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[Bd. 2 S. 635]
Carl von Clausewitz, 1780 - 1831, von Paul Schmitthenner

Carl von Clausewitz.
[624b]      Carl von Clausewitz.
Gemälde von Wilhelm Wach, 1830.
Potsdam, Privatbesitz.
Dem General Carl von Clausewitz hat das Schicksal die Wirksamkeit an bedeutender Stelle und den Kommandostab des Feldherrn versagt. Vielleicht, weil die Natur dem überreich begnadeten Manne eines nicht gegeben hatte, was den Führer macht: das Gleichgewicht der Seelenkräfte. Vielleicht aber auch, weil er eben der werden sollte, als der er in die Geschichte eingegangen ist: der Schöpfer der Lehre vom Krieg und ein geistiger Wegbereiter der deutschen Freiheit und Einheit. Sein Leben war ein endloser innerer Kampf voll schmerzlichsten Ringens mit sich selbst und der Umwelt. Seine Zeit hat ihn nicht erkannt. Die Nachwelt reicht ihm, dem heimlichen Feldherrn und Propheten, den dreifachen Lorbeer des Soldaten, des Geisteshelden, des Deutschen.

General Carl von Clausewitz entstammte nicht dem eingesessenen brandenburgisch-preußischen Adel. Ursprünglich war sein väterliches Geschlecht in Oberschlesien heimisch. Dann saß es im Sächsischen. Erst 1738 kam es nach Preußen. Auch das Soldatentum entsprach nicht der Überlieferung. Die Familie war mit dem evangelischen Pfarrhaus und dem Gelehrtenberuf verwachsen. Dieser Geist lebte im Blut als altes Erbgut fort. Erst der Vater des Generals wurde preußischer Offizier. Von seinen vier Söhnen wandte sich nur noch einer dem Gelehrtenberuf zu. Die drei anderen wurden Soldaten, darunter der Jüngste, Carl, der einst die Zierde des Geschlechtes werden sollte.

Carl von Clausewitz wurde am 1. Juni 1780 in Burg bei Magdeburg geboren. Hier versah der im Siebenjährigen Krieg verwundete Vater das Amt eines Akziseeinnehmers. Carl war ein zartes Kind. Die Burger Stadtschule vermittelte den Elementarunterricht und die Anfangsgründe des Latein. Die kargen Einkünfte waren Anlaß genug, eine rasche Versorgung anzustreben, wie sie im Heer am schnellsten zu gewinnen war. Der Verkehr im Elternhaus beschränkte sich auf Offiziere und, wie der Sohn später vermerkte, nicht gerade die gebildetsten gingen ein und aus. In dieser Umwelt wurde im Knaben das preußische Soldatentum zur entscheidenden Macht. Er war hineingeboren in den Staat Friedrichs des Großen. König, Armee, Arbeit, Pflicht, im Preußentum zu eherner Einheit verschmolzen, verwuchsen mit dem reifenden Gemüt und bildeten hier über dem alten geistig-idealen Bluterbe ein neues soldatisch-reales Gut heran. Dies vermochte freilich nicht, die weiche Seele des Kindes zu wandeln. Seine Gemütsart blieb unverändert und wurde die dritte entscheidende Kraft im künftigen Leben.

[636] Mit nur geringer Schulbildung ausgestattet, wurde Carl von Clausewitz dem damaligen Brauch gemäß schon mit zwölf Jahren vom Infanterieregiment Prinz Ferdinand in Potsdam als Junker übernommen. Der feinfühlige Knabe litt schwer unter den neuen Verhältnissen. Er gab sich schwermütigen Empfindungen hin und entwickelte die seitdem feststehende Neigung, seine Gedanken in sich zu verschließen. Noch ohne bodenständige preußisch-soldatische Wurzeln, fühlte er schon früh die schmerzende Tatsache, daß kein naturhafter Berufstrieb in ihm wirkte, daß er nicht Fortsetzer einer Überlieferung, sondern ihr Begründer war. Diese Vereinsamung rief ein bewußtes Streben, einen hellen Ehrgeiz hervor, der seltsam von der weichen Wesensart abstach.

Schon ein Jahr darauf begann das gewaltige Ringen zwischen der Französischen Revolution und Europa. Es sollte Clausewitz' Leben bis zur Höhe begleiten und im wesentlichen bestimmen. Die Feldzüge bei Mainz und westlich des Rheines von 1793 bis 1795 brachten erste kriegerische Erlebnisse. Der kindliche Soldat stand mit dem Mut eines alten im Feuer, von glühendem Ehrgeiz erfüllt. Die lockenden Bilder soldatischen Ruhms prägten sich der Seele ein, und die Sehnsucht nach kriegerischer Tat, der Wille, ein Feldherr zu werden, wurden seitdem zu einem bestimmenden Lebenszug. Er war "ein Sohn des Lagers geworden und der Zufall sein Erzieher". Da schloß der Sonderfriede in Basel zwischen Frankreich und Preußen 1795 den hoffnungsvollen Anfang ab. Auf dem Rückmarsch in die Heimat verlebte Clausewitz, inzwischen zum Secondelieutenant befördert, eine lange Ruhezeit in einem einsamen Bauernquartier bei Osnabrück. Von dort ließ er sich Bücher kommen. Dem Schauplatz des Krieges entzogen, fiel, wie er später schrieb, der Blick des Geistes zum erstenmal in sein Inneres, empfand er plötzlich das Bedürfnis nach geistiger Kost, nach innerer Entfaltung und nach idealer Leistung. An sich lag dies im Bildungsstreben der Epoche. Doch der allgemeine Trieb wurde gerade bei Carl von Clausewitz von der erbmäßigen Seite auf das stärkste unterstützt. Unter seinem jungen soldatischen Preußentum harrte das geistig-ideale Erbe der Väter seiner Stunde. Die Bücher, die er damals las, brachten es zur Auferstehung. Die alte und die neue Welt rangen fortan in seinem Wesen. Zwischen Tat und Betrachtung gestellt, drängte er immer wieder zum Handeln. Doch immer wieder wurde er vom Schicksal auf die geistige Arbeit zurückgeworfen. Beiden Welten untertan, vermochte er es nicht, sich für eine zu entscheiden oder gar beide zu verschmelzen. So wurde sein Dasein von früher Jugend an zu einem tragischen Ringen um eine stets versagte Harmonie, um die Einheit der Idee und der Wirklichkeit, des idealen Denkens und des politisch-soldatischen Handelns, des alten väterlichen und des neuen preußischen Erbgutes. Mit solcher seelischen Belastung begann er seine Laufbahn.

