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Aus der zweideutigen und ungewissen Stellung, in die der Raum um den Rhein her im Ergebnis der Politik Karls V. kam, hat die Idee des europäischen Gleichgewichts ihre stärkste Nahrung im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert gesogen. Es gab Staatsmänner, die fest und steif darauf hielten, daß der Rhein zum Reiche gehörte und das Reich zu etwas anderem da sei, als um das Gleichgewicht zwischen irgendwelchen europäischen Machtgebieten herzustellen. So dachte Prinz Eugen von Savoyen und so der Reichsfreiherr vom Stein. Napoleon wollte den rheinischen Raum umgekehrt in den Westen einbauen. Die Entwicklung aber war mit den rheinischen Staatsmännern, die sich auf die Idee des Gleichgewichts eingeschworen hatten. Im Grunde war schon Karl V. selbst bereit, wäre nur auch Franz I. von Frankreich von dem gleichen Geiste beseelt gewesen, die Landschaften [8] über dem Rhein gegen Frankreich hin aus dem Reichsverband zu nehmen, um sie zusätzlich bald in die französische, bald in die deutsche Waagschale legen zu können. Als seine Regierung zu Ende ging, regte sich in zwei Adelsfamilien bis dahin bescheidenen Ansehens an der unterm Lahn der Auftrieb zu größerer Leistung. Die Nassau-Oranier stellten sich an die Spitze des niederländischen Freiheitskampfes, die Schönborns verpflanzten sich nach Franken, um, als sich in den vorderen Reichskreisen im siebzehnten Jahrhundert ein neuer Hochadel bildete, das herrenhafteste Geschlecht in seiner Mitte zu werden.
Zweimal besetzten die Schönborns bis zum vorläufigen Austrag des langen Ringens zwischen dem Kaiser und dem Reich einer-, den Franzosen anderseits den erzbischöflichen Stuhl von Mainz, einmal den von Trier. Drei Kurfürsten zählten sie von der Mitte des siebzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. [9] Darin hatten sie ein Seitenstück nur an den in der Eifel beheimateten, in dem Kern des rheinischen Raums, zwischen der Mosel, dem Mittelrhein und der Maas, emporgewachsenen Grafen Metternich. Doch waren sich die Kurfürsten aus dieser Familie nicht so stetig gefolgt. Der erste war Kurfürst von Trier schon zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts gewesen, der nächste bald darauf Kurfürst von Mainz geworden und dann noch einmal einer Kurfürst von Mainz, als das siebzehnte Jahrhundert zu Ende ging. Auch hatte keiner von ihnen so eindrucksvoll wie die Schönborn in die Reichspolitik eingegriffen, die Familie sich als Ganzes nicht in demselben Maße ein fürstengleiches Ansehen unter den Standesgenossen verschafft. Dafür sollte sie länger im Safte bleiben. Nach dem Siebenjährigen Kriege wurde das Haupt der Familie, Franz Georg, zum Vertreter des Wiener Hofes bei den drei geistlichen Kurfürsten bestellt. Franz Georg heiratete eine Kageneck aus dem vorderösterreichischen Besitz der Habsburger, deren Familie dem Kaiserhause von alters her treu ergeben war und die sich selbst der besonderen Gunst der Kaiserin Maria Theresia erfreute. 1771 wurden die Metternichs in den Reichsgrafenstand erhoben. Doch gaben sie deshalb den Halt am Erzstift Trier nicht auf, in dessen Bereich sie sich ausgebreitet hatten. Franz Georg stand so gut mit dem Kurfürsten von Trier, einem Prinzen aus dem Hause Kursachsen, Clemens Wenzeslaus, daß er ihn darum angehen durfte, bei seinem Erstgeborenen Patenstelle zu übernehmen. Obwohl die Mutter erst siebzehn Jahre zählte, als sie ihrem Söhnchen am 15. Mai 1773 das Leben schenkte, war eine Tochter schon vorausgegangen. Nach anderthalb Jahren folgte noch ein zweiter Sohn nach. Dann hat die junge Frau ganz den gesellschaftlichen Verpflichtungen gelebt, die die Stellung ihres Mannes mit sich brachte und selbst das Leben einer großen Dame geführt. Sie blieb dabei aber immer die besorgte Gefährtin ihres Mannes und die liebende und geliebte Hüterin und Freundin ihrer Kinder, vor allem ihres Sohnes Clemens. Im Wesen und gerade in ihrem frauenhaften Wesen deutsch, war sie doch im gesellschaftlichen Verkehr vollkommen weltaufgeschlossen. Der Sinn der Gesellschaft lag für sie in der Ausbildung zur größten Gewandtheit, im raschen Eingehen auf andere, um sie zu verzaubern und für die eigenen Pläne zu gewinnen. Der Vater dagegen war schwerfällig und feierlich und glaubte vielleicht, durch gesteigerten Prunk und verschwenderische Gastlichkeit wett machen zu müssen, daß er in vielem unbeholfen, im Grunde steifnackig, im Innersten seines Fühlens und Denkens in die Grenzen deutscher Männlichkeit eingeschlossen, ein biederer Deutscher war. Er schrieb dem studierenden Sohn deutsch und mahnte ihn, ein guter Deutscher müsse seine Muttersprache "wirklich besitzen". Den Briefwechsel mit der Mutter "kannst Du übrigens in französischer Sprache fortsetzen". Es sollte in Zukunft den Vorzug des Sohnes bilden, dem er vorweg einmal die Überlegenheit über die anderen verdankte, daß die Art beider Eltern in ihm Wurzel schlug: die verführerische gesellschaftliche Begabung der Mutter und das [10] Zähe des Vaters. Was er nicht mitbekam, war das schwäbisch Offene und Gütige, die Wärme des mütterlichen Wesens. Wohl aber übertrug die Mutter auf ihn ihre Fähigkeit, sich von der großen Welt bei allem Gefallen an ihr nicht veroberflächlichen zu lassen. Da der Vater viel und lange unterwegs sein mußte, nahm die Mutter die Kinder gern aus dem schloßartigen Gebäude in Koblenz, in dem die Familie wohnte, nach der Stammburg der Metternichs moselaufwärts bei Kochem, nach der Winneburg, und verlebte mit ihnen dort Tage, in denen sie ihnen ganz gehörte. Zur Ausbildung der Söhne wurde ein Geistlicher französischer Herkunft ins Haus genommen. Die Mutter gesellte ihm als Hofmeister einen Protestanten aus Straßburg, Simon, zu, der sich an den deutschen Pädagogen der Zeit geschult hatte. Um in den Genuß von Pfründen des Mainzer Domkapitels zu gelangen, mußten die Söhne ihre akademische Ausbildung an einer vom Kapitel zugelassenen Universität erhalten. So fiel die Wahl denn auf Simons Vaterstadt. Von ihm und dem Geistlichen begleitet, übersiedelten beide, Clemens fünfzehnjährig, im Herbst 1788 dorthin. Die Eltern konnten nicht ahnen, daß mit der Übersiedlung nach Straßburg Clemens nicht sowohl ein geordnetes Studium begann, als eine Zeit der Schulung durch politische Erfahrung für ihn anbrach, die sechs Jahre andauerte und durch den Wechsel der Erlebnisse und durch die Gewalt der Eindrücke derart reich an Gehalt wurde, daß wohl kaum ein anderer Staatsmann in seiner Ausbildung vom Schicksal in gleicher Weise begünstigt worden ist. Schon das Jahr 1789 brachte die Wahl für die Generalstände, ihre Umwandlung in die Nationalversammlung, die Unruhen im Anschluß an den Sturm auf die Bastille, den Taumel der Nacht vom 4. auf den 5. August und wieder als Auswirkung davon den Austritt des von der Reichsstadt abgeordneten Herrn von Türkheim aus der Nationalversammlung, im folgenden Winter die Gemeindewahlen in Straßburg und die Bildung des ersten Klubs. Simon riß es in das öffentliche Leben der alten Reichsstadt hinein. Mit einem publizistischen Angriff auf Türkheim wollte er sich Beachtung verschaffen. Dann drängte er sich an de Dietrich heran. Der junge Metternich sah seinen Hofmeister mit den Augen der ihm wohlwollenden Mutter, und so hat auch er über den Menschen stets gut gesprochen. Was aber Simon tat, und den Aufruhr, den er schüren half, wies sein Zögling wohl auf der Stelle, allein aus einem sicheren Gefühl, von sich ab. Tiefer berührten ihn die Geschehnisse noch nicht. Einzelheiten sind ihm nicht im Gedächtnis geblieben. Der unerwartet frühe Tod Kaiser Josephs II. und bereits zwei Jahre später auch der seines Bruders und Nachfolgers, Leopolds II., führten die Laufbahn des Vaters Metternich auf ihren Gipfel. Er leitete beide Male die Wahlhandlung in Frankfurt. Die erste hatte zur Folge, daß er in die von Joseph II. im Aufstande zurückgelassenen Niederlande nach Brüssel mit besonderen Vollmachten geschickt wurde, und die zweite, daß er dort die Zügel der Regierung selbst in die Hand bekam. Clemens durfte sich ungeachtet seiner Jugend bei beiden Wahlhandlungen als [11] Zeremonienmeister der westfälischen Grafenhäuser betätigen. Als er in dieser Eigenschaft 1792 einen Tanz eröffnete, war die Prinzessin Luise von Mecklenburg, später Preußens nie vergessene Königin, seine Tänzerin. Ihre Mutter war mit seiner Mutter befreundet. Schon nach der Wahl Leopolds II. im Frühjahr 1790 kehrte Metternich nicht wieder nach Straßburg zurück, sondern ging, als die Eltern ihren Wohnsitz nach Brüssel verlegten, auf die Hochschule nach Mainz. Schulen pflegen für staatsmännische Begabungen meist keine große Bedeutung zu haben. Es hat sein Bewenden bei einzelnen Begegnungen. Die beiden, die in Metternich nachwirkten, hatte er in Mainz mit Georg Forster, dem Weltumsegler, dem gelehrten und lebensvollen, begeisterten Menschen, und mit dem noch jungen Staatsrechtler und Geschichtsschreiber Nikolaus Vogt. Vogt erschloß ihm eine Geschichtsanschauung, eine Vorstellung von Herderschen Anregungen her, sowohl des Eigenlebens jedes Volkes als des Zusammenhanges unter ihnen; er brachte ihn zu der Ansicht, daß die Völker eine Gesellschaft bilden oder doch bilden sollten. Französischer Adel, der sein Land verlassen hatte und auf die Hilfe Österreichs und Preußens harrte, um dorthin zurückzukehren und die Revolution niederzuwerfen, gab dem höfischen Leben und Treiben in Mainz wie Koblenz damals sein besonderes Gepräge. Metternich lernte, die in sich selbst brüchig und sittenlos gewordene Aristokratie des "ancien régime" mit dem durch die Ideen von 1789 in Bewegung gesetzten, von Zerstörungswut gepackten Pöbel, den er in Straßburg vor Augen gehabt hatte, zu vergleichen. Die Ablehnung im ganzen hinderte ihn aber nicht an freundschaftlicher Verbindung mit einzelnen aus dem Emigrantentum. Durch das Zusammentreffen mit einer eben verheirateten jungen Frau aus ältestem französischem Geschlecht packte ihn auch die erste, ihn ganz und gar aufrührende Leidenschaft seines Lebens. Neigte er als Knabe zu religiöser Entflammung, so wurden die Flammen durch das Verhältnis zu der Französin in den Bereich des sinnlichen Lebens um- und abgeleitet, wohl auch abgedämpft. Metternich aber wurde zugleich davor bewahrt, daß er mit dem zunehmenden Wissen und Erkennen immer stärker in die Geistigkeit der Aufklärung eintauchte und jene Flammen völlig verweht wurden und verloschen. Mit der Wahl Franz I. zum Kaiser fiel die Kriegserklärung Frankreichs an die beiden deutschen Großmächte zusammen. Von Mainz traten sie im Juli 1792 den Vormarsch an. Ende September wurde er schon wieder aufgegeben. Vier Wochen später fiel Mainz dem von Straßburg vorgestoßenen Custine kampflos in die Hände. Die Emigranten waren davongezogen. Forster stellte sich der Republik für die Mitarbeit zur Verfügung. Metternichs Studium fand damit ein Ende ohne Abschluß. Die Familie dachte wohl noch an ein Jahr Studium in Göttingen für ihn; daraus wurde aber nichts mehr. Der Vater nahm ihn nach Brüssel und verwandte ihn von dort aus für besondere Aufträge. Josef II. hatte die Bevölkerung der Niederlande, als er ohne die geringste Einsicht in ihr inneres Leben eingriff, in heilloser Unruhe zurückgelassen. Im siebzehnten und achtzehnten [12] Jahrhundert hatte der französische Staat den innerhalb seiner Grenzen wohnenden Teil des flämischen Volkstums um sein Eigenleben gebracht, um die aufbauenden Kräfte, die in diesem, seinem hochwertigsten völkischen Bestandteile vorhanden waren, trotz aller Gegensätzlichkeit dem Staatsgeiste anzugleichen. Nun bäumten sich gegen Aufklärung und Loge, gegen Laizismus und Staatsräson, gegen politischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Liberalismus die den Flamen eigenen volkhaften und kirchlich gläubigen Gefühle noch einmal von den Niederlanden her in einem schweren Kampfe auf. Wenn die gesellschaftliche und staatliche Bewegung des Jahres 1789 in Frankreich nach und nach in ein erbittertes und heißes Ringen zwischen Vernunft und Religion umschlug, so kamen die tiefsten und leidenschaftlichsten Antriebe dazu aus den flämischen Landschaften, ohne Rücksicht darauf wie gerade die politische Grenze verlief, die sie zwischen dem französischen Staat und der Habsburgischen Herrschaft aufteilte. Der junge Metternich schaute nicht bis in die Abgründe. Aber er hatte bald das Bewußtsein dafür, wie sehr der Boden unter den Füßen seines Vaters, der österreichischen Regierung bebte, wie sie mit ihren Maßnahmen hinter der Aufgabe weit zurückblieb und der Zusammenbruch nur noch für Monate aufzuhalten war. Auf die Kunde hin, daß der Konvent nach dem König auch die Königin, die Tochter Maria Theresias, hinzurichten gewagt habe, warb er einmal dafür, daß die Regierungs- und Kampfesweise völlig gewechselt würde. Der "Mangel an Energie", der in allem politischen Leben entscheidende Mangel, müsse überwunden werden. Sei es, daß der Funke Herderschen Geistes plötzlich in ihm zündete, den Vogt in Mainz ihm zugetragen hatte, oder daß sich sein staatsmännisches Genie regte und nach einem ersten Ausdruck suchte, genug, er drängte, daß man das Volk zum letzten Einsatz aufrief. "Wie, das Volk bewaffnen, dem Pöbel Waffen in die Hände geben?... Nie ist die Klasse des echten Volkes von jener des Pöbels unterschiedener als in Zeiten, wo erstere eigenen Besitz gegen Angriffe der zweiten zu verteidigen hat... Pöbel, der nichts zu verlieren und in der Unordnung alles zu gewinnen hat, befindet sich nur in den Städten. In einer ganzen Volksbewaffnung begreife ich also nicht diese dem Staat zu allen Zeiten so gefährliche Klasse der unbeschäftigten, nichts besitzenden und fast stets zum Aufstand bereiten Menschen... man gebe oder erlaube vielmehr dem Bürger und dem ansässigen Bauern, zu den Waffen zu greifen und selbst an Abwendung der ihm so stark drohenden Gefahr zu helfen." "Tausende fielen auf der einen Seite und Tausende ersetzten sie, Hunderte auf der andern Seite, und leer blieben ihre Lücken... zwei Kampagnen hatten gelehrt, was man von den Heeren gegen ein ganzes bewaffnetes Volk zu erwarten habe... und wirklich wurden Waffen und Munition in einigen bedrohten Gegenden der Provinz Flandern verteilt. Mit Freude ergriff sie der Landmann... Jeder Bauer wollte ein Held werden ... Was wäre unsere neue Masse gegen die einmal an Krieg gewohnte französische? Was eine freie, für sich, für ihr Eigentum streitende Menge gegen eine andere, gezwungene, durch [13] einige verhaßte Tyrannen aufgeopferte, immer sein wird!... Ihr nahet täglich mehr dem Ende eurer Ruhe; wenig Augenblicke bleiben euch, die in strafbarer Untätigkeit verlorene Zeit... entscheidet euer Schicksal und jenes eurer Enkel!" Als der österreichische Oberbefehlshaber kein Jahr später die Niederlande nach der Schlacht bei Fleurus aufgeben mußte und zwischen Maas und Rhein stand, erließ er einen Aufruf, wie ihn der junge Metternich verlangt hatte: er versprach das linke Rheinufer nicht preiszugeben, sondern wieder Stellung zu nehmen und zur Abwehr der Franzosen sich einzugraben, wenn ihm die Bauern dabei mit dem Spaten in der Hand ihre Unterstützung liehen. Nun aber war es zu spät, und so einfach ging es auch nicht. Noch im Herbst 1794 standen die Franzosen überall am Rhein, und zum Winter hin besetzte Pichegru Holland. Die volle Unsicherheit der Haltung, das Hin und Her der Entschlüsse, das bereits das ganze Jahr 1794 hindurch die Lage in den Niederlanden kennzeichnete, spiegelte sich auch in dem Schicksal des jungen Metternich. Er wurde in Aussicht genommen, mit seinen noch nicht 21 Jahren als Gesandter im Haag des Vaters rechte Hand im eigentlichen Sinne des Wortes zu werden, vor der Erteilung des Auftrags aber aus bloßer Verlegenheit für mehrere Monate nach England beurlaubt. Er sprach dort Pitt und Fox und Burke und wurde am Hofe liebenswürdig aufgenommen. Die Seinen sah er erst auf dem Boden des Reiches wieder. Der Vater hatte sein Amt verloren, die Familie alles Eigentum bis auf ein böhmisches Gut. Sie flüchtete nach Wien und fand dort, da der Vater seinem Auftrag nicht gerecht geworden war, weder in der Gesellschaft noch bei der Regierung ein herzliches Willkomm. Die bewegliche und kluge Gräfin aber wußte Rat. Ihr Sohn sollte in eine der großen Familien am Hofe heiraten. Im Februar 1794 war der greise Fürst Kaunitz gestorben, der Leiter der österreichischen Politik unter Maria Theresia wie unter ihren beiden Söhnen. Im Jahre darauf wurde das einzige Kind seines Sohnes die Braut des jungen Grafen Metternich. Am 27. September 1795 fand die Hochzeit statt. Der junge Ehemann war zweiundzwanzig-, die junge Frau zwanzigjährig. Er stimmte mit dem Schwiegervater darin überein, daß die Ehe nicht den Sprung in ein hohes Staatsamt bedeuten sollte, sondern auf die Zeit unruhigsten Erlebens, stärkster Erregungen, allzu schneller Reife Jahre des häuslichen Zusammenlebens, der Sammlung, des stetigen und wirklichen Lernens und des Sichbildens folgen müßten. Metternich hat die nächsten Jahre bis zur Jahrhundertwende tatsächlich zugleich ausgekostet und ausgiebig genutzt. Die Politik trat in seinem Dasein zurück. Es lockten ihn die Naturwissenschaften. Aber er eignete sich zugleich ganz allgemein die vielen und gründlichen Kenntnisse an und verschaffte sich die Urteilsfähigkeit auf allen Gebieten des Geisteslebens, die ihn fortan bis an sein Lebensende auszeichnete. Doch heißt das nicht, daß darüber versank, was sich in ihn in den Jahren vorher aus dem Geschehen ringsum an Geschautem, nicht Erlernbarem, an Einsichten, nicht an Wissen gesenkt hatte. Straßburg, Mainz und Koblenz, die Niederlande – [14] die alte Reichsstadt und die Anfänge der Schwarmbildung schwäbischer und fränkischer Intellektueller in ihr und von ihr aus, das kurfürstliche Mainz und die Träger der Aufklärung an der von seinem Kurfürsten eben erneuerten Universität, die ganze Welt der geistigen Stifter am Rhein und der Einbruch der Emigranten in sie, der ihren nahen Untergang nur noch beschleunigen konnte, die innere Lage in den Niederlanden und die Schlachtfelder an ihren Grenzen, zuletzt England: selbst Rheinländer, hatte Metternich, während aus dem Knaben der Jüngling wurde, wie in der raschen Bilderfolge eines Kaleidoskops alle Kräfte des rheinischen Lebens vor seinen Augen aufbrechen und in Unordnung sich gegeneinander wenden sehen, bis sie zuletzt allesamt in den Abgrund gezogen wurden, so daß sich der Welsche des Rheins bemächtigen und aus ihm seine Ausgangsstellung machen konnte, aus der er künftig im Innern des Reichs zu kämpfen gedachte. Anfangs war er nur Zuschauer, obwohl als Zögling Simons sogleich aus nächster Nähe. Als Schüler Vogts und als Sohn seines Vaters, durch die Teilnahme an den Kaiserwahlen und Krönungsfeierlichkeiten, über der Liebe, die ihn mit der jungen Emigrantin drei Jahre lang verband, beim Auszug der preußischen und österreichischen Truppen gen Westen, in den Niederlanden hatte er schon mehr und mehr auch handelnd an den Vorgängen teil. Friedrich der Große hatte ein Menschenalter vorher dazu mitgewirkt, daß in Köln und Münster nach beinahe zwei Jahrhunderten fremder Erzbischöfe und Bischöfe aus dem bayrischen Hause wieder ein Mitglied des westfälischen Adels den Krummstab führte. Noch unmittelbar vor seinem Tode war er des Fürstenbundes wegen mit dem Kurfürsten von Mainz in Verhandlung gewesen. Der Rhein war frei von der gehässigen Stimmung gegen Preußen, die die Schlesischen Kriege in Österreich hervorgerufen hatten. Preußen wurde dort geachtet. Der fast um zwanzig Jahre ältere Reichsfreiherr vom Stein, der nur wenige Wegstunden von Koblenz entfernt lahnaufwärts zu Hause war, war anfangs der achtziger Jahre auf der Reise, die ihn in habsburgische Dienste führen sollte, umgekehrt und in die preußische Verwaltung gegangen. Metternich folgte jetzt den Eltern nach Wien; aber Joseph II. lehnte er, nachdem ihm der Aufenthalt in den Niederlanden einen Einblick in die Auswirkungen seines Tuns gewährt hatte, nicht weniger leidenschaftlich und unbedingt wie Stein ab. Die rheinische Wertschätzung Preußens ließ auch er sich in Wien nicht ausreden und forderte immer wieder, daß Preußen herangeholt werden müsse. Im Augenblick machte ihm die Aufnahme, die er in England fand, und die Begegnung mit so viel hervorragenden Männern dort einen Eindruck, der ihn bestach. Wiederum jedoch aus seiner rheinischen Umwelt hatte er eine mißtrauische Grundhaltung gegen England. Es dürfe nicht dazu kommen, daß England durch seinen Vorsprung im Welthandel die festländischen Bevölkerungen von sich abhängig mache. Unter diesem Gesichtspunkte redete er außer dem Zusammengehen mit Preußen wohl selbst einem Versuche der Annäherung an Frankreich das Wort. Die unwillkürliche Stellungnahme gegen England [15] entsprang im Rheinland dem bürgerlichen Empfinden, dem Gefühle, wirtschaftlich mit den Engländern im Wettbewerb zu liegen. Metternich war sie von Standes wegen fremd; um so mehr zeugt es für den rheinischen Untergrund seines Wesens, daß sie ihm dennoch eigen war. Daraus erklärt sich dann auch, daß er, der Sohn des kaiserlichen Gesandten bei den drei geistlichen Kurfürsten, der Sproß einer eben noch in den Reichsgrafenstand erhobenen Familie, das Reich ebenso leichten Herzens verloren gab wie der gleich ihm aus Koblenz gebürtige Bürgerssohn Josef Görres. Hielt dieser in gymnasiastenhaftem Pathos 1798 nach dem abermaligen Falle von Mainz eine Leichenrede auf das Heilige Römische Reich, so tat Metternich das Reich dem Vater gegenüber zur gleichen Zeit mit den Worten ab, daß man das Kreuz darüber machen müsse. Nachdem Österreich im siebzehnten Jahrhundert durch die Außenpolitik der beiden Ferdinande und Kaiser Leopolds I., zuletzt noch des Prinzen Eugen, zur Großmacht geworden war, hatte es seit Karl VI., vor allem in der langen Zeit der politischen Führung durch den Fürsten Kaunitz, auch ein eigenes Innenleben entwickelt. Zum selbständigen Gebilde geworden, weil das Reich seit den Tagen der Staufer nicht mehr oder nur krüppelhaft weitergewachsen war und sich mit Johann Philipp von Schönborn auch als Raum von Österreich absetzte, nahm Österreich doch aus dem Reich in sein Wesen das Bedürfnis nach einer umfassenderen staatlichen und Rechtsordnung hinüber, strebte es in schroffem Gegensatz zu dem nur sich kennenden Frankreich danach, Kern eines größeren Ganzen zu werden, einem Gewölbe als Stützpfeiler zu dienen. Hatte sich in Karl V. der Reichsgedanke schon verabendländert, so schwebte Kaunitz nun, da das Reich zum Schatten verblaßt war, vor, daß die Großmacht Österreich Mitte zugleich und Treuhänder Europas, des in den Kreuzzugsjahrhunderten zunächst als Christenheit seitab vom Reiche in die Erscheinung getretenen Europa der Aufklärung und der Zivilisation werden würde. Das "Licht" strahlte aus Frankreich auf. Damit begründete Kaunitz, daß er dem alten Gegensatz zwischen den Häusern Habsburg und Bourbon ein Ende bereitete. Er hoffte, durch eine alle beteiligten Höfe erfassende Versippung der beiden Häuser den "ewigen Frieden" der Zukunft in die Lande um das westliche Mittelmeer verankern zu können, die Lande der Latinität, von denen den Barbaren die Kultur zugetragen worden war, die Welt der Staufer, aus der die Habsburger herkamen und der sie sich niemals ganz entrungen haben. Der alte Fürst mußte freilich noch miterleben, daß sich die "Sekte", das Jakobinertum, in dem umworbenen Frankreich der Gewalt bemächtigte und die Tochter seiner Kaiserin hinrichtete. Seine Ziele wirkten sich, als Josef II. den Staat führte, in den österreichischen Ländern selbst kaum minder schlimm aus. Aber man wurde deshalb nicht an ihm irre. Er hatte der österreichischen Politik sichtlich einen Inhalt gegeben, der, da sich einmal ein besonderes Österreichertum in einem eigenen Raum entfaltete, innersten Veranlagungen dieses Österreichertums entgegenkam und ihm Möglichkeiten des Auslebens eröffnete. Reichs- und [16] deutsche Politik, Politik des Kampfes um den Rhein, ließ sich in Wien fortan nur noch in Abstimmung auf die österreichische Politik betreiben. Der nur einfacher politischer Empfindungen fähige Franz I. lebte die Politik des Fürsten Kaunitz triebhaft weiter. Er ließ zunächst dessen Gehilfen und Nachfahren, darunter den begabten Thugut, sich verbrauchen. Inzwischen begann in Frankreich der Aufstieg Napoleons. Er nötigte die Österreicher zum Frieden von Campo Formio, ging dann aber nach Ägypten, statt auf dem Rastatter Kongreß zu erscheinen, wo die Entschädigung der durch den Verlust des linken Rheinufers an Frankreich geschädigten Fürsten vorgenommen werden sollte. Der Vater Metternich leitete den Kongreß, und wieder unterstützte ihn der Sohn. Im Frühjahr 1799 fing Erzherzog Karl den Krieg von neuem an. Napoleon kehrte rechtzeitig zurück und legte diesmal, als er die Österreicher abermals zwingen konnte, Frieden zu schließen, die Axt an die Wurzel, die der Habsburgische Familienbesitz am Oberrhein hatte, und zerstörte zugleich den Halt ganz und gar, den für die kaiserliche Würde im Reich die geistlichen Stifter noch darstellten. Von da ab bildete sich mit dem Grafen Stadion an der Spitze ein neuer Kreis um Franz. Stadion war gleich den Metternichs aus den Kurfürstentümern am Rhein, von Mainz her, nach Wien gekommen und lebte in Vorstellungen von der Verpflichtung Österreichs gegen das Reich. Er war zehn Jahre älter als Metternich, der durch die Wirksamkeit des neuen Kreises in den folgenden Jahren das Rad im Getriebe, der an der österreichischen Politik entscheidend Beteiligte, werden sollte. Vorerst wurde er, das Patenkind eines Mitgliedes der kursächsischen Familie, im Herbst 1801, als Graf Stadion Gesandter in Berlin wurde, als Gesandter nach Dresden geschickt, um sich dort als Gehilfe Stadions zu betätigen. Stadion bestimmte in Berlin Friedrich Gentz, nach Wien überzusiedeln. Unterwegs besuchte Gentz Metternich und führte auch Adam Müller und Josef Pilat bei ihm ein. 1803 rückte Stadion an den Hof Alexanders I. auf, und Metternich folgte ihm in Berlin. Als ihre Aufgabe sahen sie an, die drei Ostmächte, die sich über der Aufteilung Polens einander genähert hatten, angesichts der wachsenden Verfeindung Napoleons und Englands von neuem zueinander zu bringen, damit sie den Ausschlag gegen Napoleon geben konnten. 1805 lagen Napoleon und England wieder in offenem Kriege; Pitt drängte, daß die Ostmächte unter sich mit ihren Verhandlungen fertig würden. Friedrich Wilhelm III. aber sträubte sich. Die Entwicklung war indessen auch sonst nicht reif. Der Korse fühlte es und warf das Steuer seiner Politik mit einem raschen Entschlusse herum zu einem dritten Angriff auf Österreich. Während Nelson bei Trafalgar die französische Flotte vernichtete, eilte der Zar nach Berlin und spielte sich hier mit Metternich so gut ein, daß der Bruch Preußens mit Napoleon bald nur noch eine Frage von Wochen schien. In diesen Wochen aber wurden Österreich und Rußland geschlagen. Österreich bezahlte den Frieden von Preßburg in den Weihnachtstagen mit Tirol, Vorarlberg und der Zustimmung zu der Bildung der beiden süddeutschen König- [17] reiche und des Großherzogtums Baden. Im Monat darauf starb Pitt. Preußen gab sich in den Abmachungen von Schönbrunn Napoleon preis. Rußland blieb im Kriege, ohne noch ein Ziel vor Augen zu haben. Im Sommer billigte Napoleon die Bildung des Rheinbundes, auf die hin Kaiser Franz wiederum auf die kaiserliche Würde im Reich verzichtete. Im Herbst folgten die Schlachten von Jena und Napoleon konnte in Berlin und in Warschau einziehen. In Österreich übernahm Graf Stadion die Führung der politischen Geschäfte. Da beauftragte König Friedrich Wilhelm III. Stein mit dem Wiederaufbau des preußischen Staates. Napoleon machte fürs erste nur den Gegenzug, daß er bei Kaiser Franz die Ernennung Metternichs zum Gesandten in Paris betrieb und dadurch die Ablösung Stadions durch Metternich nun auch wieder beim Zaren verhinderte. Als er aber ein Jahr nach dem Tilsiter Frieden bei der Begegnung mit Alexander I. in Erfurt die Überzeugung gewann, daß der Zar die Verständigung mit ihm ernst meinte, stürzte er Stein. Vielleicht hatte der gescheite und geistvolle Metternich inzwischen Napoleon in Paris aus allzu großer Nähe gesehen und darüber das rechte Augenmaß verloren. Er reiste nach Wien und förderte dort die Neigung zum Losschlagen durch seine Nachrichten über die Unzulänglichkeit des französischen Rüstunggsstandes und über die Schwierigkeiten, die Napoleon in Spanien hatte. Aber immer war die Entwicklung noch nicht reif. Österreich siegte bei Aspern, jedoch nicht mehr bei Wagram. Kaiser Franz verlor im Frieden von Schönbrunn auch noch die Provinzen an der Küste. Da ihn die militärische Lage nicht dazu zwang, den Verlust hinzunehmen, gab wohl den Ausschlag, daß er sich auf den Friedensschluß hin von Stadion trennen und an seine Stelle Metternich setzen konnte, der ihm gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen in jungen Jahren 1790 zu Frankfurt recht gewesen war und es vortrefflich verstand, mit ihm fertig zu werden. Beinahe vierzig Jahre lang hatte Metternich das hohe Amt inne, das er 1809 erhielt, und davon stand er rund fünfundzwanzig Jahre hindurch Franz I. zur Seite.
Die Männer, die sich in Wien und Berlin verschworen hatten, dem Korsen den Untergang zu bereiten, hatten mit der Entlassung Steins und Stadions die Ansatzmöglichkeiten verloren. Die Königin Luise starb im März 1810. Aber Franzens eigene Frau, die junge Maria Ludowika, und die in der Zarenfamilie gebietende Zarin-Mutter Maria Feodorowna, eine württembergische Prinzessin, sowie ihre Lieblingstochter Katharina, zugleich die Lieblingsschwester Alexanders, hielten nach wie vor fest gegen den Kaiser zusammen. Sie hatten in dem Paladin von Ungarn, dem Erzherzog Joseph in Budapest, dem frühzeitig Witwer gewordenen Schwager der Zarin-Mutter, einen ergebenen Freund. Metternich spielte dem Kaiser einen Beweis dafür in die Hand, daß er, der sonst den Frauen immer verfiel, mit diesen Frauen nichts gemein hatte. Mit dem Edikt von Trianon übernahm sich Napoleon im Wirtschaftskrieg mit England. Im Jahre darauf brach er wieder mit Alexander. Die Getreuen des deutschen Volkes, die in Preußen trotz allem ausharrten, um den Gedanken der Befreiung vom Joch des Korsen wachzuhalten, mahnten in Wien und kamen wohl auch selbst dorthin, um darzutun, daß, wenn Napoleon mit seinem Heere erst in die unermeßliche Weite Rußlands eingetaucht sei, die letzte Gelegenheit dafür vorüber wäre, daß die Deutschen ihr Geschick selber wahrnähmen; es wäre entschieden, gleichviel wie der russische Feldzug verliefe. Metternich wappnete sich gegen die Ungeduld um sich her mit einem dauernd wachsenden Glauben an seine bessere Überschau über die gesamte Lage und an seine Menschenkenntnis. Es mußte gewagt werden, daß sich Alexander erst unwiderruflich auf die Gegnerschaft zu Napoleon festlegte. Unter keinen Umständen durfte Napoleon noch einmal, wie 1805, der Vorwand zu einem Ablenkungsstoß gegen Österreich oder Preußen oder gegen beide geboten werden. Ihre Macht wog nicht mehr schwer genug. Metternich stritt deshalb die Gefahr nicht ab, die die Preußen beunruhigte. Auch ihn schreckte die Vorstellung, daß Mitteleuropa die Zwangsherrschaft Napoleons mit der des Zaren vertauschen oder durch England ausgebeutet werden könnte. Aber er redete sich ein, die Entscheidung werde zuletzt doch nicht von irgendwelcher Verlagerung der den Staaten innewohnenden Kräfte abhängen. Sie werde darüber fallen, von wem Napoleon gleichsam Mann gegen Mann bezwungen werde.
Als Napoleons persönlichen Gegner empfand er unter den europäischen Staatsmännern nur sich. Hierfür war er gesandt. Das war die Stelle in der Weltgeschichte, die angezeichnet war, um durch ihn ausgefüllt zu werden. Napoleon mußte um die Herrschaft, die er sich als Emporkömmling erstritten hatte, Tag und Nacht in Unruhe sein und bemüht bleiben; jedes Nachlassen seiner Spannkraft und seines Einsatzes drohte ihn zu verderben. Metternich stand ihm nicht um seiner selbst willen gegenüber, sondern für Österreich und für Kaiser Franz, wohl auch für das deutsche Volk. Schon das Bewußtsein um das Überzeitliche alles Volks- [19] tums und der Monarchie mäßigte und festigte ihn. Er buchte daraufhin als untrügliches Zeichen der Überlegenheit, die er über Napoleon gleich beim Beginn des gewaltigen Endkampfes erlangt habe, daß sich dieser von ihm zu einem die Bewegungsfreiheit der österreichischen Truppen während des russischen Krieges wahrenden Vertrage überreden ließ. Da der Korse in Schönbrunn den raumpolitischen Fehler gemacht hatte, nach dem Weichselbogen, den er nachher nicht halten konnte, noch die Küstenlandschaften an der Nordsee und am Adriatischen Meer an sich zu ziehen, Böhmen aber dem Habsburger zu lassen und ihn mit Schlesien zu locken, so schien Metternich die Sicherung der Bewegungsfreiheit für das Heer von der größten Bedeutung. Er würdigte die von Preußen ausgehende deutsche Erhebung als außerordentliche Verbesserung der an sich ungünstigen politischen Aussichten Preußens und Österreichs. Dennoch sollte, ehe er sich entschied, klar werden, daß sie und die russische Heeresmacht sich vor der Elbe festliefen. In der Erinnerung an die eigene politische Niederlage von 1805 und die nicht berücksichtigten Warnungen des Erzherzogs Karl vor der österreichischen Erhebung von 1809 legte er die eigenen Maßnahmen alle darauf an, daß Österreich nicht losschlug, bis er politisch den Augenblick für gekommen erachtete, und daß er sich umgekehrt diplomatisch nicht zum Bruch drängen ließ, bis die Rüstungen vollendet waren. Im August 1813 war es so weit. Am 18. Oktober wurde mit der Anlage von Böhmen her die Schlacht bei Leipzig geschlagen. Metternich hatte inzwischen den Eindruck, den die Wendung des Schwiegervaters Napoleons gegen Napoleon auf die süddeutschen Fürsten hervorgerufen hatte, dazu benutzt, auch [20] sie hinter sich herzuziehen, so daß der Verlust der Elbe für den Korsen zugleich auch den Verlust des Mains bedeutete und er über den Rhein zurückgehen mußte. Das große Rennen zwischen Metternich und den beiden Großmächten England und Rußland nahm seinen Anfang. Es währte von den Frankfurter Besprechungen bis zum zweiten Pariser Vertrage, auf den Monat zwei Jahre hindurch. Fast bis zuletzt ging es Metternich darum, England und Rußland auf bestimmte Friedensbedingungen im voraus zu verpflichten. Das Geschick, in das Wilson hundert Jahre später blindlings hineinrannte, hing auch über ihm. Metternich aber sah es. Nur so lange, als der Gegner noch im Felde, Fürst Schwarzenberg Oberbefehlshaber war und die Preußen marschierten, blieb er im Spiel mit Alexander und den Engländern. Die Österreicher und Preußen verstanden sich untereinander schlecht und hätten doch beide, da ihre militärischen Leistungen als eins gewertet wurden, in der gleichen Weise seinem Zügel nachgeben sollen, damit aus den militärischen Leistungen der politische Ertrag herausgeholt werden konnte. Aber nur Hardenberg, mit dem er seit 1805 Fühlung hatte, war einsichtig. Den süddeutschen Fürsten hatte Metternich den Bestand ihrer Staaten und der ihnen von Napoleon geschaffenen Stellung verbürgt. Hatte er damit bezweckt und erreicht, daß sich die Wirkung der Leipziger Schlacht auf der Stelle über ganz Deutschland hin ausbreitete, so vertraten sie ihm hinterher mit um so mehr Selbstbewußtsein nach ihrem Gutdünken den Weg. Er wollte Napoleon und, wenn er sich versagte, wenigstens die Franzosen vor dem Eintritt der Kampfunfähigkeit und der völligen Erschöpfung zum Einlenken bereden, um auch Frankreich als Gegengewicht gegen Rußland und England zur Verfügung zu behalten. Damit kam er ebenfalls nicht zum Ziel. Rußland und England behaupteten sich im Vorsprung gegen ihn. Schwerlich wird sich für einen andern deutschen Staatsmann nachweisen lassen, daß er die räumliche Einheit von Weichsel, Rhein und Donau, ihr ständiges Aufeinanderbezogensein, Mitteleuropa in seinem ganzen Aufbau und Umfange, so sicher erfühlt und so deutlich gesehen hat, wie es Metternich in den Jahren der Befreiungskriege tat. Beinahe täglich ging er dagegen an, daß dem Zaren zu den dynastischen Beziehungen, die er zu den nordostdeutschen Höfen und vor allem zum preußischen Hofe, aber auch zu einer großen Anzahl mittel- und vorderdeutscher Höfe pflog, noch die raumpolitische Vorherrschaft in Mitteleuropa durch die Überlassung des Weichselbogens an Rußland und die Ausrundung Preußens bis zur mittleren Elbe hin, die Aufsaugung Sachsens durch Preußen, zugestanden wurde. Durch eine russisch-preußische Blockbildung wäre der ganze Weichselraum aus seinen natürlichen Zusammenhängen mit der Donau und dem Rhein herausgenommen worden. Metternich verhinderte aber nur die Vernichtung Sachsens und das völlige Abgleiten Preußens in die russische Abhängigkeit. Der Weichselbogen kam doch an den Zaren. Inzwischen verfügten die Engländer über den rheinischen [21] Raum fast ganz nach ihrer Willkür. Sie faßten das Rheinmündungsgebiet, das Land an der Schelde und Maas aufwärts bis in die Ardennen zum Königreich der Vereinigten Niederlande zusammen, das sich auf England hin ordnen sollte. Das Land zwischen Maas und Mosel, das Großherzogtum Luxemburg, wurde dem neuen Königreich in Personalunion verbunden, wie Hannover England schon in Personalunion verbunden war. Das ganze Gelände vor dem Hunsrück dies- und jenseits der Saar, von den Argonnen im Westen bis zum Oberrhein im Osten, verblieb Frankreich. So sehr wie sich Metternich in die Überlegung hineingelebt hatte, daß Österreich und Preußen Frankreich nicht zu wehe tun dürften, fiel es nicht allzu schwer, ihm das Beharren auf den Ansprüchen, die das Reich und Österreich am Rhein hatten, auszureden. Auf weite Sicht hätte er immerhin gern eine engere wirtschaftliche Gemeinschaft der Schweiz mit dem Deutschen Bunde sich begründen sehen. Auch darauf ließ man ihm keine Hoffnung. Alles, was er zuletzt vom rheinischen Raum in Händen hatte, war die Wiederüberweisung der Lombardei unter Hinzufügung Venetiens an Österreich und die Einschaltung Preußens am Niederrhein in der Flanke der Vereinigten Niederlande. Die Maas wurde ebenso in das Einflußbereich der Westmächte hinübergebogen, wie der Weichselbogen unter den Einfluß Rußlands kam. Napoleon war daran gegangen, den im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zerfallenen rheinischen Raum politisch staatlich neu zu organisieren. Da die Engländer nun über ihn bestimmten, liefen die Abmachungen von Paris und Wien auf das Gegenteil hinaus. Zwar kam es endlich, als Napoleon schon wieder auf niederländischem Boden stand, zur Errichtung des Deutschen Bundes. Aber die Absichten, die unter dem heftigsten Widerstande Steins und seiner Mitkämpfer, ebenso aber unter stärkster Mitbetätigung der süddeutschen Höfe und ihrer Beamtenschaft in dem Bunde verwirklicht wurden, bedeuteten den Rückfall in die Tage des Westfälischen Friedens, einen Rückgriff auf den Rheinischen Bund der letzten Jahre Mazarins, die Organisation eines dritten Deutschlands neben und je nachdem gegen Österreich und Preußen. Der Bund sollte nur dem europäischen Gleichgewicht dienen und dadurch friedenerhaltend wirken. Metternich hatte vorgeschwebt, den den Führergedanken keimhaft in sich bergenden Souveränitätsbegriff des Reichsrechts mit der Forderung zusammenzubringen, daß in allen Staaten des Bundes eine landständische Verfassung statthaben müsse, um dann beide Kräfte miteinander als Damm wider den westlichen Konstitutionalismus zu gebrauchen. Eine Weile lang beschäftigte ihn auch der Gedanke an einen ähnlichen Bund für die Apenninische Halbinsel, um dem in den Jahren Napoleons wacher gewordenen italienischen Nationalgefühl beizeiten dieselbe Genugtuung wie dem deutschen zu verschaffen. Als sich herausstellte, daß an all das nicht zu denken war, ließ er in die Satzung des Bundes noch einrücken, daß sich gleich die erste Bundesversammlung mit der wirtschaftspolitischen Einigung der Mitglieder des Bundes befassen sollte. Es deuchte ihm, daß der kommende industrielle Aufschwung wieder [22] eine Dynamik in dem Raum um den Rhein her in Bewegung setzen würde und die Wirtschaft damit zum Triebrad der inneren Ausgestaltung des Bundes werden könnte. Daraus wurde ebenfalls nichts. Metternich hat dann noch einmal auf den Wiener Konferenzen des Jahres 1820 gemahnt, daß die im Jahre vorher zu Karlsbad gegen die revolutionären Vorkämpfer der deutschen Einheit beschlossenen Unterdrückungsmaßnahmen nur ihren Zweck erreichen würden, wenn der Bund selbst von den Einzelstaaten her pfleglicher behandelt würde. Da aber legte er selber schon keinen rechten Nachdruck mehr in seine Bemühungen. Das künftige Verhältnis des Westens und der Mitte zueinander und innerhalb der Mitte das Verhältnis des deutschen Volksbodens zu der den deutschen Einzelstaaten belassenen Gebietsherrschaft war auf dem Wiener Kongreß ausgewogen worden, und dabei hatte er nicht mehr erreichen können, als daß, nachdem er selbst schon die deutschen Mittelstaate gesichert hatte, auch Österreich und Preußen wiederhergestellt und ihre großmächtliche Geltung von neuem gefestigt wurde. Das Reich und Mitteleuropa erstanden dabei nicht wieder. Die außerordentliche Anstrengung wie die Enttäuschung übte eine psychologische Rückwirkung auf Metternich aus, die ihn in seiner Art und Haltung bis an sein Lebensende bestimmte. Er behielt zwar im Innersten stets ein Gefühl dafür, daß Diplomatie bloß eine Eigenschaft, Staatsmannschaft der Beruf ist, und daß er deshalb dem Leben nicht halte, was das Leben ihm bei der Größe seiner natürlichen Begabung versprochen hatte, wenn er alles Heil von der Diplomatie erwartete. Tatsächlich aber verdrängte die große Kunst der Mutter, ihre überlegene Gewandtheit im Verkehr mit den Menschen, fortan in ihm, was ihn zur Tat rief. Aller Diplomatie ist die Neigung eigen, daß sie sich aus der Sorge, es könnte alles in der Schwebe bleiben, ernsten Widerständen gegenüber mit dem vorher errechneten Mindestnutzen bescheidet. Diese Neigung gewann über Metternich derart die Herrschaft, daß er sich von den Hemmungen um ihn her auf das Gebiet der bloßen Verhandlungskunst abschieben ließ. Im gleichen Maße aber verspürte er das Bedürfnis, sich durch große Worte über sich selbst zu täuschen. Der Zar Alexander spielte sich in seiner Gegenwart während des Wiener Kongresses gern als Militär auf, um Metternich damit zu ärgern, daß er ihm zu erkennen gab, er hielte ihn für keinen Soldaten. Metternich behauptete darauf mündlich und brieflich von sich leidenschaftlich das Gegenteil. "Du weißt noch nicht, daß ich eine große Schwäche für Kanonenschüsse habe; sie rufen mich, anstatt mich wegzuschrecken. Der Wille des Menschen ist eine Macht, die sich gebieterisch auferlegt, und ich weiß zu wollen. Ich kenne nicht viele, denen das gegeben ist." Zu Beginn der Befreiungskriege stand Metternich, wenn seine Erzählung Glauben verdient, so sehr im Banne von Gentz, Adam Müller und Pilat, aber auch der Dichter und Künstler, die sich zur Zeit Stadions in Wien zusammengefunden hatten, Friedrich Schlegels etwa oder Josephs von Eichendorff, daß er drauf und dran war, sich die Losung "Vorwärts" als Geleitwort seines Lebens [23] zu wählen. Er entschied sich dann für "Kraft im Recht". Deutsches konservatives Denken arbeitete tatsächlich in ihm. Es fehlte aber am rechten Nährboden für seine Entwicklung, weil Metternich von Natur ohne tiefere Teilnahme für alle innere Politik war und sich von 1815 an, vielleicht ohne sich dessen selber alsbald gewiß zu werden, einer rein europäischen Problematik jenseits alles volkhaften und reichsmäßigen Denkens zuwandte. Aus dem Kreise der Männer, die Stadion nach Wien gezogen hatte, wurde nur Friedrich Gentz sein Vertrauter, dessen politisches Denken die entscheidende Einwirkung frühzeitig von dem Engländer Burke erfahren hatte und der immer schon ein Verfechter des Gleichgewichts war. Metternichs Ehrgeiz war, der Gleichgewichtstheorie, die für die Engländer nur ein Mittel bedeutete, auf das Festland einen hemmenden Einfluß auszuüben, eine positive Wendung zu geben. Es fällt schwer, ein Urteil darüber abzugeben, was daran bemerkenswerter ist – über allen Wandel der Zeit und ihrer Möglichkeiten wie Anreize hinweg die geistig-politische Berührung Metternichs mit Johann Philipp von Schönborn in der Art, wie beide die Gleichgewichtsidee anfaßten, die Linie der rheinischen Überlieferung, die darin sichtbar wird, oder Metternichs Überschattung durch Kaunitz, sein Überwältigtwerden vom Österreichertum her, nachdem er einmal die hochgesteckten mitteleuropäischen Ziele der Jahre 1814/15 nicht zu erreichen vermocht hatte. Wie Kaunitz hielt er fortan Ausschau nach einer Zeitströmung, um aus ihr mit kluger Berechnung ein europäisches Bedürfnis herzuleiten und die Politik aller Großmächte auf seine Befriedigung abzustellen. Geschichtlich war aus den Bedingungen ihrer Entstehung der Gegensatz zwischen den drei Ost- und den beiden Westmächten und nachmals die Spannung zwischen England und Frankreich gegeben. Es erschien Metternich als seine besondere Aufgabe für die Zukunft, den Gegensatz wie die Spannung zu überwinden, die fünf Mächte zu einer "Pentarchie" zu verflechten und einen Gemeinschaftsgeist in ihnen zu wecken, so daß sie bei gewissen Anlässen zu einheitlichem Einsatz ihres Ansehens fähig würden. In den ersten Jahren beirrte den Staatskanzler hierbei noch die von ihm aus den Jahren der Befreiungskriege in die nachfolgende Zeit mitherübergenommene Furcht, ob nicht der Zar unberechenbar sei und in Ostmitteleuropa zum Verhängnis der beiden deutschen Mächte eigene Wege gehen würde. Aus ihr heraus übersteigerte er im September 1815 das Bündnis der drei Ostmächte zur Heiligen Allianz, obwohl die damit gewählte Form seiner Art nicht gemäß war. Als der Bruder Alexanders, sein mutmaßlicher Nachfolger Nikolaus, die preußische Prinzessin Charlotte heiratete, benutzte Metternich die Ermordung Kotzebues, um in Teplitz sich mit Friedrich Wilhelm zu treffen und Preußen innerhalb des Deutschen Bundes um so enger mit Österreich zu verbinden. Auch der Eifer, den Metternich auf den Kongressen von Aachen bis Verona an den Tag legte, läßt sich nur erklären, wenn dabei immer der Zar neben Metternich gesehen wird. Er ließ erst von ihm ab, als er sich nicht mehr darüber täuschen konnte, daß sich England gegen [24] ihn stellte. 1825 entlastete ihn dann der Tod Alexanders. Inzwischen hatte sich in ihm seine einstige Meinung, dazu ausersehen zu sein, daß er Napoleon ganz persönlich besiege, zu der Vorstellung fortgebildet, daß er eine Art Nachfolger Napoleons geworden sei. Er warf ihm nur noch vor, daß er sich von seinem selbstsüchtigen Machtverlangen habe leiten lassen und deshalb immer nur nach taktischen Überlegungen, nicht aber nach seinen Grundsätzen gehandelt habe. Napoleon hatte die Revolution gleich bei der Übernahme des Konsulats gegenüber allen demagogischen und ideologischen Anläufen für beendigt erklärt, die die Revolution zu einem Dauerzustand machen zu können hofften; und um mit dieser Erklärung zum Ziel zu kommen, hatte er, wie es der gesellschaftlichen Gliederung der französischen Bevölkerung entsprach, das Bürgertum in seinen verschiedenen Schichten pfleglich behandelt und seine wirtschaftlichen Sorgen und Hoffnungen in staatliche Obhut übernommen. Die Fahne dieses sozialen Konservativismus griff Metternich auf und verhieß allen europäischen Regierungen, daß es ihnen wohl ergehen würde, wenn sie sich zu ihr bekennen würden. Seit er in Mainz der Schüler Nikolaus Vogts gewesen war, leuchtete es ihm leicht ein, daß es eine Staatengesellschaft geben müsse. So machte er denn den Beruf seines Lebensabends daraus, daß er ihr Künder wurde. Er sprach den Bürger in allen Staaten Europas darauf an, daß die Ruhe nicht seine erste Pflicht, sondern seine vornehmste, ihm gemäßeste Neigung wäre, weil sich nur so der dem Bürgertum insgesamt seinen Auftrieb gebende wirtschaftliche Fortschritt erreichen ließ. Seiner Veranlagung nach hätte Metternich vielleicht wie Kaunitz den Ton lieber auf die Kultur gelegt. Niederhalten wollte er nur die Intellektuellen, die durch ihr Dilettantentum in den Fragen des politischen und religiösen Lebens im Sinne des Erasmus von Rotterdam die "ruhige Bildung" störten. Goethes Bewunderung für sein politisches Streben erwiderte er dagegen gleich in den Jahren nach 1815 mit dem lebhaften Wunsche, die zeitgenössische Bildung, soweit sie in dem großen Dichter und Menschen ihren reinsten und zugleich erhabensten Ausdruck gefunden hatte, mit allen für ihn verfügbaren staatlichen Mitteln zu fördern und zu verbreiten. Er blickte tief genug in die Zusammenhänge hinein, um nicht zu verkennen, daß diese Bildung vom Bürgertum in Übereinstimmung mit einem großen Teil des Adels in seine ganze Lebensgestaltung aufgenommen wurde und also einen unabtrennbaren Bestandteil der Voraussetzungen darstellte, auf die er seine Hoffnungen für eine Abdämmung der wiederkehrenden Woge der Revolution gründete. Zugleich aber erkannte er, daß diese Voraussetzungen in ihrem Kern durch die wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wurden. Wenn er das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts für seine Politik in Anspruch nehmen wollte, durfte der Bürger nicht mehr bei seiner "Aufklärung", er mußte bei seiner Wirtschaft, von der sozialen Seite her angefaßt werden. Die rheinische Farbe schlug in Metternichs österreichisch gewordenem Denken in dem Augenblick wieder durch, als er sich hierfür entschied. Wie die rheinische Entwicklung seit Karl V. nun einmal gelaufen war, rückte der [25] Sieger über Napoleon in dem Menschenalter nachher, so paradox die Beobachtung auch anmutet, dem Franzosen Guizot und dem Engländer Peel nahe. Mazzini, Marx und Palmerston marschierten als Spieler gegen ihn auf. Es gewann nachträglich eine symbolhafte Bedeutung, daß er im Winter 1814/15, obgleich nur für Wochen, erwogen und als denkbar angesehen hatte, sich mit Frankreich und England gegen Rußland und Preußen zu wenden.
In den Jahren nach 1815 kennzeichnete es Metternich, daß er alles vorausgesehen haben wollte und daraufhin unablässig Dogmen kündete und weissagte. Doch barg seine Selbstgefälligkeit immer viel Selbstberuhigung und Selbstbetäubung in sich. Er liebte zu sagen, daß er zwischen zwei Zeitaltern zur Wirkung gekommen sei, von denen das vergangene in sich gefestigt gewesen wäre und das künftige wieder gefestigt sein würde. Er verglich sich mit einer Schranke, die dazu bestellt sei, daß die Anarchie nicht überhandnehme und das kommende Jahrhundert wieder seine Ordnung haben werde. Der Unterton, den solche Äußerungen hatten, darf nicht überhört werden. Die Donaumonarchie vermochte so wenig die Richtung auf ein durch die Wirtschaft bürgerlich bestimmtes Europa zu halten, die Metternich ihr wies, wie sie sich von Kaunitz in die Richtung auf ein durch seine Zivilisation bürgerlich bestimmtes Europa hatte weisen lassen. Es gab dort für Österreich keine Möglichkeiten der Führung. Das erstemal wurde dadurch nur der Aufbruch der Ideen von 1789, der Ausbruch der Französischen Revolution gefördert und das andere Mal der Weg zur Revolution von 1848 und vielleicht in seinem letzten Ziele zum Weltkrieg und zum Untergange des Österreichs der Habsburger geebnet. Der Krieg, zu dem sich Rußland und England im östlichen Mittelmeer gegen den Türken bald nach dem Übergang der Regierung Rußlands an Nikolaus I. begegneten, drohte Metternich plötzlich um die Früchte all seiner Rücksichtnahme auf Alexander I. zu betrügen. Das Verhältnis zu Nikolaus I. besserte sich. Dafür erhielt aber das Gesamtwert des Wiener Kongresses durch den Abfall Belgiens von den Oraniern und seine eindeutige Umordnung in den Westen hinüber einen Stoß ins Herz. Metternich erhob am Petersburger und Berliner Hofe zwar treffende Einwände, bestand aber nicht auf einem Gegenschlage. In der belgischen Verfassung wurde die Staatlichkeit des Westens lebendig, um deren Formung die Nationalversammlung 1789 bis 1791 noch vergebens gerungen hatte; hier nahm sie die ihr eigentümliche Gestalt an, und ganz Mitteleuropa erkannte in ihr das allgemein gültige Vorbild für alle liberalen und konstitutionellen Bestrebungen, so daß sich die Revolution des Jahres 1848 an ihr entzündete. Mit dem 1. Januar 1834 trat der Deutsche Zollverein ins Leben. Über ihn bahnte sich Preußen im folgenden Menschenalter den Weg zur Führung der deutschen Nation, weil es durch seine westlichen Provinzen im Unterschiede von Österreich immerhin zu einer nachhaltigen und erheblichen, wenn auch nicht bis zum guten Ende erfolgreichen Anstrengung in der Richtung auf die Verbürgerlichung seines Daseins fähig war. Metternich versuchte Österreich in den Zollverein einzugliedern; aber er spürte [26] wohl gleich anfangs, daß er damit nicht durchdringen würde. Im Bereich des von ihm selbst geleiteten Staates hob sich das Bürgertum nur so weit, daß der westliche Nationalstaatsgedanke in den slawischen Bevölkerungen Wurzel schlug und so der Staat in die Gefahr kam, von innen her gesprengt zu werden, statt daß er der moralischen Führung Europas teilhaftig wurde. Unaufhaltsam rollte die Entwicklung von der belgischen Revolution des Septembers 1830 bis zum Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung und des Allslawischen Kongresses in Prag im Mai 1848 ab. Metternich wurde immer mehr darauf abgedrängt, sich in bloßen Denkschriften und Briefen auszugeben; die Hellsicht, die von Fall zu Fall bei ihrer Niederschrift über ihn kam, bestärkte ihn mit zunehmendem Alter in der Scheu des Diplomaten vor der wagenden Tat. Es zeigte sich, wie sehr er im Wesen unkämpferisch war. Wenn ihn schon die Entstehung Belgiens noch einmal ähnlich der Krins des Jahres 1813 zum Handeln hätte antreiben müssen, mußte ihn vollends die beginnende Auflösung Österreichs durch den Nationalitätenhader aufrütteln. Daß er auch hier versagte, hat ihm die österreichische Geschichtsschreibung der letzten Jahre mit besonderer Bitterkeit vorgeworfen. Als die Pariser Februarrevolution über den ganzen mitteleuropäischen Raum hinweggriff, verließ der beinahe Fünfundsiebzigjährige in würdiger Haltung sein Amt in Österreich und suchte eine erste Zuflucht in Brüssel. Dann zog er sich auf das ihm nach den Befreiungskriegen als Ehrengabe zuteil gewordene Schloß Johannisberg im Rheingau zurück. Aber auch in Wien nahm er nach einiger Zeit von neuem Aufenthalt. Er war in dem Maße, als sich die erotischen Antriebe in ihm erschöpften, wieder religiöser und sogar kirchlich geworden. Seine Aufmerksamkeit für alle politischen Vorgänge blieb bis zum Schlusse unverändert lebendig. Der Tod rief ihn am 11. Juni 1859 ab, in demselben Jahre, in dem der Niederbruch Österreichs mit der Einigung Frankreichs und der italienischen Nationalitätsbewegung eingeleitet wurde, und nur eine Woche, nachdem Österreich durch die Niederlage bei Magenta gleich auf den ersten Anhieb die Lombardei verloren hatte. Die Jugend hat Metternich immer nur gerichtet nach dem, was ihm nicht gelang. Seine menschliche Art und die Schwächen seiner Lebensführung bestärkten sie in ihrem abweisenden Gefühl ihm gegenüber. Es war aber ein unvergängliches Verdienst, daß er 1813, in der entscheidenden Stunde, mit wahrer politischer Einsicht die Führung der Dinge an sich riß und in der großen Linie meisterte. Volk und Reich hatten in den Jahrzehnten vorher am Abgrund gestanden; der Weg in die Zukunft öffnete sich von neuem vor ihnen. Kein preußischer Staatsmann, auch nicht der Freiherr vom Stein, war damals nach menschlichem Ermessen zu der gleichen Leistung imstande. Ebenso ernst muß bedacht werden, daß überall dort, wo er nachher versagte, deutsche Problematik ihn hemmte und fehlleitete, die alle die Geschlechter seither bis zur Stunde ohne Unterlaß bewegt hat. Sowohl Bismarck als auch Adolf Hitler haben alsbald nach der Übernahme der Macht den sozialen Aufgaben dieselbe Vordringlichkeit zugesprochen wie Metternich. [27] Bismarck setzte alles daran, Reichsverfassung und Sozialpolitik ineinander zu verklammern. Hitler geht es mehr um die völkischen Grundkräfte des deutschen Staates, um den deutschen Bauern und Arbeiter. Das Problem des Bürgertums harrt trotz des festeren Zugriffs heute noch seiner endgültigen Bewältigung. Immer mit der gleichen Gewalt wuchtet das soziale Problem, das das Problem der Wirtschaft in sich schließt, über das staatliche Leben des deutschen Volkes, seine innere und äußere Politik, hin.
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