[Bd. 1 S. 450]
Die Menschen des späten Mittelalters waren voller Widersprüche, die sich ohne Übergang nebeneinander auswirken konnten. Von ungehemmten Trieben wurden sie beherrscht, aber ihre Ziele waren hoch gesteckt, und viel setzten sie ein, um diesen nachzustreben. In allen Schichten und Stellungen des weltlichen Lebens hatte sich die Kirche eingesetzt und sie durchdrungen. Neben dem theologischen Denken gab es kaum ein anderes mehr; der Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen schien verwischt, jeder noch so gewöhnliche Ausdruck des täglichen Lebens wurde von der Kirche mitbestimmt. Aber diese ständige Vermengung des Kirchlichen mit dem Weltlichen bewirkte auch das Gegenteil. Die religiösen Gebräuche waren in die Alltäglichkeit hinabgesunken, der Kultus verflachte mehr und mehr und streifte oft hart an die Grenzen der Blasphemie. Zwischen Feinem und Grobem, zwischen Edlem und Gemeinem, zwischen Glauben und Aberglauben, zwischen Sehnsucht nach Lebensheiligung und dem Triebhaften klaffte ein Abgrund, dessen Tiefe kaum empfunden wurde. Man gab sich dem einen wie dem anderen unbefangen hin und vereinte selbst in den Empfindungen das Entgegengesetzte, neben derbster Lebensfreude ging die tiefste Seelenangst, neben dem unbeschwerten Sinn eine unbewußte Trauer, die über dem Leben dieser Zeiten lastet. Die Deutschen dieser Zeit waren nicht anders. Ihre abweichende Lebensart zeigte sich vielleicht darin, daß sie den grellen Mißklang nicht mit der unnachahmlichen Leichtigkeit der Romanen hinnahmen, sondern mit größerem Ernst um den Gehalt des Lebens mit sich kämpften. Nirgends auch so sichtbar wie in Deutschland ging am Vorabend der Reformation ein Riß durch die ganze Gesellschaftsordnung. Noch immer waren die Deutschen eine führende Nation. Noch immer lag über [451] deutschen Landen der Abglanz ihrer großen Vergangenheit. Wenn nüchtern denkende Ausländer wie Macchiavelli durch die Städte Deutschlands reisten, waren sie voll Bewunderung für den dort tätigen und selbständig ordnenden Bürgergeist. Macchiavelli fand hier das Vorbild der klassischen Tugend verwirklicht. Das Volkstum war wie ein Baum mit starken Wurzeln, kein Sturm schien ihm etwas anhaben zu können. Und doch war das Reich bereits bedroht. In Ost und West, in Nord und Süd hatten es seine Nachbarn über die allerdings zum Teil weitgespannten Grenzen zurückgedrängt oder war ein Teil des Volkstums abgesplittert. Seit dem Verfall des Kaisertums war der Sondergeist der deutschen Stämme übermäßig entwickelt worden. Im Osten hielten die großen Staatsgebilde das politische Leben gefangen, der Westen war größtenteils in kleine und kleinste Einheiten aufgelöst, die aber schon im Begriff waren, den dort siegreich vordringenden Fürsten zu erliegen. Auch die Wirtschaft war von einer Übergangskrise ergriffen, die zwar nicht gleichmäßig, aber doch alle Stände betroffen hatte. In seltsamem Widerspruch zu den natürlichen Fähigkeiten und dem ruhigen Selbstvertrauen der Deutschen standen das politische Unvermögen und auf weiten Gebieten die Anzeichen des drohenden Verfalls. Noch aber war in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation nichts endgültig entschieden. Alles befand sich in Fluß. Stärker als je äußerte sich der Wille in der Nation, zu einer Neubelebung des Reichskörpers beizutragen, tiefer als seit langem war die Sehnsucht nach dem starken Kaiser; gerade damals hat das Volk in der Kyffhäuser-Sage seine geheimsten Wünsche niedergelegt. Die neuen Formen waren nicht erstarrt, der Deutsche schien noch fähig zu sein, über die engen Grenzen seines Standes und seiner Heimat hinaus zu denken und zu handeln. Schon die ewige Unsicherheit, der unaufhörliche Kampf aller gegen alle führten zu weiträumigen Verbindungen, erzwangen die ständige Berührung der verschiedensten Volksschichten. Noch hatte es das Fürstentum im Westen nicht dahin gebracht, die Menschen unter das Gesetz und die Ordnung der Landschaft unwiderruflich zu beugen. In allen Schichten lebte ein starker Behauptungswille, waren Stolz und Trotz vorhanden, gärte eine ewige Unzufriedenheit, die sich von Zeit zu Zeit in offenen Unruhen entlud. Schien Deutschland eines anderen zu bedürfen als der Hand des Führers, um das Auseinanderstrebende zusammenzufassen und für dieses Volk die machtvolle Stellung in der Mitte Europas zu behaupten? So mußte es dem damaligen Betrachter scheinen.
Das Huttensche Geschlecht gehörte zur Reichsritterschaft und damit zu einem Stande, in dem die politische, geistige und wirtschaftliche Krise der Zeit ihre tiefsten Spuren gegraben hatte. Das Rittertum war im Westen schon seit längerem seiner eigentlichen Aufgabe, dem Dienst mit der Waffe für das Reich, durch die Entkräftung des Kaisertums entzogen worden. Es wehrte sich als sozial [452] absinkender Stand gegen die überlegene Geldwirtschaft, indem es, starr und unsicher geworden, sich an die überkommenen Begriffe anklammerte. Für die Reichsritterschaft kam noch eine Sondernot hinzu. In Franken auf zahlreichen Burgen hausend, lebten diese Ritter noch zum Teil im unabhängigen Herrentum. Fast Tag für Tag, Stunde für Stunde mußten sie ihren kostbarsten Besitz, die Freiheit, verteidigen, vor allem gegen die umgrenzenden Fürsten, die sie unmittelbar bedrohten. Diesen Abwehrkampf konnte auf die Dauer der einzelne nicht erfolgreich führen, sondern nur dann, wenn er sich mit anderen Genossen in Einungen verband, die oft über die engeren Grenzen der Heimat weit hinausgriffen. Es war so ein Doppelerbe, das der Reichsritter Ulrich von Hutten in die Wiege gelegt bekam: auf der einen Seite den ausgeprägten Sinn für persönliche Freiheit, auf der anderen das Verständnis für die Notwendigkeit einer Gemeinschaft, der der einzelne sich zur Behauptung der Unabhängigkeit unterordnen mußte. Hutten hat das Leben seiner Jugend später in dunklen Farben geschildert. Karg, laut und ungemütlich ging es gewiß auf diesen Burgen zu. Aber zum Strauchrittertum war für die Huttens noch ein weiter Weg; zahlreiche Träger des Namens dienten in den Heeren des Kaisers oder waren als Amtmannen und Burgvögte für größere Herren tätig. Gerade im Jahrhundert Ulrichs von Hutten hat das Geschlecht einige seiner Söhne an weithin sichtbare Stellen zu bringen vermocht. Moritz von Hutten erwarb sich auf dem Fürstbischofstuhl von Eichstädt als katholischer Reformer einen geachteten Namen, Frowin war zu Huttens Zeiten Hofmeister in Mainz, ein anderer Vetter, Philipp, befehligte in den vierziger Jahren in Venezuela die Welser-Truppen; er nahm so teil an der einzigen kolonialen Großtat der Deutschen, die dieses Jahrhundert kennt, und verlor als Pionier durch Verrat das Leben. Hutten wurde – wohl wegen körperlicher Unzulänglichkeit– frühzeitig für das Kloster bestimmt. Er entzog sich aber dem Gelübde, indem er 1505 Fulda verließ. Als Siebzehnjähriger bewies er damit den ausgesprochenen Mut, er selbst zu sein, der ihn über die meisten seiner Mitlebenden hinausheben sollte. Man erprobe sich mit dem Kampf im Leben und im freien Dienst der Musen, so hat Hutten später im "Nemo" diesen Schritt begründet. Nichts solle ihn verführen, auch nur einen Fingerbreit von diesem Streben nach dem Edlen, durch keine leeren Formeln und hohle Namen verfälschten Menschentum, abzuweichen. Hutten ergriff nicht die zwei anderen Möglichkeiten, die ihm sein Stand offenhielt, den Dienst für einen größeren Herrn oder ein Rechtsstudium in Bologna. Er ergab sich dem Humanismus, der jungen Wissenschaft, die schon die zweite Generation in Deutschland erobert hatte. Er wagte damit viel. Er verlor vorläufig jeden Rückhalt an seinem erzürnten Vater, er forderte das Vorurteil seines ganzen Standes heraus, und das war mehr. Denn Hutten war kein Abtrünniger. Er blieb in seinem Blut an ritterliche Art gebunden. Wo immer er später stand und wofür er eintrat, war die Weise, wie er empfand, wie er kämpfte, diejenige des Ritters. Er hat es bitter empfunden, wenn man ihn in seinen Kreisen als einen Entarteten, als einen Niemand [453] behandelte, der es zu nichts gebracht habe. Er hat sich wiederholt über die Verständnislosigkeit für geistige Dinge beklagt, auf die er beim Adel stieß. Seiner inneren Neigung blieb er trotzdem treu. Hutten, der Humanist – es hat einer längeren Prüfung bedurft, bevor er mit Recht sich so nennen konnte. Erst während seines zweimaligen Aufenthalts in Italien ging er so richtig in den Geist des Altertums ein. Er war keine beschauliche Natur, zur Erlangung einer Allgemeinbildung fehlte ihm der innere Trieb und vor allem die Geduld. Mit der Gelehrsamkeit eines Erasmus oder Reuchlin konnte er sich nicht messen. Aber er tat den Schritt zum Humanismus ganz, wie alles, was er tat, mit echter Begeisterung für das Neue, das die Welt des römischen Altertums ihm erschloß, mit einem starken Bedürfnis, in den Humanistenkreisen als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Von der Stimmung, die den Humanismus erst über eine bloße wissenschaftliche Richtung hinaushob, der weltbejahenden Freude, hat er sich stärker durchdringen lassen als die meisten deutschen Humanisten. "O Jahrhunderte, o Wissenschaft! Es ist eine Freude zu leben!" so rief er einmal aus. Hutten überwand für seine Person die Zwiespältigkeit, die im deutschen Humanismus lag. Als Aufklärer teilte er den Glauben an den Fortschritt, machte er sich der Überschätzung des "Geistes" mitschuldig. Er fand es selbstverständlich, in der lateinischen Sprache zu empfinden, zu denken und zu schreiben. Er wußte nichts von der Gefahr, daß die auf fremdem Boden gewachsene humanistische Gelehrsamkeit die völkischen Werte verdrängen und eine verhängnisvolle Kluft zwischen den Gebildeten und Ungebildeten aufreißen könne. Aber Hutten hat dann unter Beweis gestellt, daß der deutsche Humanismus sich nicht vom Volkstümlichen abzusondern brauchte. Als er deutsch zu schreiben begann, schlug er die Brücke. Wie anders sollte eigentlich damals eine tragfähige Nationalgesinnung entstehen als durch eine Verbindung zwischen Volksempfinden und der bewußtgewordenen Nationalidee der deutschen Humanisten, die nur durch die Erschließung römischer Quellen zum eigenen Volkstum gefunden und damit den Deutschen ihre Vergangenheit zurückgegeben hatten? Wenn dann später sich artfremder Geist allzu breitgemacht hat, so nimmt daran gewiß der Humanismus seinen gewichtigen Anteil. Aber das war zu einer Zeit, als Deutschland in zwei Lager gespalten war, als unter der Last der Parteiung und des Dogmenstreites das eigenwüchsige Leben aus dem Humanismus entwich und auch die hoffnungsreichen Ansätze der volkstümlichen Kultur erstickten. In Huttens Leben allerdings blieb dauernd eine Unausgeglichenheit zwischen seiner Lebensführung und den Tugenden bestehen, denen er als Humanist nachzueifern sich verpflichtet hatte. Darin war er ein echtes Kind seiner Zeit, daß ihm dieser Abstand niemals recht bewußt wurde. Trotzdem nahm er die humanistischen Bestrebungen ernst genug; es gab Zeiten, wo ihm der Triumph des Geistes, der Sieg der schönen Wissenschaften das Wichtigste zu sein schien. Und gerne wiegte sich Hutten im [454] Selbstbetrug, über Aberglauben erhaben zu sein, während seine Vorstellungswelt in der Vergangenheit mit allen ihren Irrtümern wurzelte.
1511 kam Hutten nach Wien, an den Hof Kaiser Maximilians. Er geriet in Wien in eine gefährliche Atmosphäre. Denn Maximilian verstand es nur allzu gut, deutsche Herzen für sich zu gewinnen. Er gefiel sich in einem Mäzenatentum, das Gelehrten und Künstlern herrliche Zeiten versprach. Aber das Leben in seiner Umgebung wirkte schädlich auf Menschen, die das Echte vom Unechten nicht zu unterscheiden vermochten, die an und für sich dazu neigten, an phantastischen Träumen Gefallen zu finden, anstatt den Mut zu haben, die Wirklichkeit zu sehen. Denn Maximilian hat trotz tönender Worte des Reiches Bestand nicht gemehrt, sondern noch gemindert. Seinem Mäzenatentum, so hat es Willy Andreas in seinem Buch Deutschland vor der Reformation treffend ausgeführt, haftete eine gewisse Zerfahrenheit und etwas Torsohaftes an: "Züge, die in seinem politischen Handeln wiederkehren und auch sonst seinem Lebenswerk eigen sind." Auch Hutten hat zunächst das Wünschenswerte mit dem Tatsächlichen verwechselt. Von der kaiserlichen Gunst benommen, verherrlichte er in Epigrammen des Kaisers hohes Amt. Er mahnte ihn zu Kriegen gegen die Türken und gegen das wegen seines kaufmännischen Geistes ihm besonders verhaßte Venedig. In einem um diese Zeit entstandenen Gedicht "Warum die Deutschen gegenüber der Frühzeit noch nicht entartet sind" verließ er so weit den Boden der Wirklichkeit, daß er den Zustand des deutschen Staates durchaus nicht bedenklich fand. Aber Hutten war fähig, aus der Erfahrung zu lernen. Als er im Heerlager des Kaisers 1512 mit nach Italien zog und später, in den Jahren 1515 bis 1517, nochmals in Rom weilte, sah er zu seiner schmerzlichen Enttäuschung, wieviel ungünstiger die Dinge in Wahrheit lagen, wie nicht der Kaiser Herr in Italien war, sondern andere Mächte, Frankreich, Spanien, Venedig, die Kurie um die Vorherrschaft stritten. Er erfuhr [455] den Übermut der Fremden, den Spott der Renaissancemenschen über die barbarischen Deutschen am eigenen Leibe. Hier in Italien entdeckte Hutten das Anderssein als deutscher Mensch, fand er den Weg zur politischen Nation. Als Deutscher erkannte er, daß Deutschland von der Kurie für ihre weltlichen Zwecke mißbraucht wurde. Und in die Abneigung gegen die weltliche Macht Roms, die Hutten in Italien in sich wachsen fühlte, war auch die Abwehr gegen fremdes Volkstum mit einbegriffen. Denn er fand das Papsttum mit italienisch-nationalen Zielen verbunden und in die Interessenkämpfe der großen Mächte verstrickt. Aber so wichtig auch die Erfahrungen in Italien für Hutten waren, den entscheidenden Entschluß zur Tat haben sie nicht herbeigeführt. Noch glaubte Hutten, den Kampf dem Kaiser überlassen zu können, von dem er den Sieg der Gerechtigkeit erwartete. Er erhob wohl in seinen Dichtungen Klage gegen Rom. Und schon klang bei ihm der Ton an, der seine eigentlichen Kampfjahre beherrschen wird. Aber es war vorläufig ein gedämpfter Klang. Seine Kritik hüllte sich in humanistisches Gewand, über den üblichen Rahmen ging er nicht bedeutend hinaus. Bisher in der Öffentlichkeit noch wenig bekannt, erhielt Hutten seit 1515 zwei günstige Gelegenheiten, zu zeigen, was er mit der Feder zu leisten verstand. In dem einen Fall nahm er Partei für den anerkannten Meister des deutschen Humanismus, Johannes Reuchlin. Reuchlin stand seit 1511 in einem grundsätzlichen Streit mit der Hochburg der Scholastik, der dominikanischen Universität Köln. Er war vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gegen die völlige Vernichtung aller jüdischen Bücher, wie sie der übergetretene, gegen seine Artgenossen von fanatischem Haß erfüllte Jude Pfefferkorn verlangt hatte. Es kam zu einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Pfefferkorn und Reuchlin. Die Kölner Universität trat für den Juden ein, mit Reuchlin gingen fast alle europäischen Humanisten. Hutten griff unmittelbar in diesen Streit ein, indem er sich von Rom aus als Verfasser am zweiten Teil der Dunkelmännerbriefe beteiligte, der glänzendsten Satire, die der deutsche Humanismus gegen die Entartungen der Scholastik hervorgebracht hat und die Hutten viel Anerkennung und Ehre eintrug. In dem anderen Falle stellte er sich in die Front der Reichsritterschaft gegen die Willkür eines Fürsten. Er verfocht die beleidigte Ehre seines Geschlechts gegen den Herzog Ulrich von Württemberg, der seinen Stallmeister, Hans von Hutten, im Walde aus Rachsucht erschlagen hatte (1515). In seinen vier Reden an den Herzog, deren Abfassung sich über Jahre erstreckte, zeigte Hutten seine ausgesprochene Gabe für die Wirkung des geschriebenen Wortes. Gegen seine schonungslosen Angriffe kam die lahme Verteidigung des Herzogs nicht an, denn Hutten fuhr immer schwereres Geschütz auf, bis er das unglückliche Verhältnis des Herzogs zu seiner, vor seiner Roheit geflüchteten Gemahlin der Öffentlichkeit preisgab. Es kam infolge seiner wirksamen Unterstützung zu einer Versöhnung mit seiner Familie, auch der Vater begann sich über die "Narrenspossen", wie er die Studien seines Sohnes genannt hatte, zu beruhigen.
Hutten besaß eine Anzahl Eigenschaften, die wenig anziehend waren; er war vor allem unverträglich, eitel, ruhmsüchtig. Manche seiner Anlagen bestimmten ihn nicht zu einem Leben der Entsagung und des Opfers. Er liebte den Lebensgenuß, er handelte trotz seines Temperaments mit nüchterner Überlegung, er war gelegentlich bereit, sich den Umständen anzubequemen, er besaß nicht den Ehrgeiz, sich unnötigen Gefahren auszusetzen. Aber gerade angesichts dieser Schwächen und dieser Veranlagung wirkt es um so eindrucksvoller, wie Huttens Nationalgefühl schließlich ganz und gar von ihm Besitz ergriff und sein Schicksal wurde. Der in ihm [457] glimmende Funke schlug schon zur hellen Flamme empor, als er an den Hof Maximilians kam. Damals schon pries er die Ehrlichkeit, Frömmigkeit und Treue der Deutschen und meinte, daß sie seit der Vorzeit nicht entartet seien. Wie vorteilhaft erschien ihm der deutsche Volkscharakter gegenüber dem italienischen! Dabei war er nicht blind gegen Nationalfehler, sobald er erkannte, daß diese Eigenschaften das Ansehen der Deutschen im Auslande herabzusetzen geeignet waren. Wie stark empfand Hutten die geschwächte Stellung Deutschlands, wie bitter den Spott von Fremden, wieweit war er imstande, die Geringachtung der nationalen Ehre als eine persönliche Kränkung zu nehmen! "Sterben kann ich, aber Knecht sein kann ich nicht. Auch Deutschland geknechtet sehen kann ich nicht." Die Trauer über die Not des Vaterlandes war ihm wichtiger als das eigne Unglück. Gott habe ihn mit dem Gemüt beschwert, daß ihm gemeiner Schmerz tiefer denn vielleicht etwa anderen zu Herzen gehe. Und wie hat sich der Ausdruck seines Nationalgefühls mit den Jahren geläutert! Zunächst war bei ihm der Freiheitsgedanke noch stark mit ständischen Erinnerungen belastet; er ging aus [458] dem schroffsten Unabhängigkeitsdrang des Reichsritters hervor. Durch sein politisches Vermächtnis, den Dialog "Arminius", Vielleicht Ende 1520 entstanden, aber erst nach seinem Tode an die Öffentlichkeit gelangt, wissen wir, daß Hutten zuletzt die politische Freiheit als höchstes Allgemeingut betrachtet hat. Bis zur "Hermannschlacht" des Heinrich von Kleist ist die nationale Unabhängigkeit nicht mit solcher Unbedingtheit als höchste sittliche Pflicht gefeiert worden, wie es von Hutten in seinem "Arminius" geschehen ist. Wie ist die geschichtliche Sendung des Arminius für Deutschland von Hutten klar erkannt worden; als ein Brutus, als ein Erkämpfer der vaterländischen Freiheit wird er auf den ersten Platz verwiesen! Arminius war "der Freieste, Unbesiegteste und Deutscheste". Die vermeintliche Untreue und Verrat des Arminius an den Römern rechnet Hutten ihm als besonderes Verdienst an: "Nie war irgendeiner glorreich, der nicht zuweilen seiner Tugend geschadet hätte." Sei es nicht erlaubt, das gewalttätig Geraubte gewalttätig bei Gelegenheit wiederzugewinnen? "Auch glaube ich nicht, daß, wenn es gegen die Natur ist, aus einem Freien einen Sklaven zu machen, es gegen die Gesetze wäre, auf das Geschenk der Natur zurückzublicken. Dann gilt ein Treuwort, wenn wir geben, was wir sollen."
Zwei äußere Ereignisse haben Huttens Willen zum Handeln gefördert. Am 12. Januar 1519 starb Kaiser Maximilian. Damit wurde Hutten die Beschäftigung mit der hohen Politik nahegelegt, die bevorstehende Kaiserwahl versetzte die Gemüter in Erregung. Das andere war der Beginn der Freundschaft mit Franz von Sickingen, mit dem Hutten während des Feldzuges gegen den Herzog Ulrich von Württemberg im Lager zusammentraf. Viel hat die Freundschaft mit Sickingen Hutten bedeutet. Die Anerkennung durch den mächtigen Führer der Ritterschaft schmeichelte seinem Selbstgefühl: auf den Burgen Sickingens fand er in bewegten [459] Zeiten Unterkunft und Schutz. Als Sickingen hinter ihn zu treten schien, erhielt seine Wirksamkeit eine politische Bedeutung, die dem mittellosen Ritter und Humanisten versagt geblieben wäre. Hutten hat seinem Freunde die Hilfe mit unverbrüchlicher Treue und Anhänglichkeit vergolten. Im Vorwort zum Gesprächsbüchlein, das er ihm 1520 widmete, hat er Sickingen mit einer so warmen Herzlichkeit gedankt, wie sie bei ihm sonst kaum zu finden ist. Er überschätzte seinen Freund, er wußte nie genug dessen vortreffliche Eigenschaften zu rühmen. Für Sickingen war Hutten nur ein Stein im Brett, er ließ sich dessen Verehrung gern gefallen, aber er dachte als Geschäftsmann und in taktischen Erwägungen, er war nicht bereit, sich den Plänen Huttens ganz zu widmen, obwohl es ihm an Sinn für höhere Ziele nicht gebrach. Während des Jahres 1519 hat sich Hutten nicht selbst mit Luther in Verbindung gesetzt; noch war ihm die Gunst des Erzbischofs zu wichtig. Mit seinen großen Dialogen "Vadiscus oder die Dreifaltigkeit" und "Die Anschauenden" aber leitete er den Hauptangriff gegen Rom ein, indem er mit einer Heftigkeit, die er bisher vermieden hatte, die Beraubung und Unterdrückung Deutschlands durch das weltliche Rom als eine Anklage in seine Leserschaft schleuderte. Die Wirkung der "Anschauenden" schwächte er durch ritterliche Befangenheit; die Ritter erscheinen hier als deutsche Patrioten, als Hüter deutscher Art, während die Kaufleute durch Einfuhr fremder Ware die schlichten Deutschen zu Luxus und Weichlichkeit erziehen. Später erkannte Hutten, daß die Feindschaft zwischen Adel und Bürgertum ein Haupthindernis für den politischen Freiheitskampf war. In den "Räubern" hat er den Städten die Hand zur Versöhnung und zum Bündnis entgegengestreckt. Die Frage wird immer offen bleiben, ob er auch den letzten Schritt zur Volksgemeinschaft vollzogen hätte, zu den Bauern. Im "Neukarsthans", den man wohl fälschlich Hutten zugeschrieben hat, werden Ritter und Bauern in eine Front gestellt. Lag hier die Schranke, über die Hutten nicht hinweggekommen wäre? Denn sehr hoch war damals die Mauer, die den Ritterbürtigen vom gemeinen Manne trennte. Zu wenig bündnisfähig schien er ihm zu sein. Im Juni 1520 war Hutten bereit, mit Luther gemeinsam vorzugehen: "Verfechten wir die gemeine Freiheit, befreien wir das so lange unterdrückte Vaterland!" Hutten erhob die Sache Luthers zu seiner eigenen, so wie er sie verstand, zur deutschen Sache. Er war keine sehr religiöse Natur. Sein Kirchenprogramm war nicht umstürzend. Als Ziel schwebte ihm etwa die deutsche Nationalkirche vor. Seine Forderungen hielten sich im üblichen Rahmen: Aufhebung der Klöster, Säkularisation des Kirchengutes, Freiheit des Denkens. Hutten besaß durchaus ein Gefühl dafür, daß Luther sich in einer höheren Schicht bewegte. Sein Vorhaben sei menschlich, während Luther als ein schon Vollkommener alles auf das Göttliche gestellt habe. Hutten hoffte, daß die durch Luther ausgelöste Volksbewegung die politische Freiheit Deutschlands bringen werde. Er wünschte auf seine Art an Luthers Seite zu streiten. In ihrem Ausgangspunkt waren Luther und Hutten [460] durchaus verschieden; der eine handelte allein aus religiösem Antrieb, der andere aus politischer Leidenschaft. Aber sie waren sich darin wesensgleich, daß sie Huttens Wahlspruch "Ich hab's gewagt" über ihr Leben schreiben konnten, daß sie stets sich selbst treu waren. Es gab eine kurze Zeit, im Herbst 1520, da die Wege der beiden Männer sich zu treffen schienen, als auch Luther, vor allem in seiner Schrift "An den christlichen Adel deutscher Nation", sich an das nationale Gewissen wandte. Damals hat auch Luther Huttens und Sickingens Eintreten für ihn dankbar begrüßt. Aber schon im Januar 1521 lehnte er des Ritters Kampfweise grundsätzlich ab; nicht durch Waffen, nur durch das Wort wollte er die Gegner bezwingen. Vergeblich hat sich Hutten seitdem um eine engere Verbindung beworben. Noch im Dienste des Erzbischofs unternahm Hutten im Sommer 1520 eine Reise nach Brüssel, um Erzherzog Ferdinand für seine nationalen Pläne zu gewinnen und durch diese wichtige Persönlichkeit auch den neugewählten Kaiser auf seine Seite zu ziehen. Das Unternehmen war ein Fehlschlag, fast fluchtartig verließ Hutten die Niederlande. Bei seiner Rückkehr fand er ein drohendes päpstliches Breve vor, dem dann der Bannstrahl folgte. Er mußte Mainz verlassen. Seitdem fühlte er sich mit dem vom gleichen Schicksal betroffenen Luther um so enger verbunden. Hutten war jetzt auf alles gefaßt. Schon vor seiner Reise hatte er ausgesprochen, worauf es ankam: "Denn durchgebrochen muß endlich werden, durchgebrochen, besonders mit solchen Kräften, so gutem Gewissen, so günstigen Gelegenheiten und einer so gerechten Sache und da das Wüten der Tyrannen auf das höchste gestiegen ist." Am 8. August schrieb er an den Humanisten Capito in großartiger Haltung: "So fängt denn endlich dieser Brand zu brennen an, und es soll mich wundern, wenn er nicht schließlich durch meinen Untergang gelöscht werden müßte. Aber in diesem Handel habe ich mehr Kraft der inneren Gesinnung als jene äußere Macht. Wohlan denn, jetzt heißt es hindurch!"
Hutten kannte die Macht der Gegner und beschränkte sich nicht darauf, sie mit der Feder allein zu bekämpfen. Nach allen Seiten hielt er Umschau nach Bundesgenossen. Seine Schreiben an die Kurfürsten von Mainz und Sachsen waren Mahnungen, sich des Vaterlandes Not anzunehmen. Dem Mainzer hielt er, nicht ungeschickt an eine empfindliche Stelle rührend, die Befürchtung vor, der Papst werde den Bischöfen und dem ganzen geistlichen Stande noch viel Übel und eine harte und traurige Lage bereiten. Den Kurfürsten von Sachsen erinnerte er an die Verpflichtung der sächsischen Vergangenheit. Die Sachsen seien jederzeit unüberwindlich gewesen. Sie hätten allein die fremden Herren vertrieben und sich gegen jede Dienstbarkeit gesträubt, als fast ganz Germanien mit Krieg überzogen worden sei. Noch im Dezember fragte Hutten in Wittenberg an, wieweit man auf Unterstützung des Kurfürsten rechnen könne. Er setzte die Macht, die Sickingen vertrat, als ständige Drohung gegen die Feinde ein. Um diesen in der guten Sache recht zu festigen, las er ihm im Winter 1520/1521 aus Luthers Schriften vor. Wenn er Sickingen das Gesprächsbüchlein widmete, ihn so häufig zum Helden seiner Dialoge wählte, so lag auch darin eine Absicht. In dem Neujahrsbrief, mit dem Hutten Sickingen das deutsche Gesprächsbüchlein übersandte, wünschte er ihm keine fröhliche, sanfte Ruhe, sondern "große, ernstliche, tapfere arbeitsame Geschäft, darin Du vielen Menschen zu gut Dein stolzes heldisches Gemüt brauchen und üben mögest". Auch seine eigene Sippe rief er zur Unterstützung auf: "Wohnt in Dir noch fränkischer Sinn und hältst Du bei der angestammten Freiheit", so fragte er seinen Schwager Sebastian von Rotenhan in einem Brief vom 13. September. Im Mittelpunkt seiner Sorge aber stand die Gewinnung des Kaisers. Hutten hat sich gleich vielen geirrt, wenn er Karl von Spanien als einen Deutschen ansah. Aber die Hoffnung auf den Enkel Maximilians, der größere Volkstümlichkeit besessen hatte als je ein Habsburger vor ihm, war dennoch realpolitisch begründet. Denn der Habsburger war der Erbe eines mächtigen Reiches. Und einen starken Herrscher wollten die meisten Deutschen haben, der sie gegen die Willkür der kleinen Herren schützte, der Recht und Ordnung wiederherstellte, der den Kampf gegen die Türken und den Papst zu führen imstande war. Auch Hutten konnte nichts anderes tun, als sich für Karl V. einsetzen. Er hat nicht erst abgewartet, bis der Kaiser zur Krönung nach Deutschland kam. Er handelte richtig, wenn er [463] es unternahm, vorher den Bruder Ferdinand von Österreich auf seine Seite zu bringen. Das war der Zweck seiner Reise nach den Niederlanden, das war der Sinn der Widmung einer Schrift über Kaiser Heinrich IV., durch die er die Erinnerung an das Ringen zwischen Kaisertum und Papsttum zu beleben hoffte. Die halbe Schlacht war verloren, als sich Ferdinand versagte, von dessen Einfluß auf den Bruder sich Hutten viel versprochen hatte. Als dann der Kaiser nach Deutschland kam, hat Hutten seine Erwartungen schnell herabgestimmt. Er habe nur noch wenig Hoffnung auf den Kaiser, gestand er im Dezember 1520 Luther. Freilich ziemlich schwerfällig fing er es an, um den Kaiser zu gewinnen. Seine Briefe an diesen enthielten zu viele Mahnungen und zu viel bitteren Tadel, sie wurden nicht gut aufgenommen. Aber zweckmäßig war die Taktik, die Hutten in seinen Schriften wählte, wenn er in der Öffentlichkeit den Anschein erweckte, als stehe der Kaiser an der Seite eines Luther und eines Sickingen, oder als werde er nur von seiner Umgebung schlecht beraten. Denn ohne den Kaiser war sein Vorhaben zum Scheitern verdammt. Der Kaiser allein war der natürliche Mittelpunkt. Der Deutschen ruhmreiche Vergangenheit fiel mit der Blüte des Kaisertums zusammen. An dem universalen Gegensatz zwischen Kaiser und Papst hatte sich ein nationaler Stolz der Deutschen gebildet, der in den Dichtungen Walthers von der Vogelweide starken Ausdruck fand. Das Universale und das Nationale waren damals in Deutschland keine Gegensätze, sie bedingten einander, sie hatten sich gegenseitig getragen. Der Deutschen Ansehen bei den Nachbarvölkern beruhte zum Teil noch immer darauf, daß sie die Kaiserkrone vergaben. Nur der Macht des Kaisers war es möglich, den Ehrgeiz der Fürsten in Schranken zu halten, bei ihm suchten die Schwächeren Schutz und Rückhalt. Vor einem "ungnädigen Kaiser" bangten die mächtigsten Fürsten Deutschlands, so viel bedeutete auch jetzt der kaiserliche Name. Eine gemeinsame Grenzlandnot kannten die Deutschen nicht. Das in den Grenzländern vorhandene nationale Empfinden konnte nur zur Vertiefung des landschaftlichen Bewußtseins führen. Im Kaiser verkörperte sich für viele die Idee des Reiches und damit die übergeordnete Einheit. Beim Kaiser lag noch immer ein Großteil der Entscheidung über das Ganze. Freilich hat das Bedürfnis, Karl V. zu gefallen, Huttens schwerste Irrung ermöglicht. Im Frühjahr 1521, als schon der Wormser Reichstag zusammengetreten war, kam der Beichtvater Karls V., Glapion, auf die Ebernburg. Die Absicht des Vielgewandten ging dahin, Sickingen und Hutten gegen manche der Lehren Luthers einzunehmen (was bei Sickingen vorübergehend gelang), sie zu veranlassen, Luther zu einer Aussprache nach der Ebernburg einzuladen und die gefürchteten Ritter durch Übernahme in kaiserlichen Dienst vorläufig unschädlich zu machen. Der Hauptplan mißglückte, Luther lehnte die Einladung zu seinem Glück ab, es hätte ein gefährlicher Hinterhalt werden können. Aber Hutten ließ sich täuschen, er trat in kaiserliche Dienste und nahm ein Handgeld an. Dafür mußte er sich verpflichten, nichts gegen den Kaiser zu schreiben. Die Stoßkraft [464] seines geistigen Kampfes hat daher im Frühjahr 1521, zu Huttens späterem Schmerz, fraglos schwer gelitten. Denn seine "Invektiven", die er im Februar und März gegen die päpstlichen Nuntien Aleander und Caracciolo sowie gegen die Wormser Bischöfe richtete, waren wohl voller Drohungen und erreichten so weit ihren Zweck, daß sie das kuriale Lager in Schrecken versetzten (Aleander wagte den Bann gegen Hutten nicht zu vollziehen), aber sie konnten, lateinisch verfaßt, nicht mehr die Wirksamkeit der großen Kampfzeit ersetzen. Als Hutten von der Verurteilung Luthers in Worms erfuhr, war seine Enttäuschung sehr groß: "Unsterbliche Götter, welches Ende wird die Sache nehmen? Bei diesem Unwetter, glaube ich, muß sich zeigen, ob Deutschland Fürsten hat oder sich nur von schön geputzten Statuen regieren läßt", heißt es in einem Brief an Pirckheimer vom 1. Mai. Dem Kaiser hatte er schon vorher den Dienst aufgesagt.
Hutten verließ aus unbekannten Gründen die Burgen Sickingens im Herbst 1522, noch bevor die endgültige Katastrophe eingetreten war, und flüchtete zunächst nach Basel, wo er schwerkrank und völlig mittellos eintraf. Es war eine sehr bittere Erfahrung für ihn, als ihn Erasmus von Rotterdam unter fadenscheinigen Gründen verleugnete. Hutten hatte sich früher der Gunst des großen Humanisten zu erfreuen gehabt, er legte auf seine [465] Anerkennung besonders großen Wert. Das Verhältnis war allmählich abgekühlt. Der bedächtigen Art des Gelehrten sagte das hitzige Temperament Huttens nicht zu. Er stellte einmal mit Bedauern fest, daß der lutherische Sturm Huttens Talent den Musen entzogen habe. Hutten hatte es seinerzeit Erasmus verübelt, daß er nicht entschieden genug von den Gegnern Luthers abgerückt war, nebenbei gesagt, wünschte er aber nicht, daß sich Erasmus besonderen Gefahren aussetze. Als Erasmus es offenkundig vermied, mit Hutten in Basel zusammenzukommen, aus Furcht, das Wohlwollen hochgestellter Gönner zu verlieren, und aus Sorge für seine Gesundheit, machte sich Huttens Zorn in einer Kampfschrift Luft, die seinen ungebrochenen Angriffsgeist bewies. Er schrieb die "Herausforderung an Erasmus", in der er den ehemaligen Gönner der persönlichen Untreue und des Verrats an der gemeinsamen Sache beschuldigte. Erasmus, der vergeblich versucht hatte, das Erscheinen der "Herausforderung" zu verhindern, rächte sich, indem er den Rat von Mühlhausen davor warnte, Hutten Unterkunft zu gewähren. Er verfaßte eine Gegenschrift, den "Schwamm", der erst nach Huttens Tode erschien und wegen der zahlreichen persönlichen Verunglimpfungen auch den Freunden des Erasmus mißfiel. Mit Unrecht hatte Hutten Erasmus für einen bedingungslosen Anhänger Luthers gehalten. Es lag in dessen am Geiste des Altertums erzogenen Weltanschauung begründet, wenn er Luther nur bis zu einer gewissen Grenze zu folgen vermochte, wie es sich später bei der Auseinandersetzung über die Willensfreiheit zeigen sollte. Trotzdem hat der Zusammenstoß zwischen Hutten und Erasmus grundsätzliche Bedeutung. Hutten, der Deutsche und der Kämpfer, verstand es nicht, daß Erasmus in einer nationalen Schicksalsfrage keine klare Entscheidung traf. Erasmus, dessen Natur zur reinen Betrachtung neigte, war einer solchen Entschiedenheit nicht fähig. Es waren zwei Welten, die sich nicht verstehen konnten. Nachdem Hutten die Nachricht vom Tode Sickingens erhalten hatte, sah er sich zu neuer Flucht veranlaßt. Er fand in Zürich endlich Ruhe und konnte in den heißen Quellen Linderung für sein Leiden suchen. Von Zürich aus schrieb er seine letzte Kampfschrift gegen die Tyrannen. Sie sollte die Fürsten treffen, die Sickingen vernichtet hatten. Aus dem Begleitbrief an Eoban Hesse spricht Huttens ungebeugter kämpferischer Wille. Als ein Flüchtling, dem Tode nahe, ohne Freunde, bettelarm, hielt er bis zum Ende am selbstgewählten Schicksal fest. Auf der Insel Ufenau im Züricher See wurde er im August 1523 von seinen körperlichen Qualen erlöst; sein Leben brach ab, bevor es alle in ihm liegenden Möglichkeiten erschöpft hatte, es hätte unter anderen Sternen zu tieferer Erfüllung führen können. Dafür blieb Hutten nun im Tode ewig jung, zu allen Zeiten ein Mahner und ein Künder für sein Volk.
|