Diese Entwicklung leitete sich ein zwischen 1795 und 1801. Das Regiment kam nach Neuruppin in Garnison. In dem kleinen Landort blieb Clausewitz ganz auf sich gestellt. Zwar brannte sein Tatenehrgeiz weiter, aber auch sein Erkenntnisdrang [637] verebbte nicht. Es trieb ihn auch jetzt zu den Büchern. Er versenkte sich in das Werk Friedrichs des Großen, wobei die denkerisch-historische Seite seines Wesens in den Vordergrund trat. Die politischen Eindrücke der Kindheit wurden jetzt gefestigt. Insbesondere wurde ihm die Idee eines starken, die Einzelinteressen einordnenden Gemeinwesens zu einer verpflichtenden Erkenntnis. Dabei blieb ein gewisser Abstand zu Preußen gewahrt. Denn Clausewitz war ja nicht im altpreußischen Lebensgrund beheimatet, sondern im Staate Friedrichs des Großen und in dessen idealen Werten. Seine Verwurzelung war so locker, daß er sich nicht allzuschwer loslösen und zum deutschen Gedanken emporschwingen konnte. Mit seiner wachsenden Vergeistigung hing es zusammen, daß die Beschäftigung mit dem königlichen Helden nicht in erster Linie zur Steigerung des eigenen Selbstbewußtseins führte, sondern mehr zur Gewinnung eines soldatisch-politischen Weltbildes. Der große Fortschritt zeigte sich, als Clausewitz die Prüfung zur allgemeinen Kriegsschule bestand und im Herbst 1801 nach Berlin einberufen wurde. Dort sah er sich zunächst schwer enttäuscht. Denn bald wurde offenbar, daß trotz seiner Begabung die bisherige Selbstbildung nicht ausreichte. Der Zwiespalt seines Wesens, das Mißverhältnis zwischen Wollen und Können taten sich schmerzend auf. Auch die finanzielle Lage war äußerst bedrängt. So trieb er der Verzweiflung in die Arme. Es war die große Krisis seines Lebens.

In diesem Augenblick griff der Mann rettend ein, der ihn am nachhaltigsten beeinflussen sollte: Scharnhorst. Als Direktor der Kriegsschule erkannte er die ungewöhnliche Begabung Clausewitz' und suchte, ihn durch Zuspruch vorwärtszubringen. Zum erstenmal erhielt der junge Offizier die lebendige Förderung durch eine große Persönlichkeit. Mit ihrer Hilfe überwand er die Krisis und warf sich mit neuem Mut in die Arbeit. Scharnhorst wurde Erzieher und Vorbild zugleich, "der Vater und Freund seines Geistes". Daneben traten die anderen Lehrer, darunter auch der Vermittler der Kantschen Philosophie, zurück. Die selbständigen Ansätze fanden nunmehr ihre volle Ausbildung. Weit über das militärische Fachgebiet hinaus führte Scharnhorst den Schüler in die Politik, in den Zusammenhang von Krieg und Staat, in die Idee von Staat und Nation. Schon damals reifte in ihm die fast neuzeitliche Erkenntnis, die nicht den einzelnen als den Zweck der Natur anerkannte, sondern die tausend Geschlechter neben- und nacheinander in Zeit und Raum, die den Staat der Ehre und der Würde forderte und zu der in Deutschland verschollenen Lehre vom Machtcharakter des Staates zurückfand.

Marie von Clausewitz.
Marie von Clausewitz.
Das einzige bekannte Porträt.
[Nach clausewitz.com.]
Seine wachsende Reife trat bald hervor. Schon 1803 stand er an der Spitze der Schüler. Noch im gleichen Jahre wurde er als Stabskapitän zum Adjutanten des Prinzen August von Preußen ernannt. Die neue Stellung erweiterte seine Welt- und Menschenkenntnis und führte ihn mit der anderen Persönlichkeit zusammen, die sein Leben entscheidend beeinflussen sollte, mit seiner späteren Gattin, der Gräfin Marie von Brühl. Sie war die Enkelin des bekannten sächsischen Staatsministers. Ihr Vater war in preußische Dienste [638] gegangen. Unter der strengen Erziehung einer englischen Mutter blühte Marie zu wunderbarer innerer Reife auf. Ihre Heimat war das Reich des Schönen und die klassische deutsche Literatur. Der Widerstand der Mutter und die finanzielle Not machten zunächst eine Eheschließung unmöglich. Aber in einem langen Seelenbund gewann Marie tiefsten Einfluß auf ihren Verlobten. Hatte ihm Scharnhorst das fachliche Wirkungsfeld gewiesen, so gab sie ihm das menschlich persönliche Ziel. Der Drang nach Ruhm verschmolz mit der Sehnsucht, die Geliebte zu erringen. Der Briefwechsel der beiden wurde eine der schönsten Früchte des deutschen Idealismus. In ihrer Harmonie der Richtpunkt seines Wesens, verströmte die edle Frau unbewußt ihre Seelenkraft in das Lebenswerk des Mannes. Unter der Pflege des Freundes und der Freundin begann sich zwischen 1803 und 1806 der Zwiespalt in Carls Wesen zu mildern und sein Gemüt sich zu klären.

