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[Bd. 4 S. 416]
Lovis Corinth, 1858-1925, von Bruno E. Werner

Lovis Corinth in Paris, 1887.
Lovis Corinth in Paris, 1887.
[Nach wikipedia.org.]
Der Maler Lovis Corinth wurde in Tapiau in Ostpreußen, eine Bahnstunde von Königsberg entfernt, am 21. Juli 1858 geboren. Er starb am 17. Juli 1925, wenige Tage vor der Vollendung seines siebenundsechzigsten Lebensjahres, in Zandvoort, einem holländischen Seebad, wo er malend seinen letzten Sommer verbrachte. Sein Leben, das ihn von Königsberg über München nach Paris, dann wieder nach München und im reifen Mannesalter nach Berlin führte, scheint das eines ostpreußischen bäuerlichen Menschen, der mit gesunden, kraftvollen Sinnen eine Welt eroberte, die ihm nur geringen Widerstand entgegensetzte, – bis ihn am Anfang seines sechsten Jahrzehntes das Schicksal ereilte. Erblickt man bis zu diesem Augenblick den Werdegang eines Mannes, der im Wechsel zwischen dem Glück der Wirklichkeitseroberung und einer immer wieder durchbrechenden, aber rasch vom Rausch verjagten, tiefen Niedergeschlagenheit zum Erfolg führte, so erkennt man nun am Ende dieses Lebens Hiob, den Mann aus dem Lande Uz, und vor ihm aufgebaut ein Werk, dem wohl ein überzeitlicher Rang zukommt. Denn mag auch die Malerei des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, verglichen mit der gewaltigen Epoche, die im engeren Reich mit der Nachfolge Dürers, im großdeutschen Raum mit Rembrandt und Vermeer zu Ende ging, in den Hintergrund treten, so gesellt sich doch ein Mann wie Corinth kraft seines gewaltigen persönlichen Einsatzes und seines tragischen menschlichen Ringens in die Reihen der Besten der deutschen Vergangenheit, und damit löst sich sein Werk und Leben aus der Zufälligkeit eines individuellen Künstlerschicksals und empfängt jene Allgemeingültigkeit, die für die Nachgeborenen Verpflichtung bedeutet.


Franz Heinrich Corinth, der Vater des Malers, war ein Bauernsohn aus Neuendorf in Ostpreußen und heiratete mit neunundzwanzig Jahren die elf Jahre ältere Witwe des Lohgerbermeisters Opitz in Tapiau, eine Schuhmacherstochter. Ihren fünf Söhnen aus der ersten Ehe folgte zur Zeit der Roggenernte als einziger Sohn der zweiten Franz Heinrich Louis, der sich später Lovis nannte. Der Vater ist ein tüchtiger geschickter Mann gewesen, dem man Federgewandtheit nachrühmte und der das ihm zugefallene Vermögen zu mehren wußte, so daß sein kleiner Sohn mit dem natürlichen Selbstbewußtsein einer in diesem Kreise als wohlhabend erachteten Herkunft aufwachsen konnte. Das Städtchen Tapiau, dem der [417] Junge seine ersten und damit bestimmenden Eindrücke verdankt, liegt in einer jener großen Ebenen des Ostens, über die sich ein gewaltiger Himmel breitet, mit jenen niedrigen Horizonten, wo sich die Welt in der Unendlichkeit zu verlieren scheint. Dort strömt die Deime in den Pregel, Schiffe und Wagen ziehen nach der fernen Stadt Königsberg. Kähne mit Getreide, Torf und Kohle, grasendes Vieh auf den Wiesen, Knechte, Mägde, die Gesellen der Gerberei mit ihren derben Zurufen und Scherzen, der Kirchgang, die blutigen Felle auf dem Hof, die die Fleischer brachten und die der Schuster oder der Bauer nun bearbeitet aus der Werkstatt abholt, Rinder und Schweine, die auf das Schlachtmesser warten, purpurblaue und perlmutterfarbene dampfende Eingeweide und das unerbittlich harte, aber farbige und starke Leben ländlich-kleinstädtischer Daseinsbehauptung – das sind die ersten Erlebnisse. Dort sind die langen Winter, der Wind aus Rußland läßt die Flüsse erstarren, und die schweren Schlitten, mit Winterfutter beladen, werden von scharf beschlagenen Pferden zu den Gütern der Umgegend gebracht. In [418] wollene Tücher gewickelt trägt die Dienstmagd den kleinen Corinth in die Schule, soweit nicht Kälteferien sind. Zuweilen fährt man auf dem neuen russischen Schlitten klingelnd und läutend durch das schneebedeckte Land zu Onkel und Tante nach Moterau. Zuweilen tanzen die Großen, und oft trinken sie dampfenden Grog. Im Sommer feiern die Männer ein Schützenfest. Nach dem Zapfenstreich ziehen am andern Tag die Schützenkönige, mit Medaillen behängt, die Fahnenträger und die Offiziere mit geborgten Degen durch birkengeschmückte Straßen auf den Markt. Dort warten die dicken Gastwirte und der Generalstab zu Pferde, und von da geht es in den Fichtenwald in der Nähe, wo der Schützenkönig durch den Meisterschuß bestimmt wird, wo sich die Trinkbude und der Tanzboden befinden. Bei Sonnenuntergang beginnen die Getränke ihre Wirkung zu tun, und mit den Landmägden verschwindet man im Gehölz, bis man am Morgen grölend wieder in die Stadt einzieht. Zuweilen geht es auch nach Wehlau, dessen Fenster man bei klarem Wetter über die Wiesen blitzen sieht, zum Jahrmarkt. Hier nehmen die Lederhändler die Eltern in Empfang. Der Vater kauft auf dem Pferdemarkt, die Mutter in den Buden oder am Fluß, wo Elbinger Käse in den Kähnen feilgehalten wird. Es gibt andere Buden mit Pfefferkuchen, Riesendamen, Seejungfern und Kellnerinnen. Am Abend fährt man, erfüllt von großen Eindrücken, nach Hause.

Der "Lue" soll natürlich kein Bauer oder Handwerker bleiben. "Studieren soll er und ein tüchtiger Mensch werden", sagen die Eltern, die es sich leisten können. Der Lehrer hat Respekt vor dem wohlhabenden Vater, und der Kleine macht seine Sache in der Schule zunächst ganz gut. Nur mit dem Rechnen hapert es. Im übrigen sieht man, daß er "anders" als die anderen ist. Er schneidet aus Papier Tiere und Menschen, und wenn es ein Hengst sein soll, so beharrt er trotz des Einspruchs seiner entsetzten Schwester mit dem ihm eigenen Starrkopf auf jeder Einzelheit. Denn es wäre ja unehrlich, das Tier anders darzustellen, als man es mit seinen Augen wahrgenommen hat.

Als er neun Jahre alt ist, bringt ihn der Vater aufs Gymnasium nach Königsberg. Er wohnt bei der Schwester der Mutter, einer Schuhmachersfrau, von "infernaler Genialität", wie Corinth später sagte. Hier kam er im Verlauf der Zeit mit dem Groschenrechnen und der Ärmlichkeit in Berührung. Er wird anfangs wegen seines Dialektes von den Städtern auf der Schule verlacht, dann aber wegen seiner Körperkräfte geachtet. In der Quarta ist er bereits kein Musterschüler mehr, aber er hat sich indessen die erforderliche Routine im Abschreiben angeeignet. Im übrigen fällt er nicht weiter auf. Nur einmal in der Singstunde zeichnet er den Lehrer. Er erhält einige Ohrfeigen, dann betrachtet der Lehrer das Blatt, lacht und sagt: "Jung', werde doch Porträtmaler!" und steckt das Blatt in die Westentasche. Der fünfzigjährige Corinth erinnerte sich später dieses Augenblicks: "Es war mir nicht anders, als wenn ich einen Gruß aus dem Jenseits erhielt." Als er dreizehn ist, stirbt seine Mutter. "Den Tod betrachtete ich mit der [419] neugierigen Schärfe, welche den Kindern üblich ist", schreibt der Maler in seiner Selbstbiographie. Knapp schafft er das Einjährigenzeugnis, unklar ob er Matrose, Soldat oder Landwirt werden soll. Der Vater ist wenig glücklich, daß es zum Studieren nicht langt. Schließlich will sein Sohn Maler werden, und so kommt er auf die Kunstakademie nach Königsberg.

Skizzenblatt von Lovis Corinth mit Bleistiftstudien, 1879.
[417]      Skizzenblatt von Lovis Corinth
mit Bleistiftstudien, 1879.
Dargestellt sind
seine Verwandten in Moterau bei Tapiau.
Eine solche Jugend gleicht der vieler anderer, aber als ein Beginn wirkt sie fort, und wenn es auch zuletzt Geist und Seele sind, die unabhängig von den Gegebenheiten der Natur das Leben eines Menschen formen, so werden in diesen Jahren doch Fundamente gelegt, die die Haltung im späteren Dasein weitgehend bestimmen. Aus dem Handwerkerhaus des Landstädtchens und dem Boden Ostpreußens, aus einem sicheren Auftreten, das nur dem Gefühl entspringen kann, ein Herrensohn zu sein, erwächst die Gestalt dieses Mannes, und wenn sein Genie, wie das jedes anderen, auch rein transzendenter Herkunft ist, so wird doch die ländliche Abstammung und ein solcher Beginn stets ein Schlüssel zum Verständnis für seine Art sein. Corinths weitere Jugend und der äußere Lebensweg unterscheiden sich im Grunde nur wenig von dem Werdegang anderer erfolgreicher Maler. Die Einflüsse, denen er ausgesetzt war, die Lehrer, die er fand, die äußeren Gegebenheiten des Lebens und der Weg zum Erfolg bleiben ein Thema von vornehmlich kunstgeschichtlichem Interesse. Wir zeichnen sie hier in aller Knappheit auf.

Die Lehrer, die der achtzehnjährige Corinth auf der Akademie in Königsberg fand, sind heute auch in dieser Stadt fast vergessen. Rosenfelder, der Direktor, hatte "Die Übergabe der Marienburg" gemalt, die im Museum hängt. Harnische, wallende Mäntel, samtene Draperien, eine Historienmalerei nach Piloty mit viel Mimik und theatralischem Pathos, das waren die Motive des jungen Schülers. "Der große Gipsknecht", wie ihn seine Mitschüler nannten, lief in dem gesunden Instinkt, der, ohne die Bewußtseinsschwelle zu überschreiten, ihn immer begleitet hat, mit dem Skizzenbuch umher. Die Eroberung der Wirklichkeit, auf die es ihm ankam, und der Wille zum Charakteristischen, den er – nur auf ganz andere Art – mit seinen Lehrern gemeinsam hatte, ließ ihn Marktweiber zeichnen und Schiffer, Ladeknechte und vor allem das Schlachthaus. Dabei haßte er die feinen Zierbuben an der Akademie und blieb ein Eigenbrötler, der immer nur beim Trinken Kameraden fand. Man besuchte das Tingeltangel, rauchte aus langen holländischen Pfeifen, spielte Skat, und zuweilen gab es einen großen Krawall in einer Kneipe, der ihn auch einmal unsanft mit der Polizei in Berührung kommen ließ. Aber manches lernte er in diesen Jahren, vor allem eine bestimmte handwerkliche Könnerschaft des Zeichnens, die er sich ohne große Schwierigkeiten aneignete, so daß er, als er nun 1880 nach München ging, von dem Maler Loefftz im Atelier angenommen wurde, der in der Wahl seiner Schüler ziemlich streng war.

München stand damals auf dem Höhepunkt seines Kunstruhms. Piloty lebte noch, Defregger war da und Diez, zuweilen sah man Leibl. Die großen [420] Ausstellungen, auf denen man auch Courbet, Millet und die Schule von Barbizon finden konnte, hatten eine internationale Bedeutung. Der junge Corinth, der schon als
Neger Othello.
Lovis Corinth: Neger Othello.
Öl auf Leinwand, 1884.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]

Selbstportrait, 1887.
Lovis Corinth: Selbstportrait.
Öl auf Leinwand, 1887.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Schüler geschichtliche Interessen gehabt hatte, fühlte sich stark zur Historienmalerei hingezogen, und in der Tat hat ihn später, als er fast nur noch den Stimmen seines Innern horchte, die Historie als Maler immer wieder beschäftigt. Einen größeren Eindruck als die Franzosen machten damals die Holländer in München, und so nimmt es nicht wunder, daß Corinth nach dreijährigem Aufenthalt nach Antwerpen fährt, um dort weiterzuarbeiten. Er hielt es hier nur kurz aus und dachte später ungern an diesen Aufenthalt zurück. Vermutlich hat er in Holland gelernt, wie das Bild eines Negers "Othello" beweist, sich zunächst immer mehr zum reinen Sehen zu bekennen. Über Belgien geht er im gleichen Jahr nach Paris. Dort blieb er drei Jahre. In seiner Selbstbiographie finden sich zwei gezeichnete Selbstbildnisse dieser Zeit. Eines, das sichtlich nach akademischem Vorbild idealisiert ist, von 1885 und ein vermutlich ähnlicheres von 1887, beide mit schwarzem, langem Bart, so daß seine Freunde ihn mit Andreas Hofer verglichen und die Franzosen ihn als fürchterlichen bayrischen Soldaten mit einem Raupenhelm an die Wände des Ateliers malten. Er arbeitete damals wie viele andere in der Akademie Julien und wußte nichts von Manet und den großen Impressionisten, die zur gleichen Zeit lebten, sondern kannte nur eine Sehnsucht, im Salon auszustellen und jene Medaille zu erhalten, mit der man gewissermaßen als Diplomträger in die Heimat zurückkehren könnte. Er gewann sie nicht. Die Pariser Schule blieb ihm fremd, wie ihm später die Impressionisten fremd geblieben sind. Aber er scheint dort ein lebendiges Verhältnis zur Farbe gewonnen und damit den Durchbruch zu einem neuen Weg gefunden zu haben.

