben allmählich vorangehen." Mit der Erkenntnis der Gemeinkraft oder der Harmonie aller Kräfte als Kern der menschlichen Tätigkeit erweitert er den Lehrplan der Schule zum Plan der [316] Menschenbildung durch die Schule. Ob man für die Ausgestaltung mehr die Situation der Anschauung, des Erlebnisses oder der Arbeit bevorzugt – wie er selbst darin wechselte –, ist von nachgeordneter Bedeutung und von den nie ganz zu rationalisierenden Gelegenheiten abhängig, die die Schularbeit als lebendige Tat von jedem noch so geistreichen Mechanismus des Büros oder der Technik unterscheidet. Der methodische Weg der Geistes-, Herzens- und Handbildung ist durch die Spontaneität des Lebens vorgezeichnet. Der Mensch wird als Ganzer durch das tätige Leben geformt, nicht durch das Wort und die abstrakte Inspiration. In der handelnden Begegnung mit den Dingen und Aufgaben seiner jeweiligen Lage, seiner großen oder kleinen Welt, im tätigen, nicht konversierenden Umgang mit wenigen oder vielen, immer verschiedenen Mitmenschen wachsen in der ständigen Übung seine Kräfte, alle immer in der erforderlichen Gruppierung zusammenwirkend, jede darum in ihrem Sinnbezug durchsichtig; aus den selbstgemachten Erfahrungen über Folgen und Wirkungen des eigenen und des fremden Tuns werden die in der Menschennatur schlummernden Keime zur Bewertung, Regelgebung und Zielsetzung des Handelns geweckt, berichtigt, gefestigt. Das "Wort", Gleichnis und Behelf aller Lehre, zuzeiten als einziges Mittel des Unterrichts kultiviert, ist gewiß nicht nichts, es kann seinen Bildungsbeitrag aber doch immer nur leisten, entweder wenn es selbst Tätigkeit ist, produktiver Ausdruck einer Erfahrung, Situation, eines Wunsches, Willens, Gedankens oder wenn tätige Erfahrung schon die Aufgeschlossenheit für seinen weiter reichenden Sinn geschaffen hat. Ohne Rücksicht auf alles, was herkömmlicherweise (und gewiß nicht ohne Grund) in Schulen gelehrt wurde, sucht Pestalozzi durch Aufzeigung der bildungsfähigen Kräfte der Menschennatur das Apriori aller möglichen Systeme der Bildungsstoffe sicherzustellen. Ohne Rücksicht auf die gerade in seiner Zeit vielgeschäftige Methodengläubigkeit und ihre Kunstgriffe sucht er "ohne Künstelei" den seelischen Entwicklungsgang als Grundlage aller Methoden zu klären. Wird die Menschennatur durch die Beständigkeit ihres Wesens durch alle Schichten von der tierischen zur sittlichen als Einheit erhalten, ist sie in deren drei Grundkräften als deren Gemeinkraft oder mindestens deren Harmonie einheitlich tätig, so ist die Bildung dieser Natur durch den Zusammenhang in der Betätigung der Grundkräfte von den ersten unwillkürlichen, sinnlich anschaulichen bis zu den höchsten abstrakt begrifflichen, wertenden und willkürlich handelnden Akten zu erstreben. So reift die Elementarmethode: einheitliche Entwicklung der seelischen Kräfte nicht von einem fertig vorgegebenen System der Kultur oder einer kinder- und jugendgemäßen Auswahl ihres Überlieferungsbestandes aus, sondern von der Anschauung her, die als solche Ausgang und Fundament auch fertiger Kulturen war, durch die wesentlichen Kategorien und Gesichtspunkte, deren sich der Mensch im Fortschritt von der Anschauung zur Kultur bedient hat und immer wieder bedienen muß, unter denen er eben als geistige und sittliche Potenz seine Auseinandersetzung mit [317] der Welt der Gegebenheiten wirkt, sich und seine Welt gestaltet. Bildung soll nicht einen fertigen Bestand weitergeben, sondern die stete Wiedererzeugung kulturellen Lebens gewährleisten. Dazu ist der Rückgang auf die natürlichen, d. h. eben schlechthin menschlichen Bedürfnisse und Kräfte nötig, die im Laufe der Geschichte zur Entstehung von Wissenschaft, Kunst, Technik, Religion, Sittlichkeit, Recht, Staat in bestimmter, wenn auch immer anderer Gestaltung geführt haben, demgemäß immer wieder führen müssen. Kultur als objektiver Geist und weiterzugebender Besitz ist doch nichts anderes als die ausgestaltete Folge von Fragen, die der Mensch als solcher durch seine Lage genötigt und sein Geist befähigt ist, an die Dinge und das Leben zu stellen, von in ihm selbst liegenden Gesichtspunkten seiner Auseinandersetzung mit der Welt. Wissenschaften sind historisch-methodische Entfaltungen der Urform des Denkens, die "im Chaos der Eindrücke flutende" Gegenstandswelt in ihrer (nach dem jeweiligen Bedürfnis und Zusammenhang wechselnden) "Wesentlichkeit" klar zu erfassen und mit der höchsten Bestimmtheit und Kürze wörtlich darzulegen. Kunst als System (bei Pestalozzi ebenso Handwerk und Technik wie die schönen Künste umfassend) ist die entfaltete Herrschaft über den Bewegungsapparat des Körpers, um diesem den Ausdruck in allerlei Werken zu ermöglichen und den Antrieben des Herzens zu handelnder Verwirklichung zu verhelfen. Staat und Gesetz, Sittlichkeit, Glaube, Religion erwachsen immer neu aus der natürlichen Fähigkeit, "die Ansprüche der tierischen Selbstsucht der Freiheit des Willens und des gereinigten Wohlwollens zu unterwerfen". So muß alle Methode ausgehen von der Selbsttätigkeit angeborener Grundvermögen und ihren im tätigen Leben immer neu gestalteten, in der Geschichte der Kultur material variierten allgemeinsten und formalen Funktionsmöglichkeit, von der Anschauung.
"Es ist für den sittlich, geistig und körperlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich als durch die Erziehung", hat Pestalozzi nach dem Sturz Napoleons geschrieben und den sein Leben in immer anderer Fassung durchziehenden Plan einer Nationalerziehungsanstalt wieder empfohlen. In Verbindung mit Gedanken zum Verfassungs-Volksstaat versucht er noch einmal die Rolle der Menschenbildung auch für den Staatsaufbau zu bestimmen (wie schon in den "Nachforschungen", die als "Dazwischenkunst der Menschennatur zwischen die im Streit stehenden Meinungen von dem bürgerlichen Recht der Menschen" in die Politik der Revolution hatte eingreifen wollen). Er glaubt, jetzt günstigere Umstände für das Verständnis seiner Botschaft in der Schweiz zu finden, nachdem Europa erlebt hatte, daß "Napoleon die Entnatürlichung des gesellschaftlichen Zustandes und seines Mittelpunkts, der Souveränität, auf das äußerste getrieben, indem er das Kind im Mutterleibe als Staatsgut behandelt und es zu aller Schlechtigkeit des Menschendienstes erniedrigt, ehe es die Mutter zur heiligen Höhe des Gottesdienstes und durch diese zur Göttlichkeit des Menschendienstes erheben konnte". Die große geschichtliche Auswirkung Pestalozzis ist unterdessen schon in Deutschland in Fluß geraten und weiterhin über Deutschland erfolgt. Die deutsche Freiheits- und Einigungsbewegung ist durch Pestalozzis pädagogische Ideen wesentlich mitgestaltet worden. Die Volksbildung als Grundlage gesunden Staatslebens, diese Vision Pestalozzis, ist durch die Bauherren des neuen Preußen-Deutschlands eine Selbstverständlichkeit geworden. Kaum einer der großen Führer jener Zeit ist ohne persönliche oder geistige Berührung mit Pestalozzi gewesen; sie fühlten ihn, wie Fichte, Humboldt, Freiherr vom Stein, Nicholovius, Süvern, als Mann gleicher Absicht und Prägung wie sie selbst, sie wurden, wie die Jüngeren, Herbart und Fröbel, schon von ihm mitgeformt, oder sie waren, wie die vielen [319] großen und kleinen Pestalozzianer, die ausdrücklich in seine Schule geschickt wurden, von vornherein entschlossen, die eigene, oft recht bedeutende Persönlichkeit ehrfürchtig hinter die Ziele seines Genies zurückzustellen. "Weckung aller Kräfte", "Hilfe zur Selbsthilfe" und andere Parolen seiner Menschenbildung konnten von den Männern der Wiederaufrichtung eines zusammengebrochenen Volkes und Staates auch als Losungen für ihre Mission verstanden und genutzt werden, wie Stein an Pestalozzis Methode rühmt, "daß sie die Selbsttätigkeit des Geistes erhöhe, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle des Menschen erhöhe, das Leben in der Idee fördere und den Hang zum Leben im Genuß mindere und ihm entgegenwirke". Die unlösliche Gebundenheit des Menschen an das Tier in ihm macht dessen dauernde Zähmung durch den Zwang des Gesetzes als Vorstufe und Bedingung seiner "sittlichen Selbstbestimmung aus Wahrheit und Recht" notwendig, aber die ebenso dauernde Gefährdung der Staatsordnung selbst durch die Ausbrüche des Tieres im einzelnen, in den Massen, bei hoch und niedrig macht die Vertiefung des gesellschaftlichen Zustandes durch die stille Bildungsarbeit unentbehrlich. So wird sie schöpferischer politischer Faktor, wie Pestalozzis politisches Denken am Anfang und am Ende Erziehung war. Der soziale Gedanke in seinem Leben ist der Nährboden für den Nationalhumanismus der deutschen Volksbildung geworden. Wenn er von den Kindern der Armen schreibt: "sie spinnen so eifrig, als kaum ein Taglöhner spinnt, aber ihre Seelen taglöhnern nicht" – so hat er in der Tat das Ziel aufgewiesen, in dem die Menschenbildung alle Berufs- und Standesbildungen sowohl unterbauen wie überwölben, ein Volk einen kann; als sittlich strebende Kraft ist der Gelehrte nicht mehr und nichts anderes als der Ungelehrte, der Knecht nichts anderes und nicht weniger als der Herr, und nur als sittlich strebende Kraft ist der Mensch in der Bildung seiner selbst begriffen. Im Aufschwung Deutschlands zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war diese auf die sittliche Gleichachtung von Mensch zu Mensch gegründete Gemeinsamkeit des Volkes lebendig, durch Pestalozzis Ideen und von seinen Gründungen aus wurden sie immer wieder gestützt von Männern, die unbewußt in seinen Spuren wandelten oder bewußt zu ihm zurückriefen, den Anzeichen der Erschlaffung der erziehenden Kraft eines reich gegliederten und kunstvoll durchdachten Bildungssystems und seinem Mißbrauch entgegengesetzt. Es ist nicht Zufall, daß der nationale Aufbruch der deutschen Gegenwart Pestalozzi als Symbol auch seines pädagogischen Wollens empfindet. Gewiß, Pestalozzis Volksbegriff war ein historisch-psychologischer, ein sozialer, kein biologischer; seine politischen Meinungen haben den Staat nicht als den ersten Schöpfer der Gemeinschaft, sondern als die letzte Entfaltung der Naturform der Familie gesehen, haben die Übertreibungen des kollektivistischen Prinzips durch die Berechtigung besonderer Einzelansprüche und vor allem durch die Unterstellung jeder Gemeinschaft bei der Verwendung des einzelnen für ihre Zwecke unter das sittliche Gewissen beschränkt – aber daß die deutsche Erneuerung eine Tat des Volkes werden müsse, [320] zu der die politische Revolution nur die Möglichkeit schuf, und daß sie diese nur werden kann in einer Wiedergeburt der Erziehung, kann Pestalozzi uns heute mit dem gleichen Recht sagen wie seiner Zeit. Den humanistischen Individualismus unserer klassischen Zeit hat er für seine Person schon überwunden, ihm die soziale Wendung gegeben, von der die pädagogische Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts schließlich gezehrt und gelebt hat. Ein zugleich nationaler und sozialer Humanismus ist die Leitlinie, die wir ihm im Ringen um Aufgabe und Gestaltung der deutschen Bildung der nächsten Zukunft verdanken können. So mannigfaltig seine literarischen Werke, seine praktischen Schöpfungen auch waren, der historische Betrachter nur dieser Einzelheiten wird allzu leicht den Eindruck von Bruchstücken einer großen geistigen Welt erhalten, wenn er nicht die Einzelheiten der Schicksale, Werke, Versuche durch das verbindet, worin Pestalozzi ganz war: die Kraft seiner gläubigen und dienenden Liebe. Pestalozzi war ein evangelischer Mensch, vielleicht nicht im Sinne des Bekenntnisses und seiner Kirchen, aber in Geist und Nachfolge des Neuen Testamentes, der sein Volk als den "Nächsten" empfand, den er lieben müsse, und der seine Liebe dahin verstand, in einer tief durchdachten Erziehung jedem zu der gleichen Freiheit und Würde des Menschen Wege zu bahnen, die er selbst geführt worden war.
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