Dieser Ausgleich zeigte sich auch in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten. Ein umfangreiches Studium erschloß für Clausewitz einen großen Teil der Kriegsgeschichte. Zugleich betrachtete er mit wachem Geist den Krieg der Gegenwart. Aus Wissen, Beobachtung und Anschauung erwuchs in ihm jene meisterliche Kunst, die ihn auf den Gipfel der Kriegswissenschaft emportrug. Die damaligen Arbeiten galten vor allem dem Kampf gegen den rationalistischen Kriegsdogmatismus der Zeit. Clausewitz blieb es vorbehalten, mitten im Schaffen Napoleons den geistigen Neubau einer zeitlosen Kriegstheorie aufzuführen. Es war eine "kopernikanische Wendung", wenn er sich vom Stoff zum Menschen kehrte, wenn er dem kriegerischen Genius sein Recht eroberte, die moralischen Kräfte voranstellte, zwischen den zeitlichen Erscheinungen und den ewigen Wesenszügen unterschied, den kriegerischen Vorgang der Politik einreihte und Schlacht, Krieg und Politik als Glieder eines Zweckzusammenhanges nachwies, der sich in der nationalen Lebensgemeinschaft des Staates vollendete. Damit wurde für Clausewitz im Gegensatz zum Ideenstreit der Zeit die Außenpolitik beherrschend.

Der stärkste Eindruck seines Lebens war der Aufstieg Napoleons, ein Schauspiel von majestätischer Größe, das die Stetigkeit der Machtpolitik durch alle Ideengehalte hindurch als eisernes Lebensgesetz bewies. Dies sollte zu einer schicksalhaften Wendung führen. Gegen die universale machtpolitische Gewalt des korsischen Titanen ballte sich mehr und mehr, wenn auch nach außen ohne Wirkung, die polare Gegenkraft, zur Idee verklärt, in Clausewitz zusammen. Wie er wurde und war, war er ohne Napoleon nicht denkbar, nicht in unfreier Abhängigkeit, sondern im Sinne einer eigengesetzlichen Gegenmacht von moralischer Souveränität. So wurde er rein der Idee nach der geistige Gegenspieler des Korsen. Er sah den Inhalt der neueren Geschichte, wie später Ranke, in der Entwicklung der nationalen Völker und in ihrem Kampf gegen jede universale Unterjochung. Der Staat galt ihm als Lebensgesetz der Nation. Er sah deren Wert nicht wie Schiller abgesondert vom Politischen, sondern umgekehrt in der Politik schlechthin, im diesseitigen [639] Streben nach einem machtvollen Staatsverband. Sein Nationalitätsbegriff voll stärksten Tatwillens wurde nicht getragen von preußischer Staatsgesinnung oder deutschem Kulturgefühl, sondern vom staatlichen Machtgedanken selbst, nicht im Geist Napoleons, sondern im sittlichen Sinn der nationalen Freiheit. Durch solche Gedankenarbeit begann Clausewitz sein persönliches Schicksal mit der politischen Nation zu verschmelzen. Als einer der ersten Deutschen ging er den Weg vom Geist zum Staate mit äußerster Entschlossenheit, und wie alle Wegbereiter sollte er die Widersprüche der werdenden Welt schmerzlich an sich selbst erfahren.

In jenen Jahren freilich stand er selbstbewußt auf dem festen Block der preußischen Macht. Die innere Spaltung schien überwunden. Die bevorstehende Auseinandersetzung mit Frankreich mußte zudem den verschlossenen Weg des Aufstiegs wieder öffnen. Das Gestirn Napoleons hatte auf seiner majestätischen Siegesbahn solche kosmischen Gegenkräfte in Clausewitz' Seele geweckt, daß er sich geradezu berufen fühlte, die Tat der Rettung zu vollbringen. Er spürte die Fülle seines Geistes und brannte nach der Anwendung seiner Kraft. Er glaubte, daß er zum Höchsten befähigt sei, das Geheimnis des Sieges besitze und als Führer des preußischen Heeres den Sieg erringen werde. Es war der innere Höhepunkt seines Lebens. Ein junger Feldherr pochte an die schimmernden Pforten des Ruhmes. Doch Clausewitz war ein gefesselter Titan, und keine irdische oder überirdische Macht schob den vielleicht Begnadeten, wie einst den jungen Bonaparte, an die entscheidende Stelle. Als einer der vielen tauchte er im preußischen Heere unter, und der Berufene wurde nicht auserwählt. Hatte 1795 der Friede den hoffnungsvollen Keim verschüttet, so sollte 1806 der Krieg die reifende Frucht zerschlagen.


Im Herbst 1806 zog Clausewitz, zum Mann gereift, in den ersehnten Befreiungskampf gegen Napoleon. Der Liebe seiner Braut gewiß, verschmolz er das überpersönliche Ziel und das persönliche Streben. Zwei Tage vor der Entscheidung entwarf er einen Operationsplan von höchster Kühnheit. Doch bei der preußischen Führung wehte kein Hauch vom Geist ihres heimlichen Feldherrn. Sie taumelte blind in die Katastrophe von Jena und Auerstädt. Hier führte Clausewitz die Schützendivision des Bataillons Prinz August und fühlte sich im Kampf "wie der Fisch im Wasser". Trotz aller Tapferkeit wurde auch er in den Rückzug hineingerissen. Doch er blieb aufrecht. Der Prinz und sein Adjutant befehligten voll ungebrochenen Widerstandswillens mehrfach die Nachhut, bekämpften den Kleinmut der höheren Führung und suchten sich schließlich bei Prenzlau heldenmütig durchzuschlagen. Aber Übermacht, Sumpfgelände und Munitionsmangel vereitelten das Vorhaben. Auch Prinz August und Clausewitz wurden schließlich mit den Resten ihrer tapferen Schar gefangen. Sie gingen makellos aus der Niederlage hervor.

[640] Da der Prinz für Napoleon politisches Gewicht besaß, wurden er und sein Adjutant nicht ausgetauscht. Während die Reste der Armee in Ostpreußen weiterkämpften, saß Clausewitz tatenlos, ein Adler mit gebrochenen Schwingen, in Neuruppin, dann in Nancy, schließlich in Soissons. Die einjährige Kriegsgefangenschaft machte ihn mit Frankreich vertraut und führte ihn auf der Heimreise durch die Schweiz, wo er mit den sozialpädagogischen Bemühungen Pestalozzis und Sicards Berührung fand, Frau von Staël kennenlernte und im Verkehr mit den Brüdern Schlegel romantische Luft atmete. Trotz dieser Bereicherung löste jenes Jahr die lebensentscheidende innere Katastrophe aus. Denn nicht nur vom machtpolitischen, sondern auch vom idealistischen Geist ergriffen, sah Clausewitz im starken Staat den Bezirk, wo sich auch sein eigenes Leben allein entfalten konnte. Daher war ihm die persönliche Trennung vom Staate unerträglich. Er fühlte sich vom nationalen und persönlichen Lebensgrund abgetrennt, als Atom hinausgeschleudert und bis ins Innerste entwürdigt. Unter solchen seelischen Qualen vollendete sich in der Gefangenschaft seine Verschmelzung mit der Gemeinschaft, die aber nur zu vollbringen war durch einen geistigen Willensakt voll schmerzlichsten, seelenumdüsternden Tatverzichtes.

Dies löste drei Wirkungen aus. Zunächst erhielt sein denkerisches Gepräge die letzte Formung. Realismus und Idealismus, Kühle und Leidenschaft vermählten sich in seinem Geist. Vom Handeln abgeschnitten, warfen sich die brachliegenden Kräfte kühl und realistisch auf die Erkenntnisaufgabe. In abgeklärter Anschauung sah er in der preußischen Niederlage das Ergebnis eines vielgestaltigen Vorganges, der vor allem durch den Mangel an ideellen Werten bestimmt war. Daher galten ihm als nächste Aufgaben die Steigerung der willensmäßigen Kräfte und die innere Erhebung. Er machte Preußen verantwortlich für Ehre, Freiheit und Glück der deutschen Nation. Auch äußerlich gewann bei ihm der erste militärische Befreiungsplan festere Gestalt, wobei er die Strategie des Außerordentlichen, ja unter Umständen selbst die Preisgabe des eigenen Landes verlangte.

Daneben kam, leidenschaftlich und idealistisch, sein Nationalismus zur Blüte. Die Vaterlandsliebe wurde der stürmische Inbegriff seines Daseins, Vaterland und Nationalehre wurden seine Erdengötter. Die Sehnsucht nach Größe des nationalen Staates steigerte sich zu höchster Wucht. Mochten auch Heimweh, nationales Zugehörigkeitsgefühl und deutsche Kulturgemeinschaft mitschwingen, entscheidend wurde der Wille des idealistischen Menschen, sich zur Entfaltung seines eigenen Wesens für die Zwecke der Gemeinschaft mit einem starken Staat zu verschmelzen. So wurde Clausewitz der Verkünder der Staatsräson des idealistischen Machtstaates. Die deutschen Fehler: Kosmopolitismus, Mangel an Nationalsinn, territorialer Partikularismus, erkannte er als natürliche Ergebnisse von Blut und Boden, die jedoch der staatspolitischen Stärke zuliebe überwunden werden mußten. Der Einzelstaat, auch Preußen, verlor für ihn die Bedeutung. Mitten in der napoleonischen Vergewaltigung stieg in seinem Gefühl [641] einer Sonne gleich die deutsche Nation, ja das deutsche Volk als schicksalgegebene Einheit strahlend empor. Sie vor dem französischen Universalismus zu retten und als Machtstaat zu gestalten, war die heilige Aufgabe. Clausewitz wurde der "heimliche" deutsche Prophet. Sein Nationalismus, dem individualistischen Zeitgeist idealistisch entsprungen, mündete fast romantisch in die nationale Schicksalsgemeinschaft, von solchem Opferwillen und solcher Zukunftskraft erfüllt, daß er die Schranken der Geburt zerbrach und mit seinen Flammen bis in die Welt eines deutschen Sozialismus emporschlug.

Das dritte Ergebnis war eine neuerliche und nunmehr endgültige Umdüsterung seines Innern. Preußens Zusammenbruch versetzte ihn in tiefe Niedergeschlagenheit. Mit dem Staat schien auch sein Leben zerstört. Ein pessimistischer Wahn stieg in dem Einsamen empor. Zur Nichtigkeit verurteilt, glaubte er sich von Schicksalsmächten verfolgt und einem frühen, ruhmlosen Tod vorbehalten. Die Spaltung seines Wesens, der Gegensatz von Geist und Tat, von Wollen und Können brach wieder mit dunkler Gewalt hervor und erschütterte den Glauben an die eigene Bestimmung. Diese Seelenzerrissenheit wurde fortan lebenbestimmend.


Als Clausewitz im April 1808 in Königsberg eintraf, war ihm, als ob er aus "einer kalten Totengruft in einen schönen Frühlingstag" zurückkehre. Endlich war er dem Staat wiedergegeben und fähig geworden zum Handeln. Aber inzwischen war in Tilsit der Vernichtungsfriede geschlossen und die Möglichkeit der kriegerischen Tat zerronnen. In den Generalstab versetzt, trat Clausewitz als Bürochef Scharnhorsts in den Kreis der preußischen Reformer. Doch sein Dienst war nur unterstützender Art und sein Anteil am Reformwerk gering. Diese äußere Beschränkung konnte seinen Tatentrieb nicht befriedigen. Auch innerlich setzte er sich von den nüchternen Reformbemühungen ab. Er war im preußischen Staat zu wenig verwurzelt, als daß er den Sinn der langsamen Reform ganz hätte erfassen können. Ihm stand die Außenpolitik voran. Der innere Umschwung schien ihm leichter zu sein, wenn er von den Wellen der äußeren Erhebung getragen wurde. Stets hatte er das Endziel vor Augen. Er setzte das Ethos seines Befreiungswillens irrigerweise auch schon bei der Allgemeinheit voraus und drängte mit einem Übermaß an geradliniger Energie zur sofortigen ausschließlich kriegerischen Erhebung. Nicht aus militärischer Enge; denn er war alles andere als ein einseitiger Soldat. Er besaß vielmehr eine weltweite Seele, doch diese machte er ganz der militärpolitischen Aufgabe dienstbar. So wurde er der revolutionäre Geist, der Unbedingte im idealen Sinn, die Personifikation der Urkraft, die hinter dem Reformwerk lebte. Aber sein stürmischer Wille blieb gefesselt. Ja als er im Herbst 1810 mit der Unterweisung des Kronprinzen betraut und als Lehrer an die Kriegsschule berufen wurde, mußte er den Tatwillen ganz in der Denkarbeit begraben. Er fand damals Berührung mit den romantischen und [642] idealistischen Kreisen seiner Zeit und sah über ihre Stärken hinweg gerade die Schwächen. Die populäre Weltanschauung gar vom überweltlichen Beruf der Deutschen galt ihm als verderblich, und scharf wandte er sich gegen die philosophische Selbstbescheidung des Zeitalters der Dichter und Denker. So wuchs der Gegensatz zu den Mitarbeitern ins Allgemeine aus. Das Gefühl unverstandener Überlegenheit, Menschenscheu, Ironie und Sarkasmus wurden immer mächtiger. Als er von einem Nervenfieber genas, kam er sich um Jahre gealtert vor. Die Zeitgenossen verstanden ihn nicht und beurteilten seine kalt-absprechende Art oft hart und unfreundlich. Auch jetzt fand er nicht das Wirkungsfeld, wo er Begabung und Leidenschaft glücklich hätte vermählen können. Auch jetzt fühlte er sich als der Ausgeschlossene, der seinen Vollmachtbrief zum Glücke einst würde unerbrochen zurückbringen müssen.

Die Tragik lag darin beschlossen, daß äußeres Geschick und inneres Gesetz zusammenwirkten. In dem Maß, wie er vom Handeln abgedrängt wurde, strömte sein Tatwille in den Geist und steigerte hier sein Denkertum und seinen Kampfwillen zum Äußersten, zugleich aber auch seine Unfähigkeit, die widrigen Lebensumstände zu überwinden. So konnten die Jahre der Reform ihn nicht an Preußen fesseln, im Gegenteil, sie lösten ihn los und machten ihn zum Prediger des unbedingten deutschen Befreiungswillens. Es erstand in ihm gleichsam der Dämon der Erhebung. Der "heimliche" geistige Gegenspieler des Korsen wuchs in seine unbewußte Aufgabe hinein. Der großen Irrationalität des Erdengottes Napoleon trat Clausewitz als die gleiche große Irrationalität des Widerstandes in einer großartigen Dämonie gegenüber.

Von hier aus bestimmte sich sein weiteres Schicksal. Seine kriegstheoretische Gedankenarbeit spann die frühere Linie fort. Eine Skizze für den Unterricht des Kronprinzen wurde die Keimzelle des Buchs Vom Kriege. Auch politisch schritt er auf eigengesetzlicher Bahn weiter. Die Sehnsucht nach dem starken Staat und die Enttäuschung durch die schwächliche preußische Politik machten ihn innerlich frei von Heimat und Stand. Scharf wandte er sich gegen die Nur-Preußen, die "den Namen Preußen unaufhörlich im Munde führen, damit der Name Deutsche sie nicht an schwerere, heiligere Pflichten mahne". Dem Preußen seiner Zeit stellte er den Geist Friedrichs des Großen gegenüber. Gerade jetzt kam zum Vorschein, wie er weniger in Preußen als in Friedrich wurzelte. Auch dies zog ihn zur deutschen Nation. Auf sie setzte er seine ganze Hoffnung. Die unerlöste Kraft seines Innern mußte sich schließlich zur urtümlichen Kampfentschlossenheit im persönlichen Sinn zusammenballen. Mochte es seinem deutschen Gefühl unerträglich scheinen, sich als Brotsoldat einer außerdeutschen Flagge zu verdingen, so mußte er doch, besessen vom Gedanken der Erhebung, schließlich zum persönlichen Kampf schlechthin bereit werden, wo es auch sei. Das Vaterland und das eigene Gesetz zwangen dazu. Die deutsche Freiheit und ihr kämpferischster Sohn waren zur heroischen Einheit geworden.

[643] Als 1808 und 1809 die Erhebung in Spanien und Österreich losbrach, wurde Clausewitz ein leidenschaftlicher Vertreter eines Bündnisses mit Österreich gegen Napoleon. Schon damals trug er sich mit dem Gedanken, im österreichischen Heer zu kämpfen. Auch den englischen Dienst zog er in Erwägung. Doch Österreich wurde niedergeworfen, bevor die Pläne reiften. Der preußische König aber versagte sich der Politik des entschlossenen Widerstandes. Ja er ging 1812 ein Bündnis mit Napoleon ein und verpflichtete sich zur Heeresfolge nach Rußland. Da mußte Clausewitz an Preußen irre werden und es für unfähig halten, die deutsche Aufgabe zu erfüllen. Mit dem französischen Bündnis hatte der Geist gesiegt, gegen den er seit Jahren heroisch stritt. Clausewitz tat, was er tun mußte: er blieb sich treu, brachte das schwerste Opfer seines Lebens, trennte sich von Preußen und trat als Kämpfer in die russische Armee. Über Preußen und seinem König stand ihm der zum persönlichen Gesetz gewordene deutsche Freiheitswille.

Mochte diese Treue persönliche Überspannungen in sich tragen, so war sie doch von historischer Größe. Denn das Ethos des Unbedingten – nicht aus starrer Enge, sondern aus lebendiger Fülle geboren und am Dämon Napoleon gewachsen – verlieh der persönlichen Spannung allgemeinste Bedeutung. Wie auch die politischen Würfel fürderhin fallen mochten, über dem von Zufall und Menschenschwäche mitbestimmten irdischen Wandel war als eine weise Sicherung der Vorsehung der sittliche Wille der unbedingten Freiheit eine waltende Weltkraft geworden, und Clausewitz wurde ihr Verkünder. Damals verfaßte er seine berühmten Bekenntnisse, durch die er sich feierlich von der Erbärmlichkeit der Zeit lossagte. Er rief die Nachwelt als Richter auf und schuf die Heilsverkündung der Erhebung, ebenso gewaltig in der Schönheit der Sprache wie in der Wahrheit und Wucht der zeitlosen Gedanken, ein Evangelium der Unterdrückten, das noch nach 1918 den besten Deutschen Trost und Stärkung gab und als heroische Fanfare der Freiheit den Erdball durchklingen wird, solange er steht.


