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[Bd. 4 S. 328]
Carl Ludwig Schleich, 1859-1922, von Wilhelm Conrad Gomoll

Carl Ludwig Schleich.
[328b]      Carl Ludwig Schleich.
[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]
Am 19. Juli 1859 wurde dem in Stettin lebenden und als Augenarzt in Stadt und Land sehr geschätzten Carl Schleich als drittes Kind ein Sohn geboren, der auf den Namen Carl Ludwig getauft wurde. Die in Pommern heimisch gewordene Familie gründet ihre Herkunft auf den im 17. Jahrhundert aus Bayern nach Norddeutschland eingewanderten protestantischen Pfarrer Christian Schleich. Durch die Familie der Mutter, die dem alteingesessenen Geschlecht der Küster entstammte, kam zu dem bayerischen Blut solches des reinen Niedersachsentums hinzu, da die Vorfahren der Mutter in Mecklenburg lebten. Als ältester aufspürbarer Ahn der Familie Küster ist ein Dorfschulmeister in Malchin bekannt. In der väterlichen bayerischen Linie der Schleichs sind wiederholt künstlerische Menschen von hohem Wert in Erscheinung getreten. Die pommerschen Schleichs fühlen sich darum mit den Münchener Künstlern, den drei Malern Eduard, Ernst und Robert Schleich eng verwandt. Carl Ludwig Schleich führte seine Lust zum Malen und Zeichnen, die auch den nach ihm geborenen Bruder beherrschte, und die vor allem seinen Onkel Hans Schleich auszeichnete und zu einem bekannten See- und Landschaftsmaler werden ließ, auf die künstlerische Begabung der bayerischen Familienmitglieder zurück. Durch die Mutter wurde dem süddeutschen romantisch-künstlerischen Sinn die norddeutsche Zweckmäßigkeit beigemischt. Die Mutter brachte erdgebundenes, schollenkräftiges Blut in die Familie, da sich unter ihren Vorfahren in der Hauptsache Bauern und Fischer befanden, die um das Stettiner Haff und auf der Insel Wollin seit langer Zeit angesiedelt waren.

Carl Ludwig Schleich hat dieser Mischung von Künstlertum und fester Bodenständigkeit für seine Entwicklung die größte Bedeutung beigemessen. Als er sich entschloß, seine Lebenserinnerungen (Besonnte Vergangenheit) niederzuschreiben, betonte er diesen Blutzusammenfluß in stärkstem Maße. Es ist deshalb wohl angebracht, ein Lebensbild Carl Ludwig Schleichs auf seine Aufzeichnungen zu stützen, um im Einfühlen in sein Wesen und Werden, im Erfassen und Verstehen seines starken Gefühlslebens und bewegten Schaffens einen verläßlichen Wegweiser zu haben.

Es ist allgemein erwiesen, in welchem bestimmenden Umfang die ersten Kinderjahre für die Entwicklung eines Menschen grundlegend und bedeutungsvoll sind. Auch bei Schleich zeigt das Bild, das er mit großer Anschaulichkeit von [329] seinen Großeltern und Eltern, von dem angeregten Leben im väterlichen Hause zeichnet, diese Einwirkung auf. Nach seinem Bericht entstammte Schleich einem glückgesegneten Boden. Harmonisch wuchs er im Schoße der Familie auf und empfing durch die geistige Bewegtheit, die sein Elternhaus erfüllte, den Einfluß, der für seinen Weg richtungbestimmend und entscheidend wurde. Freimütig hat Schleich das Ungezwungene seiner sorglosen Kindheit dargestellt. Es findet sich dort das Bekenntnis, daß er sich schon in den Jugendtagen eine gewisse Zuversicht in allen Kampflagen erworben habe; er sagte aber auch, daß er eine respektvolle Hinneigung zu seinen Feinden gewann. Für sein späteres Leben, für die Kämpfe, die er durchzufechten hatte, sind diese Erkenntnisse gewiß zu einem für ihn wertvollen und wesensbestimmenden Besitz geworden. Er, der nach glücklicher Jugend an der Schwelle des Mannesalters mitten in den Streit der Meinungen hineingeworfen wurde, kämpfte mit fester Überzeugung und Zuversicht und konnte sich schließlich vor seinen Gegnern behaupten. Die Zeit gab seinen Erkenntnissen recht. Und so schrieb er nieder, was für seine Art charakteristisch war und kennzeichnend geblieben ist: "Vielleicht wissen wir Männer gar nicht, wie lange wir eigentlich 'Jungens' bleiben und mit den ernsteren Dingen ein leider viel zu wichtig genommenes Spiel treiben. Nur wenn man die Wissenschaft allzuernst nimmt, wird man bös."

Der wissenschaftliche Arbeiter der späteren Zeit, der Mediziner, der die ernstesten Aufgaben verfolgte, aber doch durch alle Abwandlungen seines Lebens ein Romantiker blieb, steckt in diesem Wort. Der Sucher, der Forscher, der seine Erkenntnisse und Ergründungen in geistvollen medizinisch-philosophischen Büchern festlegte, der seine Denkarbeit, um ihr eine größere, breitere Wirkung zu sichern, aber auch in die Gestalt wissenschaftlich-philosophischer Märchen umformte, ging klarlinig und bewußt seinen Weg. Als er seinen Traumroman Es läuten die Glocken schrieb, wirkte sich die Harmonie seiner Kindheit aus. Ohne sie wäre das Buch gar nicht zu denken. Und wenn Carl Ludwig Schleich sagte, daß schon in seiner lebhaften Spielbeschäftigung – die wir wohl als eine phantasiegetragene Neigung zum Märchen und zum Märchenerlebnis ansprechen dürfen – "eine gewisse Geistigkeit und Frühreife" lag, so ist das gewiß nur die Folge des bewegten geistigen und künstlerischen Lebens gewesen, das im Haus der Eltern mit regelmäßiger Stetigkeit flutete.

Nach glücklicher Jugend und erster Kinderschulung kam Carl Ludwig Schleich auf das Stralsunder Klostergymnasium. Unter väterlicher Einwirkung entschloß er sich nach dem Abiturium zum Studium der Medizin. Das erste Semester führte ihn nach Zürich. Es muß eine aufregende, schmerzvoll-glückliche und bewegte Zeit gewesen sein, die er dort verlebte. Für den eben flügge gewordenen Studenten brachte sie viel Lebensfreude, aber auch erstes inneres Schwanken. Die Geselligkeit zog den jungen Menschen an. Die Künste hielten ihn vom Studium ab, ja sie führten ihn so weit von seinem Entschluß fort, Mediziner zu werden, [330] daß er bereit war, auf eine Künstlerlaufbahn hinüberzuwechseln. Die Musik, eine alte Liebe, hatte es ihm wieder angetan und verstrickte ihn so stark in ihre Lockungen, daß er nach Mailand fuhr, dort seine Stimme prüfen ließ und beschloß, Gesang zu studieren. Der Einfluß des Vaters, der sich auch in seinem späteren Leben oft bemerkbar machte, brachte ihn auch hier zur Besinnung. Der Vater holte ihn aus Mailand zurück, worauf der Sohn sich entschloß, in Zürich und Greifswald weiterzustudieren, wo er dann das Physikum machte.

Carl Ludwig Schleich, ca. 1880.
Carl Ludwig Schleich, ca. 1880.
[Nach wikipedia.org.]
Carl Ludwig Schleich siedelte nun zu weiterem Studium nach Berlin über und hatte das Glück, eine Unterassistentenstelle in der Klinik von Bernhard von Langenbeck zu bekommen. Er selbst hat hierzu gesagt, dies sei der Beginn eines von dem gewöhnlichen Lehrgang der Medizinkandidaten in ihren klinischen Semestern völlig abweichenden Studienweges gewesen. Bis zum Physikum war seine Entwicklung durchaus nicht regelmäßig. Jetzt wurde sie geradlinig und streng.

In der Berliner Chirurgischen Universitätsklinik ist Carl Ludwig Schleich der letzte Famulus von Bernhard von Langenbeck gewesen. Er arbeitete bei von Bergmann weiter, um dann zu Rudolf Virchow an das Pathologische Institut der Charité zu kommen. "In Virchows Schulung habe ich die ersten Schritte getan zu einer ganz vom Überlieferten abweichenden Vorstellung über das Nervenleben und die Funktion der Neuroglia." In dieser Zeit sind ihm denn auch schon die ersten Gedanken von den Aufgaben der Hemmungstätigkeit dieses eigentümlichen Gehirngewebes gekommen, die er späterhin mit so großem Erfolg ausbauen sollte.

Schleich war nun ein Lernender und Suchender, aber es fiel ihm schwer, den Entschluß zur Staatsprüfung zu fassen. Auch hier mußte erst wieder der fördernde Einfluß des Vaters wirksam werden. Vom Vater ermuntert, angeregt und immer wieder gestützt, rückte er nun von Station zu Station vor. Er hatte die gewöhnliche Zahl der Studiensemester um ein volles Jahr überschritten, als er 1886 approbierte und darauf sofort zu Senator in das Augusta-Hospital als Volontär eintrat. Vorübergehend hat er als "Ferienkandidat" im Stettiner Krankenhaus geweilt, als er durch eine Empfehlung Virchows nach Greifswald kam. Er wurde dort Erster Assistent des Chefs der Chirurgischen Klinik von Professor Helfferich und machte nun den "chirurgischen Drill" durch, der ihm aber trotzdem noch genug Zeit ließ, umfangreiche Experimentalarbeiten vorzunehmen, über die er noch auf späteren Chirurgenkongressen berichtete. Auch seine Doktorarbeit Über Knochenaneurysma fertigte er in Greifswald an. Eine bei Virchow freiwerdende Assistentenstelle lockte ihn wieder nach Berlin, doch kurz darauf ging er mit dem Entschluß, der akademischen Laufbahn Lebewohl zu sagen, als Volontärassistent an die hohen Ruf genießende Universitäts-Frauenklinik in Berlin, die Professor von Olshausen unterstand. Virchow hatte sich für ihn verwandt, aber schon bald danach bereitete Schleich einen weiteren [331] ausschlaggebenden Schritt vor, indem er die Eröffnung einer eigenen privaten chirurgischen Anstalt in Berlin betrieb. Seine geistige Regsamkeit schaffte ihm Unruhe, aber sie drängte auch nach Selbständigkeit. Schleich fühlte sich stark genug und berufen, für sich allein Probleme aufzugreifen und sie zur Lösung zu bringen, so daß es ihn in der Abhängigkeit nicht länger duldete.

1889 heiratete Schleich seine Jugendliebe Hedwig Oelschlaeger. Wie er, besaß die Lebensgefährtin musikalische Begabung und neigte, durch Elternhaus und Erziehung beeinflußt, den Künsten und der wissenschaftlichen Bildung zu. Ihre Umsicht und Tüchtigkeit schuf dazu für den immer lebhaften Geist des jungen Gatten neben dem gesunden Ausgleich eine gute wirtschaftliche Grundlage. Inzwischen – schon vor der Heirat – war die Gründung der so stark begehrten eigenen chirurgischen Klinik zur Tatsache geworden. Schleich arbeitete nun in seinem Institut und erzielte gute Erfolge. Der Eifer, mit dem er an das Werk ging, die Gewissenhaftigkeit, seine vornehme Gesinnung und menschliche Güte erwarben ihm schnell das Vertrauen der Kranken, so daß sein Name einen guten Klang bekam. Er wurde zu einem geschätzten Arzt im Südwesten des Berliner Stadtbildes, der viel Zuspruch hatte. Auch für die Interessen seines Berufsstandes setzte er sich in dieser Zeit mit starkem Nachdruck ein. Voll jugendlicher Kampffreude warf er sich für das Ansehen und die Aufgaben der Ärzteschaft in die Schanze. Sein Leben war ethisch eingestellt, und so ging er über seine persönlichen Interessen hinweg, wenn er sein Wissen und Können in den Dienst der Kranken stellen konnte. Für die Ärzteschaft vertrat er mit Überzeugung die Forderung der strengen Wahrhaftigkeit. Obwohl er durch die Klinik und durch die Vertretung der Standesinteressen stark belastet war, wurde dieser Lebensabschnitt für ihn noch reicher und fruchtbarer, weil er nun auch wieder seine Forscherarbeit aufnahm. Er trieb eifrige Studien, versenkte sich in alte und neue Gedanken der medizinischen Wissenschaft, was schon bald erstaunliche Resultate zeitigen sollte. Methodisch ging er den Erkenntnissen nach und wurde damit zu einem Entdecker, dessen Arbeiten, wenn auch nicht gleich, so doch später sich zum Segen der Menschheit auswirken sollten.

Trotz des starken Angespanntseins oder vielleicht gerade dadurch in seiner Lebendigkeit noch weiter gesteigert, fand er in dieser Zeit auch noch Muße genug zum Umgang mit einer Gruppe von Künstlern und Literaten, die sich in der berühmt gewordenen Gaststätte "Schwarzes Ferkel" zusammenfanden. Es ist ein Kreis ausgewählter Menschen gewesen, der sich eigenwillig und doch auch ungezwungen zum Schoppen Wein einfand und sich in gegenseitiger Kameradschaftlichkeit anregte. Beachtliche Namen gehörten zu dieser Stammtischrunde in der Dorotheenstraße, vor dessen Tür symbolisch der aufgeblasene wetterschwarze Balg eines bessarabischen Weinschlauches an knarrenden Ketten im Straßenwinde baumelte. Der Weinschlauch in der merkwürdigen Gestalt eines Borstentieres hatte dem Lokal den Namen gegeben. Hier fanden sich neben den [332] Nordländern Edward Munch, Ola Hansson, Laura Marholm, Knut Hamsun und Adolf Paul, Richard Dehmel und Otto Erich Hartleben, Frank Wedekind, Otto Julius Bierbaum, Paul Scherbart und Franz Evers auch der Pole Stanislaus Przybyszewski und mancher andere ein. Den Mittelpunkt dieser humpenfrohen Gesellschaft bildete August Strindberg, den Schleich als Arzt kennengelernt hatte, und mit dem er bald eine bis zum Tode Strindbergs dauernde enge Freundschaft schloß. Das künstlerische, literarische Element, das ja niemals in Carl Ludwig Schleich ganz zum Einschlafen kam, führte den Lebensfrohen, Lebensprühenden in diese so sonderliche und bohememäßige Gesellschaft, und es darf nicht wundernehmen, daß er sich darin wohl fühlte. Er wurde unter den Künstlern und Dichtern aber nicht als der Arzt, als ein Außenseiter geduldet, sondern sehr bald um seiner Beredsamkeit, Schlagfertigkeit und der lebendigen humorvollen Einfälle willen – und nicht zuletzt wegen seiner Trinkfestigkeit – als vollwertiger Kumpan gern gesehen und aufgenommen. Man schätzte in Schleich den im Ideenreichtum übersprudelnden Menschen, die immer anregende Persönlichkeit, die auf allen Gebieten der Künste, der Musik, der Malerei und Dichtkunst beschlagen war und so durch tausend innere Bindungen an die Seite dieser Sturmgeister gehörte.

In der Besonnten Vergangenheit hat Schleich – so wie er dort seiner Frau und Jugendliebe ein schönes Denkmal setzte – über diesen Freundeskreis und gleichzeitig auch über sein so nahes Verhältnis zu August Strindberg einen Bericht gegeben, der auch seine eigene Persönlichkeit ausgezeichnet beleuchtet. Schleich spricht von dieser Zeit als von einem Erfülltsein mit zwei Seelen. Und doch muß sich der Mediziner diesen Künstlern innerlich sehr nahe gefühlt haben, da auch er durch den Umgang mit ihnen die vielseitigsten Anregungen empfing, wie er sie ihnen in gleichem Maße zurückgeben konnte. Man stritt sich in dem frohen Kreise dieser Hinterstübchenzecher des "Schwarzen Ferkels" über Natur, Welt, Gott und Teufel. Doch eines Tages entdeckte Schleich in dem Polen Stanislaus Przybyszewski eine ihm merkwürdig nahe und verwandte Seele. Dieser "Geniemensch", wie er ihn selbst genannt hat, der ein kunstbegeisterter, ein hinreißend Chopin spielender Dichter war, hatte Medizinstudien getrieben und zeigte ihm seine aus den Waldeyerschen Vorlesungen stammenden Kollegienhefte, in denen Schleich prachtvolle und höchst erstaunliche Darstellungen von Ganglienstrukturen fand. Schleich bekennt, daß er in diese ihm einst "vertraute Intimität kleinster Wunder" völlig versank, dann aber plötzlich einen Gedanken empfing, der ihn wie ein Blitz durchfuhr, weil er die Neuroglia in einem bisher nicht gesehenen Lichte erkannte. Dieses Nerveninstrument erschien ihm als ein Registrierschaltapparat, zwischen den Ganglien – als ein Hemmungsregulator. Und in plötzlicher Erleuchtung standen die Gedankengänge vor ihm, die ihn auf den Weg führten, auf dem er schon kurz darauf seine Erfindung der Infiltrationsanästhesie machte.

[333] Damit hatte Schleich aus dem Strindbergkreise heraus den Weg gefunden, der ihn zu einem Wegbahner auf dem Gebiete der Chirurgie werden ließ. Das Ziel war, künstlich Gefühlsdämpfungen oder Überempfindlichkeiten beliebig erzeugen zu können und diese bei operativen Eingriffen an Stelle der gefahrvollen, bis dahin allein zur Verwendung kommenden Narkose zu setzen. Er arbeitete in seinem Institut, machte mit verschiedenen blutähnlich zusammengestellten Salzlösungen Selbstinjektionen, erkannte, daß Wasser nach vorheriger Reizung ein Anästhetikum erster Klasse ist, und daß diese Reizung unter bestimmten Bedingungen ausschaltbar sei. In Hunderten von Versuchen am eigenen Körper drängte er im Erfolgverlangen des jungen Entdeckers Schritt für Schritt vorwärts, und es erwies sich, daß die von ihm gefundene Verfahrensart trotz der sehr einfachen Grundursache für Tausende von operativen Fällen anwendbar sei. Schleich konnte ohne Narkose Schmerzlosigkeit herstellen; er vermochte Geschwülste zu beseitigen, Amputationen und die verschiedenartigsten Eingriffe vorzunehmen, und dieses "Wunder" sprach sich herum, so daß er bald im Beisein anderer Ärzte täglich zwölf und mehr schmerzlose Operationen ausführte. Obwohl er nichts über die gefundene "Lokalanästhesie" veröffentlichte, suchten Hunderte von Ärzten, darunter viele Ausländer – sogar Japaner und Chinesen – dann deutsche und zuletzt die Berliner Kollegen seine Klinik auf.

Im April 1892 waren seine Arbeiten so weit gediehen, daß er vor dem Chirurgenkongreß das Verfahren der lokalen Betäubung vortragen konnte. Aber die große Versammlung von achthundert Ärzten, die von Bardeleben präsidiert wurde, stand ihm in Abwehr gegenüber. Als er sich am Schluß seiner Ausführungen mit jugendlichem Sturmgefühl und von dem großen Wert der Entdeckung überzeugt zu einem Wort der Kritik der bisher herrschenden Anwendung der Narkose hinreißen ließ, einer Kritik und Forderung, die als Angriff auf die bisherigen Operationsverfahren aufzufassen war, erhob sich die Versammlung in einhelliger Entrüstung. Schleich hatte gesagt, daß er mit diesem unschädlichen Mittel in der Hand aus ideellen, moralischen und strafrechtlichen Gesichtspunkten es für nicht mehr erlaubt halte, die gefährliche Narkose da anzuwenden, wo das von ihm erfundene Mittel zureichend sei. Er wurde von den Ärzten, die sich angegriffen fühlten, stürmisch abgelehnt. Auf die Frage des Präsidenten Bardeleben: "Ist jemand von der Wahrheit dessen, was uns hier eben entgegengeschleudert worden ist, überzeugt? Dann bitte ich die Hand zu erheben", zeigte sich keine Hand. Die achthundert Chirurgen dieses Kongresses fühlten sich besonders durch Schleichs ethische Ausführungen auf das tiefste verletzt. Trotz dieses Mißerfolges lag in dem, was der junge Forscher vorgetragen hatte, eine tiefe Wahrheit, die sich freilich erst nach Jahren durchzusetzen vermochte.

Schleich arbeitete weiter. Wiederum stützte ihn die aufmunternde, vertrauende, nie versagende Kraft des Vaters, der das Geniale seines Sohnes erkannt hatte. Schleich selbst entwickelte eine große Beharrlichkeit, mit der er um das Gefundene [334] kämpfte. Sie führte ihn schließlich zum Siege. Nach zwei Jahren fand er die erste Genugtuung und Anerkennung, als er noch einmal vor dem Kongreß seine Operation zeigte. Einige Jahre später führte dann auch Ernst von Bergmann, einer der hervorragendsten wissenschaftlichen Chirurgen und glänzendsten Operateure, vor derselben Fachversammlung das Schleichsche Verfahren mit vollem Erfolge vor, und wiederum einige Jahre danach teilte Miculicz aus Breslau dem Chirurgen-Kongreß mit, er habe viele Tausende von Operationen nach der Methode Schleich schmerzlos ausgeführt, während Geheimrat von Bergmann inzwischen den Ausspruch getan hatte, daß er die Infiltrationstheorie zu den Großtaten der Chirurgie zähle. In späterer Zeit, namentlich während des Weltkrieges, hat sich die gewichtige Wahrheit dieses Wortes in vollem Umfange erwiesen, da die operative Arbeit mit dem lokalen Betäubungsverfahren, die in ausgedehntem Maße vorgenommen wurde, eine schnelle und vorteilhafte Behandlung der Verwundeten zuließ und den Verletzten große Erleichterungen schaffte. Es zeigte sich, daß siebzig Prozent der Narkosen bei allen Operationen überflüssig sind, und daß die Gefahr des Narkose-Todes im Sinne der von Schleich auf dem Kongreß von 1892 geforderten ethischen Bestrebungen ausschlaggebend vermindert werden konnte. Schleichs Arbeit wurde damit durch einen großen Erfolg belohnt. Und wenn sich auch niemand fand, der mit einem offenen Wort das frühere Fehlurteil wettmachte, so bedeutete doch die Verleihung der Rienecker-Medaille an Schleich durch die Würzburger Universität seine volle Rehabilitierung und die Anerkennung der geleisteten Arbeit.

Mit großem Fleiß ist Schleich darangegangen, weiterzuforschen. Er fand Schüler aus dem In- und Auslande. Aus führenden Krankenhäusern und Kliniken strömten ihm die Operateure zum Studium zu. Das Werk, das er über die Gefühlsdämpfung schrieb, erschien 1894 unter dem Titel: Schmerzlose Operationen. Örtliche Betäubung mit indifferenten Flüssigkeiten, Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes. Eine Arbeit über neue Wundheilungsmethoden folgte 1899. Sie wurde mit Spannung erwartet, erreichte jedoch nicht die anhaltende Wirkung des ersten Buches. Schleichs Ansehen in der medizinischen Wissenschaft festigte sich. Durch seinen Gegensatz zu den noch herrschenden alten Schulrichtungen der Medizin war er zwar in eine Sonderstellung hineingeraten, aber er kämpfte weiter und trat, ein Gegner jeden Kompromisses, mannhaft für seine Überzeugung ein. Den Gedanken, um persönlicher Vorteile willen Zugeständnisse zu machen, wies er grundsätzlich von sich zurück. Um so mehr erfreute es ihn, als Schweninger, der wie er in Gegensätzlichkeit zur Schulmedizin stand, ihn als Oberarzt der Chirurgie an das neuerrichtete Krankenhaus in Lichterfelde bei Berlin rief. Es war wohl eine innere geistige Verwandtschaft, die beide Männer zusammenführte, aber Schleich erkannte bald, daß er doch auch zu Schweninger in starkem Gegensatz stand. Schon ein Jahr später trat er von dem Posten des chirurgischen Oberarztes in Lichterfelde zurück, obgleich sich ihm kein [335] Wirkungskreis erschloß, so wie er ihn sich wünschte. Was ihm vorschwebte, war, seinen Ideen leben zu können. Er wollte, unabhängig vom Erwerbsleben, sich als wirklicher "Arzt", das heißt zwanglos und frei, als "Menschenfreund", betätigen. Die Tatsache, daß er kein neues Arbeitsfeld an einem großen Institut finden konnte und dadurch nicht zum vollen Einsatz seiner Kräfte kam, traf ihn schwer, aber sie ließ schließlich in ihm den Gedanken aufkommen, sich von seiner bisherigen Tätigkeit ganz abzuwenden. So gab er seine vor dem Halleschen Tor liegende Klinik auf, richtete sich auf eine Privatpraxis ein, hielt Sprechstunden in seiner Wohnung ab, behandelte dort und operierte, wenn es notwendig wurde, in Privatsanatorien. Aber trotz der Zurückgezogenheit, in der er nun lebte, wuchs sein Ruf, weil er seinen Kranken im vollen Sinn des Wortes ein sorgender Freund, ein Seelenarzt wurde. Die Menschenfreundlichkeit, über die er in so reichem Maße verfügte, strömte auf die Patienten ein; er wurde ihnen Berater, Helfer, Beistand in leiblicher und seelischer Not, und das Charaktervolle seiner Güte und Hilfsbereitschaft ausstrahlenden Persönlichkeit wirkte um so segensvoller, weil er nicht mit dem Messer, sondern mit den Kräften des Geistes arbeitete. Wer Schleich in dieser Zeit kennenlernte, nannte den Namen dieses väterlichen Arztes als den eines wahren Menschenfreundes. Besonders hing man ihm an unter Künstlern und Gelehrten, in der Welt der geistigen Menschen; denn der Arzt, der nun auf ethischer Grundlage seinem Beruf, das heißt seiner Berufung folgte, offenbarte sich immer wieder als der Feinnervige, der er wirklich war, als der Musiker, Schriftsteller, Dichter, als der Seelenbeeinflusser und Seelenstärker. Auf diesen Wegen entwickelten sich seine Gedankenarbeiten. Ein Forschen und Ergründen, ein Aufbauen und Vertiefen war diese Zeit. Dazu folgte er seinen künstlerischen Impulsen. Er wurde im Sinne Goethes von einem hohen Streben nach Universalität erfaßt, das in seinen medizinischen und naturwissenschaftlichen Studien zum Ausdruck kam und in seiner schriftstellerischen Arbeit den stärksten Niederschlag fand.

Das Lebens- und Charakterbild Carl Ludwig Schleichs aufzuzeichnen, verlangt deshalb über den äußeren Ablauf seines Menschenweges hinaus die Beschäftigung mit seiner Arbeit als Denker-Dichter, als Schriftsteller und Vortragsredner. Man kann Schleich nicht gerecht werden, wenn man ihn nur als Mediziner sieht und nicht in die vielseitige Welt seines anderen Schaffens eindringt, weil Grundlage und Aufbau bis in das Einzelne des Gefüges dieser von ihm eifrig gepflegten Arbeiten erst das Weltbild so erkennen lassen, wie er es bis in die letzten Tiefen zu erfassen bemüht war. Die besten Stützen für sein Denken finden sich, wenn man von den rein fachmedizinischen Schriften und auch von einer Reihe von Büchern wie Gedankenmacht und Hysterie, Die Weisheit der Freude, Bewußtsein und Unsterblichkeit oder Ewige Alltäglichkeiten absieht, in seinen drei wichtigsten Essaybüchern. Sie erweisen seine Gabe, Gedankengänge in voller Klarheit verständlich zu machen. Seine Bücher Von der [336] Seele, Vom Schaltwerk der Gedanken und Das Ich und die Dämonien geben nicht nur Einblicke in seine tiefgründige Erkenntnisarbeit und in die Kraft der Darstellung, sondern sie liefern auch die Grundlagen für sein dichterisches Schaffen, das in dem Buch Es läuten die Glocken am stärksten zum Ausdruck gekommen ist.

Schleich pflegte an alle Probleme, die sich ihm entgegenstellten, mit der größten Unbefangenheit heranzutreten. Streng systematisch ließ er die aufgegriffenen Fragen abrollen, drang vom Äußeren zum Inneren vor, setzte sich dabei folgerichtig auf dem Wege des Einfühlens bis zum letzten über alle Kniffe hinweg, die der Klärung entgegenstanden. Es war seine Art, durch gern aus der Technik gewählte Beispiele nach sinnfälligen Parallelen zu suchen, die der Aufhellung dienen konnten. Die anderen Forschern oft im Wege stehenden "vielgestaltigen Dissonanzen" gab es für ihn nicht; denn schon während ihres Auftretens suchte er sie durch das bloßlegende, begreifende Erkennen so zu fassen, daß sie wirkungslos wurden. Er besaß, was er einmal den "schnellen Wächterdienst" nannte, mit dem er aufspürte, aufdeckte, angriff, entwaffnete oder überführte. Und das alles geschah ohne eine auffallende Kraftentfaltung oder Überspannung. Wenn er sogar im unvorbereitet persönlichen Gespräch bis in die verdeckten Bezirke der Seele vordrang, empfand man das als eine natürliche Auslösung. Wenn er den Problemen gegenüber zum sezierenden Chirurgen wurde, so erkannte man die Stärke seiner Logik, die sich nicht nur während der Schreibtischarbeit, sondern auch im Gespräch mit scharfer Gedankenabwicklung zeigte. Auch die Art, wie er schnell erfassen und künstlerisch gestalten konnte, ließ das Intuitive seiner Natur erkennen. Was er aussprach, offenbarte die absolute Beherrschung des Gedanklichen, und das Gedankliche wußte er wiederum durch die Überlegenheit, mit der er sofort sprachlich gestaltete, so zu formen, daß man diesem schönen Spiel der geistigen Kräfte mit hohem Genuß zu folgen bereit war. Es lag immer ein genialer Zug in seiner Art. Doch wenn man diesen Begriff auf ihn anwendet, so soll er nicht auf den Intellekt, sondern auf das Dämonische seiner Seelenkräfte gestützt werden, die unerschöpflich flossen, die die Welt als organisches Kunstwerk offenbaren konnten und berufen waren, Lebensglauben und Lebenswillen zu spenden.

Aus diesen Kräften wirkte Schleich auch als Kämpfer gegen Egoismus und Nüchternheit des kalten Verstandes. Sie ließen in ihm das"priesterliche Herz" zur lebendigen Wirksamkeit kommen, das er gerade für die Arbeit des Arztes forderte. Durch diese Kräfte wirkte Carl Ludwig Schleich auch als Redner. Er fesselte seine Zuhörer, riß sie zu blinder Gefolgschaft mit. Die Vorträge, namentlich in den letzten Jahren seines Lebens, waren überlaufen, da sich eine "Gemeinde" um ihn sammelte, die mit höchster Aufmerksamkeit den Themen folgte, die er den medizinisch-naturwissenschaftlichen Gebieten entnahm. In freier Rede, Meister genialer sprachschöpferischer Bilder, legte er seine Gedanken dar und stieß auch bei diesen Vorträgen in das Reich der Philosophie vor. [337] Der Arzt wurde damit zum Erzieher, der seine Weltauffassung eindeutig umriß. Oft genug gab es dabei Auseinandersetzungen. So war er scharf in der Ablehnung des Monismus, den er "ein modisches Mäntelchen" nannte. Er stellte der Lehre von der Identität des Idealen und Realen den Dualismus gegenüber. Das auf Zweiteilung ruhende Lehrgebäude, das sich wie die Religion des Zoroaster auf das geistige und sinnliche Prinzip stützt, war ihm unantastbar. Als Sucher und Verkünder der Wahrheit fühlte sich Schleich, und er formulierte seine Stellung, in der er sich wie in einer uneinnehmbaren Festung einrichtete. Er sagte, daß ihm die Arbeiten, die er unter Rudolf Virchow als Prosektor im Pathologischen Institut mit Ganglien und Nervenfasern auszuführen hatte, das Aufschlußreichste in seiner Entwicklung gewesen seien. Gerade aus den Gehirnschnitten habe er den Glauben an Gott gewonnen – durch das Mikroskopieren sei er gläubig geworden. Immer wieder hob er hervor, daß er die Erkenntnis vertrete, das Leben könne sich nur im Antagonismus der widerstreitenden Kräfte entzünden und behaupten, und darum sei ihm die dualistische Weltanschauung das einzig mögliche Bekenntnis zum Leben. Bei seinen Vorträgen pflegte Schleich eine Wandtafel neben sich hinzustellen, auf der er mit sicheren Strichen Ganglien und Nervenfasern zeichnete, während seine Gedanken zu Tiefen und Höhen führten. Seine Rede blitzte auf, wenn er mit fast priesterlicher Schau von den Wundern ewiger Schöpferweisheit sprach. Damit arbeitete er sich in die Seelen seiner Hörer hinein, und das nannte er die Erfüllung, das Hinauswachsen über das "medizinische Fach- und Flachland".

Durch die schriftstellerischen Arbeiten Schleichs ist das hier nur Angedeutete leicht zu überprüfen, denn es gibt kein Buch, keine Abhandlung von ihm ohne diese besonderen Merkmale seines schöpferischen Geistes. Namentlich in den drei Essaybüchern kann man an vielen Beispielen nachweisen, wie leicht es ihm fiel, Letztes einfach zu sagen und dadurch das volle Verständnis sicherzustellen, das er suchte. Freilich, die "Ehrfurcht vor dem Thema" hat er dabei niemals verloren. Hätte er das getan, so wäre das eine Selbstaufgabe gewesen; denn er fühlte seine Arbeit, sein ganzes Leben viel zu fest mit allem Sein und Geschehen verbunden. Sein Wort "Wir sind jeder nur ein Klang, der mitschwingt in der großen Harmonie" bestätigt diese Auffassung, die aber auch aus den Sätzen hervorgeht, die man im Eingangskapitel des Buches Von der Seele findet, wenn auch er den Rhythmus als das Grundprinzip der Schöpfung bezeichnet. Er schrieb: "Ist doch das Feld des Rhythmischen für jeden Denkenden ein heiliges Land, ein stiller Hort der letzten Geheimnisse. Ahnen wir doch alle, daß seinen dunklen Hainen die Quellen entrauschen müssen, die allen Erscheinens, allen Bewegens, allen Lebens unermeßliche Ströme speisen." Schleich fuhr fort, dem Wesen und der Bedeutung des Rhythmus nachzugehen: "Statt trocken aufzuzählen, was alles für unser letztes Streben und für unsere letzten aus dem Geschehen abstrahierten Gesetzmäßigkeiten dem Rhythmus unterliegt, dem Rhythmus, diesem wogenden Wellen [338] von Sein und Nichtsein, von Stirb und Werde der Bewegung, von Aufbäumen und Verlöschen tiefinnerlicher Triebe, statt diese endlose Kette der rhythmischen Beziehungen trocken aufzuzählen, kann man kühn fragen: Was ist denn eigentlich nicht rhythmisch? Und es gibt auf diese Frage nur eine Antwort: Es ist nichts ohne Rhythmus! Wo etwas Arhythmisches sich zeigt, da ist es schon in Gefahr, vom Räderwerk des Weltallgetriebes zentrifugal aus den Bahnen geschleudert zu werden, falls es nicht schleunigst wieder sich einfügt in den Rhythmus der Gesamtheit."

Im Rhythmischen empfand Schleich den Atemzug des Weltganzen. Darum greift er auch auf Hans von Bülows Faust-Paraphrase zurück: "Im Anfang war der Rhythmus", und nennt diese Äußerung Bülows einen "verblüffend modernen, tiefgründigen Gedanken". Hier und an fast unzählbaren anderen Stellen seines Werkes fühlen wir die Einheit seines Wesens: die Zusammengehörigkeit des forschenden Mediziners, des Naturwissenschaftlers und des gedankenreichen musischen Menschen, dem der Rhythmus die Grundlage aller Dinge ist, "der Pulsschlag des Kosmos, der lebendige Atemzug des Alls, der alles mit Bewegung weckendem Odem durchströmt". Der Rhythmus ist für Schleich die Weltseele. Und um das zu beweisen, greift er alte, feststehende Begriffe an, mit dem Bemühen, ihre Unerschütterlichkeit als erschütterlich aufzuzeigen. Für ihn sind sie "Schulmeisterkniffe", die er entlarvt, die "den braven Faustlehrlingen statt des Brotes der Wahrheit den Stein gröbster Sinnestäuschung hinreichen".

Nach eigener Aussage konnte Schleich "Orgien der Arbeit" feiern. Er erklärte diesen Zustand und beschrieb, wie ihn eine Idee überfiel und wie nun mit der Entwicklung des Er- und Gedachten förmlich ein wildes Jagen entstand. Nur durch ein schnelles, skizzenhaftes Aufzeichnen konnte er mit der geistigen Abwicklung einigermaßen Schritt halten. Die Gedanken überfielen ihn, hielten ihn förmlich mit Besessenheit fest; in Perioden stellten sie sich vor ihm auf, ließen ihn die in ihnen wirksamen, tyrannisch treibenden Kräfte spüren, denen er sich als williges Werkzeug unterwerfen mußte. In diesem Zustand des schon im ruhigen Fluß rätselvollen Schaffens – er schrieb mit großen, klaren Schriftzeichen – konnte ihn nichts von seinem Schreibtisch abziehen – das heißt, eines doch: der Patient. Für den Kranken, der ihn brauchte, ließ er tatsächlich alles liegen, weil im Unbewußten sofort der Kontakt zwischen ihm, der sich zum Helfen berufen fühlte, und dem, der bei ihm Hilfe suchte, entstand. In solchen Stunden zeigte sich dann ärztliches Wissen und überlegenes Erfahrensein; menschliche Güte und wunderbarer Humor schufen für den Kranken das so wichtige Vertrauen, zeigten den Arzt weit über den Dingen stehend und machten es ihm leicht, Helfer zu werden. Gespräche, die sich bei solchen Krankenbesuchen entwickelten, führten meistens schnell vom "Kranksein" fort, öffneten Pforten, die weite Sichten erschlossen. Der Arztberuf wurde ihm zur Lebenskunst. Der Musiker, der Dichter wirkte aus ihm hervor; er gab Weltnähe, Weltliebe, sprach vom "Wunder" der Natur, das man nur erfassen könne, wenn man es selbst in sich entdeckt habe. [339] Seine Gedanken erhielten dabei die scharfen Prägungen wohlgeschliffener Aphorismen, wenn er etwa sagte: "Bildung ist das Maß der Ehrfurcht, das der Mensch vor dem Unbegreiflichen aufzubringen fähig ist." Der Weltgeist wirkte durch ihn, mit dem er sich wie der von ihm als Mensch, Dichter und Forscher verehrte Goethe auf das engste verbunden fühlte. Goethe war für Schleich das große Vorbild. Auch Schleich war wie Goethe ein unermüdlicher Frager und Denker; auch er suchte sich einzufühlen in die Urformen der Natur, indem er dem Strom des Lebens nachspürte, um erkennen, enträtseln, offenbaren – um aus Fragen Antworten geben zu können. Eine wunderbar aufeinander eingestimmte Zweieinigkeit war in Schleich lebendig. Ohne die dichterische Beschwingtheit, ohne die aufspürende und gestaltschaffende Kraft der Phantasie wäre der Arzt nicht so fruchtbar geworden, und ohne die sicheren naturwissenschaftlichen Grundlagen seiner Ausbildung, die mit Leidenschaft getriebenen Forschungsarbeiten und das damit verbundene ärztliche Erfahrensein hätte der Dichter und Philosoph Schleich nicht zu der tiefen Wirksamkeit kommen können, die er unter seinen Mitlebenden erreichte. Was aus der Vielseitigkeit seiner Natur entstand, war ein Einheitliches.

Es war das umfassende Sichausleben seiner Seele von der ärztlichen Tätigkeit über Forschen, Komponieren, Cellospielen, Malen, das Schaffen von fachlichen, philosophischen und medizinischen Werken, von Gedichten, Novellen, dramatischen Szenen bis zu dem hohen Schwingen starken Heimatgefühles, wie es immer wieder in der Sehnsucht nach der pommerschen Ostseeküste und den Stätten der Kindheit zum Ausdruck kam. In "Mutter Erde" (im Buch Von der Seele) stehen die beispielhaft klaren Worte: "Welche Kraft in der Heimatliebe! Uns prägt die Scholle, uns fesselt die Scholle und läßt uns nie mehr los mit tausend und aber tausend Fäden, die aus dem Boden stammen." Es mögen die einzelnen Gebiete des dichterisch-künstlerischen Schaffens, des Forschens und Philosophierens als zeitlich getrennte Perioden nachweisbar sein, sehen wir aber auf die Gesamtheit dieser geistigen Arbeit, so ist ein gemeinsamer großer Zug zu erkennen: das Streben nach Tiefgründigkeit, das Aufwachsen ins Kosmische und Transzendentale, die feste Verwurzelung in einer ethischen und idealistischen Grundlehre, das bewußte Streben, das Seelenleben des Menschen, der Natur aufzudeuten und damit für die Anschauung der Welt reformatorisch zu wirken. Der Arzt Schleich, der Forscher, wurde ein Dichter-Philosoph, der die Gabe empfangen hatte, Gedanken und Worte zu einem gleichsam von Musik durchdrungenen Wert zusammenzufügen, in dessen Mitte, als immer wieder auftretender Kontrapunkt, die Seele und das Gebundensein aller Dinge im Seelischen Ausdruck und Bedeutung empfing. Für die Einschätzung des Wertes seiner Persönlichkeit ist es darum auch keine ausschlaggebende Frage, ob der Arzt den Dichter-Philosophen oder der Dichter-Philosoph den Arzt überlebte. Fest steht, daß Schleich in der Gesamtheit seiner geistigen Arbeit ein Mensch ungewöhnlichen Formates gewesen ist. Aus der Lebensnähe, die er besaß, war all sein Schaffen und damit sein ganzes [340] Werk auf den Menschen eingestellt. Der künstlerische Einschlag seines Wesens störte den Wissenschaftler nicht, sondern befruchtete ihn, spornte das mutige Denken an, gab seinen Betrachtungen und Abhandlungen den weiten Horizont seines großartigen Blickkreises; er ließ ihn mit erstaunlicher Freiheit seine Meinungen vortragen und gab ihm dabei den Humor, den geistvoll zugespitzten Witz und die Schärfe des Polemisierens, wenn er das, was ihn bewegte und erfüllte, zur großen Schau zusammenfaßte.

Schleichs Bücher sind für den Suchenden und Mitdenkenden Schlüssel zum Begreifen des Weltganzen. Man mag einwenden: Im Sinne Schleichs! Gewiß. Aber auch Materialisten und Skeptiker, die seinen Gedankengängen folgen, werden nicht ohne die Anregung zum Nachdenken von ihm gehen, da er sie durch das Vielseitige der Themen und Betrachtungen zu fesseln weiß. Der Arzt führt und leuchtet in die sonst nicht so leicht erschließbaren Dunkelheiten hinein. Und er tut es mit der wunderbaren Begabung, anregend und bei aller Problematik des Stoffes sogar humorvoll zu sein. So spricht er vom Hunger, vom Schlaf und Traum, vom Unterbewußtsein, von Grübchen und Falten, vom Mysterium der Ernährung, von der Haut als einem Organ der Seele. Mit Temperament führt er durch das Labyrinth. Er zeigt auf die Aktivität der Kraft auf der einen Seite und die Elastizität der Materie auf der anderen; er legt dar: "Es gibt eben kein Groß und Klein in der Welt, die Sorgfalt des Gesetzmäßigen war nicht um ein Titelchen weniger intensiv beim Aufbau des Eiskristalls als bei der Komposition des Planeten-Diadems um den Edelstein Sonne."

Den gleichen Charakter weist das Buch Vom Schaltwerk der Gedanken auf, in dem Schleich "Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele" veröffentlichte. Auch hier suchte er mit der "Wünschelrute der Gedanken" dem Wissensdurstigen zu helfen. Seine psychologisch-philosophischen Schriften führten dazu, daß er als Dichter-Denker begrüßt wurde – eine Bezeichnung, die er verdiente. Man stellte ihn in nahe Verwandtschaft zu Nietzsche, weil es ihm gelungen war, das oft spöttisch behandelte Thema "Seele" unter Zugrundelegung exakten Denkens und bildfaßlichen Gestaltens fern vom Gestade des schleierverhängten Mystizismus zu meistern. Für das Glocken-Buch wählte Schleich die Form der Erzählung, die er in dreißig Märchen naturwissenschaftlich-weltanschaulich Tendenz einkleidete. Lebensbejahung ist auch das Werk, dem er einen romantischen Grundzug gab, das, wie die Lebenserinnerungen Besonnte Vergangenheit, große Verbreitung fand. Schleich überstürmte auch darin die organische Welt, um den Urgrund der Dinge, die Wurzel des Gesamtorganismus zu suchen. Es war wieder das ihm eigene große Thema: Gott, Seele, Geist, Tod und Unsterblichkeit, das ihm fortwirkend die Gelegenheit gegeben hatte, sich als geistiger und tiefreligiöser Mensch zu bekennen, in dem er das Bekenntnis Goethes wiederholte: "Mich läßt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe, und ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein [341] Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit"... Schleich sagt dazu: "Der Tod macht nur die ewigen Lieder von dieser Zeitharfe frei." Er ist überzeugt, daß die "göttliche Bildnerin Seele" seit Jahrmillionen schaltet und waltet und fortwirken wird. Darum folgert er über den körperlichen Kreislauf hinaus: "Tod ist ein Menschenwahn."

In diesem Buche überwog der Dichter. An seinen Schluß wurde das Zauberwort "Daß Leben nichts als Liebe ist" zum harmonischen Ausklang gesetzt. Carl Ludwig Schleichs ganzes Werk – sein starkes Leben ist darin enthalten. Im Zurückschauen sehen wir sein Schaffen und Wirken, erkennen ihn in seiner universellen Natur und zugleich als einen deutschen Idealisten, der schon heute – über die Meinungsverschiedenheiten der Fachmediziner hinaus! – in die Nähe eines Novalis aufrückt, wie es der gedankenschwere Nachlaß zeigte. Es ist für die letzte Beurteilung dieses Forschers, Suchers und Finders nicht entscheidend, ob seine Lehre vom Hemmungsmechanismus der Neuroglia Bestand hat oder, wie viele sagen, schon von den fortschreitenden Erkenntnissen der Medizin überstürmt wurde. Die visionäre Ausdeutung des Sympathikus für die Beseelung des Gehirns ist sein genialer Gedanke, der an der Seite der großen Tat steht, als die Ernst von Bergmann die Entdeckung der sich segensreich auswirkenden Infiltrationstheorie bezeichnet hat. Gegen die Arbeiten des Mediziners, die sich auch auf das hygienische Gebiet ausdehnten, werden heute keine wesentlichen Einwände erhoben, dahingegen wird sein philosophisches System noch immer umstritten. Schleich verkündete den Glauben an die Geistigkeit des Weltgrundes. Er lehnte den Zufall ab und setzte dafür die Gesetzmäßigkeit des Lebens und Geschehens aus einer metaphysischen Bindung, aus dem Ur-Rhythmus, der die Welt steuert. So wie es für Goethe feststand, daß das Menschenherz nur mitschwingendes Teil des All sei, so fügte es sich auch für Schleich in den großen Kreislauf und in die Bindungen, die bis ins Kosmische wirken. Schleich schaltete höchst nüchtern und unromantisch ein Organ des menschlichen Körpers, den Sympathikus, als Träger der Seele in uns ein. Der Sympathikus war für ihn die Nervenbasis jener metaphysischen

Carl Ludwig Schleich.
Carl Ludwig Schleich.   Fotografie, 1920.
[Nach zeno.org.]
Gebundenheit, die steuernde Empfangsanlage in uns, die den Kontaktkreis schließt, so daß "der sympathische Außenweltrhythmus seine rhythmische Konsonanz im Innern" erhält – "die Marconiplatte des nervus sympathicus, dessen großen und oft blitzartigen Einfluß auf Herzbewegungen und Gefäßspannungen die Ärzte lange kennen".

Die Lehre Schleichs ist angegriffen, aber nicht widerlegt worden. Er wurde von vielen, vor und nach seinem Tode, nicht verstanden, wie man auch seinen Lebensweg nicht begriff, der vom Mediziner zum Philosophen – zum Menschenfreund führte, der bemüht war, physischer und psychischer Not zu steuern. Wie sein Denken schloß sich sein Leben zu einer harmonischen Einheit zusammen. Als er am 7. März 1922 in Saarow starb, standen treue und dankbare Freunde in aufrichtiger Trauer am Grabe dieses in seiner Lebensbejahung starken, in seiner Selbstlosigkeit seltenen Menschen.




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