[Bd. 4 S. 402]
Denn an Max Reger wird alles das wahr und deutlich, was der junge Nationalsozialismus auf künstlerischem und schöpferischem Gebiet als wesentlich und notwendig erkennt. Und es mutet fast wie ein Wink der Vorsehung an, wenn Reger im engeren Sinne des Wortes ein Landsmann Dietrich Eckarts, des Verkündigers des Dritten Reiches, und im weiteren ein solcher unseres Führers Adolf Hitler selbst war und daß dasjenige Werk Regers, das seinen Namen zuerst der weiten Welt bekannt und bedeutend machte und für seine künstlerische Denkungs- und Willensart richtunggebend blieb: der "Hundertste Psalm", unmittelbar in der Nähe des Landaufenthalts unseres Führers, in Berchtesgaden, entstanden ist, ebenso wie das wohl monumentalste Orchesterwerk Regers, sein "Sinfonischer Prolog zu einer Tragödie". Max Reger wurde in dem kleinen Dorfe Brand in der Oberpfalz, Bezirksamt Kemmnath im Fichtelgebirge, am 19. März 1873 geboren. Die Vorfahren seines Vaters, des Hauptlehrers Josef Reger, waren Landwirte und Handwerker, so wie die eines Händel, Mozart und Brahms, die seiner Mutter, Philomena, geborener Reichenberger, hatten sich zu Landgutbesitzern und Fabrikanten hinaufgearbeitet. Und Johann Reichenberger, der Vater Philomenas, galt, ebenso wie sein Bruder Martin, als Erfinderkopf, der sich sogar zu einer Zeit, da man noch nichts von einem Reis und Bell wußte, an die Herstellung eines Fernsprechdrahtes heranwagte. Regers Vater, Lehrer gleich jenem Franz Schuberts und dem Anton Bruckners, war, wie sein Sohn später mit Stolz hervorhob, ein Rechengenie und hat damit diesem wohl auch jene unfaßbare und nur an Sebastian Bach zu messende Kunst der linearen Verschlingung vererbt, ebenso wie seine von den Ortseinwohnern gerühmte und gern immer wieder in Anspruch genommene Fähigkeit des Bastelns und Wiederinstandsetzens von Uhren, Nähmaschinen, Orgelwerken dem genialen Sohne jene grunddeutsche Neigung zur Kleinarbeit, zur innigen Liebe für das Handwerkliche mitgab, eine Liebe, die, wie bei Goethe, Beethoven und Wagner, in eine Genauigkeitssucht ausarten konnte, für die dem Nichtdeutschen meist das Verständnis fehlen wird. Gab der Vater seinem männlichen Erben vor allem bäuerliche und handwerkliche [404] Tugenden mit ins Leben, so doch zugleich künstlerisch-technische Fertigkeiten, denn Josef Reger beherrschte neben seinen beruflichen Instrumenten, der Orgel und dem Klavier, auch die Geige, das Cello und einige Blasinstrumente. Die hier gegebene Erbmasse fand ihren äußeren Ausdruck in der wuchtigen, kraftgeladenen und hünenhaften Gestalt, der unerschütterlichen Gesundheit, die ihn einmal bajuvarisch stolz sagen ließ: "Mir geht es wie Brahms: ich habe nie in meinem Leben so etwas wie Kopfschmerzen gekannt." Freilich: ebenso wie der Riese Händel einmal unter der Häufung seelischer Erregungen zusammenbrach, die ihn, den tiefer als die anderen Empfindenden, stärker als jene berühren mußten, so hatte auch Reger mit der eisernen Lebenskraft die Feinnervigkeit des Künstlers überkommen, dazu das leicht erregbare, hitzige Temperament des Süddeutschen. Und hinzu kam eine Erbschaft väterlicherseits, die erst heute klar erkannt ist und besonders hervorgehoben werden muß, weil sie geeignet ist, Reger gegen eingewurzelte und immer wieder mit erschreckender Verantwortungslosigkeit vorgetragene Anwürfe zu schützen: ein Leberleiden, das ihn zu außergewöhnlicher Flüssigkeitsaufnahme zwang, aber bei der verständnis- und lieblosen Welt als Trinker erscheinen ließ, obwohl Reger leidenschaftlich die Vorbedingtheit des Alkohols zum künstlerischen Schaffen ablehnte und sich höchster Wahrscheinlichkeit nach dadurch den Keim zum frühen Tod holte, daß er, um seine Unabhängigkeit von jenem Anregungsmittel zu beweisen, mehrere Jahre ohne allmähliche Vorbereitung jeden Alkohol mied, dafür aber Unmengen von Wasser und Limonaden zu sich nehmen mußte. Eine "Ehrenrettung" hat Reger heute weniger mehr denn je nötig, denn auch ein Mozart, Beethoven, Schumann, Liszt und Wagner waren keineswegs Kostverächter eines guten Trunkes, aber er hatte durch seinen übereilten Entschluß ein Wort zu büßen, das er einmal selbst aussprach: "Es gibt nichts Verständnisloseres als die Mitwelt!" Denn: um dieser Mitwelt den Anlaß zu böser Nachrede zu nehmen, um zu zeigen, daß er nicht der Sklave irgendwelcher krankhaften Neigungen sei, faßte er jenen Entschluß, führte ihn rücksichtslos, ja selbstquälerisch durch, und er, der noch wenige Jahre vor seinem Ende anstrengende Bergwanderungen durchführen konnte, ohne im geringsten von Schwächeanfällen befallen zu werden, starb unerwartet, aber unter der zweifellosen Einwirkung der allzuschroffen Enthaltsamkeit, am Herzschlag, "Gedankenlose Klatschsucht" hatte hier ein Opfer gefordert, das zu den edelsten seines Volkes, zu den unersetzlichen seiner Kunst gehörte. Hatte Reger "vom Vater die Statur, des Lebens ernstes Führen" geerbt, so gab ihm die Mutter neben der hohen, wundervoll geformten Stirn, der weichen, die innige Empfindung verratenden Nasenpartie den ernsten, grüblerischen und phantasiegetragenen Sinn mit, zugleich aber auch die Neigung zum Mystischen und Religiösen, die bei ihr in späteren Lebensjahren sich ins Krankhafte steigerte, ebenso wie ihr Hang zum Weltschmerz im Sohne einen Nachklang erfuhr, der einmal von sich sagte: "Ich muß wie Johannes Brahms von mir bekennen: [405] ich lache nie innerlich" oder an anderer Stelle: "Durch alle meine Werke zieht sich wie ein Leitmotiv die Choralmelodie: Wenn ich einmal soll scheiden." Die Mutter erteilte dem Knaben, dem einzigen, der ihr außer seiner Schwester Emma von vier jüngeren Geschwistern geblieben, von seinem fünften Jahre an Unterricht in Schreiben, Lesen, Rechnen und Klavierspiel, ohne daß seine frühe Regsamkeit als irgend etwas Besonderes oder gar Ausnahmsweises angesehen worden wäre. Der alte Josef Reger war nicht der Mann, der, wie einst Leopold Mozart, ein Wunderkind herandrillen und dann zur Schau stellen und zum wirtschaftlichen Ausbeutungsgegenstand hätte machen wollen, um damit zugleich dessen Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Selbst später noch, als sein Sohn schon ein berühmter oder doch wenigstens umstrittener Mann geworden war, dämpfte der Alte, fast mehr als gut und väterlich-zärtlich war, und hielt es für recht, ihm bissige Zeitungskritiken unter den Frühstücksteller zu stecken: auch dies bäuerlich handfest, wenn auch nicht eben gefühlsam. 1874, also ein Jahr nach der Geburt des Jungen, als Lehrer nach Weiden versetzt, ließ er diesen als Neunjährigen die Realschule der kleinen Stadt beziehen. Auch da fügte sich wieder Max, durchaus nicht "wunderkinderhaft", dem Zwang der Schule und dem Maß der Lehrforderungen. Immer wieder erscheint in seinen damaligen Zeugnisheften die Bemerkung: "Dieser Schüler zeigt sehr gute Anlagen und ein empfängliches Gemüt. Er zählt zu den besten Schülern des Kurses. Sein Fleiß war sehr groß, sein Betragen sehr gut." Was dieses letztere anlangt, so scheint Reger freilich außerhalb der Schulstunden das Versäumte reichlich nachgeholt zu haben. Denn er berichtete noch als reifer Mann mit selbstbewußtem Stolz, daß er, wie einst vor ihm Josef Haydn und Beethoven, ein rechter Tausendsasa gewesen und als "Springender Hirsch" der Anführer einer furchtlosen Indianerschar. Dagegen war ihm alles Stubenhockertum ein Greuel. Und auch im Manne Reger noch steckte jener "Lausbub" von einst, dem es vor allem eine Heidenfreude machte, Spießbürger und alte Jungfern männlichen wie weiblichen Geschlechts zu nasführen. Wenn er einmal bekannte: "Als der liebe Gott den Humor verteilte, da habe ich zweimal: 'Hier!' gerufen", so meinte er vor allem solche Streiche: einem autographenwütigen Wirt schrieb er ins Gästebuch: "Max Reger, Akkordarbeiter", einem anderen: "Dienstmann Nr. 112 aus München", und seine Freunde wurden nicht selten durch Nachttelegramme komischsten Inhalts aus dem Schlafe gerissen. Die jugendliche Freude an einer lustigen und gar nicht sich würdig fühlenden oder benehmenden Kumpanei teilte er mit Beethoven und behielt sie sein Leben lang. Alles Sich-zur-Schau-Stellen war ihm in der Seele verhaßt, und er wurde noch ganz bitter, wenn er aus seinen Jugenderinnerungen berichtete, man habe ihn immer, sooft Onkel- und Tantenbesuch kam, ans Klavier gesetzt und ihm dadurch alle Freude an der Musik verdorben. Dabei verzeichnete sein Schulzeugnis des Jahres 1886/1887 die Bemerkung: "Dieser Schüler ist für die Lehrgegenstände, insbesondere aber für die Musik, sehr gut beanlagt, und da er auch darauf sehr [406] großen Fleiß verwendete, ist es ihm gelungen, den Anforderungen seiner Lehrer in allen Gegenständen vollkommen zu entsprechen." Und der Elfjährige spielte, als in Weiden beim Herbstmanöver eine Parade stattgefunden hatte, seinen Freunden notengetreu den soeben gehörten Marsch aus dem Gedächtnis vor. So war es eine glückliche Fügung, daß um die gleiche Zeit ein Amtsgenosse und Freund des Vaters Reger, Adalbert Lindner, sich bereitfand, den Jungen in seine musikalische Erziehung zu nehmen und ihn dadurch mit neuer Lust und Liebe zu seiner Kunst zu erfüllen. Er drang auf strengste Durcharbeitung alles der Fingerfertigkeit Dienenden, ließ jedoch niemals die Grenzen überschreiten, die zur bloßen Bravour leiteten, für die an sich Reger, nach Lindners eigenem Zeugnis, die höchste Begabung mitbrachte. Die besten Studienwerke wurden durchgenommen, und als Vierzehnjähriger trat Max Reger mit der schwierigen F-moll-Sonate Schulhoffs, die Franz Liszt gewidmet ist, vor die Öffentlichkeit, um sich dann mit Eifer in das Schaffen Beethovens und Schumanns zu vertiefen. Dazu kam, als eigentliche musikalische Erweckung des Knaben, der Besuch des nahe gelegenen Bayreuth, wohin ihn sein aus Wien zu Besuch gekommener Oheim Ulrich eingeladen hatte und wo er den "Parsifal" und die "Meistersinger" erleben durfte. Wie Wagner selbst als Jüngling durch Beethovens "Eroika", so wurde nun Max Reger durch Wagners Meisterwerke aufs tiefste erschüttert und von dem Bewußtsein erfüllt, auch selbst zu dieser hohen Kunst berufen zu sein. Der Vater Josef war ein begeisterter Verehrer des Bayreuther Meisters und besaß lückenlos die Klavierauszüge zu dessen Tondramen, in denen nun auch sein Sohn eifrig Umschau hielt, ebenso wie er sich mit der großen Wagner-Biographie Glasenapps eindringlich beschäftigte. Auch in seinen eigenen Meisterjahren hat Reger diese innige und selbstbescheidende Verehrung dem Genius Wagner gegenüber beibehalten und bei wiederholter Gelegenheit jenen vorlauten jungen Musikern derben Bescheid gegeben, die es für "zeitgemäß" hielten, den Tonsetzer Wagner zugunsten des Dichters herabzusetzen oder ihn gar als Gesamterscheinung für "überholt" zu erklären. "Lernen Sie erst einmal das, was dieser Mann gekonnt hat", war dann seine Antwort, und als Dirigent schwelgte Reger in der Polyphonie des "Meistersinger-Vorspiels" oder des Vorspiels zum dritten Akt dieses Werkes, wie er auch Wagners "Siegfried-Idyll" auf keinem seiner Programme des Meininger Orchesters fehlen ließ und wie er treue Freundschaft mit dem Sohne des bewunderten Meisters pflegte. Lindner freilich hielt seinen Schüler fern von einseitiger Beschäftigung mit einzelnen, wenn auch noch so bedeutenden Musikschaffenden. Und so drängte er ihn, sich auch dem vom Vater geübten Orgelspiel zuzuwenden, und unterstützte zugleich die eigenschöpferischen Regungen seines Pflegebefohlenen. Auf seine Veranlassung schrieb der junge Musiker eine Ouvertüre für die von Lindner geleitete Dilettanten-Orchestergesellschaft und sandte die binnen wenigen Tagen geleistete Arbeit an Hugo Riemann, dessen Name als Musiktheoretiker und [407] Musikhistoriker damals mehr und mehr an Ruf gewonnen hatte. Bald kam auch dessen Antwort, aus der einzelne Sätze deshalb hervorgehoben seien, weil sie auf der einen Seite Riemanns erstaunliche Beobachtungsgabe zeigen, zugleich aber auch erkennen lassen, worin die stilistische Eigentümlichkeit Regers lag und auch für die weitere Zukunft liegen sollte: "Der junge Mann hat Talent. Allerdings macht von den Kontrapunkten oft einer den anderen tot. Möge Herr Reger Lieder, Quartettsätze schreiben, um etwas länger denken zu lernen als Motive von vier Takten. Lassen Sie ihn Beethoven und Bach studieren. Bayreuth ist Gift für ihn. Und was die Phrasierung betrifft, so bitte ich, sich nicht so ins Detail zu verlieren." Riemann hat hier mit knappen Worten das gesagt, was Reger später noch zum Vorwurf gemacht wurde, weil man nicht erkannte, daß hier ganz persönliche Stilelemente vorlagen, die weder als Manier noch als Nichtbesserkönnen angesehen werden durften: die Neigung zu kurzer Motivanlage, zu raschem und stetigem Wechsel dieser Motive, zu einer fast verwirrenden Verflechtung der kontrapunktisch geführten Linien und endlich diejenige zu einer fast allzugenauen musikalischen Interpunktion. Der junge Musiker ging nun, aufgemuntert durch Riemanns freimütige und verständnisvolle Kritik, daran, sich mehr und mehr "freizuschreiben". Lieder und Kammermusikwerke bewiesen, daß Reger aus den von Riemann gesandten Lehrbüchern gelernt hatte, und ein als Beweis seines Fleißes an diesen geschicktes Streichquartett fand Riemanns Beifall in solchem Maße, daß dieser sich bereiterklärte, den jungen Komponisten zu sich zu nehmen und aus ihm einen ganzen Musiker zu machen. Aber die Freude über die Anerkennung des berühmten Mannes, der inzwischen als Direktor des Fürstlichen Konservatoriums nach Sondershausen berufen worden war, konnte doch die Sorge der Eltern um die wirtschaftliche Zukunft des Sohnes nicht beschwichtigen, und so verlangten sie den Abschluß der Aufnahmeprüfung für das Amberger Lehrerseminar. Wie einst Franz Schubert, so unterzog sich nun Max Reger seufzend der ungeliebten Pflicht, aber nachdem sie erfüllt, wollte er nichts mehr vom Lehrerberuf wissen, und Lindner, der Treue, bewog die noch immer zaudernden Eltern, sich noch an eine zweite musikalische Autorität zu wenden: an Josef Rheinberger, den berühmten Chor- und Orgelkomponisten und Leiter der Königlichen Akademie der Musik in München. "Ich glaube in Ihren Kompositionen trotz der Unreife genügendes Talent gefunden zu haben, um sich der musikalischen Laufbahn zu widmen", lautete die begeistert aufgenommene Antwort des Mannes, der auch Regers großem Landsmann und Werkgenossen Richard Strauß einst den Weg zu seiner Berufung gewiesen hatte. Nun gab es für Max kein Halten mehr, und im April 1890 betrat er den Boden der kleinen Residenzstadt Sondershausen. Riemann, damals schon ganz und gar auf das musikalische Dreigestirn Bach-Beethoven-Brahms eingestellt, erkannte in seinem neuen Schüler klar die starke Begabung, die er für nötig hielt, um der deutschen Musik nach Wagner und anders als dessen Nachfahren neue Wege zu weisen. Die Grundlage seines Unterrichts wurde der strenge [408] Kontrapunkt, wie er ihn selbst in einem umfassenden Werke dargelegt, und so suchte er an Reger eine Bekehrung von Wagner zu Bach und Brahms zu vollziehen, wie in der nahen Residenz Meiningen um dieselbe Zeit Alexander Ritter sie an dem jugendlichen Richard Strauß mit Erfolg vornahm, nur mit umgekehrten Vorzeichen: denn hier galt es, den Sohn des Wagnerhassers und Brahmsverehrers Franz Strauß zu Wagner und Liszt zu bringen. Riemanns Frau, eine tüchtige Sängerin, machte Reger mit den Liedern von Brahms bekannt, und die umfassende Bibliothek des Hausherrn stand dem jungen Musiker zu jeder Zeit zur Verfügung. Reger, der schon in Weiden zusammen mit Lindner die schöne wie die fachliche Literatur mit Eifer studiert hatte, fand nun hier Gelegenheit, sein Wissen zu erweitern, freilich nicht in der üblichen Form des Schulmäßigen, die der dünkelhafte "Gebildete" für die einzig seligmachende hält, sondern in jener freien und mitschöpferischen, in welcher ein Bach, Beethoven, Brahms sich Kenntnisse und Urteile erworben hatten, die sich hoch erhoben über das mühsam eingepaukte und halbverdaute "Wissen" so mancher Fach- und Zeitgenossen. Das hat freilich nicht hindern können, Reger später, wie vor ihm einen Bach, einen Schubert und Bruckner zum "Nurmusikanten" abstempeln zu lassen, dem es an ästhetischer und literarischer Schulweisheit gemangelt habe. Daß zu Regers persönlichen Freunden Männer gehört haben wie Dehmel, Eucken, Max Klinger, müßte jene Kritikaster längst zum Schweigen gebracht haben! Reger war auch darin ein deutscher Mensch, daß er nichts lehrhaft Vorgetragenes als feststehende Wahrheit widerspruchslos übernahm, sondern nur das anerkannte und festhielt, was er durch eigene Überlegung und selbständiges Erarbeiten als wahr und klar erkannt hatte. So zeigen die von dem Siebzehnjährigen an Lindner geschriebenen Sondershausener Briefe eine Reife und Unbestechlichkeit des künstlerischen wie des menschlichen Urteils, die zugleich genial wie deutsch anmutet: "Die Wirkung einer Komposition hängt nicht von den vielen Instrumenten ab", so schreibt er einmal, "sondern von der geistigen Verarbeitung der Motive. Dies sollten sich auch manche neuere Franzosen merken, die glauben, mit 95 763 Instrumenten täuschen zu müssen." Sind das nicht zukunftsweisende Worte in einer Zeit, da der überintellektuelle Jude Gustav Mahler seine "Monstre-Sinfonien" schrieb, die ihre Krönung in der "Sinfonie der Tausend" fanden, Reger aber seine reifsten und deutschesten Werke der Welt schenkte? Aber auch menschlich zeigt der blutjunge Künstler eine Reife und Sauberkeit der Gesinnung, die ihn turmhoch über so viele seiner komponierenden Zeitgenossen hob. In keinem seiner Briefe fehlt am Schluß die Versicherung unabänderlicher Dankbarkeit dem Lehrer und Freunde gegenüber, dem ein anderer wie Reger sich an dessen Stelle längst überlegen und entwachsen geglaubt haben würde. Und für das eitle und weibisch verliebte Wesen seiner Mitschüler hat er nur Worte des Spottes: "Das sind alles junge Leute von fünfzehn bis dreiundzwanzig Jahren, es hat so jeder ein interessantes Verhältnis mit irgendeiner [409] Schönheit, was bei mir aber nicht der Fall ist, und da hoffen die guten Kerls, in meiner Musik den Widerhall ihrer Empfindungen verspüren zu müssen, worin sie aber gründlich getäuscht werden. Sie sagen: Reger schreibt, wie wenn er fünfundvierzig Jahre alt wäre." Die Keuschheit des Menschen und Musikers Reger, die ihm und seinem Werke eigen war und blieb, spricht sich hier, wenn auch verlegen humorvoll versteckt, deutlich aus, wie sie sich einmal später fast rabiat ausdrückte, als er von Elsa Asenjew, der Freundin Klingers, drangsaliert wurde, ihre überhitzten Liebesreimereien zu vertonen, und seine Abneigung bald seufzend, bald laut fluchend kundtat und – er, der nach Mozart und Schubert am raschsten Komponierende – wie im Frondienst nur mühsam und ungeschickt vom Fleck kam und recht schlechte Arbeit verrichtete. Im Herbst 1890 erhielt Riemann den Ruf als Leiter des Wiesbadener Konservatoriums und nahm Max Reger mit sich, der sogleich neben seiner Lern- auch eine Lehrtätigkeit zugeteilt erhielt. Und wenn man einmal gesagt hat, daß Genie Fleiß sei, so galt dies auch für den kaum dem Knabenalter Entwachsenen, der seinem Lehrer Lindner berichtete: "In den letzten vierzehn Tagen habe ich fünf Nächte überhaupt nicht geschlafen." Und wieder erkennt er die Kluft, die ihn von seinen älteren und dennoch unreifen Schulgenossen trennt: "Die Hamburger (das heißt die von Hamburg mit Riemann nach Sondershausen und nun auch nach Wiesbaden mit Riemann gegangenen Mitschüler Regers) stehen meiner Sache ganz kühl ablehnend gegenüber. Nun, es schadet nichts. Die Geschichte ist ihnen zu gelehrt. Ja, wenn man in der 'Kunst' nichts anderes sieht als Broterwerb, wie diese, oder ein ganz geeignetes Mittel zur Schwärmerei für irgendein schönes, dummes Mädchen – dann allerdings mag man meinen Sachen sehr wenig Musikalisches abgewinnen! Ich will sehen, wer recht hat. Phrasentum, inhaltloses Getue ist mir ein Greuel; immer muß die architektonische Schönheit, der melodische und imitatorische Zauber da sein, sonst nützt es nichts, und mag dasselbe Werk noch so viel (eingebildeten) geistigen Inhalt haben." Aber auch einer andern Gefahr mußte der junge Musiker begegnen: der Überschätzung durch seinen eigenen Lehrmeister. Er sprach noch in seinen reifen Mannesjahren davon, wie peinlich ihn das gutgemeinte und zweifellos aus Überzeugung gesprochene Wort Riemanns getroffen habe: "Wenn Sie wollen, können Sie ein zweiter Bach werden!" Und das gleiche gedruckte Erstlingswerk Regers, eine Sonate für Violine und Klavier, von der der Lehrer seinem Jünger erklärte: "Sie wissen wahrscheinlich selbst nicht, was Sie darin schon geleistet haben", verurteilte sein Schöpfer nicht lange danach als jugendliche Verirrung, die es ihn bereuen lasse, sie jemals, samt all den übrigen damals geschriebenen Arbeiten, veröffentlicht zu haben. Wenn Gustave Flaubert sich einmal selbst den "germanischsten Dichter Frankreichs" genannt hat, so darf man im Hinblick auf Regers Selbsturteil daran erinnern, daß der französische Dichter seinem Schüler Maupassant es streng verbot, innerhalb seiner Lehrzeit ein Werk drucken zu lassen. Und echt deutsch [410] muten auch die Sätze Regers an, die er an Lindner über seine damals entstandenen Lieder schrieb: "Mein Hauptbestreben ist es jetzt, alles abzuklären und nicht vom modernen Oktavengerassel mich beeinflussen zu lassen. Brahms ist jetzt der, an den man sich halten kann." Daher dürfen Regers in Wiesbaden entstandene Werke: Lieder, Kammermusikwerke, Chöre, Orgelstücke, mehr als tastende Versuche zu einem eigenen Stil gelten, von denen einige aber auch mit dem persönlichen Schicksal des Komponisten eng verbunden sind. So entstanden Lieder unter dem Eindruck einer von ihm ernst gemeinten jungen Liebe, die aber, wie einst bei Schubert und Brahms, nicht den gleichen Ernst bei der Angebeteten fanden. Das Schicksal führte ihn statt dessen in das Haus einer Schülerin, aus dem später seine Lebensgefährtin kommen sollte. Und eine Reihe der in Wiesbaden entstandenen Schöpfungen erklang im Rahmen des ersten von Reger gegebenen Kompositionskonzertes in Berlin 1894, das seinen Kampf um die öffentliche Anerkennung eröffnen sollte. Zugleich gewann sich Reger in dieser Stadt, in der er nach seinem eigenen Zeugnis seine "Sturm-und-Trankjahre" durchlebte, Freunde von Wert und Namen, darunter Eugen d'Albert, Richard Strauß, Ferruccio Busoni und Karl Straube, den Meister der Orgel. Sein Pflichtjahr als Einjährig-Freiwilliger riß ihn zwar aus seinen musikalischen Plänen, bedeutete jedoch zunächst eine erfreuliche Ablenkung und Erholung, um dann allerdings dem jedem Zwang und Drill Abholden zur quälenden Last zu werden, die er endlich abschütteln durfte, als er, schwer erkrankt, aus dem Heeresdienst in die Heimat entlassen wurde. Der Abschied von Wiesbaden und die ungewollte Rückkehr in die heimatliche Kleinstadt hätte allzuleicht, vor allem in den Augen der lieben "Mitbürger", den Beigeschmack des Scheiterns einer Begabung an sich tragen können, wäre ihm nicht eine Handlung vorangegangen, die für Reger gleichsam die höhere Weihe zur Kunst bedeutete: Johannes Brahms hatte dem jungen Weggenossen, der ihn um die Erlaubnis gebeten, ihm seine (nicht mehr vollendete) Symphonie widmen zu dürfen, einen überaus herzlichen Brief voller Anerkennung für das als künstlerischen Ausweis beigefügte Werk, die "Den Manen Bachs gewidmete" Orgelsuite op. 16, geschrieben, und der Austausch der beiderseitigen Bildnisse hatte die Hoffnung auf ein persönliches Zusammentreffen wachwerden lassen, die dann allerdings der Tod des Wiener Meisters zerstörte. In Weiden vergrub sich Reger in eine Schaffensarbeit, die in ihrer Fülle und Reife einzig dasteht: in der Stille seiner Abgeschiedenheit und nur von Lindner freundschaftlich besucht und betreut, gab er der Welt seine großen Orgelwerke, die Choralphantasien über "Ein' feste Burg", "Freu dich sehr", "Wie schön leucht' uns der Morgenstern", die "Inferno-Phantasie", die Fantasie und Fuge über Bachs Namen, die in Kunst und Gehalt Bachs Schaffen wieder aufnahmen, dazu Klavierstücke zwei- und vierhändig, die wieder an Bachs Vorbild nach jahrhundertelanger Pause anknüpfenden Solo-Violinsonaten, das erst lange nach Regers Tode aus Lindners Besitz veröffentlichte Klavierquintett mit dem als [411] Gruß an den toten Brahms eingefügten Zitat der "Sapphischen Ode", zahlreiche Lieder, in denen er die Abkehr von dem Stile Hugo Wolfs vollzog und teilweise absichtlich Gedichte vertonte, die Richard Strauß auf seine, ganz andere Weise benutzt hatte, endlich Chorwerke, Volksliederbearbeitungen; und Strauß war es, der als uneigennütziger Fachgenosse den Münchener Verleger Aibl dazu bewog, die für "unspielbar" geltenden Werke zu veröffentlichen. Unermüdlich studierte Reger nebenher zusammen mit Lindner die zeitgenössische Musik- und Dichtungsliteratur, um dann als geistig wie tondichterisch fertiger Meister auf den Kampfplan zu treten: 1901 siedelte er zusammen mit seinen Eltern nach der Pensionierung des Vaters nach München über. Freilich: die Stadt, die einen Richard Wagner vertrieben, einen Richard Strauß vernachlässigt, einen Brahms abgelehnt hatte, bot nicht den Boden, auf welchem dessen Erbe und dazu der Erneuerer Bachs so leicht hätte Siege erringen können. Seit den Tagen ihrer Kurfürsten, wo Mozart seinen "Idomeneo" schrieb, einer ausgesprochenen Opernkultur huldigend, hatte sie der nachwagnerischen "neudeutschen" Richtung ihre Tore geöffnet, und Männer wie Max von Schillings, Siegmund von Hausegger, Felix von Weingartner, Felix Mottl, dazu Ludwig Thuille samt seiner Schule beherrschten das Feld. Und so war Reger, wie einst Beethoven in dem ihm wesensfremden Wien, gezwungen, sich zunächst als Pianist, als Begleiter und Lehrer durchzusetzen und sein eigenes Schaffen nur gelegentlich als Selbstinterpret vorzuführen, ein Schaffen, dessen auf allen sinnlichen Reiz, auf alle erprobten Künste der Instrumentierung verzichtendes Wesen in schroffstem Gegensatz zu dem stand, was das offizielle musikalische München liebte und geboten zu erhalten gewohnt war. Regers eigene Familie war die Oase, in der er Ruhe und Frieden gegenüber den Stürmen fand, die es nun für ihn zu bestehen galt. Und in seiner Gattin, Elsa von Bagenski, die, in Wiesbaden seine Schülerin, in München durch schicksalhafte Fügung wieder in seine Bahn geführt wurde, wie in ihrer, von höchstem Verständnis für Regers Bedeutung erfüllten Mutter gewann sich der junge Meister treue Gefährten wie in seinen Schülern, darunter Karl Hasse (jetzt Hochschuldirektor in Köln) und Josef Haas (der heute an der Münchener Musikakademie wirkt). Freilich: Reger war ein Mann ohne jede "Beziehungen", ja ohne die Lust, sich solche zu besorgen. Und der mächtigste musikalische Wortführer der Stadt, der Musikkritiker der Münchener Neuesten Nachrichten Dr. Rudolf Louis war der überzeugte Herold der Neudeutschen, der eingeschworene Gegner eines Brahms und damit der gegebene Kämpfer gegen Regers Art und Kunst, und sein boshafter Witz, gleich jenem des Wiener Wagner-Verächters Hanslick trat dem ehrlichen Ringen Regers um die Anerkennung in den Weg, wenngleich sich ein Musikhistoriker vom Range Kroyers auf die Seite des Angegriffenen stellte. Und in dem kleingläubigen Vater hatte der junge Musiker oft, wie Wagner es in Paris vor der verständnislosen Gattin aussprach, "den Feind am eigenen Tische", in der maßgebenden [412] Kritik der Reichshauptstadt Berlin, die damals tonangebend für die Beurteilung jeder neuen Musik war, den offenen Gegner. So kam es auf dem Frankfurter Tonkünstlerfest 1904, wo Thuilles Violinsonate mit ihrer süßen Glätte einer Regerschen mit ihrer ungefügen Kraft gegenübertrat, zum offenen Bruch, und auch bei einem gleichen Fest in Basel trat der Gegensatz des "bäurischen Reger" zu den "gebildeten Neudeutschen" in die deutliche Erscheinung. Eine ihm von Mottl übertragene Tätigkeit als Kontrapunktlehrer an der Musikakademie legte Reger, der sich dort als Fremder inmitten einer ganz andern Idealen huldigenden Lehrerschaft fühlte, bald wieder nieder, desgleichen die Leitung des von dem Wagner-Freunde Porges begründeten Chorvereins, und er verließ den ganz in dem Fahrwasser seiner Gegner segelnden "Allgemeinen Deutschen Musikverein", der erst später, seiner von dem Gründer Franz Liszt vorgeschriebenen Bestimmung gemäß: junge schöpferische Talente zu pflegen, Regers Werken einen Raum in den von ihm gegebenen Musikfesten zugestand. Kompromisse zu schließen, sich an einflußreiche Vereinigungen heranzumachen, seine freie Meinung dort zu unterdrücken, wo er Unfähigkeit und Vordringlichkeit am Werke sah, war Regers Art nicht, und so stellte er sich, allein auf sein Können angewiesen, zum Kampfe um die Anerkennung. Daß er sie zuerst im Auslande fand, gehört zu den Dingen, die für die deutsche Kulturgeschichte so bezeichnend sind: mit dem französischen Geiger Marteau, dem russischen Pianisten Siloti trat er als gefeierter Gast in Petersburg auf, in Holland fand er bald eine treue Gemeinde, Spanien ernannte ihn zum Mitglied seiner Akademie, ebenso Schweden. Aber Berlin lehnte ihn ab, und München brachte ihn durch niederträchtigen Kampf, der an die Zeiten erinnerte, da Wagner durch Kleingeister verbannt wurde, zum Zusammenbruch: er erkrankte schwer; nach seiner Wiedergenesung nahm er die, wahrscheinlich auf Straubes Betreiben, ihm angebotene Stellung als Universitätsmusikdirektor und Theorielehrer des Konservatoriums zu Leipzig an und übersiedelte im Jahre 1907 dorthin. München war für ihn die Stätte, wo seine großen Werke für zwei Klaviere: die Variationen über ein Thema von Beethoven, die Passacaglia und Fuge entstanden, die Variationen auf ein Bachsches Thema für Klavier zweihändig, die Suite im alten Stil für Geige und Klavier, die "Tagebuchblätter", die mozartisch fein verästelten Sonatinen, die "Schlichten Weisen" für Singstimme und Klavier, die Geigensonaten, Streichquartette, das Chorwerk "Gesang der Verklärten", die "Sinfonietta", deren Erstaufführung eine Katzenmusik der Schüler Regers vor Louis' Haus zur Folge hatte, die klanggesättigte "Serenade" für zwei Orchester. Und die Skizzen zu seinem wohl genialsten Werke, den "Hillervariationen", nahm Reger aus der undankbaren Heimat mit in die gastliche Fremde. Zwar sollte sich Regers deutsch-widerborstige Kämpfernatur auch hier gar bald auswirken: die den Universitätschor stellende akademische Sängerschaft "Paulus" hatte einen fidelen Genossen fröhlicher Abendstunden erwartet und fand einen arbeitsdurstigen Dirigenten, dessen Ehrgeiz dahin ging, mit seinen jugendlichen [413] Sängern wieder, wie deren Vorgänger es getan, auf Reisen zu gehen und dabei für gediegene Musik zu werben. So kam es bald zum Konflikt, und Reger legte sein Amt nieder, um sich mehr und mehr der Schaffens- wie der Lehrtätigkeit hinzugeben. Die grandiosen Variationen auf ein Rokoko-Thema des alten Singspielkomponisten Joh. Adam Hiller begannen die Reihe, die sich in dem Symphonischen Prolog zu einer Tragödie, im Violin- und dem Klavierkonzert, der Lustspielouvertüre, dem "Hundertsten Psalm" für Chor und Orchester, den "Nonnen" und einer Unzahl kammermusikalischer Werke fortsetzte, aus denen das Es-dur-Streichquartett mit der hinreißenden Schlußfuge genannt sei. Daß Reger aber nicht allein als Schaffender nun seinen Gipfelpunkt erreicht, daß auch die Welt ihn als ragende Erscheinung anerkannte, bewies die Reihe der ihm erwiesenen Ehrungen: so ernannte ihn der sächsische König zum Professor, die Universitäten Berlin und Jena zum Ehrendoktor, eine Auszeichnung, um die Wagner einen Brahms beneiden mußte. Doch Reger meinte einmal: "Je mehr sie mir Titel anhängen, um so lieber wird mir mein einfacher Name: Max Reger." In Arthur Nikisch und Karl Straube fand der Meister verständnisvolle Freunde und Interpreten, in Max Klinger und dem bedeutenden Juristen Wach treue Kameraden. Aber der Unermüdliche, Deutsch wie seine Neigung zur Natur war seine Tierliebe. Lindner erzählt, wie Reger in Weiden nach tagelangem innerem Kampf seinen kranken Hund zum Abdecker gebracht und seiner inständigen Bitte, das arme Tier schmerzlos von seinem Leiden zu befreien, dadurch Nachdruck verliehen habe, daß er all seine geringe Barschaft dem Manne in die Hand schüttete. Das Bild dieses Hundes hing in seinem Zimmer neben dem Diplom der Schwedischen Akademie der Künste. Und der aus der bayerischen Heimat stammende "Waldl" hatte seinen Ehrenplatz unter dem Klavier, wenn sein Herr komponierte. Wie Wagner verabscheute Reger den Anblick eines geschlachteten Tieres und mied tagelang Fleischgenuß, wenn er einem solchen Anblick einmal nicht hatte ausweichen können. Und die Armen hatten in Reger ihren nie versagenden Wohltäter, so sehr, daß sich einmal die Polizei der Stadt Leipzig ins Mittel legen mußte, um zu verhindern, daß der [414] gutgläubige Meister von schlauen Berufsschnorranten überlaufen und betrogen werde. Auf die Dauer vermochte freilich diese Musikstadt Reger nicht zu halten. Auch hier stieß dessen unbeugsame Kampflust gegen alles laienhafte Besserwissen und akademischen wie kaufmännischen Dünkel an. Da ihm jeder gesellschaftliche Ehrgeiz fehlte, so vermochte er nicht, die "besseren Kreise" zur Sympathie zu gewinnen, was sich in absichtlich mattem Besuch seiner Konzerte ausdrückte und worauf Reger mit seinem Weggang nach Meiningen quittierte. Dort war nach Wilhelm Bergers Tode die Stelle des Leiters der herzoglichen Hofkapelle neu zu besetzen, und Fritz Steinbach, der Brahmsjünger und nach Bülow einstiger Dirigent jenes Orchesters, hatte den "alten Herrn" in Meiningen auf Reger aufmerksam gemacht. Kurzentschlossen nahm dieser die Berufung an, behielt jedoch die ihm lieb gewordene Lehrtätigkeit am Konservatorium. Im Herbst 1911 trat er sein neues Amt an, getrieben von dem ehrgeizigen Wunsche, sich durch praktische Arbeit mit einem vorzüglichen Orchester die Meisterschaft in der Satzkunst für diesen Klangkörper zu erringen und gleichzeitig mit Hilfe der Kapelle, die einst auf ihren Reisen unter Hans von Bülow für das Werk eines Brahms eingetreten war, für deutsche Musik der Vergangenheit und Gegenwart zu werben. Seine offene, herzgewinnende Art des Umgangs, seine geniale musikalische Führerkunst, nicht minder aber auch sein alle Register der Entschlossenheit ziehendes Eintreten für die wirtschaftliche Lage der ihm Anbefohlenen sicherte ihm sogleich die treue Gefolgschaft der Musiker, und bald berief man ihn und das Hoforchester auf weite Reisen durch das Reich wie ins Ausland, wo er mit bewußtem Stolz zeigte, wie auch ein nicht nur aus allerersten Künstlern zusammengesetzter Klangkörper den Wettbewerb mit den angesehensten aufnehmen könne, wenn nur in den Vorproben aufopfernde und allein dem Werk dienende, nachschaffende Arbeit geleistet werde.
Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Brahms und Strauß gehörten zu den tragenden Namen seiner Programme, und triumphale Erfolge wie ein geldlicher Reingewinn wurden dem Orchester zuteil, den Reger selbstlos der Hebung der Lebensbedingungen seiner Musiker zuwandte. Aber auch hier hatte er Widerstände zu überwinden: war ihm der alte Herzog Georg, der Schöpfer des einst berühmten Meininger Theaters, herzlich zugetan, so suchte dessen Hofmarschall immer wieder Reger gegenüber den Vorgesetzten herauszukehren, wurde aber mit bajuvarischer Gewalt in seine Schranken zurückgewiesen, denn Reger kannte kein Sichbeugen vor Obrigkeiten, die er nicht als solche anerkennen konnte. Und auch Musikkritiker, die, nach seinem eigenen Worte, sich an ihm "berühmt schimpfen" wollten, ernteten meist Abfertigungen, die Falstaffschen Ton annahmen. Gekrönten Häuptern gegenüber war Reger der unbefangene Volksgenosse: den hessischen Großherzog, der ihn wie einen Kameraden behandelte, liebte er voll echter Freundschaft wie seinen Meininger Herzog auch, aber den Weimarer, der ihm im Tone "von oben herab" eine Frage vorlegte und von dem Reger erfahren hatte, er lasse seine Tischkarten auf französisch drucken, kehrte er schroff [415] den Rücken, der Meininger Erbprinzessin, die als Musik nur die Operette anerkannte, wich er aus, um sie nicht grüßen zu müssen. Und als der alte Herzog die Augen schloß, verließ Reger Meiningen und siedelte nach Jena über, wo er sich ein Haus zum Ruhesitz erwarb. Bei Kriegsausbruch stellte sich der Vierzigjährige sofort dem Heere, wartete getreulich Stunde auf Stunde vor dem Aushebungsbüro und war sehr enttäuscht, als man ihn aus der Reihe nahm und wegen seiner Kurzsichtigkeit nur zu Schreiberdiensten verwandte. Wie viele seiner Kunstgenossen, deren Leben für die deutsche Nation durchaus nicht so unersetzlich war wie dasjenige Regers, haben sich damals als "völlig unabkömmlich im Dienste der Musik" bezeichnen und von der Soldatenpflicht entbinden lassen! Reger, der in Meiningen Werke von Ewigkeitsgeltung geschrieben hatte: die "Romantische", die "Böcklin-Suite", die "Mozart-Variationen", brannte darauf, sein Leben dem Vaterlande zu opfern. Als untauglich entlassen, stellte er seine Kunst sogleich in den Dienst der nationalen Sache. Seine "Vaterländische Ouvertüre" mit ihrer die Schlußsteigerung herbeiführenden Verkoppelung der deutschen Hymne mit dem Liede "Ich hab' mich ergeben" und dem Choral "Ein' feste Burg ist unser Gott" widmete er den deutschen Kriegern, sein "Requiem" auf Hebbels Gedicht den Gefallenen des Krieges. Seherisch kündigte er an, daß im Falle der Niederlage Deutschlands die Demokratie und damit der Niedergang der deutschen Musik kommen werde. Aber auch sein eigenes Ende fühlte er nahen: immer wieder sprach er im Kreise der Freunde davon und schrieb mit fliegender Feder seine letzten Werke: "Hymnus der Liebe", den "Einsiedler" (nach Eichendorff), Kinderlieder und das Klarinettenquintett, die geistlichen Chöre, deren Korrekturbogen an seinem Sterbebette sich fanden. Zugunsten des Roten Kreuzes spielte er in der alten Lutherstadt Wittenberg. Auf der Heimreise besuchte er Leipzig, wo er am Konservatorium seine auf einen Tag zusammengedrängten Unterrichtsstunden gab, traf sich dann mit Freund Straube in einer kleinen Gastwirtschaft, fühlte sich aber unpäßlich und ließ sich ins Hotel einen Arzt kommen, der ihm eine Morphiumeinspritzung gab. Am Morgen fand man ihn tot. Was er sich so oft gewünscht: "Ich möchte einmal für immer einschlafen", hatte ihm ein gütiges Geschick gewährt. Der Nimmermüde, der immer wieder beteuerte: "Uns ist hier nur wenig Zeit gelassen, wir müssen schaffen", war zur letzten Ruhe eingegangen. Das deutsche Volk, dem sein ganzes Lieben und Wirken gegolten, das er fanatisch über alle fremden Völker erhob, kämpfte draußen seinen Verzweiflungskampf. Seinen Niederbruch und Niedergang hätte Reger nicht überleben wollen, so überhob ihn der Tod einem schlimmen Entschluß. An seinem Grabe schon wurden die Stimmen jener laut, die auch der deutschen Musik den Dolchstoß in den Rücken zugedachten. Sie sind heute verstummt, und Max Reger lebt wieder, lebt unvergänglich im Herzen seines deutschen Volkes, das in ihm einen seiner größten und treuesten Söhne erkannt hat.
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