Dem bisherigen Lebensgrund entrissen, wurde Clausewitz der Märtyrer seines Dämons. Er opferte sein persönliches Leben der Idee. Denn wie fast noch jeder Heilige mußte auch er die Straße des Elends wandem. Der erbetene Abschied wurde erteilt, doch der Übertritt in die russische Armee verboten, gegen Clausewitz ein Strafverfahren eingeleitet und sein Vermögen beschlagnahmt. Der König konnte seinen Schritt nie verzeihen. Alles Wissen und Können reichte nicht aus, die Mißstimmung am Berliner Hof später wieder zu beseitigen. Von Gneisenau empfohlen, wurde Clausewitz im Feldzug 1812 bei verschiedenen russischen Befehlshabern verwendet. Doch sein Einfluß blieb bedeutungslos. So wurde der russische Aufenthalt eine schwere Enttäuschung. Dennoch sollte es ihm beschieden sein, zweimal in das Rad der Weltgeschichte zu greifen. Am Anfang des Feldzuges [644] wurde auf seinen Bericht hin der weitere Rückzug ins Innere des Riesenreiches beschlossen, was den Untergang Napoleons herbeiführte. Am Ende war es ihm vergönnt, bei der berühmten Konvention von Tauroggen als russischer Unterhändler mitzuwirken. Dabei setzte er alle Kraft ein, um die Zweifel auf preußischer Seite zu zerstreuen. Der große Entschluß Yorcks, mit den Russen zu paktieren, war mit ein Verdienst von Clausewitz.

So nahm er Anteil an der Befreiung Deutschlands. Und schon schien sich sein Stern hell emporzuschwingen. Auf Veranlassung des Freiherrn vom Stein wurde er in Ostpreußen mit der Organisierung von Landsturm und Landwehr betraut. Damit gewann er auch Anteil an der unmittelbaren preußischen Erhebung. Doch seine Wiedereinstellung im preußischen Dienst wurde abgelehnt. Stattdessen kommandierten ihn die Russen als Verbindungsoffizier zum Stabe Blüchers. Hier wurde er wie einst im Frieden als Bürochef Scharnhorst zugeteilt und konnte in beglücktem Jubel mit dem Dreigestirn der Schlesischen Armee, Blücher, Scharnhorst und Gneisenau, den Frühjahrsfeldzug 1813 mitgestalten. Nach dem tragischen Heldentod Scharnhorsts blieb er in der gleichen Stellung mit Gneisenau verbunden. Doch auch diesem gelang es nicht, die preußische Wiederanstellung für Clausewitz durchzusetzen.

Während des Waffenstillstands im Sommer 1813 siegte am Hofe die Reaktion und setzte die Reformer politisch matt. Für Clausewitz wurde das schöne Verhältnis gelöst. Er erhielt den Befehl, als Generalstabsoffizier zu der inzwischen gebildeten russisch-deutschen Legion zu treten. Damit war er aus dem Herzen des Krieges entfernt. Dem hoffnungsvollen Anfang folgte ein trübes Ende. Zwar wurde er von seinem Befehlshaber zum Generalquartiermeister für das ganze Korps bestimmt, doch dieses selbst blieb auf den Nebenkriegsschauplatz verbannt. Im Herbst 1813 errang es am Nordflügel der Verbündeten an der Niederelbe als einzige Ruhmestat den Sieg an der Göhrde. Auch im Winterfeldzug 1814 konnte die Legion auf dem belgischen Nebenkriegsschauplatz keine besonderen Leistungen vollbringen. Erst mit dem Pariser Frieden 1814 wurde Clausewitz als Oberst wieder in den preußischen Dienst übernommen. Als der Krieg 1815 noch einmal emporflammte, wurde er zum Chef des Generalstabs des III. Armeekorps ernannt. Doch auch jetzt blühte ihm kein Glück. Weder bei Ligny noch bei Waterloo wurden ihm entscheidende Taten vergönnt. Der gewaltige Weltkampf erlosch, ohne daß es ihm gelang, eine seiner Bedeutung würdige Stellung zu erringen oder Führertaten hohen Ranges zu verrichten.

Je weniger er von der militärischen Aufgabe befriedigt wurde, desto stärker betätigte sich sein politischer Geist. In stetem Briefwechsel mit Gneisenau drang er auf die Fortsetzung des Kampfes und auf den Vorstoß nach Paris. So trug er aus der Ferne das seine dazu bei, das Herz im Heer der Verbündeten, das preußische Feldherrenpaar BlücherGneisenau, politisch und militärisch stark zu machen. Ein kleiner Anteil des Enderfolgs darf wohl auch ihm zugesprochen werden.


[645] Die große Irrationalität Napoleon, die bisher wirkende Urgewalt der Zeit, war niedergerungen. Mit ihr fielen die Voraussetzungen hinweg, die den Befreiungswillen zur anderen Urkraft gestaltet hatten. Die überpersönliche Spannung in Clausewitz sank dahin. Was ihm blieb, war der bittere Rest eines unerfüllten Lebens. Die heroische Melodie mündete in ein mattes Finale. Er hatte einen zu mächtigen Teil der Lebenskraft in den Befreiungsgedanken verströmt, als daß er den Frieden nicht als Entseelung hätte empfinden müssen. Nur eine voll befriedigende Tätigkeit konnte diese Gefahr hintanhalten. Wurde sie ihm nicht vergönnt, dann mußte sein Leben veröden.

Der Heilige kehrte aus der göttlichen Berufung in den irdischen Beruf des Friedenssoldaten zurück. Seines väterlichen Freundes Scharnhorst beraubt, hatte er Gneisenau gewonnen, dem er in Nibelungentreue verbunden blieb. Der Seelenbund der beiden großen Soldaten wurde dadurch äußerlich gefestigt, daß Clausewitz zum Chef des Stabes des neuen rheinischen Armeekorps ernannt wurde, das Gneisenau befehligte. Die Einrichtung des Heeres in der neuen Provinz bot ihm inmitten eines vertrauten Freundeskreises tiefe Befriedigung. Doch schon nahte das Verhängnis. Infolge politischer Verstimmungen gab Gneisenau 1816 sein Amt in Koblenz auf. Sein Nachfolger General von Hake fand kein inneres Verhältnis zu seinem Chef, und für diesen begann eine düstere Zeit. Zwei Kommandierungen brachten ihm Erleichterung. 1817 begleitete er den Kronprinzen auf einer Reise durch die Rheinprovinz, und im Herbst 1818 wurde er, zum Generalmajor befördert, zum Kommandanten von Aachen bestimmt, wo der glänzende Kongreß Europas tagte.

Der erst achtunddreißigjährige General konnte mit seiner äußeren Laufbahn zufrieden sein. Doch dies entsprach nicht seinem inneren Gefühl. Da wurde er aus seiner unbefriedigenden Stellung erlöst und zum Direktor der Berliner Kriegsschule ernannt. Gneisenau hatte ihn vorgeschlagen in der Hoffnung, daß dem ungewöhnlich begabten Mann ein größerer Einfluß auf das Leben der Anstalt verstattet würde, als er bisher dem Direktor zustand. Denn dieser war nur der Verwaltungschef ohne jeden Einfluß auf den Lehrbetrieb. Aber leider wurde auch Clausewitz auf die trockene Verwaltungstätigkeit beschränkt. Und nun warf das Geschick sein schwärzestes Los: zwölf graue Jahre blieb er an diese mindere Stellung gefesselt. Die Kraft der besten Manneszeit wurde praktisch brachgelegt. Die preußische Armee verstand es nicht, ihren glänzendsten Geist zu nutzen. Sie überließ ihn sich selbst. Dies zerstörte sein Leben.

Dieser Tragik lag viel Schicksal zugrunde. Der Bruch mit Preußen von 1812 rächte sich. Die mit den Karlsbader Beschlüssen beginnende Hochflut der Reaktion reichte auch an Clausewitz heran, zumal er sich zur Frage der Volksvertretung geäußert hatte. Aber auch sein eigenes Wesen trug zu der unheilvollen Entwicklung bei. Daß es ihm nicht gelungen war, den inneren Zwiespalt zu überwinden, trat kraß zutage, als sein Gemüt, von der gewaltigen Spannung des heroischen Weltgegensatzes gelöst und nicht mehr imstande, die zwiespältige Kraft [646] ins Allgemeine zu verströmen, auf sich allein gestellt dem widrigen Friedensleben erlag. Das innige Verhältnis zur Gattin ersetzte ihm die Welt und mußte seine Verschlossenheit nur noch bestärken. Fand er auch hier die Heimat, wo sein Gemüt die heilende Aussprache immer wieder suchte, so wurde doch die Disharmonie im reifen Manne beherrschend. Da war einerseits jener kühle und leidenschaftliche Geist, der olympisch zum Äußersten drängte, aber da fehlten andererseits die innere Zufriedenheit, die seelische Geschlossenheit und die mehr äußere Kraft des Gemüts, sich auf dem Kampfplatz des Lebens persönlich durchzusetzen. Clausewitz war im idealen Sinn eine der kämpferischsten Naturen, im realen Sinn versagte er – nicht wenn es galt, sein Leben zu opfern, das war ihm höchste Erfüllung – sondern wenn es darum ging, für sich selbst einzutreten. Vor der Truppe wurde er unsicher, und es rächte sich, daß er seit 1806 kein Kommando mehr führte. Schließlich war er von seinem Mangel überzeugt und glaubte nicht, daß die Züge seines Wesens hinreichender Ersatz dafür sein könnten. Sein Geist wurde seine letzte Zuflucht. Aber das war das Tragische dabei, daß er ja gerade zur Tat drängte und so die geistige Leistung nur auf dem schmerzenden Umweg des Tatverzichtes erringen konnte.

Seine Geistigkeit vollendete sich jetzt in dem Maße, wie sich jene Wesenszüge verhärteten, die den äußeren Erfolgsweg verschlossen. Je stärker aber seine Geistigkeit wurde, um so größer wurde wieder die Belastung, die sie für die Welt des Handelns bedeutete. So entlud sich das verdrängte Bedürfnis nach tätiger Entfaltung endgültig in seinen Geist. Ein beispielloses klassisches Denkertum wuchs heran, in dem die ungeborene Tat titanisch zitterte. Eine stürmende Gewalt napoleonischer Prägung durchwehte seine Sprache und erhob sie zu unübertrefflicher Klarheit, Wucht und Größe. Aber zugleich vollzog sich in Clausewitz ein unerhörtes persönliches Geschick. Noch einmal winkte ihm von ferne das Glück. Wieder war es Gneisenau, der ihn angesichts seiner staatsmännischen Begabung als Gesandten für London vorschlug. Doch als auch diese Möglichkeit zerrann, festigte sich in Clausewitz die pessimistische Überzeugung, daß mit seinem Leben "nicht viel mehr anzufangen sei".

Das tragische Schicksal wendete ihn ganz nach innen. Sein nationales Denken trat jetzt fern aller Romantik in seine letzte Entwicklung. Sein Wirklichkeitssinn konnte seit 1815 die zeitliche Lebensunfähigkeit des deutschen Gedankens nicht verkennen, aber auch nicht seine Zukunftskraft. So blieb ihm auch jetzt die Überwindung der deutschen Parteien, der machtvolle Gesamtstaat der deutschen Schicksalsgemeinschaft das Ziel. Aber sein Staatsgefühl nahm wieder preußische Färbung an. Nach wie vor stand ihm die Außenpolitik voran. Er schätzte die Gefahr einer "äußeren Invasion" höher als die jeder "inneren Revolution". Den parlamentarischen Liberalismus, der die Zeit als einen Kampf zwischen Autokratie und Freiheit auffaßte, lehnte er ebenso ab wie den dynastischen Konservatismus, der das Legitimitätsprinzip vertrat. Die Realpolitik stellte er über das Dogma. Mit Bismarckscher Klarheit überblickte er [647] die deutsche und europäische Lage in ihrer schicksalhaften Verbundenheit, und er erahnte in der preußischen Machtbildung die Voraussetzung und in der kriegerischen Entscheidung die Geburtskraft für die Bildung eines deutschen Reiches, wenn er prophetisch das Schwert als den einzigen Weg bezeichnete, auf dem Deutschland zu einen war. Auch jetzt stand er einsam in seiner Zeit. Denn die Vermählung von Geist und Staat hatte sich in ihm am radikalsten vollzogen. Den anderen weit voraus, trat er auf den Boden der kommenden Generation. Der Schöpfergeist des Zweiten Reiches wurde in ihm geboren. Daneben aber reifte auch sein kriegstheoretisches Denken zur letzten Blüte.

In jenen äußerlich so unfruchtbaren Jahren wurde er der Verfasser eines der gewaltigsten Geisteswerke der Menschheit, des Buches Vom Kriege. Mit ihm errang er sich den Ruhmestitel des größten militärischen Denkers aller Zeiten und einen Ehrenplatz unter den Heroen seines Volkes. Der Wert des Werkes lag in dessen ewiger Jugend. Mochten manche Darlegungen sterblich sein, der geistige Grundgehalt war der Ewigkeit abgelauscht. Der Soldat, der Staatsmann, der Historiker, alle konnten daraus tiefe Weisheit ziehen. Darüber hinaus wurde es das heilige Buch des Krieges und des Feldherrn. So war es das eigentliche Werk seines Lebens. Ihm freilich dünkte es nebensächlich, und er veröffentlichte es nicht. Denn nicht als Denker, als Feldherr hatte er in die Geschichte eingehen wollen, und er ahnte nicht, daß ihm das Schicksal den Weg zur Tat versperrte, um ihm unter dem aufblühenden geistigen Erbgut der Väter sein eigentliches Lebenswerk geradezu abzulisten. Er selbst verfiel dem bitteren Gefühl, seine Daseinsaufgabe verfehlt zu haben. Doch dieser Verzicht war nicht seine letzte Weisheit. Denn nie verlor er den Mut zum Wirken. Das Pflichtgefühl im Kantschen und preußischen Sinn zugleich war die Kraftquelle, die auch in den dunkeln Jahren nicht versiegte. Das Feuer seiner Seele erlosch nicht, als er die äußere Ergebnislosigkeit des Tatlebens feststellte. Es loderte weiter und durchglühte jene unerreichbar hohen Werke des Geistes. Clausewitz fügte sich ungebrochen in sein Schicksal, und dadurch überwand er es. Seine Entsagung wurde eine Entsagung der Tat. Ein äußerlich scheinbar verlorenes Leben wurde – ewiges Vorbild und höchster menschlicher Sieg – durch stilles, inneres Wirken zum Segen der Nation.

Da schien es, als ob das Schicksal sich des Fünfzigjährigen entsinne. 1830 wurde er endlich von seinem Posten erlöst und zum Inspekteur der Zweiten Artillerie-Inspektion in Breslau ernannt. Ja als kurz darauf der allgemeine europäische Krieg drohte, wurde er dem Oberbefehlshaber Gneisenau als Chef des Stabes beigegeben. So schien der Vergessene nun doch noch zum hohen Amt des Chefs des Generalstabs des Feldheeres berufen.

Es wäre zu viel des Glückes gewesen. Die europäische Kriegsgefahr ging vorüber. Nur im Osten wurde gegen die aufständischen Polen eine preußische Armee aufgestellt. Der gefährlichere Feind war die Cholera. Ihr erlag am 28. August 1831 Gneisenau in Posen. Und am 1. November desselben Jahres wurde Clausewitz, vom Tod des Feldmarschalls [648] tief betroffen, in Breslau von der gleichen Seuche dahingerafft. Als er starb, war es, als ob er sein Leben wie eine schwere Last von sich stoße. Dieser Abschluß war ein Symbol des ganzen Daseins. Auch die letzte Flamme des Glücks erlosch unter einem düsteren Schicksal. Aber das Werk war geschaffen. Doch erst als die Witwe seit 1832 die bisher meist ungedruckten Schriften veröffentlichte, wurde offenbar, daß mit Clausewitz der tiefste militärische Denker der Menschheit, ein Historiker und Staatsmann größten Ausmaßes unbeachtet und ohne Dank dahingegangen war. Seine Größe wurde freilich erst voll erkannt, als seit 1866 seine Saat aufging. Bismarck wurde der Vollstrecker seines politischen Denkens, und Moltkes Werk und damit das Zweite Reich ruhten auf den kriegstheoretischen Grundlagen, die er gelegt.

Auch in unserer Zeit enthüllt sich der Wert dieses unvergleichlichen Deutschen. Ohne ihn sind Schlieffen, der deutsche Generalstab und unsere Rettung im Weltkrieg nicht denkbar. Noch heute ist das Buch Vom Kriege in allen Grundlagen gültig. Daneben aber steht ebenso lebendig das

Carl von Clausewitz, Bronzebüste.
Carl von Clausewitz. Bronzebüste.
[Nach clausewitz.com.]
politische Wirken. Clausewitz war einer der größten nationalen Erzieher unseres Volkes. Er war wohl der erste, der das sozialistische Preußentum gelöst vom preußischen Staat als sittliche Idee und staatsbildende deutsche Kraft empfand. Er lebte, ein Heros des nationalen Geistes und ein Pionier des deutschen Volkes, den kommenden Geschlechtern die deutsche Lebensentwicklung vom Geist über den Staat zum Volke vor. Die weltanschauliche Formung des Staates aus deutschem Wesen und der heroische deutsche Mensch fanden in ihm ihren frühesten Künder.

Sein nationalpolitisches Werk wird verklärt von dem Ewigkeitswert der Persönlichkeit. Man hat mit Recht gesagt, daß er die Freiheitsliebe Hermanns, die nationale Glut Huttens und den politischen Weitblick Bismarcks in sich vereinigte. Er war der ideale Wegbereiter Rankes, Treitschkes und Bismarcks. Idealismus und Realismus, Weimar und Potsdam verschmelzend, wurde er eine ewig wirkende Erscheinung des deutschen Genius überhaupt. "L'Allemand par excellence", sagte einst von ihm Frau von Staël, und ein Franzose nannte ihn spottend "le plus Allemand des Allemands". In der Tat, er war der Deutscheste der Deutschen. Gerade auch im Geist unserer Zeit. Denn er drang vor zur Objektivität der deutschen Wertung. Das Unbedingte machte er zu seinem irdischen Gott und den Willen zu seinem heroischen Priester. So ist Carl von Clausewitz, dem Geist der Ewigkeit vermählt, Geist vom Geiste unserer Zeit.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz