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[Bd. 2 S. 464]
Karl Freiherr vom Stein, 1757 - 1831, von Hermann Ullmann

Freiherr vom Stein. Gemälde von Johann Christoph Rincklake.
Freiherr vom Stein.
Gemälde von Johann Christoph Rincklake.
[Nach wikipedia.org.]
Steins Bedeutung, die bis vor kurzem noch vielfach in Zusammenhang mit deutschen Geschichtsauffassungen des späteren neunzehnten Jahrhunderts verkannt wurde, liegt einmal in seinem entscheidenden Anteil an dem Befreiungskampf, den Arndt in seinem Aufsatz von 1831 umreißt: "Die Welt muß es nicht vergessen, daß sie dem Freiherrn vom Stein und der Beharrlichkeit des Kaisers Alexander in den Jahren 1812, 13 und 14 den Sturz der napoleonischen Tyranney... am meisten zu danken hat..." Zum zweiten aber gehört Stein zu den stärksten geistigen Gestaltern der Nation in einer ihrer fruchtbarsten Lebenskrisen; seine prophetische Gestalt ragt weit über ihre unmittelbare Wirkung hinaus in die Geschichte und in die Zukunft Deutschlands hinein. Und wenn er als Diplomat und als Staatsmann an vielen Stellen nicht zur abgeschlossenen Leistung gelangte, so darf nicht vergessen werden, daß der Stoff, den er seiner innersten Bestimmung nach zu bilden hatte, nicht die preußische Bevölkerung und nicht einer der vielen deutschen Staaten sein konnte, sondern nur: Deutschland, wie er es sah und wie es noch nicht in der Wirklichkeit bestehen konnte.

Gerade dieses eigentümlich Schöpferische, das in die üblichen staatsmännischen und politischen Formen nicht hineinpaßt, gibt ihm zugleich das urbildlich deutsche Gepräge. Alle großen Deutschen waren "Fragmentisten" in diesem Sinne. Ihrer aller Leben ragte so hoch in die Idee hinein und suchte sich zugleich so tief in die Wirklichkeit zu verwurzeln, daß überall die Leistung vom Entwurf, von der Forderung, der Aufgabe überschattet wurde und die letzte Form, die Vollendung, die Abrundung ins Diesseitige, die Geborgenheit vor dem Chaotisch-Unendlichen versagt blieb.

Die Unendlichkeit der Aufgabe aber, die in diesen typisch deutschen Lebenswerken gestellt wird, bedeutet das ewig Lebendige an ihnen, das immer wieder Weckende und Fruchtbare. Da diese Männer bis an die Grenze des geschichtlich Erfüllbaren vordrangen, unablässig mit den ewigen Problemen von Staat und Individuum, Gemeinschaft und Persönlichkeit im deutschen Bereich ringend, so ist ihr Wirken und ihr Kampf heute noch so frisch wie zu ihren Lebzeiten. Vor allem bei Stein fühlen wir in jedem Einzelzuge, in jeder Teilnahme an den gewaltigen Entscheidungen seiner Zeit die ungeheure Konzentration auf wesentlich deutsche Lebensfragen. Wo immer er anfaßte, hatte er ein wesentliches Stück deutschen Schicksals in der Hand.

[465] Völlig aus der Anschauung und aus dem Leben heraus entfalteten sich in seinem Denken und Wirken die großen Antinomien der deutschen Staatlichkeit und des deutschen Volkes. Aus dem Biographischen wächst das allgemein Gültige dieses Wirkens.


Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, geboren am 26. Oktober 1757, entstammte einem alten Reichsrittergeschlecht, dessen Stammburg in Nassau an der Lahn seit 1235 ohne Unterbrechung vom Vater auf den Sohn gekommen war. Auf einen Ahnen, den Trierer Domherrn Ludwig vom Stein, der, protestantisch geworden, während des Dreißigjährigen Krieges zehn Jahre in der Verbannung umherirrte, wies Stein später hin, da er selbst geächtet war. Sein Vater Karl Philipp galt als "wahres Urbild eines Mannes von Ehre, Rechtschaffenheit und Wohlwollen". Die Mutter, eine geborene Langwerth-Simmern, hat auf die geistige Entwicklung ihres dritten Sohnes den allerstärksten Einfluß ausgeübt. Ihre Briefe an seinen Erzieher zeugen von außergewöhnlicher Bildung und feinem Verständnis für alle geistigen Strömungen der Zeit. Stein schrieb selbst einmal die Worte: "Jede Abweichung von ihrem segensreichen Beispiel war für mich ein Schritt zum Verderben und eine Quelle bitterer Reue." Seine tiefe, gläubige Frömmigkeit hat er vor allem ihr zu danken.

Steins Geburtshaus, das Schloß in Nassau an der Lahn.
[464b]      Steins Geburtshaus, das Schloß in Nassau an der Lahn,
erbaut 1621, im Besitz der Reichsfreiherrn vom Stein.

[Bildquelle: Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Marburg.]

Diese seine Abstammung aus der alten Reichsritterschaft war der Urgrund, auf dem sich seine Staatsanschauung aufbaute. Zwar war das Reich als politische Macht nicht mehr lebendig, es wirkte nur noch in einer überalterten und schwerfälligen Bürokratie fort, von der sich Stein nach kurzen Lehrjahren abwandte. Aber es bedeutete doch noch eine geistige und seelische Kraft. "Immer noch verband sich in Millionen deutscher Seelen mit dem Reich die Idee des Vaterlandes und des Rechts, noch galt ihnen das Reich als Staat, der Kaiser als der Inbegriff aller in der obersten Staatsgewalt liegenden Rechte, noch umschloß das Heilige Römische Reich den hauptsächlichen Lebensraum der altdeutschen und der älteren kolonialen Siedlungen in einem staatsrechtlichen Bund, noch gliederte es durch seine Verklammerung in staatsrechtlich fremde Gebiete auch das jüngere koloniale Deutschtum der deutschbestimmten, mitteleuropäischen Raumeinheit ein und war durch westliche und östliche Außenwerke gedeckt. Und noch bewahrte die alte Krone den Goldglanz alter Vergangenheit in den Augen vieler Tausende." In Stein wurde diese Reichsüberlieferung im Ringen mit den starr gewordenen Formen des preußischen Staates und im Kampfe mit Napoleon "zur gesamtdeutschen Tat". In ihm verband sich zum letztenmal für ein Jahrhundert der rückwärts gewandte Blick auf das im Reich vereinte Volk mit der Zukunftsschau auf das staatliche Ringen des 19. Jahrhunderts. Wenn er mit dem Herzog von Nassau-Usingen um seinen ererbten Besitz rechtete, so wuchs er zum Vorkämpfer der Reichseinheit gegen die Territorialfürsten empor, [466] in denen er die Zerstörer des Reiches sah und die im Kampf gegen Frankreich versagten. Und schon 1804, in dem berühmten Briefe an jenen kleinen Usurpator seines Besitzes, hieß es: "Sollen diese für die Nation so wohltätigen großen Zwecke (Deutschlands Unabhängigkeit und Selbständigkeit) erreicht werden, so müssen diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchien, von deren Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt (Preußen und Österreich), vereinigt werden." So war er ein Letzter und ein Erster zugleich. Dem gesamten Zeitraum nach ihm bis in die jüngste Zeit fehlte die Gesamtanschauung vom deutschen Volke.


Jugendbildnis von Karl Freiherr vom Stein, um 1778.
Jugendbildnis von
Karl Freiherr vom Stein, um 1778.

Miniatur von unbekanntem Künstler.
[Nach freiherr-vom-stein-gesellschaft.de.]
Die Söhne des Reichsadels bevorzugten die Universität Göttingen, der Karl Friedrich Moser "Unabhängigkeit von den Landesfürsten" nachrühmte. In Hannover bot sich in der Tat eine der freiesten Gelegenheiten im damaligen Deutschland, mit den geistigen Strömungen der Zeit in Berührung zu kommen. Die beiden Hannoveraner Rehberg und Brandes und die zum Teil durch sie vermittelten englischen Eindrücke wurden für Steins Entwicklung wesentlich. Nachdem er ernsthaft Rechtswissenschaft studiert hatte, ging er zum Reichskammergericht in Wetzlar, nach Mainz, später nach Regensburg und endlich nach Wien zum Reichshofrat. Wir wissen über diese Zeit sehr wenig, auch die große Ausgabe seiner Briefe gibt keinen rechten Aufschluß. Auf einen Wetzlarer Brief an seinen Freund, den Grafen Reden, der die ganze Kümmerlichkeit der Reichsbürokratie schildert, folgte unmittelbar das Gesuch seiner Mutter an Friedrich den Großen um die Einstellung ihres Sohnes in den preußischen Staatsdienst. Die innere Krise, die offenbar vorangegangen war, endete damit, daß der westdeutsche Reichsfreiherr, wie so viele große Nichtpreußen in jener Zeit, die Wirkungsstätte suchte und fand, die er instinktiv als Ansatz zu künftiger deutscher Großstaatbildung erkannte: Preußen. Und die Überzeugung, "daß Deutschlands Veredlung und Kultur fest und unzertrennlich an das Glück der preußischen Monarchie gekettet sei", hat ihn auch in den tiefsten Niederungen der preußischen Ohnmacht nicht verlassen.

Ein Vierteljahrhundert blieb er preußischer Verwaltungsfachmann. Wieder trat Steins innerste Anlage hervor: von der unmittelbaren Anschauung schreitet er zum Ganzen fort. Mit unermüdlichem Fleiß bändigt er seine Ungeduld und vertieft sich in die Einzelheiten des Berg- und Hüttenwesens, mit dem er begann. Wie so viele Große der deutschen Geschichte reifte er in einer ihn oft drückenden Einsamkeit. Nach vier Jahren wird er mit der Leitung des gesamten Bergwesens in den westlichen preußischen Provinzen betraut, und die Aufgabe ist ihm so gemäß, daß er eine 1785 ihm zwischendurch zugewiesene diplomatische Aufgabe – den Mainzer Hof von Österreich abzusprengen und für den deutschen Fürstenbund Friedrichs II. zu gewinnen – möglichst eilig erledigte. Vielleicht empfand [467] er auch den inneren Widerspruch dieses Auftrages, der ihn, den letzten großen Anwalt des Reichsgedankens, zwang, an entscheidender Stelle gegen die Reichspolitik Josefs II. zu wirken. 1793 wird er Kammerpräsident in Westfalen. Im gleichen Jahre heiratet er die Gräfin Wilhelmine von Wallmoden, die aus dem hannoverschen englischen Hochadel stammte. Diese Ehe gewann ihren höchsten und bedeutsamsten Inhalt erst in den Jahren der Verbannung, in denen Stein seiner Frau "Würde und Seelenadel" dankbar nachrühmt.

In Westfalen erlebt Stein die Reste altgermanischer Selbstverwaltung, die für ihn nicht nur ein lebendiges Stück deutscher Vergangenheit, sondern einen wesentlichen Baustein der Zukunft bedeuteten. Die Rettung und die Reform dieser westdeutschen Selbstverwaltung lag ihm am Herzen, und er verteidigte sie gegen den ostdeutschen Zentralismus. Man hat Stein später von reaktionärer Seite her oft vorgeworfen, daß er westliche Einrichtungen auf den Osten übertragen habe. Man denke sich aus der späteren preußischen Entwicklung diese große Leistung Steins fort, und es wird sofort klar, daß Preußen niemals zu seiner gesamtdeutschen Aufgabe fähig geworden wäre, wenn es nicht die starren Formen seiner ostdeutsch-territorial-staatlichen Vergangenheit überwunden hätte. Steins große westfälische Lehre ist eine Gnade für die gesamtdeutsche Entwicklung geworden.

Die westfälischen Erfahrungen werden für Stein um so bedeutsamer, als sie sich von dem Hintergrund der gewaltigen französischen Entwicklung abhoben, die Stein mit wachsender Kritik verfolgte. Hatte der junge Stein anfangs nicht ohne Ergriffenheit die Revolution verfolgt, so war er sich doch bald der unüberbrückbaren Kluft bewußt geworden, die Deutschland vom Westen geistig und seelisch trennte. Scharf setzte er sich mit den Ideen von 1789 auseinander, ihm ging es nicht um "die" Freiheit, sondern um die Freiheiten, nicht um eine abstrakte Befreiung des Individuums, sondern um das freie Spiel der Gemeinschaftskräfte gegenüber einem ertötenden Zentralismus.

Der Baseler Frieden von 1795 hat seinen Glauben an Preußen wie den so vieler Zeitgenossen schwer erschüttert. Er nannte ihn "treulose Preisgabe Deutschlands" ("l'abandon perfide d'Allemagne"). Seine Kritik wurde immer bitterer: "Unser Staat hört auf, ein militärischer Staat zu sein, und verwandelt sich in einen exerzierenden und schreibenden" (1799). Aber vor dem Zusammenbruch wurde Stein noch dazu bestellt, an der Überleitung von Münster und Paderborn, der neuen katholischen Gebiete, in den preußischen Staat mitzuwirken. So war es ihm beschieden, auch diese innere Spannung des deutschen Schicksals, die konfessionelle, als Protestant und preußischer Beamter schöpferisch zu überwinden. Er hatte als Oberpräsident in Münster und als Regent der beiden alten westfälischen Bistümer die bodenständigste Form des deutschen Katholizismus kennengelernt, und seine feinfühlige Hand ist in der Behandlung der alten kirchlichen Rechte und ihrer Eingliederung in die neuen staatlichen Notwendigkeiten [468] sehr glücklich gewesen – soweit er sich gegen Berlin durchsetzen konnte. Er übte dabei eine Toleranz, die nichts mit Aufklärung zu tun hatte. Es ist, als reichte sein Glaube noch hinab in jene mittelalterlichen vorreformatorischen Tiefen, die vor der großen Entzweiung lagen.

So wuchs in diesen zwanzig westfälischen Jahren aus den stärksten Spannungen der damaligen deutschen Lage, die sich in ihm aus seiner Herkunft und in seinem Leben und Wirken vereinigten, ganz organisch ein lebendiges Staatsbild, das er der Französischen Revolution und der schon damals leidenschaftlich empfundenen, aus dem Westen drohenden Gefahr entgegensetzte. Er war schon ein Fünfziger, als ihn das Schicksal an den Platz stellte, an dem er dieses Staatsbild in der Wirklichkeit erproben sollte.


Am 27. Oktober 1804 wurde Stein zum Minister für Steuer-, Zoll-, Handels- und Industriefragen berufen. Damit wurde er Mitglied eben jener Zentralbürokratie, deren Reformbedürftigkeit er seit langem erkannt hatte. Aber erst 1806, ein halbes Jahr vor Jena, verfaßte er jene kühne Denkschrift, die nie an den König gelangt ist. Stein war es nicht beschieden, mit den Mitteln des geschmeidigen Hardenberg auf den schwachen Monarchen einzuwirken; Sprache und Inhalt jener Denkschrift, die Beseitigung der alten Kabinettsregierung und ein "der Nation" verantwortliches Ministerium verlangte, wären vom König nicht verstanden worden. Die patriotische Opposition fand freilich in Stein ihren Führer.

Nach dem 14. Oktober 1806 klammerten sich König und Hof an ihn. Er hatte die königliche Kasse und damit die Mittel zur Fortführung des Krieges nach Königsberg gerettet. Sein Widerstandswille machte die vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen Napoleons hinfällig. Aber die beiden Naturen, die des entschlußlosen Königs und die des gewaltigen Mannes, dem Preußen nicht Selbstzweck war, waren zu verschieden. Intriganten schoben sich dazwischen, und Stein wurde schließlich in dem berüchtigten Handschreiben vom 3. Januar 1807 wie ein Schuljunge abgekanzelt und fortgejagt. Er, der als Nichtpreuße einem immer wieder enttäuschenden Herrscher die schwersten Opfer gebracht hatte, mußte den Vorwurf anhören, er handele "auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Capricen geleitet, aus Leidenschaft, persönlichem Haß und Erbitterung". Stein empfing den Brief in dem Augenblick, in dem er, selbst schwer krank und ein todkrankes Kind zurücklassend, dem Hof nach Memel folgen wollte. Preußen und sein König waren noch nicht reif, die leidenschaftliche Ungeduld eines Mannes zu ertragen, dem es um Deutschland ging.

[469] Die unfreiwillige Muße in Nassau brachte eine kostbare Frucht: die Denkschrift von 1807. Sie geht aus von konkreten Einzelfragen der Verwaltung und steigt auf zu jenem gewaltigen Programm, das wohl das getreueste Idealbild dessen bietet, was Stein für Preußen plante. Von dem Schwager des Prinzen Louis Ferdinand veranlaßt, unter dem nüchternen Titel: "Über die zweckmäßige Bildung der Obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizey-Behörden in der Preußischen Monarchie" entfaltete sie sich zu einer großartigen Darstellung seiner Lieblingsgedanken. Im Vordergrund stehen ihm die ständischen Einrichtungen. Ihre Aufgabe ist: "Die Regierung durch die Kenntnisse und das Ansehen aller gebildeten Klassen zu verstärken, sie alle durch Überzeugung, Teilnahme und Mitwirkung bei den Nationalangelegenheiten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine freie Tätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben..." Das Ziel: "Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinnes, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre."

Ein völlig neuer Gedanke tritt hier in den auf unmittelbare Verwirklichung gerichteten Plänen eines Staatsmannes hervor: der Gedanke der deutschen Nation. Er wird einem Deutschland, das in Territorialstaaten zerfallen und nur noch in einer unpolitischen Kultur- und Bildungsgemeinschaft zusammengefaßt ist und nur eine erblaßte Erinnerung an das Reich in sich trägt, als neue Kraft entgegengestellt, als die wesentliche Kraft im Kampfe gegen den fremden Eroberer. Das alte Preußen war zusammengebrochen, weil es sich nicht auf ein lebendiges Volk, sondern nur noch auf eine formalistische Militär- und Zivilbürokratie gestützt hatte. Sollte es wieder auferstehen, so mußte es von Grund auf neu geschaffen werden. Aber Preußen allein konnte sich nicht erheben, sondern nur in der Front eines sich selbst neu gestaltenden deutschen Gesamtvolkes. Und tatsächlich ist ja Preußen nicht etwa von einem nur preußischen, sondern von einem gesamtdeutschen Nationalethos gerettet worden.

Die Nassauer Denkschrift beruft sich zwar auf englische Vorbilder, ist aber ganz aus der unmittelbaren Anschauung deutschen Wesens und deutscher Einrichtungen erwachsen. Hier wurden zum erstenmal die Grundsätze des modernen Städtewesens niedergelegt. Der Magistrat soll von der mit Häusern und Eigentum angesessenen Bürgerschaft selbst gewählt, nicht etwa von der landesfürstlichen Bürokratie eingesetzt werden. Ähnliche Einrichtungen dachte sich Stein für die Kommunalverbände, für Kreise und Provinzen.

Mitten in der stillen Nassauer Arbeit wurde Stein von einem Angebot Kaiser Alexanders erreicht, der ihm eine ehrenvolle Stellung in Rußland anbot. Ehe er sich noch dafür entscheiden konnte, wurde er von Hardenberg, der auf Befehl Napoleons zurücktreten mußte, dem König als Nachfolger und Premierminister vorgeschlagen.

[470] Preußen war nach dem Frieden von Tilsit in seine "tiefste Erniedrigung" gesunken, der König war, seines Beraters Hardenberg beraubt, hilflos. Die Führung drohte ganz in die Hände jener "Erfüllungspolitiker" zu gleiten, die von dem Grafen Kalckreuth geführt wurden und die das Heil in einer völligen Unterwerfung unter Frankreich sahen. Stein war die letzte Hoffnung aller Patrioten.

Er wirft alle Bedenken und alle bitteren Erfahrungen hinter sich. Am 1. Oktober 1807 übernimmt er die Leitung sämtlicher Zivilangelegenheiten des preußischen Staates. In den kurzen Monaten, die ihm zur Verfügung standen und die überdies durch außenpolitische Verhandlungen und durch schwere staatsfinanzielle Sorgen eingeengt waren, beginnt er, von Ostpreußen, der letzten dem König verbliebenen Provinz, aus die große preußische Staatsreform ins Werk zu setzen, auf der nicht nur das preußische, sondern das gesamte deutsche öffentliche Leben aufgebaut wurde. Weniger geschlossen als die Städteordnung ist das Werk der Bauernbefreiung und der ländlichen Justizreform gediehen. Hier wurde er mitten im Werk gestört. Aber die Weiterentwicklung des bäuerlichen Lebens in Preußen und Deutschland ist ohne den Anstoß, den Stein gab, nicht denkbar.

Es handelte sich nicht um eine "Reform" im üblichen Sinne, sondern gegenüber den bestehenden Verhältnissen um eine Revolution. Die ökonomischen und moralisierenden Begründungen, die er in seinen Denkschriften vorbringt, sind vielfach zu wichtig genommen worden. Der Steinsche Selbstverwaltungsgedanke ist nicht an fremden Maßstäben zu messen und auch nicht etwa zu umschreiben mit dem liberal-konservativen Widerspiel der englischen Einrichtungen oder mit dem Gedankengut der Französischen Revolution. Die Steinschen Reformen waren vielmehr Neuschöpfungen von der Wurzel her. Und wenn sich auch verschiedene Elemente in seinem Denken mischten, so der mittelalterliche Gedanke des gerechten Kaisertums mit den scheinbar aufklärerischen Zielen der Nassauer Denkschrift, so nimmt doch gerade dieses rationalistisch formulierte Erziehungsideal sofort eine Wendung ins Staatlich-Konkrete und Kämpferische, wenn er in der Denkschrift über die Aufgaben des Unterrichtswesens in Österreich (1810) fordert: "Die Erziehung muß dahin wirken, daß der Mensch nicht allein mechanische Fähigkeiten und einen Umfang von Wissen erlangt, sondern daß der staatsbürgerliche und kriegerische Geist in der Nation erweckt werde." Und in den Lebenserinnerungen heißt es: "Man ging von der Hauptidee aus, den sittlichen, religiösen, vaterländischen Geist in der Nation zu heben, ihr wieder Mut, Selbstvertrauen, Bereitwilligkeit zu jedem Opfer für die Unabhängigkeit von Fremden und für Nationalehre einzuflößen und die erste günstige Gelegenheit zu ergreifen, den blutigen, wagnisvollen Kampf für beides zu beginnen." Es war ihm um die Mobilisierung der Nation zu tun.


[471] Mitten in dieses gewaltige Schaffen griff der Arm des Eroberers, der in Stein mit Recht seinen gefährlichsten Gegner witterte. Ein abgefangener Brief wurde zum Vorwand genommen, um die Ächtung über ihn auszusprechen. Es ist kein Zweifel, daß Treibereien von Feinden und Gegnern am Berliner Hof zu dieser Maßnahme beigetragen haben. Der König wollte seinen Minister zunächst nicht opfern, und Stein mußte dreimal seinen Abschied erbitten. Zum Schluß verstanden es die Gegner der Steinschen Reformen, sogar die Königin Luise gegen ihn einzunehmen, die ihm verdachte, daß er gegen die Reise des Königspaares nach Petersburg aufgetreten war. Mit Steins Entlassung wurde die ganze Reformpartei lahmgelegt. Stein mußte nach Böhmen fliehen, und es begannen nun jene drei Jahre der Verbannung, deren Zeugnisse kein Deutscher ohne Ehrfurcht auf sich wirken lassen kann.

Die Briefe aus Prag, Brünn und Trautenau geben wohl den tiefsten Einblick in die wesentlichsten Kräfte dieser heroischen Natur. Der Mann, an den Gneisenau schrieb: "Sie gehören nun der Geschichte an", von dem Gentz erklärte: "Alle die, welche noch wissen, auf welchem Wege Heil und Rettung zu finden wären, verehren in Ew. Exzellentz den Patriarchen, das Oberhaupt ihrer Kirche", dieser selbe Mann steigt in die Tiefen der Sorge hinab, seine Güter sind beschlagnahmt, sein und seiner Familie äußeres Schicksal vollkommen unsicher. Aber sein Glaube bleibt unerschüttert. "Es kommt nur darauf an, unter den Menschen Geist und Kraft zu erhalten, damit, wenn die eiserne Faust, die alles in diesem kataleptischen Zustand erhält, erschlafft oder erstirbt, das Bessere und Edlere wieder aufleben, und dieses Stärken der heiligen und größeren Gefühle kann jeder Gute in seinem Zirkel."

So war er denn auch in diesen Jahren der peinvollen Untätigkeit nicht unwirksam. Ein Unbekannter schrieb ihm: "Ihnen verdanke ich das Schönste, was diese Zeit geben kann, den Anblick eines standhaften, edlen, deutschen Willens." Mit gewaltigem Zorn wandte er sich gegen die reaktionären kurmärkischen Stände: "Diese Menschen verdienen, mit Skorpionen gezüchtigt zu werden, da sie durch alle ihre Erfahrungen in nichts geheilt, gebessert usw. sind, die Absicht der Herren geht dahin, das Resultat ihrer Verschwendung, ihrer Feigheit auf den Staat zu werfen und von sich abzuwälzen." Aber nie war er trotz allem verbittert, und mit der ganzen ungebrochenen Kraft seines politischen Willens griff er zu, als ihn der Zar an den russischen Hof rief. Jetzt erst, im Zweikampf mit Napoleon, wuchs Stein zu seiner ganzen Größe empor. Zwei Tage, nachdem Napoleon von Dresden aus nach Rußland gegangen war, am 26. Mai 1812 reiste Stein an den Zarenhof.

Wieder war seine Tätigkeit nicht ohne Hemmungen und Enttäuschungen, wieder hatte er mit der Reaktion die schwersten Kämpfe zu bestehen, und aus dieser Zeit stammen seine schärfsten Äußerungen über die Fürsten. Stein mußte namentlich nach der Schlacht von Borodino täglich und stündlich mit einer zunehmenden Friedenspartei ringen. Seine Stellung war durchaus nicht fest und gesichert, [472] um so bewundernswerter seine unerschütterliche Festigkeit. Wir haben über diese Zeit höchst lebendige Zeugnisse von seinem treuesten Mitarbeiter Ernst Moritz Arndt, der selbst in diesen Monaten des Umganges mit Stein zur höchsten Vollendung seiner Ausdruckskraft emporwuchs, auch er ein "Reichsunmittelbarer", der seine Kraft für Preußen und durch Preußen für Deutschland einsetzte. Nach dem französischen Zusammenbruch in Rußland forderte Stein den Zaren auf, Napoleon nach Deutschland hinein zu verfolgen und der "Befreier Europas" zu werden. Stein selbst eilte nach Ostpreußen zu Yorck. Aber in Königsberg hatte er wieder die volle Tragik seiner Einsamkeit zu ertragen. Er wurde mit Mißtrauen als "russischer Beamter" empfangen und trat deshalb, ohne Bitterkeit, ganz nur im Dienste der großen Stunde, in den Hintergrund. Man hat so oft seinen Mangel an Willen zur Macht und an Fähigkeit, sich diplomatisch zu behaupten, gerügt. War es nicht ein Geschenk des Schicksals, daß in diesen entscheidenden Lagen ein Mann vorhanden war und wirkte, der nur das Ganze, nur das künftige Deutschland sah? Entscheidend blieb: die ostpreußischen Stände beschlossen die Bildung einer Landwehr nach einem Entwurf von Clausewitz, den Stein vorschlug, und so wurde der erste Grundstein zu Scharnhorsts großem Werke gelegt.

Aber wiederum wurde Steins leidenschaftliche Ungeduld auf eine harte Probe gestellt. Wieder zögerte der König, und erst das Eingreifen Steins, der sich vom Zaren selbst nach Breslau senden ließ, brachte die Verhandlungen und den russischen Bündnisvertrag am 27. Februar 1813 zum Abschluß. Stein selbst erkrankte schwer und lag wochenlang einsam in einem dürftigen Gasthaus. Der König grollte dem Mann, der ihn in diesen Kampf gestoßen hatte, und die Höflinge wichen ihm aus. Dafür freilich bekannten sich Männer wie Blücher und Scharnhorst zu ihm. Und die Erfüllung reifte.

Am 19. März 1813 wurde ein Verwaltungsrat für die besetzten Gebiete geschaffen, dem Stein angehörte, freilich nur als russischer Bevollmächtigter, noch immer "peregrinus in patria". Er verstand, die widerstrebenden Fürsten niederzuringen, die auseinanderstrebenden Verbündeten immer wieder zusammenzuhalten. An wenigen Stellen der deutschen Geschichte ist der Gegensatz zwischen dem heroischen Kampf der wenigen Großen und dem kleinlichen Widerstand der Vielzuvielen so düster hervorgetreten wie in den Befreiungskriegen. Während der besondere Haß Napoleons Stein auszeichnete, mußte dieser sich in den kleinlichsten Streitereien um Sachsen und Thüringen herumschlagen. An der Vorbereitung der Entscheidung von Leipzig hatte er, freilich wieder meist im Hintergrunde, entscheidenden Anteil. Nach der Schlacht von Leipzig wurde er mit der zentralen Verwaltung der eroberten und noch zu erobernden Gebiete betraut. Aber wieder folgte man seinem Rat nicht völlig; man löste den Rheinbund wohl auf, beließ aber die Fürsten in ihren Besitztümern.

Trotzdem harrte Stein aus. Er mußte wieder einen verfrühten Frieden verhindern. In dieser Zeit war es, daß Offiziere der verbündeten Heere bei einem [473] Staatsrechtler anfragten, ob es nach Gesetz und Recht möglich sei, Stein zum deutschen Kaiser zu wählen.

Mitten im Siegesjubel bewegten ihn die schwersten Sorgen um Deutschlands Gestalt. Die an den Zaren gerichtete Denkschrift vom 18. August 1813 gibt Zeugnis von seiner Auseinandersetzung mit dem Problem des deutschen Dualismus. Von da an waren alle seine Entwürfe ein tragischer Kampf mit dieser deutschen Schicksalsfrage, die noch das ganze neunzehnte Jahrhundert ausfüllen sollte. Sein Geist, der alle deutschen Fragen in sich trug, gelangte immer wieder an die Grenze, wo der Mangel einer letzten gestaltenden Autorität sichtbar wurde, einer Autorität, die die kleinen Dynastien überflüssig zu machen vermöchte. Und es ist, als sei er auf oft geradezu künstlichen Wegen dem Mittel ausgewichen, mit dem dann Bismarck doch noch die deutsche Einigung erzwingen mußte: dem Mittel der Dynastien. Oft ist es, als hätte er all die lebensgefährlichen deutschen Schwierigkeiten vorausgeahnt, die gerade von diesem seinem Ursprung her einmal einem von den Dynastien, nicht vom Volke her geschaffenen "Deutschen Reich" erwachsen sollten. Er wollte den Staat von der Nation aus aufbauen. Er wollte ein starkes, einiges Deutschland in der Mitte Europas. Wilhelm von Humboldt hat in seiner an Stein gerichteten Denkschrift vom Dezember 1813 dieses Ziel scharf umrissen: "Deutschland muß frei und stark sein, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt würde, notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nachzugehen und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behalten zu können."

Oder wie Stein es selbst in seinem berühmten Brief an den Grafen Münster zusammenfaßt: "Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland, und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Teil desselben angehöre, so bin ich auch nur ihm und nicht nur einem Teil desselben von ganzem Herzen ergeben. Mir sind die Dynastien in diesem Augenblick großer Entwicklung vollkommen gleichgültig, es sind bloß Werkzeuge. Mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und stark werde, um seine Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Nationalität wiederzuerlangen und beides in seiner Lage zwischen Frankreich und Rußland zu behaupten. Das ist das Interesse der Nation und ganz Europas."

Aber dieses Ziel wäre nur zu erreichen gewesen aus Deutschlands eigenen Kräften. Keine der möglichen Lösungen konnte auf den Beifall aller Verbündeten rechnen, im Gegenteil: "Rußland und Deutschland wollen, daß wir verwundbar bleiben", sagte Stein nach einer Unterredung mit dem Zaren in der Zeit des zweiten Pariser Friedens. Der erste Pariser Frieden hatte nur einige allgemeine Wendungen über die zukünftige Gestalt Deutschlands enthalten. Am Wiener Kongreß hatte Stein fast nur an der Peripherie teilgenommen, und er hätte ihn angewidert vor seiner Beendigung verlassen, wenn nicht Napoleon aus Elba zurückgekehrt wäre.

[474] Erst nach langer Winterstarre sollte die Saat der großen Taten von 1813 aufgehen, zunächst schienen die Völker nur für die Fürsten geblutet zu haben. Nicht Stein, der das Volk in entscheidenden Stunden über sich selbst und seine eigene Kraft hinausgerissen hatte, wurde der Gestalter der nächsten Jahrzehnte, sondern Metternich, der die europäische Wirklichkeit mit ihren dynastischen Mächten verkörperte, wie sie nach dem die Völker erschöpfenden Ringen und nach der Überwindung der gestaltenden Not wieder hervortrat.


Bleistiftzeichnung von Friedrich Olivier, 1821.
Karl Freiherr vom und zum Stein.
Bleistiftzeichnung von Friedrich Olivier, 1821.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 230.]

Bleistiftzeichnung von Julius Schnorr von Carolsfeld, 1822.
[464a]      Karl Freiherr vom und zum Stein.
Bleistiftzeichnung von Julius Schnorr von Carolsfeld, 1822.
Nach dem zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 blieb Stein Privatmann. Sowohl Preußen wie Österreich wollten ihn als Bundestagsgesandten haben, er lehnte ab. Achtundfünfzigjährig zog er sich auf das Gut Kappenberg in Westfalen zurück, kehrte er zu den vertrauten Stätten seiner jungen Mannesjahre heim. 1826 wurde er Landtagsmarschall von Westfalen. Regsten Anteil nahm er an den innerpolitischen Problemen Preußens, namentlich an agrarpolitischen Fragen und an dem Aufbau der provinzialen Selbstverwaltung. Gerade die Briefe und Aufzeichnungen aus jener Zeit erschließen den Kern seines politischen Denkens. Das Tiefste seiner Pläne, das sich in dem kurzen Reformjahr 1808 nicht hatte durchsetzen und ausreifen können, drängt sich jetzt in einer Spätblüte ans Tageslicht. Daneben vollzieht sich eine immer lebendige und kritische Auseinandersetzung mit der neuen Zeit; sein großer Lebenskampf gegen zwei Fronten wird, als gewaltiges Vorbild ihn und auch das Reich Bismarcks überragend, in diesen Zeugnissen lebendig, deren politischer Gehalt noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Gegen Liberalismus und Reaktion hat er zeitlebens gerungen, gegen den reaktionären Absolutismus ebenso wie gegen den Rationalismus der Französischen Revolution und ihrer geistigen Gefolgschaft in Deutschland. Es war nicht der Abstand des einsamen Alters von dem Feuer der Jugend, wenn er eine falsche Auffassung seiner Reformen in seinen "Lebenserinnerungen" berichtigte: "Es war der Neuerungssucht des Staatskanzlers Hardenberg vorbehalten, die Verhältnisse des Gutsherrn zum Bauernstand und dessen innere Familienverhältnisse auf eine verderbliche Art Anno 1811 umzuwälzen. Daran habe ich keinen Anteil." Nicht um zu lockern, hatte er Freiheit gegeben, sondern um kräftiger zusammenzufassen. Er wollte eine Repräsentation nach Ständen, nicht nach "arithmetischer Zerstücklung einer in einen großen Teig, in eine chemische Flüssigkeit atomweise aufgelösten Nation". Und wenn er 1831, kurz vor seinem Tode, in einem Briefe an Gneisenau die Bildung von Reichsständen mit Ungestüm forderte, so wollte er doch nicht "den Ständen das Recht der Verweigerung des Budgets einräumen". "Das ganze Staatsgebäude umzustürzen, dazu ist niemand, er sei Fürst oder Parlament, befugt." Hier wird jener Kampf gegen zwei Fronten deutlich: "Wir leben in einer Zeit des Überganges, wir müssen also das Alte nicht zerstören, sondern es zeitgemäß abändern und uns sowohl den demokratischen Phantasten wie den gemieteten Verteidigern der fürstlichen Willkür widersetzen." "Verfassungen bilden, heißt bei einem alten Volk wie dem deutschen... nicht [475] sie aus Nichts erschaffen, sondern den vorhandenen Zustand der Dinge untersuchen, um eine Regel aufzufinden, die ihn ordnet; und allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann man ihm eine Zukunft versichern und vermeiden, daß die zu bildende Institution nicht eine abenteuerliche Erscheinung werde, ohne eine Bürgschaft ihrer Dauer zu haben, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft."

Mit diesem großen, aus der unmittelbaren Anschauung und dem Erlebnis geborenen Urbild und Zukunftsentwurf im Herzen lebt er über die Jahre der Karlsbader Beschlüsse und der Verfolgung seines Freundes Arndt, selbst vor Verdächtigungen nicht geschützt, hinweg, und es ist, als ob sein Alter von jener tiefsten Weisheit der Geschichte verklärt wäre, die so große Gedanken wie die seinen zwar erst jenseits einer dem Leben des Einzelnen vergönnten Zeitspanne reifen, aber nie untergehen läßt. Trost und Stärkung schöpft er nach alter Gewohnheit aus der Geschichte. "Sanctus amor patriae dat animum", dieser Wahlspruch, der

Karl Freiherr vom und zum Stein. Gipsbüste.
Karl Freiherr vom und zum Stein.
Gipsbüste von Hermann Schievelbein (?).
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 229.]
über seinem Leben stehen könnte, leitet den ersten Band der von ihm gegründeten "Monumenta Germaniae historica" ein, der im Jahre 1826 erschienen ist. Seit seine Gattin gestorben war, wird es immer einsamer um ihn. "Ich gestehe, ich wünsche meinen Heimgang, und mich zu ihm vorzubereiten, ist mein ernstes, wichtigstes Geschäft." So schreibt er kurz vor seinem Tode, der ihn am 29. Juni 1831 abberuft.

Über ihn hinaus wirken seine Taten wie sein geistiges Erbe. In seinem kühnen Vordringen über die ewig unpolitischen Anlagen des deutschen Volkes hinaus zum großen politischen Erlebnis ist er einsam den Weg Deutschlands vorausgegangen. Unter seiner Führung wurde das deutsche Volk das erstemal, wenn auch nur für einen visionären Augenblick schwerster Lebensnot, eine politische Nation. In seinem Staatsbild vollzog sich die Geburt der politischen Nation und damit auch der künftigen deutschen Staatlichkeit in der Mitte Europas. In jenem Staatsbild sehen wir Heutigen uns zum Unterschied von jenen Generationen im Bismarck-Reich, die "saturiert" waren, noch als werdende Nation. Das, was Stein sah, liegt nicht hinter uns, sondern – den Schluß des Schicksals vorbehalten – vor uns.




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Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Königin Luise von Preußen Königin Luise von Preußen Königin Luise von Preußen





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz