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[Bd. 5 S. 86]
Nicolaus Ludwig Zinzendorf, 1700-1760, von Paul Alverdes

Nicolaus Ludwig Zinzendorf.
Nicolaus Ludwig Zinzendorf.
Gemälde von Balthasar Denner.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 152.]
Nicolaus Ludwig, Graf und Herr von Zinzendorf und Pottendorf, geboren 1700, ging im Jahre 1760 als ein Eroberer aus der Welt, "desgleichen es wenige, und im verflossenen Jahrhundert keinen wie ihn gegeben", sagt Herder in einem kurzen Abriß über Zinzendorf. Er habe sich nämlich rühmen können, daß er in Herrnhut und Herrenhag, Herrendick und Pilgersruh, Ebersdorf, Jena, Amsterdam, Rotterdam, London, Oxford, Berlin, in Grönland, St. Cruz, St. Thomas, St. Jean, Barbesien, Palästina, Surinam, Savannah, in Georgien, Carolina, Pennsylvanien, Guinea, unter Ungarn, Wilden und Hottentotten, desgleichen in Lett-, Liv-, Estland, Litauen, Rußland, am Weißen Meer, in Lappland, Norwegen, in der Schweiz, auf der Insel Man, in Äthiopien, Persien, bei den Boten der Heiden zu Land und zur See, Gemeinden oder Anhänger habe. "Solche Wirkungen hervorzurufen, wurden Kräfte erfordert", stellt Herder fest. Er leitet sie einzig aus Zinzendorfs unablässigem Eifer für seines Heilandes Sache ab, von der ihn nichts habe abwendig machen können.

In der Tat: das Leben dieses höchst eigentümlichen, zuweilen wunderlichen, aber gewiß großartigen Mannes sowie alle seine Taten und seine Wirkungen, sie sind, im Gegensatze zu denjenigen der meisten genialischen Menschen sonst, aus einem einzigen Umstande abzuleiten. Es ist seine persönliche Verbundenheit mit einer persönlichen Gottheit. Sie hatte, wie er es einmal ausdrückt, von Kindheit auf nach seiner Brust gezielt. Von da an bis zu seinem Tode hat er ihrem Ruhm, ihrem Gesetz und ihrer Nachfolge unablässig gedient und keinem anderen Gedanken und Geschäft mehr Raum gönnen wollen. Diese Gottheit ist Jesus Christus als der mit seinen blutigen Wunden und seinem Martertode den Sünder erlösende Heiland.

Die Bildnisse freilich, die uns von Zinzendorf überliefert sind, zeigen nicht die Miene, die wir uns von einem solchergestalt gebundenen und verpflichteten Manne erwarten. Auf einem Gemälde des Balthasar Denner, das die Brüdergemeinde in Herrnhut verwahrt, sehen wir ein langes, fleischiges Gesicht, das mit großen, feurigen Augen unter weit geschwungenen Brauen nicht Demut, sondern ein überlegenes Selbstbewußtsein ausdrückt. Wir lesen ferner einen ungewöhnlichen, aber nicht kalten Verstand daraus, während die kräftige, lange Nase mit den geschwungenen Nüstern und die reichen Bogen der Lippen nicht Enthaltung und Dürftigkeit, sondern einen vollen Anspruch auf die Freuden dieser Welt, ja, der Fleischlichkeit verraten. Wir würden, vor dieses Bildnis als das Bildnis eines [87] Unbekannten gestellt, eher auf einen großen Liebenden als auf den Gründer von Herrnhut und den Stifter und Ahnherrn der evangelischen Heidenmission zu schließen versucht sein; und wirklich ist Zinzendorf in seinem Leben sowohl als auch in seiner Theologie beides gewesen, ein großer Liebender und ein großer Denker. Vielleicht ist für unser späteres Geschlecht seine Persönlichkeit als die eines wahrhaft großen Mannes und nicht bloß eines verstiegenen Sektierers zunächst nur aus dieser Vereinigung von ungewöhnlichem Enthusiasmus und ungewöhnlichem Verstand zu begreifen.

Wenn wir ihn auch einen Denker nennen, so dürfen wir dabei freilich nicht vergessen, daß es ein Denken in den leeren Raum der erkenntnistheoretischen Spekulation hinein für ihn nicht geben konnte. Er mußte nicht nach Wahrheit und Erkenntnis suchen. Die Wahrheit war für ihn gegeben. Sie trug das Angesicht und die Wunden seines Heilands und hieß Erlösung von der "Sünderhaftigkeit" durch sein Blut und seinen Tod. Sein ungeheuer umfangreiches schriftstellerisches Werk, seine theologischen Darstellungen, seine Streit-, Rechtfertigungs- und Werbeschriften sowie seine geistliche Poesie sind ein einziger Versuch, den sündigen Menschen und die Schöpfung auf diese seine Wahrheit zu beziehen und zu verpflichten. Freilich: für wen sie nichts zu bedeuten vermag oder eben nur eine von den vielen Anschauungsweisen der Menschheit von ihrem Wesen und ihrer Bestimmung auf dieser Erde, für den bedeutet dieses sein denkerisches Werk nun nichts mehr. Das nimmt dieser Leistung aber nichts von ihrer eigentümlichen Mächtigkeit und Größe.

Als Zinzendorf mit einundzwanzig Jahren einmal schrieb: "Ewigkeit, du Strom der Wonne / Reiße mich fein bald dahin!" da war diese ersehnte Ewigkeit nicht nur für ihn mehr noch als ein uferloser Strom der Wonne. Er sollte ihn hinübertragen in ein himmlisches Reich, in welchem ihn, von Heerscharen der Engel umgeben, der zärtlich geliebte Freund Jesus erwartete. In dieser unverrückten und nur immer tieferen Gewißheit ist er vierzig Jahre danach gestorben. Es ist überliefert, daß er sich auf seinem Sterbebett, als er nicht mehr sprechen konnte, mit "unbeschreiblich vergnügten Blicken" auf seinen letzten Weg machte. An seinem Ende erwarteten ihn auch in Engelsgestalt die sechs Söhne und drei Töchter, neun von zwölf Kindern insgesamt, die er seinem Heiland jeweils mit freudigem Gehorsam und dankerfüllt einstweilen zurückgegeben hatte.

Ein halbes Jahrhundert später hat eine andere Seele im Augenblick des Todes "den Triumphgesang" angestimmt und sich angeschickt, in die Ewigkeit einzugehen, nach der auch sie Zeit ihres Lebens immer verlangt hatte. Ein "Strudel nie empfundener Seligkeit" empfing auch Heinrich von Kleist in jenem Augenblick; aber der Himmel, dem er zustrebte, war von Göttern leer, und die Engel, von deren Liebe er abschiednehmend spricht, wir dürfen sie schon nicht mehr zu den Heerscharen von Zinzendorfs und der Seinen Heiland rechnen.


[88] Zinzendorfs Vater war Minister am kursächsischen Hofe zu Dresden. Er starb schon wenige Wochen, nachdem ihm sein Freund Spener, der "Vater des Pietismus", den kleinen Nicolaus Ludwig aus der Taufe gehoben hatte. Zinzendorfs Mutter, eine geborene Freiin von Gersdorf, begab sich danach zunächst auf die Besitzung ihrer Eltern nach Großhennersdorf in der Oberlausitz. Vier Jahre später reichte sie dem preußischen Generalfeldmarschall von Nazmer die Hand zur Ehe; von da an bis zu seinem zehnten Lebensjahre blieb der kleine Zinzendorf der Obhut seiner Großmutter und eines Hofmeisters anvertraut. Er selbst hat später oftmals berichtet, wie er in jener Zeit den Bund mit dem Heiland geschlossen habe. Er habe, unter dem herzbewegenden Eindruck einer Darstellung von des Heilands Verdienst und Leiden, – unter einem "langwierigen Weinen" – fest beschlossen, lediglich für den Mann zu leben, der sein Leben für ihn gelassen habe. Damals schrieb er ihm Briefe, die er, nach Kinderart, aus dem Fenster warf, in der Hoffnung, daß er sie schon finden werde; er pflegte ferner dem Abendmahl als Zuschauer beizuwohnen, in tiefer Ehrfurcht vor allen, die den Leib des Herren in sich aufgenommen hatten, und wenn er hernach zu Hause keine anderen Zuhörer fand, so stellte er sich die Stühle in seiner Stube zusammen und predigte ihnen und erzählte ihnen vom lieben Jesus. In jener Zeit gewann er auch die Vorstellung, daß der Heiland der Menschen leiblicher Bruder, und daß also jedermann berechtigt sei, mit ihm brüderlich umzugehen; und daß er sich gefallen lasse, alles, und wenn es noch so schlecht sei, anzuhören.

Ähnliches wird von anderen Kindern auch berichtet, die hernach mit den Kinderkleidern auch ihren kindlichen Glauben abgelegt haben. Bei Zinzendorf hat es sich anders verhalten. Ein Grundzug seiner Natur muß Leidenschaftlichkeit gewesen sein und die immerwährende Bereitschaft zu zärtlicher Entzückung des Herzens und der Sinne. Einer solchen Natur nun, da sie sich eben erst eröffnen will, zeigt sich ein Gott. Er zeigt sich ihm nicht als ein fernes, unbegreifliches oder gar drohendes Bild, sondern als ein Bruder, der den zärtlichen und sehnsüchtigen Regungen des verwaisten Knaben zugänglich ist. Er kann ihn träumend umhalsen, er kann ihm sein Mitleid schenken, und zugleich kann er sich, in vorwegnehmenden Ahnungen eines künftigen Heldendaseins, seiner Herrschaft und seinem Dienste weihen. Es ist dabei gleichviel, daß ihm dieser Gott nicht leibhaftig erschien, sondern daß er ihm, nach den Umständen seines damaligen Lebens im Hause der frommen Großmutter, in gemeinsamem Gebet, in Betrachtung und Vorlesung und Erbauung, wie sie das Dasein dort regelten und bestimmten, sich nähern und alsbald Besitz von seiner Seele nehmen sollte. Es wurde eine Besitzergreifung für immer daraus. Alle Anlagen seiner reichen Natur, das dichterische Talent, den spekulativen Verstand, die deutliche Begabung zum Planen, Ordnen und Herrschen, und auch die gefährlichen, seinen unersättlichen Anspruch auf Menschen und seine dämonische Sinnlichkeit, er machte sie hinfort und für immer diesem König seines Herzens untertan.

Denkmal August Hermann Franckes in Halle.
[89]    Denkmal August Hermann Franckes in Halle
von Christian Rauch.

[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]
[89] Als er mit elf Jahren, auf den Wunsch seiner Familie, das Haus der Großmutter verließ, um auf das Pädagogium von August Hermann Francke nach Halle zu ziehen, war er eigentlich schon etwas wie ein kleiner Brüdermissionar, obwohl er, da er standesgemäß auf eine weltliche Laufbahn im Dienste seines Landesherrn vorbereitet werden sollte, von seinem künttigen Leben alles andere eher zu erwarten hatte, als dessen gänzliche Aufopferung für seinen Heiland. Er lernte damals fremde Sprachen fließend sprechen, und erlangte in der Poesie "eine solche Fertigkeit, daß ihm die Verse gemeiniglich geschwinder zuflossen, als er sie aufs Papier zu setzen imstande war". Zugleich aber begann er zu missionieren. "Weil ich viele junge Leute dort fand", schreibt er von jener Hallenser Zeit, "suchte ich meinem lieben Heiland ihrer etliche zu gewinnen: fing derohalben kleine Versammlungen an, die wir hier und da an abgelegenen Orten und auf Böden hielten". Mit fünfzehn Jahren war er das Haupt eines von ihm begründeten Bundes jugendlich entzückter Schwärmer. Er nannte sich die Gesellschaft der Tugend-Sklaven, später den Orden vom Senfkorn. Das Wappen dieses Bundes war ein Ecce homo mit der Umschrift: "Seine Wunden unsere Arzenei", und seine Mitglieder trugen einen goldenen Fingerring mit der Prägung: "Unser keiner lebt ihm selber". Es heißt, daß der junge Graf in jener Zeit "gerne liebte und auch gerne wieder geliebt war", und ein anderer Biograph gibt eine Bemerkung dazu, in welcher der zärtlich liebende und zärtlich wiedergeliebte "Bruder Ludwig", der "Papa" der Herrnhuter, vorweggenommen scheint. "Er hatte", sagt er, "den Begriff gefaßt, daß dem lieben Heiland mit der herzlichen Liebe und Zärtlichkeit seiner Seelen untereinander unglaublich viel gedient sei".

[90] Sechzehn Jahre alt verläßt Zinzendorf die Franckeschen Anstalten und geht nach Wittenberg, um dort Rechtswissenschaft zu studieren. Auch lernt er dort, wie es seinem Stande zukam, Reiten, Fechten, Tanzen, Ballschlagen, Schach- und Billardspielen. Obwohl er damals schon entschlossen war, der Welt und ihrem Wesen abzusterben, so bequemte er sich doch, aus Gehorsam gegen seinen Vormund, auch diesen Kunstfertigkeiten nicht zu widerstreben. Als er mit neunzehn Jahren Wittenberg verließ, um in Begleitung eines Hofmeisters auf eine Bildungsreise nach Holland und nach Frankreich zu gehen, hatte er seine juristischen Studien abgeschlossen. Zugleich aber war er ein gelehrter Theologe geworden, der mit den Quellen wie mit dem religiösen Schrifttum seiner Zeit innig vertraut war. Er war kein nur angebildeter Dilettant, als er sich noch im gleichen Jahre in Paris mit den Janseninsten und dem Kardinal de Noailles in schriftliche Disputationen einließ, aus denen ein immer näherer Umgang und endlich etwas wie eine Freundschaft mit dem Kardinal werden sollte. Er trat mit seinen zwanzig Jahren ebenbürtig an theologischem Wissen und überlegen durch die Reinheit und Ausschließlichkeit seiner Herzensverbundenheit mit seinem Gotte unter die klugen und erfahrenen Kleriker.

Die Bewegung des Jansenismus kann man in etwa mit der pietistischen innerhalb der evangelischen Kirche vergleichen. Auch sie wollte, ohne die äußeren Formen der Kirche zu verwerfen, geschweige denn ihre Einheit zu bedrohen, das Heil des Menschen doch zunächst im Inneren begründet wissen. Der Kardinal und seine Freude ließen es nicht an Versuchen fehlen, den genialischen Jüngling für die Kirche zu gewinnen. Aber Zinzendorf blieb standhaft, standhafter als der Kardinal, der sich in eben diesem Jahre von seinen jansenistischen Freunden lossagte und sich der Autorität des Papstes unterwarf. Der Absage- und Abschiedsbrief, den Zinzendorf daraufhin an den väterlichen Freund richtete, ist ein großes Zeugnis für die Festigkeit, den Adel und den durchdringenden Ernst, die damals sein Wesen bestimmten. Es ist einer der schönsten und gewichtigsten Briefe überhaupt, die von ihm überliefert sind, bewunderungswürdig und erstaunlich nicht nur wenn man sich den Verfasser als einen kaum zwanzigjährigen Bakkalaureus vorstellt und seinen Empfänger als einen greisen Fürsten der Kirche.

Zinzendorf, den wir uns in jener Zeit als einen mit modischer Eleganz gekleideten jungen Herrn aus großem Hause vorstellen dürfen, wohnte während seines Pariser Aufenthaltes in der Rue St. Honoré. Wenn er, das Herz von seinem Heiland erfüllt, und von Ahnungen des Reiches, das er ihm auf dieser Erde zurückgewinnen und zu erneuern entschlossen war, aus dem Fenster blickte, so sah er auf die Straße hinab, durch welche ein halbes Menschenalter nach seinem Tode die Henkerkarren der Revolution rollen sollten.

Mit einundzwanzig Jahren finden wir Zinzendorf als Hof- und Justizrat in der königlichen Landesregierung zu Dresden wieder, in einer Stellung, die er nach langem Sträuben aus Gehorsamspflicht gegen seine Eltern angenommen hatte. [91] Er blieb sechs Jahre dort. Während dieser Zeit, in welche auch seine Eheschließung mit der Komtesse Erdmuthe Dorothea von Reuß fällt, hält er alle Sonntage eine öffentliche Erbauungsversammlung in seinem Hause ab, für jedermann und bei offenen Türen. "Das Singulare dabey war nur", schreibt er, "daß ich ein Prediger war, der, aus Gehorsam gegen seine Eltern, einen Degen trug und auf die Regierung ging; der aber doch schon damals, mit seinem ganzen Gemüte, in der Predigt des Evangelii lebte". Diese Versammlungen wurden vom Hofe nicht gerne gesehen, und es gab allerlei dienstliche Anstände deswegen, um so mehr, als der Graf sich im übrigen standhaft weigerte, Hofdienst zu machen und sich auf den Hoflustbarkeiten zu zeigen. "Als Christ", erklärte er, "ist man nicht Graf, nicht Fürst, nicht edler Ritter. / Das dünkt den edlen Geist ein ungereimter Tand!" Wie es auf diesen Versammlungen im gräflichen Palais zuging, die Spangenberg in seiner großen Biographie Zinzendorfs erbauliche, freundschaftliche Unterredungen nennt, hat er selber wie folgt beschrieben: "Wir sind im Herrn vergnügt und so einfältig wie die Kindgen, jung und alt beysammen. Diejenigen, die noch unter uns gelehrt sein wollen, tragen wir mit Geduld, und suchen sie mit Exemplen heimzuholen."

In dieser Betonung der Einfältigkeit tritt uns einer der Grundzüge des späteren Herrnhutertums entgegen, der oft mißverstanden wurde, in seinen Überschwenglichkeiten und in seinen närrischen Auswüchsen dem Spott der Welt aber freilich mit Recht zum Opfer fiel. Nach dem Worte Christi, daß man das Himmelreich nicht erlangen könne, so man nicht werde wie die Kinder, gab es da später eine Zeit nicht nur des betont kindlichen, sondern des kindischen Wesens, der unsäglichen Albernheit und Verspieltheit, in der man nichts sein wollte als ein Närrlein in Christo und sich mit Lallen und Stammeln, mit kindischem Putz und kindischem Gehabe ganz erstaunlich aufführte. Wir dürfen freilich bei der Betrachtung dieser Ausgefallenheiten nicht vergessen, daß dem deutschen Wesen überhaupt ein gefährlicher Hang innewohnt, eine gewonnene Erkenntnis oder auch nur eine vorgefaßte Meinung bis über die Grenzen ihrer selbst hinaus zu verfolgen und zu steigern. Wenn wir uns erinnern, zu welchen ungeheuerlichen Ausschreitungen die Wiedertäuferei nicht nur geborene Scharlatane und Betrüger, sondern auch von Hause aus tief ernste und von der innigsten Religiosität erfüllte Männer vermochte, so werden wir auch, was sonst noch an der Theologie und an der inneren Verfassung des späteren Zinzendorfischen Gottesstaates auf einen ersten Blick hin kaum begreiflich erscheint, doch nicht von vornherein als aus bloßer Narretei oder noch Trüberem geboren abtun können. Es ist, auch in Zinzendorfs Blut- und Wundenkultus und endlich in seiner besonderen Theorie und Praxis von der geistlichen Art auch des fleischlichen Ehestandes und seiner Funktionen, der ernsthafte, wenn auch ungeheuerliche Versuch unternommen, die menschliche Existenz in allen ihren Äußerungen und Erscheinungen in die genaueste Beziehung zu der wiederum ganzen und unteilbaren Gottes- und Menschenperson seines Heilandes zu zwingen. [92] Daß Zinzendorf bei dem Eifer, mit welchem er eine Zeitlang die Unterstellung auch der Ehe als einer körperlichen Funktion unter den Heiland und den Dienst an ihm in seinem Herrnhut praktisch betrieb, sein sinnliches Temperament sehr entgegenkam, ist nicht zu bezweifeln. Wir dürfen aber die theologische Spekulation, aus der das hervorging, nicht, wie seine Gegner das taten, gewissermaßen lediglich als die Leiter betrachten, auf der er vor anderer Leute Fenster steigen wollte. Für ihn war Christus der Bräutigam und der wahre Mann nicht nur der Kirche, sondern auch jeder wahren Christin. Sie gehörte mit ihrem ganzen Wesen, mit Seele und Leib, einzig nur ihm. Auch der Ehestand war ohne seine Gegenwart nicht vorstellbar. Der Ehemann, der seine Frau umarmte, er unternahm das nicht nur im Gedanken an ihrer beider Herrn, sondern ausdrücklich als sein Stellvertreter, als der "Vicechrist", wie das in zahlreichen Liedern des Brüdergesangbuches beschrieben und gefeiert wurde. Dies war, in Kürze, der Gedankengrund der viel beschriebenen und belachten herrnhutischen Ehezeremonien und der kultischen Gebräuche, die damit eine Zeitlang zusammengingen. Freilich, es trieben in Poesie und in Prosa und auch in der Praxis Blüten daraus empor, denen der nicht unterrichtete Leser von heute nur mit Verblüffung, wenn nicht mit Abscheu begegnen würde. Es verbirgt sich aber auch hinter diesen Erscheinungen nichts anderes als der mit einer freilich beispiellosen Folgerichtigkeit unternommene Versuch, das ganze Dasein des Menschen ausschließlich unter ein, wiederum von sterblichen Menschen ausgelegtes und ausgedehntes Gotteswort zu stellen. Aus diesem Grunde durften auch bei einer gedrängten Darstellung von Zinzendorfs Persönlichkeit diese Erscheinungen nicht übergangen werden.

Die eigentliche Geburtsstunde seines herrnhutischen Gottesstaates fällt in das Jahr 1722. Er hatte damals die Herrschaft Bertholdsdorf in der Oberlausitz gekauft und sich, von Dresden herüberkommend, dort als Standesherr von der Untertanschaft auch huldigen lassen. Nicht lange danach kamen unter Führung eines gewissen Christian David, Zimmergesellen seines Zeichens, einige Auswanderer aus Mähren dort an, um sich eine neue Heimat zu gründen. Sie gehörten der Glaubensgemeinschaft der sogenannten Mährischen Brüder an, einer Art von religiösem Geheimbunde, der ursprünglich aus dem griechisch-katholischen Bekenntnis hervorgegangen war. Ihre Heimat war in alter Zeit von den Boten dieses Bekenntnisses christianisiert worden. Aber auch nach dem Siege des lateinischen Christentums und abgetrennt von ihrer Mutterkirche hielten sie unter grausamen Verfolgungen und Bedrückungen an dem angestammten Glauben ihrer Vorväter fest. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich in Annäherung an Luthers Erneuerung wie an die Lehren Johann Hussens und der Waldenser so etwas wie eine national bestimmte böhmisch-mährische Brüderkirche daraus gebildet. Sie wurde von der Obrigkeit und der römischen Kirche nach wie vor verfolgt und unterdrückt, was freilich, wie so häufig, den Ernst, die Innerlichkeit und auch den streitbaren und opferwilligen Glaubenseifer der Unterdrückten [93] nur verstärkte. Zugleich mußte eine solche Lage aber auch jeder Form von Winkelprophetie, von religiöser Geheimbündelei, von theologisierender Rechthaberei und von bloß angemaßtem oder aufgeregtem Märtyrertum sehr fördernd sein. Aus dem allmählichen aber unaufhaltsamen Nachschub ihrer Anhänger, unter denen nach wechselvollen Kämpfen und Krisen das lauterste und wertvollste Element am Ende doch die Oberhand behielt, und aus dem Zustrom religiös Ergriffener und Entzückter aus allen Teilen des Abendlandes, ja bald der ganzen Welt, ist dann unter Führung Zinzendorfs der Gottesstaat oder besser: Heilandsstaat Herrnhut geworden.

Er begann damit, daß sich drei oder vier dieser Brüder unter ihrem Zimmergesellen auf Einladung des Grafen an der Grenze des ihm untertänigen Bertholdsdorf in der Oberlausitz, in einem Walde beim sogenannten Hutberge ein Haus bauten. Christian David schlug dort seine Axt in einen Baum und sprach dazu: "Hier hat der Vogel sein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, nämlich deine Altäre, Herr Zebaoth!" Zinzendorf, der nicht lange danach des Weges gefahren kam, fand das Haus im Walde schon fertig. Als er erfuhr, wem es gehörte, ging er, wie es heißt, "mit Freuden zu ihnen hinein, bewillkommte sie herzlich, fiel mit ihnen auf die Knie, dankte dem Heiland und segnete den Ort mit einem warmen Herzen".

Nach wenigen Jahren schon, während deren Zinzendorf häufig bei ihnen weilte, hatten die Brüder bereits etwas wie eine kleine Stadt errichtet. Schon gab es eine Kinderbewahranstalt, für die Zinzendorf einen eigenen Katechismus verfaßte, es gab ein großes

Das Herrschaftshaus und der Platz in Herrnhut.
[93]      Das Herrschaftshaus
und der Platz in Herrnhut.

[Bildquelle: Gerda Becker, Berlin.]
Versammlungshaus, es gab eine Druckerei für die Bedürfnisse [94] der Brüder in dem unweit gelegenen Ebersdorf, es gab eine Armenschule und eine für junge Adelige, und es gab auch schon Verfassungs- und Glaubensstreitereien.

Von der religiösen Erregtheit und wohl auch Besessenheit, welche diese ersten Jahre der Gründung und Krisis zugleich kennzeichnet, geben uns die Berichte von Augenzeugen einen Begriff. Zuweilen gab es Prediger unter den Brüdern, die von sechs Uhr in der Frühe bis dreie nachmittags zu predigen und wohl auch zu fesseln vermochten. In die zwischendurch angestimmten Lieder donnerten sie dann wie mit der Stimme des Jüngsten Gerichtes wieder hinein und machten die Gemeinde jammern und heulen vor Sündenangst und vor Bußfertigkeit. Aber Zinzendorf meinte es anders. "Ich bin nicht sowohl ein gottesfürchtiger, als ein gottseliger, das ist, ein vergnügter und sehr glücklicher Mensch" schrieb er in der Wochenschrift Der Dresdnische Socrates, die er damals herausgab. Das Ende der Verfassungs- und Glaubenskämpfe in Herrnhut bedeutet die endgültige Rückkehr des Grafen von Dresden im Jahre 1727, wenn er auch sein Staatsamt förmlich erst vier Jahre danach niederlegte. Nach langen Auseinandersetzungen und oftmaliger Befragung des Heilands gestand er in diesem Jahre den mährischen Brüdern ihre besonderen Gebräuche und Auslegungen zu, um sie mit diesem Zugeständnis bei der evangelischen Kirche zu erhalten. Zugleich, an dem für die Geschichte der Brüder immer denkwürdigen 12. Mai dieses Jahres, machte der Graf, wie es in den Berichten heißt, "einen Bund mit der Gemeinde vor dem Herrn. Die Brüder versprachen alle, Mann vor Mann, mit Hand und Mund, daß sie ganz des Heilandes sein wollten. Sie schämten sich der Religionszänkereien und waren einmütig des Sinnes, dieselben nunmehr zu begraben".

Im Geiste dieser hinfort getreulich eingehaltenen Übereinkunft begann das Heilandsreich in Herrnhut jetzt mächtig aufzublühen. Unter zwölf Ältesten, deren Vorsteher Zinzendorf wird, erhält es eine eigene Verfassung. Wir heben daraus, was das weltliche Leben angehen sollte, hervor: die Einsetzung von Aufsehern über die "Hantierungen", also Gewerbeaufsehern, denen zugleich die Aufsicht über die Qualität der Ware wie über die Preisbildung anvertraut war, und die von Almosen- und von Krankenpflegern. Was die geistliche Verfassung betrifft, die freilich als von der weltlichen untrennbar und sie beherrschend zu denken ist, so folgte der Einrichtung der Liebesmahle, der Nachtwachen, die ein auf eine bestimmte Anzahl von Teilnehmern verteiltes Dauergebet bedeuteten, der Einteilung in Banden und Gesellschaften, endlich in Chöre je nach dem Familienstand – Chöre der Vermählten und der Ledigen und der Kinder also und der gemeinsamen Gebete auf den Knien an bestimmten Tagen –, zuletzt auch die Einführung der Fußwaschung als einer Art von kultischer Handlung, die der Erbauung und der Entzückung dienen sollte. Zugleich ward es Brauch, in schweren Entscheidungen den Heiland selber um Antwort anzugehen, indem man das Los warf und sich nach seinem Falle richtete.

[95] Nicht lange danach, im Anschluß an eine Reise Zinzendorfs nach Kopenhagen, wo er von den grönländischen Heiden und von dem Los der heidnischen Negersklaven auf der damals dänischen Insel Sankt Thomas in Westindien erfuhr, begann mit der Entsendung von je zwei Brüdern nach Westindien und nach Grönland das große Werk der Brüdermission in der ganzen Welt. Es heißt, daß nach den herzbewegenden Berichten des Grafen zwei von ihnen in den Wald gingen und sich dort dem Heilande zu Füßen legten, daß er sie wolle wissen lassen, ob sie wohl geeignet seien, für ihn nach Grönland zu gehen. Nach wenigen Jahren waren aus diesen schlichten und fast einfältigen Anfängen Siedlungen und Missionen der Brüder in der ganzen Welt geworden.

Für Zinzendorf selber ist auch bei diesem Missionswerk einzig die Bekanntmachung der Heiden mit seinem Heilande wichtig. Daß ein Gott sei, meinte er, das sei den Heiden meist bekannt; aber nichts sei ihnen von Christo bekannt, weswegen aller Wert auf die Bekanntschaft der Heiden mit Christo müsse gelegt werden. Welcher Ernst und welcher unbeugsame Wille zum Gehorsam unter die Forderung seines Gottes ihn erfüllte, das leuchtet hell aus der Tatsache hervor, daß er selbst, nachdem er inzwischen in den geistlichen Stand übergetreten war, zwei große und gefährliche Reisen zu den Heiden unternahm. Die erste führte ihn nach Sankt Thomas. Dem mörderischen Klima dieser Insel waren in kurzer Zeit mehr als zwanzig Brüder zum Opfer gefallen, und es fehlte nicht an Vorwürfen gegen den Grafen, daß er seine Leute in den gewissen Tod schicke. Nun wollte er beweisen, daß auch das Überstehen dieser Fährlichkeiten von dem Willen des Heilandes abhänge, und begab sich selber hinüber. Es blieben ihm die tragischen Erfahrungen der christlich-abendländischen Missionen überhaupt nicht erspart. Zwar begrüßten ihn die Negersklaven auf Sankt Thomas mit herrnhutischen Liedern, die sie inzwischen schon getreulich zu singen gelernt hatten. Aber er mußte zugleich auch die Not erfahren, in die er diese armseligsten unter den Geschöpfen gegen seinen Willen gebracht hatte, indem er sie nötigte, den für sie kaum faßbaren Unterschied zwischen Christentum und Christenheit zu machen. Die von ihrer Arbeit lebenden weißen Pflanzer dort waren alles andere als entzückt von einem Manne, der ihre in einem tierischen Zustand gehaltenen Arbeitskräfte lehren wollte, bessere Christen als sie selber zu sein, und sie scheuten sich nicht, ihre Auffassung von der Sache mit der Pistole und der Hundspeitsche zu vertreten. Mit Tränen nahm er Abschied von seinen schwarzen Brüdern, und sie erwiderten seine schmerzliche Liebe mit verzweifelten Klagen. Einen von ihnen, ein freundliches, ergebenes Wesen, nahm er mit nach Herrnhut, wo er, wie berichtet wird, nach nicht langem selig in seinem Heiland verschied. Er wurde nach Herrnhutischem Gebrauch in einem weißen Gewande aufgebahrt.

Erfahrungen solcher Art vermochten den Grafen indessen nicht zu erschüttern oder gar zu beirren. Im Jahre 1741 begab er sich, in Begleitung seiner sechzehnjährigen Tochter, nach Nordamerika. Er predigte zuerst in den Städten vor den [96] Weißen und suchte auf zu Philadelphia abgehaltenen Synoden die sich befehdenden und auseinanderstrebenden Sekten der dortigen Christenheit zu einigen.

Später machte er sich zu einer Reise in den Urwald zu den Rothäuten auf, und hier ereigneten sich Szenen, von welchen man bei aller Wunderlichkeit doch nicht ohne Rührung und Bewunderung berichten hört. So begegnete er einmal als "Bruder Ludwig" in Begleitung einiger tapferer Gefährten und eines Dolmetschers im Urwalde umherziehend, einem von einem Jagdzuge heimkehrenden Trupp der sehr kriegerischen "Fünf Nationen". Er machte sogleich halt und sandte seinen Dolmetscher zu ihnen hinüber, die ebenfalls im Begriffe waren, ihr Lager aufzuschlagen. Er habe, ließ er ihnen sagen, des Herren Wort an sie und ihre Völker, und er frage an, ob sie es zufrieden wären, wenn er ihnen den Weg der Seligkeit zeige. Die Rothäute berieten sich hierauf eine Weile an einem Ratsfeuer; dann hießen sie ihn willkommen. Er habe, so erklärten sie ihm, zuvor nichts von ihnen, und sie ihrerseits auch nichts von ihm wissen können. Gleichwohl aber habe er den Weg übers Meer und just zu ihnen gefunden. Darin müßten sie den Wink einer hohen Hand erblicken. Hierauf zeichneten sie ihn durch die Überreichung eines Wampums aus und erlaubten ihm, an ihren Feuern zu sprechen.

Freilich, so wird berichtet, hätten nur wenige von ihnen auf des Heilands Worte hören mögen. Es fehlte schon bald auch bei den Rothäuten nicht an Verrat und Anschlägen auf sein Leben, und wenige Jahren nach Zinzendorfs Heimkehr geschah der Überfall auf die herrnhutische Urwaldsiedlung Gnadenhütten, bei welchem Täufer und Täuflinge den Tod unter dem Tomahawk und dem Skalpiermesser finden sollten.

Auf allen diesen Reisen zu Lande und zur See ist Zinzendorf unermüdlich mit der Feder am Werke gewesen. Manche seiner Schriften, zahlreiche seiner Lieder und Betrachtungen sind in der Kajüte eines Segelschiffes, im dürftigen Quartier oder im Zelt entstanden. Einmal, auf jener letzten großen Reise an den Susquehanna, ist es ihm dabei geschehen, daß er von dem Sheriff als Sabbatschänder in Verhaft genommen werden sollte, weil er des Sonntags bei Licht mit der Niederschrift eines geistlichen Liedes beschäftigt angetroffen wurde. Es ist dann aber bei einer Geldstrafe von sechs Schilling für ihn und seine Tochter geblieben.

Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.
[96a]      Nicolaus Ludwig Zinzendorf.
Gemälde von Johann Kupezky.

[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]
Nicht immer sind die Landesbehörden und seine Gegner so glimpflich mit ihm verfahren. Die Verweisung aus sächsischen Landen, welche die Dresdener Regierung im Jahre 1738 gegen ihn aussprach, hat ihn mehr denn zehn Jahre hindurch genötigt, mit den Seinen ein unstetes Leben zu führen, fern von Herrnhut, das er nur besuchsweise und unter Gefährdung seiner Freiheit betreten konnte. Das hat ihn in der beharrlichen Arbeit für seinen Gott so wenig zu beriren oder aufzuhalten vermocht wie alle die Anfeindungen und Verdächtigungen von geistlicher und weltlicher Seite, die Flut von Hohn und Verleumdungen, denen er sein ganzes Leben hindurch hat ausgesetzt sein sollen. Daß er mit den herrnhutischen Seinen, vor allem nach der Aufhebung seines Exils, einer zuweilen mit Grund verblüfften oder auch empörten Umwelt dazu manchen Anlaß bieten mußte, haben wir schon [97] erwähnt. Gegen Ende seines Lebens ist es um diese Dinge stiller geworden, nicht zuletzt, weil er selber nach einem Höhepunkt der Exaltiertheiten in Herrnhut Mäßigung und Besinnung gebot und mit väterlicher Strenge auch den eigenen Sohn nicht schonte.

Damals war aus dem Axthieb des mährischen Zimmerers in einen Baum und der ersten dürftigen Hütte längst schon der Heilandsstaat Herrnhut geworden, mit zahlreichen Kolonien nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Er war aber nicht nur ein geistliches Gebilde, im Geiste lebend und geistlich geführt, sondern war zugleich, unter keiner anderen als des gleichen Zinzendorf weitausschauender und kräftiger Geschäftsführung, ein auf reiche Mittel gegründetes und mit reichen Mitteln geschickt und vorbildlich arbeitendes Wirtschaftsgebilde geworden. Was manche Zeitgenossen der religiösen Verfassung und Führung dieses "Kirchleins in der Kirche" an Achtung schuldig bleiben wollten oder bleiben durften, mögen sie dafür um so williger der weltlichen dieses Staates im Staate und der Persönlichkeit seines Stifters und Herrschers gezollt haben.

Während des Siebenjährigen Krieges empfing Herrnhut des öfteren die Besuche hoher Militärs sowohl des preußischen wie des österreichischen Heeres, die mit wechselndem Glück in jenen Gegenden einander gegenüberlagen. Sie galten schon nicht mehr der Befriedigung einer auf Kuriositäten erpichten Neugierde, sondern sie führten ernsthafte Männer zur Betrachtung eines ernsthaften und bewunderungswürdigen Menschenwerkes, dessen Ruhm nun unwidersprochen über alle Grenzen zu dringen begann. Als Zinzendorf im Mai 1760 zu Grabe getragen wurde, da folgte seinem Sarge unter den Tausenden von feierlich ergriffenen Brüdern und Schwestern auch eine Ehrenabordnung der in der Nähe befindlichen kaiserlichen Armee.

Es sei diese Darstellung mit einem zeitgenössischen Bildnis geschlossen, aus welchem die vertrauenden und überwindenden Kräfte seiner Persönlichkeit noch einmal auf das schönste hervorleuchten. Von einer Reise in die Schweiz, die er in seinem vierten Jahrzehnt zu Fuße unternahm, heißt es da: "Er hatte einen Herrengang, trug sein Haupt empor und sahe kaum auf den Weg, konnte auch das, was im Wege war, kaum wahrnehmen; denn so scharf er in der Nähe sahe, so kurz war sein Gesicht. Weil er nun überdem immer in Gedanken und dabey sehr geschwinde ging, so war eine Reise zu Fuß für ihn etwas so beschwerliches, daß man es nicht ohne Mitleiden ansehen konnte. Er nahm weder einen Bedienten, noch sonst einen Bruder zur Begleitung mit sich, damit er desto ungestörter seyn möchte im Umgange mit seinem innigstgeliebten, obgleich ungesehenen Herzensfreunde; mit welchem er im Gehen, wenn er allein war, so laut zu reden pflegte, als ob er ihn leibhaftig bey sich hätte. Da begegnete es ihm nur gar oft, daß er den rechten Weg verlor, sonderlich wenn er spät in der Nacht seinen Weg fortsetzte, welches nicht selten geschahe, wenn er sich hier und da, um der Seelen willen, mit welchen er sich zu tun machte, aufgehalten hatte".




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz