[Bd. 5 S. 143]
Schleiermacher trug durch Herkunft und Bildung alle die Elemente in sich, die dem preußischen Staat das Gepräge geben. Seine väterliche Familie war aus dem Hessischen in das Wuppertal und an den Niederrhein gekommen. Sein Großvater, ein machtvoller Kanzelredner, war dort in den schwärmerischen Bewegungen des Pietismus führend hervorgetreten. Sein Vater, als junger Mann in die Katastrophe verwickelt, in der das sektiererische Treiben um sein Elternhaus schmählich zugrunde ging, hatte lange gebraucht, um durch den herrschenden Rationalismus hindurchzudringen und die Lehre der Kirche anzuerkennen. Zu rechter Freudigkeit scheint er nie gekommen zu sein. Jedenfalls hat er dem Sohne nicht das Bild eines klaren geschlossenen Theologen dargestellt, wohl aber dem Sohne ein Vorbild rastlosen Suchens nach Glaubensgewißheit gegeben. Schleiermachers Mutter, eine geborene Stubenrauch, Tochter und Schwester angesehener Theologen, stammte aus einer der Salzburger Familien, die die Erinnerung bewahrte, daß "Glaube" mehr sei als "Heimat", und ihre Glieder verpflichtete, die Tradition festzuhalten, in der christlicher Glaube, Bildung, Königstreue eng miteinander verbunden waren. Als Schleiermacher 1806 in seiner persönlichen Existenz bedroht war, da schrieb er aus diesem preußischen Empfinden heraus: "Wird Halle einem französischen Prinzen zuteil, so möchte ich gar nicht bleiben, sondern, solange es noch einen preußischen Winkel gibt, mich in diesen zurückziehen." Es bedeutete keinen Bruch mit der von den Vätern ererbten Übung, daß er seine Erziehung bei den Herrnhutern erhielt. Preußentum und Pietismus waren schon vorher einen Bund eingegangen, und ihn in eigentümlicher Weise zu fördern, sollte gerade Schleiermacher berufen sein. Zunächst freilich wirkte auf Schleiermacher die klösterliche Erziehung des Pädagogiums zu Niesky und des theologischen Seminars zu Barby nur als Zwang. Es erschien ihm roh, von dem bewegten Leben, das sich in dem wissenschaftlichen Forschen des Jahrhunderts voll- [144] zog, abgeschlossen zu werden, und er wehrte sich gegen die Zumutung, die Dogmen der Väter auf Autorität hin zu übernehmen. Um der Freiheit und um der Wahrheit willen ertrotzte er sich von dem darob erschütterten Vater die Erlaubnis, nach Halle gehen und dort in Freiheit studieren zu dürfen. Zwei Jahre, von 1787–1789, hat Schleiermacher in Halle studiert. Gegenüber den Eindrücken von Herrnhut bedeutete der Erwerb der Halleschen Zeit nicht viel. Die matte rationalistische Theologie dort konnte ihm nicht mehr sagen, als er sich schon selber in der Kritik der überlieferten Dogmatik gesagt hatte, und am geistigen Leben der Stadt teilzunehmen, wonach ihn sehnlich verlangte, verbot die Askese, die er um seiner dürftigen Mittel willen auf sich genommen hatte. Lediglich ein Lehrer hat ihn entscheidend gefördert, der Philologe Friedrich August Wolf. Er nährte seine Liebe zur Antike und schärfte ihm das Rüstzeug zum Verständnis der griechischen Philosophie. Daß Schleiermacher zehn Jahre später den Plan, die Dialoge Platos zu übersetzen, fassen und durchführen konnte, verdankt er den Halleschen Jahren. Von Herrnhut aber bleibt lebendig die Erinnerung an eine Gemeinde, die, bewegt von der gleichen Frömmigkeit, eine Gemeinschaft der Brüderlichkeit und der gegenseitigen Verpflichtung verwirklichte. Schleiermachers Leidenschaft, das eigene Innenleben zu beobachten und über seine Förderung zu wachen und sich in gleicher Weise für die innere Förderung anderer verpflichtet zu fühlen, hat hier den ersten und entscheidenden Antrieb empfangen. Auch ist ihm je länger je mehr bedeutsam geworden, daß sich Herrnhut als eine Gemeinde Jesu wußte, bewegt von seinem Lebensimpuls und getragen von der in ihm der Welt geschenkten Erlösungskraft. Wenn er sich später einen "Herrnhuter höherer Ordnung" nannte, so geschah es um dieser lebendig wirkenden Erinnerungen willen. Die Folgezeit brachte Schleiermacher dreimal Gelegenheit zur stillen Muße und zur Vertiefung in umfangreiche Studien. Von 1789–1790 bereitete er sich bei seinem Onkel Stubenrauch in dem märkischen Dorfe Drossen auf das theologische Examen vor. Von 1794–1796 war er Pfarrer in Landsberg an der Warthe, von 1802–1804 diente er der reformierten Gemeinde in Stolp in Pommern. Dazwischen liegen die für sein Leben entscheidenden Jahre auf dem Schloß der Grafen Dohna in Schlobitten (1790–1793) und in dem Kreise der Romantiker in Berlin (1796–1802). Ihnen folgte die erste große Bewährung als akademischer Lehrer in Halle (1804–1807). Bei den Dohnas, in der Umgebung der Henriette Herz und Friedrich Schlegels, vor den Studenten und inmitten des Tumults, den der Zusammenbruch Preußens mit sich brachte, ist Schleiermacher zu seinem eigentlichen Wesen gereift. So verschieden diese einzelnen Elemente in sich sind, man darf keines von ihnen übersehen, wenn man Schleiermacher verstehen will, und man darf vor allem nicht vergessen, daß er in all diesen Lebenskreisen als Theologe angesehen sein wollte und nie erlahmte in der Freudigkeit, als Prediger einer Gemeinde zu dienen. Als Hauslehrer in Schlobitten fand Schleiermacher seine Ahnung bestätigt, daß "schönes gemeinschaftliches Dasein" beglückende Gegenwart sein könne und [145] ungleich größeren Reichtum in sich berge als alles Studieren. "Ich sah, wie Freiheit erst veredelt und gestaltet die zarten Geheimnisse der Menschheit." Zugleich spürte er an der erst sechzehnjährigen Friederike Dohna zum erstenmal den Zauber, durch den Frauen es vermochten, sein Inneres aufzuschließen. Friederike Dohna durfte ihm einen ähnlichen Dienst tun, wie ihn Sophie Kühn Novalis tat und Auguste Boehmer Schelling. Auch sie war, wie diese ihre Altersgefährtinnen, schon dem Tode geweiht, als ihr Schleiermacher seine tiefsten Einsichten kundtat. Schleiermacher hat sich die Gunst, Freund geistvoller Frauen zu sein, bewahrt und war sich bewußt, daß er hier eine besondere Gabe hatte. "Mir geht es überall so, wohin ich sehe, daß mir die Natur der Frauen edler erscheint und ihr Leben glücklicher, und wenn ich je mit einem unmöglichen Wunsche spiele, so ist es mit dem, eine Frau zu sein." Von keiner Frau aber wußte er sich so verstanden wie von Henriette Herz, mit der ihn Alexander Dohna bekannt machte, als er 1796 zum Prediger an der Charité in Berlin ernannt worden war. Es wird immer seltsam bleiben, daß der größte Theologe der preußischen Hauptstadt bei seinem Einzug in Berlin seine geistige Heimat in dem Salon einer Jüdin fand! Die Kirche, der er diente, gab ihm nicht den Gemeindezusammenhang, den er suchte, die Prediger, zu deren Stand er gehörte, blieben ihm fremd, im Gespräche mit Henriette Herz, Dorothea Veit, Friedrich Schlegel fand sein Geist Genüge. Dort hat er den geistreichen Frauen die Lebensansicht formuliert, die den Kreis der Romantiker von der bürgerlichen Aufklärung schied, aber ihn auch in Gegensatz brachte zur Lehre der Kirche. "Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die Würde der Kunst und den Reiz der Wissenschaft, an Freundschaft der Männer und Liebe zum Vaterland, an vergangene Größe und künftige Veredlung", hielt er den Katechismus parodierend dem Zeugnis vom Heiligen Geist, von der Kirche, von der Sündenvergebung, vom ewigen Leben entgegen. "Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder um mich zu zerstreuen; sondern um zu sein und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen", so sollte es nicht nur in der Lehre heißen, sondern auch in der Tat. Als sich Dorothea Veit von ihrem Manne trennte, um Friedrich Schlegels Frau zu werden, und Schlegel diesen Schritt vor der Welt durch seinen Roman Lucinde zu rechtfertigen suchte, trat Schleiermacher dem Freunde ritterlich zur Seite. Er sah im ungebundenen Handeln der Freunde die höhere Sittlichkeit gegenüber dem, wie er glaubte, zur Konvention erstarrten Ethos der Kirche und meinte: des mit ihr verbundenen Bürgertums. Damit trat Schleiermacher dem Bestehenden entgegen, unverstanden von seinen geistlichen Oberen und von seinen Brüdern im Amte, aber, wie er glaubte, im echten Verständnis seines Predigtamtes. Daß er dem Bestehenden widersprach, war ihm nicht zu verargen; immer wird Gehorsam gegen das Wort Gottes solchen Einspruch nötig machen; auch Luther stand im Gegensatz zum Bestehenden, als er die Nonne [146] zur Frau nahm. Aber Luther hatte ein deutliches, klares Wort der Schrift für sich, das ihm die hohe Würde des Reformators verlieh, Schleiermacher aber stritt für eine bloße menschliche Meinung, erwachsen aus dem zufälligen Lebensgefühl der Literaten, mit denen er verkehrte. Hier wurde nicht einer Reformation die Bahn bereitet; hier wurde die Rebellion vorbereitet, die dann das 19. Jahrhundert mit seiner Emanzipation verwirklichte. Schleiermacher blieb nicht in diesem Lebensgefühl befangen; es befreite ihn der Beruf, für den er ausersehen war. Aber er ist doch in seinen Anschauungen weithin bestimmt geblieben von dem romantischen Denken, das ihn in jenen Jahren umfing. Vor allem atmen die Schriften, die den Weg in die deutsche Bildung fanden, diesen Geist. Es sind dies die Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), die Monologe (1800), Die Weihnachtsfeier (1806). Am klarsten spiegelt sich das Lebensgefühl, zu dem er im Kreise seiner romantischen Genossen erwacht war, in den Monologen. Hier ruft er auf zur Bejahung der in jedem Menschen schlummernden Kraft, sein Leben eigentümlich zu gestalten. Die Gottheit will in jedem Menschen erstehen, in jedem ganz, aber in jedem in eigentümlicher Sonderart. Diese Individualität zu erkennen und zu hüten, ist des geistigen Menschen heilige Pflicht. Ihr zu leben, ist wahrer Gottesdienst, und alle schicksalhaften Begegnungen in Liebe, Ehe, Freundschaft, Kunst, Wissenschaft, Staat, Kirche dienen der Entfaltung und Bereicherung solcher göttlichen Kraft. Warum sich aber der Mensch solcher Herkunft und Gemeinschaft bewußt sein könne, zeigte Schleiermacher in seinen Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Sie beschreiben die Religion als das beglückende Erlebnis, in dem sich der Mensch seiner selbst gerade da bewußt wird, wo er sich ganz dem Universum hingibt. Dem Liebenden gleich, der sich erfaßt, wenn er mit der Geliebten eins wird, kommt der Religiöse zu sich, wenn er in dem All aufgeht. Nur um dies Erlebnis geht es in der Religion; Dogmen sind ihr fremd, Institutionen hemmen ihr Leben. In Freiheit spricht sie sich aus, und der Kreis derer, die von gemeinsamem Erleben bewegt werden, ist die eigentliche Kirche. Darum darf sich auch das Christentum nicht als etwas Besonderes hervortun wollen. Es ist eine der Formen, in denen das Religiöse kund wird; darum dürfen seine Lehren nicht dazu mißbraucht werden, das immer von neuem quellende Leben der Erstarrung auszuliefern; selbst die Heilige Schrift ist nicht schaffende Kraft, sondern nur Ausdruck religiösen Lebens: "Nicht der hat Religion, der an eine Heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte." Wenige Bücher haben so stark gewirkt wie Schleiermachers Reden. Sie haben nicht nur Männer wie Novalis entzückt, sie haben viele, die später ganz andere Wege gingen als Schleiermacher, gestärkt in der Überzeugung, daß Christentum mehr sei als Moral und die Aufgabe eines Predigers eine andere als die eines Dieners der öffentlichen Ordnung. Claus Harms, später ein Führer der neuer- [147] wachten lutherischen Kirche und als solcher entschlossener Gegner Schleiermachers, sprach von dem "Anstoß zur ewigen Bewegung", den er von diesem Büchlein erhielt, und wie ihm erging es vielen. Als Schleiermacher 1804 an die Hallesche Universität berufen wurde, durfte er eine akademische Lehrtätigkeit beginnen, die sich dreißig Jahre hindurch in unverminderter Kraft erhielt und wohl jeden beeinflußte, der in der nächsten Generation im deutschen Schul- und Kirchenwesen Hervorragendes leistete. Er hat dabei stärker gewirkt durch den Zauber seiner Persönlichkeit als durch die Lehre, die er entwickelte. In Halle zählte zu seinen nächsten Schülern und Freunden der Norweger Henrik Steffens, dessen werbendes Wort 1813 die Breslauer Studenten in die Freikorps rief und der wenige Jahre später sich für das Recht der lutherischen Kirche in Preußen erhob; neben ihm stand Karl von Raumer, als Pädagoge einer der einflußreichsten Vermittler der Gedanken Pestalozzis, als Führer der bayrischen Erweckung nachmals der hochangesehene "Vater" der Erlanger Universität; unter den theologischen Schülern dieser Zeit ist besonders August Neander zu nennen, später Schleiermachers Kollege in Berlin. Er hat Schleiermachers Ruf, in der "Frömmigkeit" die entscheidende Kraft des kirchlichen Lebens zu sehen, in seiner Darstellung der Kirchengeschichte zu Ehren gebracht und, indem er die Wirkung beachten lehrte, mit der das persönliche Christentum führender Männer das öffentliche Leben durchdringt, vornehmlich auf Wichern, den Vater der Inneren Mission, gewirkt. Er war es auch, der Schleiermacher gleichsam ins Pietistische zurückübersetzte und so seine Kraft wirksam machte für die kirchliche Übung des preußischen Protestantismus. In diesen Jahren, in denen Schleiermacher zum erstenmal auf die Kirche in ihrer ganzen Weite zu wirken begann, vollzogen sich auch seine ersten großen politischen Entscheidungen. Schon vorher hatte ihm zu seiner großen Freude König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis verweigert, einen Ruf an die bayerische Universität Würzburg anzunehmen. In der Verwirrung, die nach dem Zusammenbruch von Jena alle zu ergreifen drohte, gab er den Freunden und Schülern ein mannhaftes Beispiel selbstverständlicher Treue und zuversichtlicher Hoffnungsfreudigkeit. Er hat keinen Augenblick gezweifelt, daß sich Preußen wieder erheben würde, und keinen Augenblick gezögert, seine Kraft dafür einzusetzen. Einen Ruf nach Bremen lehnte er ab. Er wollte lieber ohne Amt und ohne Sicherung in der Nähe des Königs von Preußen leben, als mit dem Gefühl, Preußen preiszugeben, anderswo einem scheinbar gesicherten Beruf nachgehen. Der Freund seiner Berliner Tage, Friedrich Schlegel, ging damals nach Dresden und Wien zu Metternich und in die römische Kirche und blieb bei aller Geschäftigkeit ein Literat; Schelling zog sich von dem Geschehen des Tages zurück und suchte die philosophische Entscheidung in dem Grübeln um die letzten metaphysischen Gründe des Seins. Für Schleiermacher fielen philosophische Existenz und politische Entscheidung zusammen. In ihr erfüllte sich für ihn auch die Forderung, die durch [148] Gottes Wort an die Christen ergeht. Hegel konnte damals in dem Imperator Napoleon die "Weltseele" sehen und ihn als das machtvolle Individuum bestaunen, das "über die Welt übergreift und sie beherrscht". Für Schleiermacher war und blieb Napoleon ein Emporkömmling, der sich der niedersten Instinkte der Menschen bediene, um durch sie die Macht zu behaupten, die er sich wider Recht und Ordnung anmaße. Darum war es ihm heilige Pflicht, zum Kreuzzug gegen diesen Widersacher des Reiches Gottes zu rufen und zu rüsten und die Guten im Lande Preußen zu stärken, ihrer Verantwortung Genüge zu tun. Wer für Preußens Sache litt, war ihm Märtyrer, "religiöser und wissenschaftlicher" zugleich. Indem sich Preußen gegen Napoleon wehre, kämpfe es für den freien Geist gegen die rohe Gewalt und damit für die Würde der Weltordnung gegen die Anmaßung der Willkür, damit aber für das Reich Gottes gegen das Reich des Bösen. Reich Gottes, so lehrte Schleiermacher in seinen Vorträgen und Predigten, verwirklicht sich in den großen Mächten des Lebens, in denen der Mensch zur vollen Genüge seines Wesens kommt. Unter diesen Mächten steht an vorzüglicher Stelle der Staat. Aber nur der Staat erfüllt sein Wesen, der das Eigentümliche ehrt und die Freiheit achtet. Darum ist der Staat seinem Berufe am treuesten, der einer Nation zur Erfüllung ihrer geschichtlichen Sendung verhilft und zugleich dem inneren Leben des Individuums die dem Wesen des Geistes angemessene Freiheit läßt. Napoleon bedrohte beides. Darum mußte er fallen.
Ebenso aber hat Schleiermacher nach 1815 unbefangen die Rechte des Volkes und das Verlangen nach einer Verfassung als eine Forderung der göttlichen Gerechtigkeit verkündigt: denn es könne kein Staat frei sein, der das Individuum vergewaltige. Wie sein Freund und Schwager E. M. Arndt, wie sein nächster Mitarbeiter de Wette sah er in der Verwirklichung der Rechte des Volkes eine heilige [150] Pflicht. Er hat sich auch nicht gescheut, in den letzten Jahren seines Lebens die Fortschritte der Kultur, die er glaubte wahrnehmen zu können, als Zeichen des sich langsam, aber stetig auf Erden entwickelnden Reiches Gottes kundzutun, und hieß von daher seine Hörer – und das ist der uns wichtigste Zug – achten auf die Pflichten, die ihnen das kommende soziale Zeitalter stelle. Schleiermacher glaubte damit ein christliches Zeugnis zu geben. Er meinte, daß die Welt "durch das Leben des Erlösers verherrlicht und durch die Wirksamkeit seines Geistes zu immer unaufhaltsam weiterer Entwicklung alles Guten und Göttlichen geheiligt ist", und glaubte in der Geschichte die Spuren dieser Bahn aufweisen zu können. Daß Gottes Wege in der Geschichte dunkel sind und bleiben und es der Kirche verwehrt ist, darüber Zeugnis zu geben, diese von Luther groß gemachte Erkenntnis blieb ihm verschlossen. Er glaubte den Gang des Reiches Gottes in der Geschichte aufzeigen zu können und darum auch einen unmittelbaren Bund von Kirche und Kultur herstellen zu dürfen. Ja, er sah sogar eine besondere Pflicht darin, Sorge zu tragen, daß nicht das Christentum der Barbarei anheimfalle. Wie alle humanistischen Geister erhoffte er von der Bildung, was allein der Glaube gibt,und hatte darum eine schier apokalyptische Angst, es könne sich die Kirche von der Kultur lösen. Er wollte wohl Freiheit der Kirche vom Staate, aber mit der öffentlichen Bildung der Nation sollte die Kirche in enger Fühlung stehen. Er verkündigte das Ideal einer freien Volkskirche, in der alle vom Lebensimpuls Christi ergriffenen Richtungen Heimatrecht hätten. Der Dienst der Verkündigung sei ein Stück Volkserziehung; darum müsse die Kirche an der lebendigen Gegenwart Anteil haben, weshalb es unerlaubt sei, den Bekenntnissen der alten Kirche und der Reformation eine autoritäre Stellung einzuräumen. Selbst das Wort der Heiligen Schrift galt ihm nicht als Autorität. Um dies Ideal einer freien Volkskirche zu verwirklichen, hat er das Werk der Union, durch das Friedrich Wilhelm III. die lutherische und reformierte Kirche vereinigen wollte, mit Freuden begrüßt. Er sah in einem solchen Unternehmen den Anfang jener freien und weiten Kirche, die er begehrte. Darum bedauerte er die Methode des staatlichen Zwangs, mit der der König seinen Lieblingsplan ausführte, und scheute sich auch hier nicht, mit offener Kritik die Fehler aufzudecken, die der König machte. Aber er vermochte damit nicht zu helfen; denn Kirche vermag man nicht zu ordnen, wenn man sich scheut, von Konfession und Dogma zu reden. Kirche vermag auch nur zu ordnen, wer im Zusammenhang steht mit den tragenden Schichten des Volkes. Schleiermacher aber war ein Mann der Bildung. Das Leben des Bauern war ihm ebenso fremd wie das des kleinen Bürgers. Zu Menschen solcher Schichten konnte er nicht reden, und die Fragen, die sie an die Kirche stellten, waren ihm fern. So eng er sich dem Berufe des Predigers verbunden fühlte – er hat immer den Auftrag zu predigen höher geschätzt als alle anderen Pflichten und Gaben –, von dem, was dem evangelischen Predigtamt Kraft und Würde gibt, war er innerlich fern. Er konnte nicht wie Luther sagen, daß ihm das Wort der Schrift zu mächtig geworden sei, als daß er ihm widerstehen [151] könne. Er hatte nicht wie Johann Georg Hamann einen freien Zugang zu den Bekenntnissen der Reformation, zu Luther und dem evangelischen Lied, er vermochte nicht in der Einfalt zu reden wie Matthias Claudius oder in der volkstümlichen Kraft eines Ludwig Hofacker und Claus Harms. Darum blieb sein Einfluß auf die Gebildeten beschränkt und blieb auch hier belastet von der Problematik seiner philosophischen Denkweise. Als Theologe hat Schleiermacher nach zwei ganz verschiedenen Seiten gewirkt. Indem er die "Eigentümlichkeit" alles Seins und Geschehens erkannte und achtete, vermochte er sich gegen den rationalistischen Wahn einer allgemeinen Menschheitsreligion zu erheben und wachzurufen für die besondere Botschaft, die in Jesus Christus an die Welt ergeht. So wurde er der Lehrer vieler junger Theologen, die das eigentümlich Christliche zu Ehren brachten, indem sie zum großen Schrecken Schleiermachers anfingen, von Dogma und Konfession und von dem notwendigen Unterschied zwischen kirchlicher Verkündigung und moderner Bildung zu reden. Indem er aber zugleich Religion als notwendige Äußerung des menschlichen Geistes nachweisen zu können glaubte, ja vor jede eigentliche Theologie die Forderung stellte, einen solchen Nachweis zu führen, hat er die Theologie doch wieder von der Philosophie abhängig gemacht, der Philosophie freilich vornehmlich "anthropologische" Aufgaben gestellt. Er ist auf solche Weise nicht so sehr ein "Kirchenvater" des neunzehnten Jahrhunderts geworden – obgleich die moderne Theologie um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ihn als solchen feierte – als ein Vater der modernen Pädagogik. In ihm stellt sich die Leidenschaft, zu erkennen, was es denn um den Menschen sei, welche Möglichkeiten in ihm angelegt seien, wie man sie entfalten könne und in welcher Beziehung sie zu den großen Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens ständen, besonders eindrucksvoll und anmutig dar; so ist er einer der großen Herolde der Humanität, wie sie die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts hervorbrachte. Als solcher hat er auf das 19. Jahrhundert gewirkt und noch im zwanzigsten Jahrhundert durch Wilhelm Dilthey und seine Schüler die Reform der Erziehung aufs stärkste beeinflußt. Die christliche Kirche selber mußte sich an solchen Gedanken scheiden. Als Schleiermachers bedeutendstes theologisches Werk, die Christliche Glaubenslehre, erschien (1821), sahen die einen in diesem großartigen Versuch, den christlichen Glauben aus dem frommen Erleben des von Jesus ergriffenen Menschen zu entwickeln, die einzige Möglichkeit, in einer modernen Welt das Zeugnis der Kirche aufrechtzuerhalten, die anderen suchten vergeblich nach dem eigentümlichen biblischen Zeugnis und fanden durch den Schrecken, den ihnen die dialektische Auflösung der Dogmen einflößte, zurück zu dem Dogma der Kirche. Die dritten waren so entzückt über die dialektische Kunst, mit der hier die Lehre der Kirche umgesetzt schien in eine Weisheit vom Menschen, daß sie sich entschlossen von jedem Dogma lösten und den Menschen und die Entfaltung der in ihn gelegten Möglichkeiten als den Sinn der Religion zu erkennen lehrten. David Friedrich Strauß und [152] Ludwig Feuerbach meinten so den Weg Schleiermachers zu Ende gehen zu müssen. So sind die verschiedensten Möglichkeiten der Theologie in Schleiermachers Lehre enthalten: die Proklamation des Mythus vom Gottmenschen, die Besinnung auf die in den Menschen gelegte Idee des Ewigen, die Erfahrung der den Menschen in der Geschichte geschenkten Erlösung. Er vermochte der Modernste der Modernen zu sein und konnte zugleich ergreifend und ergriffen das Zeugnis von dem Frieden kundtun, der in Jesus dem Erlöser erschien. Er ist dabei weder sich noch seinen Freunden und Hörern unglaubwürdig erschienen. Johann Gottfried Herder, in seinen theologischen Gedanken, in seinen kirchlichen Idealen und in seinen kulturpädagogischen Idealen ihm in manchem verwandt, ging mit dem bitteren Gefühl, in Weimar Kränkung statt Achtung erfahren zu haben, als ein Einsamer aus dem Leben. Als Schleiermacher am 12. Dezember 1834 starb, trauerte um ihn ganz Berlin. Es war ihm wie keinem Prediger vor ihm und nach ihm gelungen, in der ganzen Berliner Gesellschaft einen unumstrittenen Rang einzunehmen. Die Akademie ehrte in ihm den Mann, der ihr zu neuer Blüte verhalf, die Universität ihren gefeierten Lehrer, die Gemeinde den angesehenen Prediger. "Ich erinnere mich, welch einen Eindruck es auf mich machte, als wir Schleiermacher begruben und die ganze lange Straße hinab an allen Fenstern, an allen Türen geweint ward", schreibt Leopold von Ranke noch nach Jahren im Gedenken an den Tod des Mannes. Vor den Studenten aber rühmte er ihn als das "Bild des schönsten Gleichmaßes". "Sein ganzes Sein, sein Streben, Tun und Leben war auf Versöhnung gerichtet; was er in sich selbst geschaffen, für die Welt zu wirken, war sein schönes Ziel. Theologie und Philosophie, in ihm zur höchsten Vollkommenheit geeint, hatten ihn dahin erhoben, daß seine Einsicht Tugend, seine Tugend Einsicht war; wie sein Denken war sein Leben: das Bild des schönsten Gleichmaßes."
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