Vater Franz Heinrich Corinth auf dem Krankenlager.
Vater Franz Heinrich Corinth auf dem Krankenlager.
Öl auf Leinwand, 1888.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
So sehen wir ihn 1888 wieder in Königsberg. Es ist so, als empfänge er nun in seiner Welt einen neuen Zustrom zu eigner Sicht und Gestalt. Er malt den Vater auf dem Sterbebett, ein Bild, das die Besessenheit eines Malers verrät, für den das Thema jenseits des Sohnesschmerzes ganz reiner Gegenstand der Malerei wird, und das doch zugleich in seiner schlichten Verhaltenheit einen zarten, wehmütigen Ton erklingen läßt. 1890 kehrt Corinth nach München zurück, um zehn Jahre zu bleiben.

Es ist die letzte große Blüte der Kunststadt, die um 1900 ihren Platz an Berlin abtreten muß. Noch herrscht die Butzenscheibenromantik, zugleich jener Renaissancetraum des neunzehnten Jahrhunderts vom königlichen Künstlertum, wie er in München für kurze Zeit eine gewisse Verwirklichung gefunden hat. Man saß bei Zinnkrügen an langen Tischen, sang, disputierte und trank, man feierte die großen Künstlerfeste und wandelte in echten alten Kostümen umher. Eine Fülle von Witz und Laune wurde aufgeboten, untermischt mit Bildungsgütern. Es war das Ende eines bürgerlichen Künstlertums der Lenbach und Kaulbach, Piglheim, Oberländer, Lossow und Seidl, in seiner volkstümlichen Münchner Mischung von Ungezwungenheit und aristokratischem Patriziertum, von der bis zum Krieg und [421] fast noch in unsere Tage hinein ein blasser Abglanz über dieser liebenswerten deutschen Stadt liegt. Der vierschrötige, etwas streitsüchtige Kraftkerl Corinth, der in dieses Klima einbrach, konnte hier nicht beliebt werden. Man nannte ihn den "Fleischergesell aus Königsberg", aber da er ein Trinkkumpan war, der den Rotspon flaschenweise hinuntergoß, wurde er aufgenommen. Wie in Königsberg liebte er auch selber nicht die feinen Herren, sondern zog die drallen Kellnerinnen und Münchner Mädel, die so ausgelassene Modelle abgaben, vor. In der Künstlerkneipe aber saß er schweigend, umwittert vom Ruhm der Trinkfestigkeit, und fuhr nur zuweilen mit Faustschlag auf die Tischplatte bei einer Bemerkung über Kunst, die ihm nicht gefiel. Aber in der Tat waren die Tage dieser Künstlerrenaissance gezählt. Etwas Neues bereitete sich vor.

Es ist jene neue weitere Hinwendung zur Wirklichkeit, wie sie sich in der Kunst, auf zwei scheinbar völlig verschiedenen Wegen, andeutete: im Impressionismus und im Jugendstil. Damals wurde als Gegenschlag gegen das offizielle München die Münchner Sezession gegründet. Die erste Ausstellung, die wie ein Sturmwind die alte Fassade ins Wanken brachte, reichte von Böcklin bis Liebermann, von Menzel bis Uhde; Whistler, Degas, Puvis de Chavannes, Monet waren dabei, von den Jungen: Trübner, Habermann, Oppler und Corinth; im folgenden Jahr dazu Thoma, Kalckreuth, Hötzel, Ludwig von Hofmann, Zügel. Zu dieser neuen Welt konnte der ostpreußische Maler schon eher Zugang finden. Er arbeitete in dieser Zeit unermüdlich. Eine Fülle von Porträts entstand neben Bildern, die die damals charakteristischen Münchner Probleme zum Thema nahmen. Auch das Historienbild beschäftigte ihn weiterhin. 1896 malte er sich selbst mit dem Gerippe vor dem Atelierfenster.


Selbstportrait, 1873.
Lovis Corinth: Selbstportrait.
Bleistiftzeichnung, 1873.
[Nach wikipedia.org.]
Es gibt selbst in Deutschland nicht viele Maler, die ihr ganzes Leben hindurch eine solche Fülle von Selbstdarstellungen geschaffen haben, kaum einen aber, bei dem diese Bildnisse so schlichte, bekenntnishafte Aussage von sich selbst und so entscheidend für das Verständnis des Menschen hinter dem Bild sind – es sei denn, man denkt an Rembrandt. Corinth hat sich seit frühester Jugend immer wieder dargestellt. Wir kennen den Kopf des Fünfzehnjährigen mit dem seltsam festen Mund in dem Jungensgesicht, wir kennen ihn zwanzigjährig mit vollem Haar und Schifferbart, fragend den Beschauer ansehend. Immer wieder begegnen wir ihm selbst in seinem Werk. Ist es zunächst nichts anderes als der Versuch der zeichnerischen oder malerischen Wiedergabe eines stets greifbaren Modells, so wird es nun bei dem fast Vierzigjährigen mehr. Es wird Aussage vom eigenen Wesen und mehr noch Aussage vom Wollen und von dem, was einer aus seinem Leben machen will oder was er in ihm erfahren hat. So sind diese Selbstbildnisse kostbarste Zeugnisse vom Menschen Corinth. Sie bleiben es bis zu jenem letzten, erschütternden Selbstporträt, das kurz vor seinem Tode entstand, und so wollen [422] wir ihnen bei der Niederschrift seines biographischen Umrisses unsre besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Denn hier können wir die großen Stationen seines Lebens ablesen.

Selbstbildnis mit Gerippe.
[424b]    Selbstbildnis mit Gerippe, 1896.     [farbig]
Wir sehen ihn im Jahre 1896 vor dem großen Glasfenster seines Münchner Ateliers mit dem Ateliergerippe, das am Haken eines eisernen Trägers aufgehängt ist. Das alte Thema: der Künstler und der Tod, hat hier eine höchst nüchterne Wiedergabe gefunden. Das Bild ist unpathetisch und unsentimental wie der ganze Mann, der hier im achtunddreißigsten Lebensjahr als Brustbild sich selber schon ein wenig schlagflüssig darstellt. Der Kerl, der da steht, könnte schon ein Fleischergesell oder ein Bierbrauer sein. Schwer, massig, breitschultrig, mit dickem, kurzem Hals, auf dem ein breiter Kopf lastet, so blickt er uns an. Das Haar ist kurz geschnitten und ohne Sorgfalt vom Schädel heruntergebürstet, die Augen etwas schwer, durchaus nicht wach, die Nase kurz und kräftig ausgebildet, und unter dem hängenden, dicken, kurzen Schnurrbart ahnt man einen Mund des einfachen Lebensgenusses. Gewiß ist dieser Mann ein Dickschädel, und wenn er vermutlich auch gutmütig ist, so mag es doch zuweilen nicht gut sein, mit ihm Kirschen zu essen. Das ist ein spröder, verschlossener Mensch, der zu heftigen Wallungen neigt, einer mit gesundem Humor und einem Bewußtsein seiner Körperkraft, das man ein wenig brutal nennen könnte. Daß er gern trinkt, ist sicher, aber bei allen Anzeichen von Körperfett scheint er eine ausgebildete Muskulatur der Kinnbacken zu haben, ein Zug der Energie und der Zähigkeit, wie man ihn bei Männern findet, die gute Arbeiter sind. Er trägt ein kariertes Künstlerhemd mit gleichem Kragen und einem dicken Seidenschlips. Gewiß ist er kein Grübler und Spintisierer, sondern weit eher tierhaft primitiv, in der Wirklichkeit beheimatet und mit (hier unsichtbaren) kräftigen Fäusten, die zupacken können – aber in den Augen mit einem leisen Zug von Melancholie, in der Tat ähnlich einem klugen Tierauge, das die Lebensangst kennt.

Das sind die letzten Münchner Jahre. Die altmeisterlichen dunklen Farbenklänge seiner Bilder haben längst einer Aufhellung Platz gemacht, und der Maler studiert die grauen Tonwerte in unermüdlicher Arbeit. Es entstehen in dieser Zeit einige merkwürdige und bedeutsame Bilder. Die Loge "In Treue fest", wo auf engem Raum zwölf Männer an einer besetzten Tafel versammelt sind, eine für das neunzehnte Jahrhundert bei mancher Steifheit schon überraschende Lösung eines Gruppenbildes, wie es die Holländer des siebzehnten Jahrhunderts beschäftigt hat. Oder das außerordentliche Bildnis des in München lebenden Romanschriftstellers Graf Keyserling, erstaunlich durch die sichtbare Einfühlung in einen ganz anders gearteten, empfindsamen, müden und späten Menschen. Gleichzeitig beschäftigt Corinth immer wieder das Historienbild meist religiösen Inhalts. Zuweilen denkt man dabei an Fritz von Uhde, nur daß der selbstbewußte Bauernsohn aus Ostpreußen dieser sozialbetonten Religiosität der neunziger Jahre mit der ihr eigenen Gefühlsbrechung im Grunde fernstand. In diesen [423] Bildern wurde etwas von der versteckten Sehnsucht dieses Mannes gemalt, aber das Werk scheiterte wie stets, wenn sich Corinth von der nächsten Nähe und Wirklichkeit fortwandte.

In der Sezession brach bald Uneinigkeit aus, und Corinth und andere, wie Trübner, Behrens, Exter und Schlittgen, fingen hinter dem Rücken der Vereinigung mit der alten Künstlergenossenschaft Unterhandlungen an, was damit endete, daß die Betreffenden sich zwischen zwei Stühle setzten und aus der Sezession ausgeschlossen wurden. Von den ehemaligen Kameraden und Freunden scheel angesehen, verließ Corinth die Lust an dem Münchner Aufenthalt, zumal dem Ostpreußen diese Stadt immer etwas fremd geblieben ist. Leistikow riet ihm, nach Berlin zu gehen, wo eine neue, herbere und frische, unbeschwerte Luft wehte, und dort "eine Malschule für Weiber" zu gründen. Corinths Bilder waren schon verschiedentlich in Berlin bei Schulte und Gurlitt aufgefallen. In der Absicht, wie ein Bauer sicherzugehen, schickte er zunächst an Leistikow ein Bild für die Berliner Sezession, um die Aufnahme durch das Publikum der Reichshauptstadt abzuwarten. Es gab, wie Corinth erzählte, einen kolossalen Erfolg, und so verließ er die Stadt, in der er zehn Jahre gearbeitet, in der er mit Eckmann, Slevogt, Trübner, Ruederer, Halbe und Hartleben zusammen getrunken und wo zuweilen in später Stunde Frank Wedekind todernst aus einem Manuskript etwas vorgelesen hatte, unter dem kaum unterdrückten wiehernden Gelächter der Versammelten. 1900 ging Lovis Corinth nach Berlin.

Salome.
Lovis Corinth: Salome.       Öl auf Leinwand, 1900.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Das Bild, das auf der Berliner Sezession solchen Erfolg fand, war seine "Salome" gewesen. In gedrängtem Format sieht man im Mittelpunkt Herodes' Tochter, stupsnäsig, geschminkt, nach vom gebückt, mit spitzen, gespreizten, ringbesetzten Fingern das gebrochene Augenlid des Johanneskopfes hochziehend, den [424] ihr ein kniender Sklave auf der Schüssel reicht. Im Hintergrund Sklavinnen, vorn die mit blutbespritztem Tuch umwickelten Beine des Enthaupteten. Schließlich links im Vordergrund die muskulöse Gestalt des zufriedenen Scharfrichters, der durch Kopf, Nacken und Schnauzbart ein wenig an den Maler selber erinnert. Dieses Gemälde, bei dem wir auch heute ein malerisches und kompositorisches Können und eine für die Jahrhundertwende frische, unkonventionelle Auffassung erkennen, gibt im Grunde doch einen historischen Vorgang nicht als unmittelbares Erlebnis wieder, es bleibt ein erstaunlich gut gemalter Ausschnitt einer Bühnendarstellung. Was die Menschen dieser Stadt – in die viel von der herben und derben Luft des deutschen Ostens einströmte und wo in einer seltsamen Mischung von frischem Zupacken und der kolonialen Daseinsgier eines allzu schnell erworbenen Reichtums sich ein eigenes Klima entwickelt hatte, welchem eine verhältnismäßig junge Kultur nur geringen Widerstand entgegensetzte – in Corinths Malerei ansprach, das war ein versteckter dramatischer, scheinbar aktivistischer Zug. Er führte diese Historienbilder, deren Brutalität und unverhüllte handfeste Geschlechtlichkeit in München weniger Beifall finden konnte, hier zum Erfolg. Denn diese Bilder waren auf einer dramatischen Gegensätzlichkeit aufgebaut, und so wie der zarten, halbentblößten Salome das blutrünstige Haupt des Johannes und der Urkerl eines Henkers entgegengestellt wird, so malte Corinth auch Perseus und Andromeda in der Gegensätzlichkeit eines Ritters, von dem man nichts als Rüstung sieht, der einer nackten, kräftigen Frau gerade den Mantel umlegen will.

Es war eine Zeit des leichten Erfolges. Mit Gerhart Hauptmann, Ludwig von Hofmann, Leistikow, Groenvold und anderen feierte man das neue Daseinsgefühl. Man gründete den "Rosenbund", der nichts anderes als Lebensgenuß auf seine Fahne schrieb, und das reiche Bürgertum dieser Jahre liebte es, Künstler in seinen Salons vorführen zu können. In dem einsilbigen, schwerfällig Corinth glaubte man den Naturburschen zu erkennen, man sah in ihm vor allem das Original und den Kraftkerl, und so nimmt es nicht wunder, daß der Maler mit der ihm eigenen naiven passiven Haltung sich eine Zeitlang in dieser Rolle gefiel und sie oft in sein Werk projizierte. Aber beheimatet konnte er sich auch hier nicht fühlen, nur seine Malbesessenheit, die ihn nach jedem nächtlichen Rausch früh an die Staffelei führte, wo er den ganzen Tag über verblieb, die Unermüdlichkeit eines Menschen, der unaufhörlich durch sein Auge alles Gesehene in sich hineinsog, um es in Zeichnungen, Radierungen, Bildern zu verarbeiten, ließ ihn unbeschadet hier seinen Weg gehen. Das Werk Corinths, das uns aus jener Zeit jedoch unmittelbar anspricht, das sind wiederum die Bildnisse, denn hier wird aus engster Nähe ein Mensch dargestellt. Dieser Maler war nichts weniger als ein Psychologe, und

Portrait des Dichters Peter Hille.
Portrait des Dichters Peter Hille.
Öl auf Leinwand, 1902.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
er wäre zeit seines Lebens schwer in Verlegenheit gekommen, etwas über das Wesen und die geistige Struktur eines Menschen oder über sich selbst aussagen zu müssen. Sein eigentliches Genie lag vielmehr in einer beinahe [425] tierhaften Einfachheit verborgen, einer rechten Menschenwitterung, einem tiefen Instinkt, der dann am sichersten ging, wenn er sich in seiner eigenen Welt bewegte, oder wenn er in dichter Nähe einem Menschen gegenüberstand. Deutlich wird dies bei dem Bildnis des Ohm, des alten Mannes mit dem Schifferbart, oder auch bei dem des Dichters Peter Hille, und wenn man versteht, wie der Ohm, ein Mann aus Corinths eigener Jugend und Welt, zum bedeutsamen Porträt wird, so ist man doch bei dem Bildnis Hilles auf das stärkste betroffen, wie hier eine undeutbare und jeder Analyse spottende Ahnung den Maler in das Wesen eines ganz anders gearteten Menschen eingeführt hat. Hier ist bereits der große deutsche Maler zu erkennen, der auf der Höhe seiner Könnerschaft nun zuweilen in seelische Bereiche vorstößt, zu dem sein Verstand allein ihm den Zugang verwehrt hätte.


Bildnis von Charlotte Berend im weißen Kleid.
Lovis Corinth: Bildnis von Charlotte Berend im weißen Kleid.
Öl auf Leinwand, 1902.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Im Jahre 1902 heiratete er. War bisher die Liebe für ihn die Befriedigung des Augenblicks gewesen, für die ihm Mägde, Kellnerinnen, Modelle gedient hatten, so trat nun eine Frau ganz anderer Artung, die aus einem wohlhabenden Hamburger Bürgerhause als Schülerin zu ihm gekommen war, in sein Leben. Sie hat im Bewußtsein, an der Seite eines ungewöhnlichen Menschen zu leben, ihre eigene Freude an der Malerei und ihre weiblich starke Begabung bis zu seinem Tode in den Hintergrund gestellt und hier das Opfer einer Frau gebracht, das das Zusammentreffen zwischen ihrem Talent und seinem Genie erforderte. Sie hat es verstanden, den schwer zu behandelnden Mann, bei dem die Besessenheit des Malens immer wieder mit tiefer Niedergeschlagenheit wechselte, leise durch das Leben zu geleiten und vor der schlimmsten Verzweiflung zu bewahren. Was sie für Corinth bedeutet haben mag, kann man an der Fülle der Bildnisse erkennen, die bis zu seinem Ende entstanden sind.

Im Jahre 1903 malte sich Corinth mit seiner Frau, das Sektglas in der Hand. Wer das Werk dieses Mannes bis zu diesem Jahr betrachtet, dem wird zuweilen eine leise Ahnung aufsteigen, daß er hier einen Maler vor sich hat, der nach seiner ganzen Wesensart mit Rembrandt verwandte Züge aufweist. Daß vor diesem Bildnis sofort das Bildnis Rembrandts mit der Saskia von 1634 vor uns auftaucht, das hat gewiß nicht eine äußere Anlehnung Corinths an Rembrandt zur Ursache. Selbst wenn Corinth der Holländer vorgeschwebt haben mag, so geschah dies ohne Zweifel aus einer tiefen inneren Verwandtschaft, die sich auf das entschiedenste in seinem späteren Werk bestätigen wird.

Selbstportrait mit Glas.
Lovis Corinth: Selbstportrait mit Glas.
Öl auf Leinwand, 1907.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Vier Jahre später, 1907, sehen wir ein neues Selbstbildnis des Malers, eins, das in der nackten Brutalität der Selbstdarstellung wohl einen einzigartigen Platz in der Geschichte der Kunst einnimmt. Der nun fast Fünfzigjährige steht da wie ein Meisterringer mit nacktem, fleischig-fettem Oberkörper. Den linken Arm hält er seitlich ausgestreckt, den rechten, bei zurückgezogener Schulter, so mit dem Ellbogen an die Lende gepreßt, daß man das Gefühl hat, er wolle das mit [426] Wein gefüllte Wasserglas, das die erhobene Hand fest umspannt, dem Beschauer ins Gesicht schleudern. "Was kann die Welt mir anhaben!" und die Worte des Götz scheint uns der Maler zuzurufen, und das Kraftgefühl ist hier bereits so ins Gladiatorenhafte übersteigert, daß es fast mißtrauisch stimmt. Man beginnt sich zu fragen: Ist hier nicht viel mehr eine Wunschvorstellung gemalt als ein wirkliches Sein? Wird hier nicht absichtsvoll eine brutale Sinnlichkeit gewalttätig auf die Leinwand geschleudert, um eine innere Ahnung von der menschlichen Vergänglichkeit, ja um eine bewußte Angst und Unruhe zu verdecken, von der der Achtunddreißigjährige des Münchener Selbstbildnisses noch nichts wußte?

Morgendliches Spiel.
[424c]      Lovis Corinth: Morgendliches Spiel, 1911.

Corinth ist in diesen Jahren auf dem Höhepunkt des äußeren Erfolgs angelangt. Eine Zeit ungewöhnlicher Fruchtbarkeit des Schaffens lag hinter ihm, und die Quelle des Wirkens aus der Fülle schien mit alter Kraft weiterzuströmen. Aus einem dionysischen Rausch scheinen manche dieser Bilder geboren zu sein, andere aber aus Lust an der Bravour, der Virtuosität des Könnens, Ekstase der Farbe mit dem alten breiten Pinsel hingeschmettert, das Leben gepackt in seiner dampfenden Fleischlichkeit und dazwischen immer wieder religiöse, biblische und historische Darstellung, als sollten dem mythischen Raum Geschehnisse entrissen werden, die nun mit der ganzen Wucht ihrer Körperlichkeit, mit der ganzen Glut entfesselter Sinne den Betrachter aus seinem Gleichgewicht verjagen. Zeugen fast alle diese Gemälde von der Fruchtbarkeit und der mörderischen Kraft der Natur, so entstehen daneben stillere Bilder aus der nächsten Nähe, Szenen, die das Familienglück des Malers zum Thema nehmen, und eine Reihe Porträts von wiederum gleichem erstaunlichem Einfühlungsvermögen, wie des Conrad Ansorges oder des Berliner Rektors Professor Eduard Meyer, oder jenes wunderbare Bildnis, das den Schauspieler Rudolf Rittner 1907 als Florian Geyer zeigt, seltsam hintergründig und erfüllt von einem Wissen um das Ende, daß man auf das stärkste überrascht und tief betroffen wird.

Im Jahre 1910 malt sich Corinth selber als den "Sieger". Mit eiserner Rüstung und Helm und einer riesigen Lanze in der gepanzerten Faust, vor ihm, sich hingebungsvoll mit zurückfallendem Kopf an den gewaltigen Mann anschmiegend, die eigene Frau mit halbentblößter Brust und einem Lorbeerkranz im linken Arm. Seltsam ist nur, daß der Gepanzerte gar nicht wie ein Sieger aus dem

Selbstportrait als Fahnenträger.
Selbstportrait als Fahnenträger.
Öl auf Leinwand, 1911.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Bild blickt, sondern eher wie einer, der ein wenig angstvoll die Fragwürdigkeit des Sieges ahnt. Ist die starke Wirkung dieses Bildes noch auf den Gegensatz von hartem, kaltem Eisen und blühender, duftender Fleischlichkeit gestellt, so malt sich Corinth ein Jahr später nun ganz allein als der "Fahnenträger". Er scheint alles von sich abgestoßen zu haben und steht nun da wie ein Aufständischer, ein ritterlicher Bauernführer, wiederum gepanzert, die Fahne steil über der Schulter, nur den Kopf ein wenig trotziger zurückgeworfen, als man es bei einem siegreichen Bannerträger erwarten würde. "Seht her, ich bin der tolle Kerl, den ihr in mir sehen wollt", scheint das Bildnis zu sagen. Es ist jener Corinth, der damals im [427] Vorstand der Berliner Sezession saß und der, als dieser Vorstand zurücktrat, blieb und somit Präsident wurde. "Ich aber", so sagt er in seiner Selbstbiographie über den Rücktritt seiner Freunde, "pflegte immer den rechten Augenblick am Schopfe zu greifen, deshalb sagte ich: 'Nein, ich bleibe im Vorstand!'"


Im Jahre 1911, im gleichen Jahr, als der "Fahnenträger" entstanden war, ereilte Lovis Corinth die Hand des Schicksals. Ein Schlaganfall traf ihn im dreiundfünfzigsten Lebensjahr und warf ihn für Monate aufs Krankenlager, wo er dem Tod unmittelbar gegenübertrat, um in qualvollen fieberhaften Visionen einen furchtbaren Kampf um sein Leben zu führen.

Der Mann, der sich vom Krankenlager wieder erhob, war ein anderer geworden. War sein Leben und Werk bisher gar oft in einen schwerfälligen dionysischen Taumel entrückt, um die heimliche Niedergeschlagenheit nicht laut werden zu lassen, waren zuweilen dunkle Stimmen an sein Ohr gedrungen, denen zu entfliehen er sich immer wieder mit einer bäuerlich-prometheischen Sinnenfreude in das Gefolge des ewig berauschten Gottes schlug, so schien es, als wäre er dahingeschritten wie einer jener dickleibigen Kumpane des Dionysos, im Zeichen des Thyrsosstabes, umbraust vom Lärm der Mänaden, vom Brüllen der Panther, selber Ausdruck der schöpferischen Natur, die in Blut, Geschlechtlichkeit, Zeugungskraft und Vernichtung ihre gewaltige Macht offenbart. Der Mann aber, der sich vom Krankenbett erhob,

Selbstbildnis mit schwarzem Hut.
[424a]      Lovis Corinth: Selbstbildnis
mit schwarzem Hut,
1912.
Berlin, Frau Charlotte Corinth.
konnte mit Hölderlin sagen: "Mich hat Apollo geschlagen!" Nicht mehr der Sieger, sondern ein armer leidender Mensch blickt uns aus dem Selbstbildnis des Jahres 1912 an. Wir sehen den Kopf eines Mannes mit dunklem Rock und breitkrempigem Malerhut. Das Körperliche ist ganz [428] zurückgedrängt auf ein Stück der Brust und eine Schulter und ein paar große, erschrockene Augen wie die eines Tieres in einem unruhig flackernden, zerrissenen Gesicht. Gänzlich verändert scheint die Malweise. Nichts mehr von der alten bravourösen Handhabung des Pinsels, nichts mehr von der virtuosen Komposition des Raums. Ganz flächenhaft ist dieses Bild, als mühe sich der Künstler mit unsicherer, zitternder Hand, eine Chiffre seines Wesens auf der zweidimensionalen Fläche festzuhalten, gleichgültig gegenüber der irdischen Erscheinung und gejagt und getrieben von der Angst, es könne zu spät sein, und dieses Bildnis wäre sein letztes.

So klar es feststeht, daß diese Krankheit eine entscheidende Wendung in des Malers Leben brachte, so gewiß ist es, daß der Schlaganfall nur ein äußeres, körperliches Zeugnis dafür war, was sich in seinem Innern langsam vorbereitet hatte. Diese Umdüsterung, die das Tragische plötzlich nackt enthüllte, war ähnlich der, wie sie andere Große im Zenit ihres Lebens getroffen hatte, wie sie Shakespeare in späteren Jahren beschattete, daß ihm der Wert des irdischen Daseins plötzlich gering erschien, wie sie Goethe traf, daß er körperlich schwer erkrankte und sich im einsamen Kampf der Entsagung zu jener gleichnishaften Betrachtung der Welt hindurchrang, um die Hölle seines Innern nicht der Menschheit aufzudecken, und wie sie schließlich den Maler auf das furchtbarste erschütterte, Rembrandt, dessen Wesensverwandtschaft mit Corinth offenbar ist: von den Anfängen über den glanzvollen Höhepunkt des Lebens bis zu jenem gleich erschütternden letzten Selbstbildnis. Der Meister, der somit jäh zum Greise geworden war, den eine linksseitige Lähmung hemmte und dessen rechte Hand zitterte, verstärkt durch die Anstrengung, den Pinsel, den Stift, die Nadel zu halten, erkannte nun in sich selbst – mit dem gleichen Mangel an Sentimentalität, der ihn immer ausgezeichnet hatte – Hiob, den Mann aus dem Lande Uz, den Gott aus allen seinen Reichtümern gestürzt hatte. Seine Selbstbiographie, die neben den Legenden aus dem Künstlerleben zeigen, daß hier ein schlichter Mensch der Fülle seiner Beobachtungen und, ohne jede psychologische Kenntnis, seinem Wesen auch mit der Feder Ausdruck verleihen konnte, diese Selbstbiographie, die mit ihrem tragischen Urgrund zu den großen Selbstzeugnissen deutscher Künstler gehört, enthält nun Bekenntnisse wie die: daß kein Tag für ihn vergangen wäre, an welchem er es nicht besser gefunden hätte, aus dem Leben zu scheiden. Erschütternd mehren sich Sätze wie: "Ein fortwährendes Streben, mein Ziel erreichen, das ich in diesem Grade niemals erreichte, hat mein Leben vergällt, und jede Arbeit endet mit Depressionen, dieses Leben nicht weiterführen zu müssen." Dazwischen regt sich der alte Stolz: "Wenn ich heute, während ich das schreibe, sofort hin bin, so werde ich doch leben in Zukunft." Hinzu kommen der Krieg, die Zerstörungen im deutschen Osten und in seiner Heimat Tapiau und bald darauf der verlorene Krieg. Der Mann, für den Deutschsein eine schlichte Selbstverständlichkeit war, über die man keine Worte verlor, und der nie auch nur für einen Augenblick an der eigenen Art seines ostpreußischen Wesens ge- [429] schwankt hatte, leidet schwer darunter. Er liest die Bibel wie ein alter Bauer, aber mit dessen Zähigkeit wirft er weder das Leben fort noch ganz den Mut. Es kommt der Umschwung 1918, die französische Besetzung des Rheinlandes, der Marksturz. Die Aufzeichnungen des Malers in diesen Tagen scheinen sich oft zu widersprechen. Neben dem "Finis Germaniae!" steht die Frage, ob sich nicht alles noch an Frankreich rächen wird. Aber aus diesem Echo der Tageszeitungen dringt doch immer wieder die eigene Stimme Corinths durch, der zähe Wille, das bäuerliche Beharren: "Das Land ist vernichtet. Ran an die Arbeit!"

Adam und Eva.
[424d]      Lovis Corinth: Adam und Eva, 1911/12.
Berlin, Privatbesitz.
Mehr als früher geben nun die stillen Dinge des Lebens das Thema für seine Malerei ab. Der Besessenheit des Malers gelingt es trotz allen körperlichen Hemmungen, die zitternde Hand zu bändigen und zum Staunen der Ärzte vor der Staffelei seine Vorstellungen auf die Leinwand zu werfen. Es ist eine Malerei von einer Spiritualität, von einer schlichten Vertiefung im Menschlichen, die ohne Wissen vom Instinkt her unmittelbar an das Seelische rührt, wenn auch der Künstler dem Gegenstand gegenüber eine Gleichgültigkeit aufbringt, die diesen Gegenstand nur noch zum Anlaß der Selbstaussage nimmt. Neben dem Bildnis rückt nun das Blumenstilleben und die Landschaft in den Vordergrund, und wo gibt es in der deutschen Malerei dieses ersten Jahrhundertviertels Landschaften und Blumen so erfüllt von innerer Schau und Kraft? Die Vergeistigung dieser neuen Malerei war keine Askese. Sie war kein Sichabwenden von dem sinnlichen Reiz der malerischen Erscheinung. Im Gegenteil, die Farben steigern sich zuweilen zu einer Kostbarkeit, die zum Tasten herausfordert. Von seinen Landschaften und Blumen geht nun oft eine eigene juwelenhafte Strahlung aus, und die Farbe empfängt gerade durch ihre Ablösung vom Gegenständlichen einen geheimnisvoll leuchtenden Eigenwert, wie wir

Portrait des Malers Bernt Grönvolt.
Portrait des Malers Bernt Grönvolt.
Öl auf Leinwand, 1923.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
ihn bei Grünewald und bei Rembrandt finden. Nur in den Bildnissen verschwinden alle farbigen Zutaten der Gewänder und des Hintergrundes, so daß die neue Toneinheit der Farbe auf den ersten Blick wohl monoton erscheinen mag. In Wahrheit aber funkelt in diesen blau-grauen oder braun-gelben Tönen etwa der Porträts von Uckeley, Grönvold und Georg Brandes ein blitzendes Feuerwerk. Doch die Zutaten sind verschwunden, und das bunte Sprühen ist in der Einheit des Grundtons gebannt, um ganz das Seelische zur Sprache kommen zu lassen. Der Pinselduktus wird immer öliger und pastoser. Zuweilen sind es Hiebe, die mit zäher Farbe über das Bild laufen, zuweilen sind es zerrissene, schwere, leuchtende Splitter, zuweilen auch scheinen blättchenhafte Schichten übereinander zu liegen. So wie der Tiefenraum verschwunden ist, so tritt auch das inhaltlich dramatisch Erzählende zurück. Die mythologischen Szenen werden selten. Nicht mehr auf die Handlung, sondern auf das Wesen richtet sich die Aufmerksamkeit des Malers.

Selbstbildnis mit Strohhut.
Lovis Corinth: Selbstbildnis mit Strohhut, 1923.
Öl auf Leinwand, 1923.      [farbig]
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 459.]
Die religiösen Stoffe verlassen ihn dabei nicht, gerade so wie er es zeit seines Lebens, im einfachen Anhängen an das vom Vater her Überkommene, liebte, biblische Sprüche zur Bekräftigung in seine Rede zu streuen und an Festtagen [430] testamentarische Ereignisse sich ins Bewußtsein zu rufen. Aber das Stoffliche der Legende wird für ihn immer bedeutungsloser, und nur die unmittelbare religiöse Beziehung zur tragischen Wendung seines Lebens bleibt bestehen. So malt er 1925 die Gruppe "Ecce Homo", bei der alle Handlung ins innere verlegt ist. In der Mitte der gefesselte blutende Christus, rechts ein gepanzerter Kriegsknecht, links, mit bedeutungsvoll ausgestrecktem Zeigefinger, Pilatus, in dem wir unschwer den Maler selber erkennen können, der einst dem Henker des Johannes seine Gestalt geliehen hatte. Es scheint uns dabei so, als wäre es dem Maler versagt geblieben, das Gelobte Land selber zu betreten. Wie alle religiösen Gemälde seit dem achtzehnten Jahrhundert, als mit dem ausgehenden Barock und der Aufklärung die gewaltige, vom Gemeinschaftsgeist getragene, christliche Welt auseinanderbrach und nunmehr jeder einzelne in einem bisher unbekannten Ausmaße gezwungen wurde, sich mit seinem Gott selber auseinanderzusetzen, so bleibt auch die religiöse Malerei dieses Mannes nur ein Versuch, Verlorenes wiederzugewinnen. Wenn wir jedoch heute klar erkennen, daß sich in unserer Zeit eine
Mutter und Kind.
[427]      Mutter und Kind.
Radierung von Lovis Corinth, 1910.

[Bildquelle: Verlag Commetersche
Kunsthandlung, Hamburg.]

Selbstbildnis, 1919.
[423]      Selbstbildnis.
Radierung von Lovis Corinth, 1919.

[Bildquelle: Verlag E. A. Seemann, Leipzig.]

Flieder und Tulpen.
Flieder und Tulpen.
Öl auf Leinwand, 1922.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
neue Wandlung vom Naturwissenschaftlichen zum Metaphysischen vollzieht, so ist Corinth einer der großen Wegbereiter. Sein Dasein begann mit der kraftvollen Freude an den Elementarkräften der Natur, und im Laufe seines Schaffens ist es ihm zuweilen gelungen, in ihre Unmittelbarkeit vorzustoßen. Am Ende seines Lebens jedoch steht bereits das Visionäre und das Ringen um die Elementarkräfte der Seele, die nun flutend über den Maler hereinbrechen.

Corinth hat in den Jahren nach seiner Krankheit sich bald wieder – wenn auch verwandelt – in seiner Arbeit gefunden. Die Fülle der Gesichte ist für ihn so groß geworden, daß sie unaufhörlich auf ihn einstürmt und daß der geschwächte Körper ihrer nicht immer Herr wird. Eine Reihe von Illustrationsbüchern entstand unter seiner Hand, eine Fülle von Radierungen und Zeichnungen, er malte die Stadträte von Tapiau, in seiner Vergeistigung eines der wenigen bedeutsamen Gruppenbildnisse, die es seit einem Jahrhundert gibt, das "Trojanische Pferd", das in der Berliner Nationalgalerie hängt, und das wie alle seine späten religiösen und historischen Gemälde Halluzination geblieben ist, er malte das außerordentliche, überlebensgroße Bildnis Martin Luthers, auf dem in der statuarischen Gewalt des Reformators, der, breitschädlig im mächtigen schwarzen Predigermantel dargestellt, die Faust auf der Bibel hält, ein Stück Bauerntum von des Malers eigenem ostpreußischem Schlage sichtbar wird, und er malte schließlich seine visionären Bildnisse, Blumen und Landschaften.

Corinths flutende und unbestimmte Köpfe haben nichts mit psychologischer Darstellung zu tun. In dem Porträt von Georg Brandes etwa ist nichts mehr wiederzufinden von der ruhigen, ins Tageslicht gerückten Menschendarstellung. Der Kopf springt aus dem Dunkel und ist in ein magisches Licht getaucht. Die Linien kochen vor innerer Dramatik. Aus dem blaugrauen Grund springen gelb-grün phosphoreszierende Lichter. Es ist keine objektive Menschenwiedergabe, denn [431] in diesem explosiv brodelnden Gebilde ist wohl ein Element des dänischen Schriftstellers enthalten, aber in der Vision des besessenen Greises ist das Objekt verwandelt und untergetaucht. Was an den besten dieser Bildnisse, denn nicht bei allen langte der Atem des kranken Malers aus, uns immer wieder erschüttert, das ist nichts anderes als der gewaltige Schatten des Schicksals, der über ihnen liegt. Nicht nur das Schicksal des Dargestellten, sondern vor allem das des Malers – jene geheimnisvolle Verbindung, die so oft der deutschen Kunst tiefsten Sinn und ihre lebendige Wirksamkeit ausmacht. Denn hier waltet ein Wille, der danach strebt, den Menschen mit der Ewigkeit wieder in Verbindung zu bringen. Er zielt darauf, das Individuum aus seiner Vereinzelung zu lösen und es einem überpersönlichen Gesetz unterzuordnen. Die seltsame Wesensverwandtschaft mit Rembrandt wird nun ganz offenbar. Auch die Hand des großen Holländers wußte gewiß mehr auszusprechen, als ihm sein Verstand mitteilte. Gänzlich fern aller ordnenden und sichtenden Ratio und Psychologie schuf Rembrandt eine Malerei des seelischen Ausdrucks, wie wir keine gewaltigere kennen. [432] Mag er in aller seiner Einsamkeit doch noch getragen worden sein vom Geist eines Jahrhunderts, dessen Beziehungen zur Transzendenz größer und tiefer als die des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sind, so trägt er doch bei höherer Spiritualität, aber gemeinsamer innerer Schlichtheit, den gleichen Wesenszug, den wir bei Lovis Corinth wiederfinden. Ist bei Rembrandt der Ausdrucksträger der Transzendenz das Licht mit seiner aus keiner irdischen Quelle flammenden Herkunft, so ist es bei Corinth die Übersetzung des Geschauten in eine Art Konkavspiegel – eine magische Verwandlung, die die Formen ihrer irdischen Realität entkleidet und sie aufbläht, sie seltsam ausdehnt und in die Breite zerrt, um sie zuweilen auch in einem Sprühregen zu zerstäuben. Am deutlichsten bleibt dies festzustellen in den Bildnissen mit ihren großen, weiten und gebirgigen Gesichten, aber auch in den Blumen, diesen eigenwilligen, gespenstischen Lebewesen, die oft dem Beschauer entgegenzuspringen scheinen, um ihn in das Bildfeld hineinzureißen.


Drei Monate vor seinem Tode schreibt Lovis Corinth in seinen Aufzeichnungen. "Es ist mir zum Heulen. Ein Ekel vor jeder Malerei erfaßt mich. Warum soll ich noch weiterarbeiten? Alles ist Dreck. Dieses greuliche Weiterarbeiten ist mir zum Kotzen. Dabei bin ich siebenundsechzig Jahre alt und nähere mich diesen Sommer dem

Walchensee-Landschaft.
[431]      Walchensee-Landschaft.
Lithographie von Lovis Corinth, 1920.

[Bildquelle: Verlag Fritz Gurlitt, Berlin.]
achtundsechzigsten. Was soll noch daraus erblühen?" Aber wenige Zeilen später erkennt sein schreibender Verstand, wonach die vom Instinkt gelenkte Hand das letzte Schaffensjahrzehnt gestrebt hatte – die eigentliche große Altersweisheit: "Ein Neues habe ich gefunden: die wahre Kunst ist Unwirklichkeit üben. Das Höchste!" Dieses Wort steht über dem Werk seiner letzten vierzehn Jahre und hat in den Walchenseelandschaften – in Ur am Walchensee verlebte Corinth seine letzten Sommer – eine Verwirklichung gefunden, die diesen Bildern einen geheimen Zauber und eine leuchtende Pracht verleiht, als flammte hier aus einer jenseitigen Welt eine vorübergleitende Fata Morgana auf. Es ist etwas von der ewigen nordischen Angst, einem panischen Empfinden dem Raum gegenüber hier mitgemalt, zugleich aber ist das Erlebnis der Landschaft so der Wirklichkeit entrückt und die Landschaft selber Chiffre der Transzendenz geworden, daß einige der Gemälde mit ihrer blauen, silbernen und grünen Strahlung zum Edelsten der großen deutschen Landschaftsmalerei gerechnet werden dürfen.

Walchensee-Landschaft.
[432a]      Lovis Corinth: Walchensee-Landschaft, 1924.
Dresden, Staatliche Gemäldegalerie.

Letztes Selbstportrait.
Letztes Selbstportrait.
Öl auf Leinwand, 1925.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
Wir stehen vor dem letzten Selbstbildnis. Es ist wenige Wochen vor seinem Tode gemalt. Es zeigt das Brustbild des Malers, der uns aus tief in den Höhlen liegenden Augen anblickt, während im Hintergrund auf einem Spiegel sein Profil erscheint wie ein fremder Schemen. Der Schauder, der den Betrachter überfällt, wenn er Rembrandts tief in Gold tönendes letztes Selbstbildnis mit der grinsenden Menschenverachtung des Greises betrachtet, bleibt bei Corinth aus. Und [433] doch stehen wir betroffen vor der äußeren und inneren Verwandtschaft dieser beiden letzten Selbstdarstellungen. Auch der alte Corinth blickt uns am Ende des Lebens mit einer großen, ungewissen Frage an; auch von ihm ist alles abgefallen. Hier ist er in seiner ganzen seelischen Nacktheit, ein wahrhaft tragischer, schweigender Protest, nicht mehr prometheisch, sondern schwermütig, dumpf, ein letzter, leiser Aufstand der erschrockenen Kreatur. Wie ein armer Schächer steht dieser Mann in seinem letzten Bild, der sich einst als weltstürmender Kraftkerl, ja mit bewußter Vermessenheit als Sieger und Fahnenträger gemalt hatte. Die Erkenntnis Goethes, daß Alter stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung ist, ist von Rembrandt wie von Corinth in ihrem späten Werk gemalt worden. Nun aber, im letzten Selbstporträt, wird der Tod selber sichtbar, zu dem sich der Maler bekennt, eingeboren den Menschen und nun in letzter Stunde ihn verdrängend, um selbst in den Vordergrund zu treten. Es ist der Tod, der Corinth von Anfang an begleitet hatte, der sich heimlich in den Bildern verbarg, wenn der Maler ihn in all dem kochenden animalischen Leben fliehen wollte, von einer manischen Angst gejagt, die ihn in den Rausch oder in die Arbeit trieb – jener Tod, der nun erschütternd aus dem schlichten letzten Selbstbekenntnis eines bäuerlichen Menschen mit raunender Geistersprache spricht: "Vanitas, Vanitatum Vanitas!"




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz