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[Bd. 5 S. 172]
Abraham Gottlob Werner und Leopold von Buch, 1749-1817 bzw. 1774-1853, von Hans-Joachim Flechtner

Abraham Gottlob Werner.
[176a]      Abraham Gottlob Werner.
Gemälde von Franz Gerhard von Kügelgen, 1815.

[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]
In der Frühzeit ihrer geschichtlichen Entwicklung ist jede Wissenschaft noch erfüllt von dem ungetrübten Glauben an die Kraft des menschlichen Geistes, im ersten Ansturm die Fragen und Probleme, die die Welt bietet, lösen zu können. Mit jugendlichem Mute baut sich der Geist das Bild seiner Welt auf. Oft genügt ein einziges Erlebnis, um den Funken, die Idee, zu entzünden, und mit kühnen Analogieschlüssen und Verallgemeinerungen entwickelt sich auf ihr die Theorie, die das Verschiedene der Erscheinungen zum System und damit zur begreiflichen und verständlichen Einheit zusammenfügt. Dichtung, Mythos, Wissenschaft und Religion sind in solchen ganz frühen Zeiten noch eine kaum geschiedene Einheit, und das feurige Pathos des Erkennenwollens erfüllt den Geist des Forschers, der die ganze Welt mit allen ihren Fragen umspannen und durchdringen will. Dieses Pathos, dieser Glaube an die unwiderstehliche Macht des menschlichen Erkenntnisdranges, dem Hegel so wundervoll Ausdruck verlieh, als er sagte, daß das Universum keine Kraft habe, die dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte, sie sind bestimmend auch für die folgenden Zeiten der Entwicklung, da sich die einzelnen Wissenschaften aus jenem noch ungeformten Ganzen der Forschung ausgegliedert haben, da sich deutlich Gebiete besonderer Fragestellungen abgesondert, besondere Gegenstandsgruppen herausgebildet haben. Das Pathos des Erkennens führt zur Theorie, die das Tiefste erklären will und erklären zu können glaubt, und die Grundlage solcher Theorie bleibt für lange Zeit das persönliche Erlebnis des Forschers, bleiben zufällige oder doch meist planlos angestellte Beobachtungen. Bis jener entscheidende Wendepunkt kommt, an dem dieses herrliche Pathos, jener unüberwindliche Glaube gebrochen wird. Jener Augenblick, in dem der Geist sich bescheiden lernen muß, in dem er an die Stelle der Spekulation und der so versuchten Wesenserklärung die streng systematische Beobachtung und das Experiment setzt. So wurde die Physik geboren, als man nicht mehr über das Wesen der Kraft oder über das Wesen und die Möglichkeit der Bewegung spekulative Theorien aufstellte, sondern fragte: wie bewegen sich Körper unter dem Einfluß von Kräften, seien diese Kräfte, was sie wollen, sei die Bewegung selbst begreiflich oder nicht.

Das "Wie?" trat in den Vordergrund – und um diese Frage nach dem "Wie?" beantworten zu können, mußte der Forscher beobachten, mußte er experimentieren, Tatsachen sammeln und mühevoll immer wieder Tatsachen [173] zusammenstellen. Erst auf diesen Tatsachen konnte sich dann eine wirklich wissenschaftliche, da nachprüfbare Theorie der Erscheinungen gründen.

Die Geologie hat, wie jede Naturwissenschaft, diesen Entwicklungsweg auch durchlaufen. Mit der Kenntnis der Erde, mit der Ausbreitung des geographischen Wissens drängte sich eine Fülle von Fragen auf: die Verteilung von Land und Meer auf der Erde, die gewaltigen Gebirge und die tiefen, oft senkrecht eingeschnittenen Flußtäler, die Wüsten und Steppen – das alles waren Erscheinungen, die nicht mehr einfach als daseiend hingenommen, sondern erfragt wurden. Die Flüsse führten Steine und Geröll mit sich, lagerten sie im Meer ab, Niederschläge und Stürme nagten an den Gebirgen, veränderten ihr Aussehen, an den Küsten brach die Kraft des Wassers Land aus den steilen Ufern. Inseln tauchten plötzlich auf, andere verschwanden, Vulkane überschütteten Länder und Städte mit ihrem feurigen Regen: Wo lagen die Ursachen für diese Vorgänge, wie veränderte sich das Bild der Erde unter ihren Einflüssen? Man fand mitten im Festlande in Gebirgsschichten die Versteinerungen oder Abdrücke von Meerestieren – war an dieser Stelle früher Meer gewesen? War die Verteilung von Land und Meer im Laufe der Erdentwicklung nicht immer die heutige? Hinzu kam die Fülle von Mineralien und Gesteinsarten, die sich schon dem flüchtigen Blick als verschieden erwiesen, und je tiefer der forschende Geist eindrang, desto zahlreicher wurden die Fragen, die sich öffneten. Theorien wurden entworfen, Systeme erbaut, die alle diese Fragen klären sollten – aber auch für die Geologie kam der Augenblick, da das Pathos ihrer Erkenntnis zerbrach, da die Einzelforschung, die systematische, entsagende Untersuchung der Einzelheiten selbst zur beherrschenden Forderung wurde; der Augenblick, in dem die Geologie als Naturwissenschaft eigentlich erst geboren wurde. Diesen geschichtlichen Augenblick in der Geologie aber bezeichnet die Gestalt des deutschen Forschers Abraham Gottlob Werner.

Es ist das Schicksal solcher Menschen, die in Zeiten großer Wenden leben, daß sie in sich die beiden Welten, die sich zu scheiden beginnen, vereinigen und doch selten zu einer wirklichen Einheit zwingen können. Cusanus ist eine solche Erscheinung in der Geschichte der Philosophie und Naturphilosophie, auf dem Gebiete der Geologie trägt Abraham Gottlob Werner die Zeichen solcher inneren Zwiespältigkeit. Das Neue, Fruchtbare und Vorwärtsweisende drängte in ihm, in seinen Arbeiten und Anschauungen mächtig zum Licht, und doch war er noch verhaftet an die Theoriengläubigkeit jener Zeit, die zu versinken begann. So ist, bei aller Anerkennung, die die Geschichte seiner großartigen wissenschaftlichen Leistung bezeugt, sein Lebenswerk uneinheitlich. Werner ist der Begründer der Geognosie, ist der Schöpfer erster systematischer Untersuchungen der Mineralien, und er ist doch zugleich der Führer jener Theorie der Entstehung der Gebirge und Festländer, die unter dem Schlagwort "Neptunismus" jahrzehntelang ein Kampfruf wurde, bis sie endlich den Tatsachen sich beugen mußte.

[174] Es ist gewiß kein Zufall, daß das Systematische in Werners Arbeit, daß die Erkenntnis von der Wichtigkeit und Notwendigkeit genauer, systematischer Kleinarbeit, in enger Verbindung mit der Praxis entstand. Praxis der Geologie aber bedeutet Bergbau, und einer alten Bergbaufamilie entstammt Werner. Schon dreihundert Jahre war die Familie in Sachsen im Bergbau tätig, und Werners Vater war Oberaufseher eines Berg- und Hüttenwerkes des Grafen Solms. In Wehrau, in der Oberlausitz, ist Abraham Gottlob Werner am 25. September 1749 geboren. Er gehört zu den Menschen, deren Lebensweg geradlinig verläuft. Früh schon beginnt sich bei ihnen das Interesse für die Fragen ihres künftigen Berufes zu regen, oft finden sie bei Verwandten Unterstützung dafür: Werner wird durch seinen Vater an die Wunder und Geheimnisse der Natur herangeführt, und die ersten Erlebnisse, die erste Fühlungnahme mit der Arbeit des Vaters mögen dieses naturwissenschaftliche Interesse des Kindes bald in eine bestimmte Richtung gedrängt haben. In Bunzlau in Schlesien geht er zur Schule und tritt dann als Gehilfe bei seinem Vater ein. Der junge Werner ist kränklich, und schon den Achtzehnjährigen schickt der Vater auf eine Erholungsreise nach Karlsbad. Auf dieser Reise berührt er Freiberg, und dort lernt er zum ersten Male die großen berg- und hüttenmännischen Anlagen kennen, bekommt Fühlung mit der Arbeit im Bergwerk, und sein Entschluß reift: Bergwissenschaft zu studieren. 1769 geht er auf die Bergakademie, 1771 wechselt er über zur Universität Leipzig, da die erstrebte Staatsstellung eine rechtswissenschaftliche Ausbildung verlangt. In Leipzig entsteht 1774 seine erste Arbeit Über die äußerlichen Kennzeichen der Fossilien, mit der er einen großen Erfolg erringt. "Fossilien" nannte man damals die Mineralien, und Werners Schrift behandelt zum ersten Male systematisch ihre äußeren Kennzeichen wie Farbe, Lichtdurchlässigkeitsgrad, Glanz u. a. und gibt damit die Grundlage für eine Einteilung der Mineralien. In späteren Jahren hat er die Erkenntnisse seiner Erstlingsschrift erweitert und vertieft. Er hat, nach Ausscheidung aller Gesteinsarten, Naturspiele, Versteinerungen usw., sein berühmtes "Mineralsystem" geschaffen, in dem er – soweit das damals möglich war – zunächst die chemische Beschaffenheit der Mineralien und in zweiter Linie ihre äußeren Kennzeichen zur Einteilung benutzt. 1791–1792 veröffentlicht er dann, gleichsam als Zusammenfassung dieser Arbeiten, sein zweibändiges Werk Ausführliches und systematisches Verzeichnis des Mineralien-Kabinetts des weiland kurfürstlich-sächsischen Berghauptmanns Herrn K. E. Pabst von Ohain.

Im Jahre 1775 wird Werner Inspektor der Sammlungen und zugleich Lehrer an der Bergakademie Freiberg. In dieser Stellung bleibt er bis zu seinem Tode am 30. Juni 1817. Er stirbt in Dresden, wohin er zur Heilung eines langjährigen Leidens gereist war.

Das für seine Zeit gewiß sichtbarste Zeichen seiner Bedeutung war der Ruhm, den Werner als Lehrer genoß. Das kleine Freiberg und seine Bergakademie wuchsen durch ihn zu europäischer Berühmtheit. Aus allen Ländern strömten junge [175] Menschen herbei, die bei Werner hörten und seine Schüler, ja oft seine Freunde wurden. Er las nicht nur über sein eigentliches Fach, die Mineralogie, sondern seit 1779 auch über Bergbau und seit 1785 über die von ihm geschaffene und "Geognosie" benannte Wissenschaft, "die Wissenschaft, die uns den festen Erdkörper überhaupt kennen lehrt und uns mit den verschiedenen Lagerstätten der Fossilien, aus denen er besteht, und mit der Erzeugung und dem Verhalten derselben gegeneinander bekannt macht".

Werner muß, allen Berichten nach, ein vorbildlicher Lehrer gewesen sein. Liebenswürdig und sehr bescheiden, sprach er mit überzeugender Sachlichkeit und Klarheit. Sein umfassendes Wissen wie seine Fähigkeit, alle Einzelheiten sofort unter größerem, systematischem Gesichtspunkte zu sehen und darzustellen, begeisterten seine Schüler. Mit klarem Blick hatte er die Notwendigkeit erkannt, neben die theoretische Belehrung die praktische Übung zu setzen, die er in Freiberg einführte. "Ich muß sagen, es ist unmöglich (diese Wissenschaft) mit stärkerem Zauber und auf eine Weise, die mehr geeignet ist, in sie einzudringen, darzustellen, als Werner es tut. Seine Art vorzutragen steht auf dem Gipfel der Vollkommenheit", schrieb begeistert sein französischer Schüler d'Aubissons de Voisins. Und er betonte die nachhaltige Wirkung des freien Vortrages auf die Schüler: "Nie hat er auch nur ein Wort über den Vorlesungsgegenstand aufgeschrieben, so daß es nicht ein kaltes Ablesen oder das Aufsagen eines auswendig gelernten Vortrages wurde." Er sprach selbst begeistert und riß seine Schüler oft zur Begeisterung hin. Man bedenke, daß zur gleichen Zeit (1778) ein so aufgeklärter Minister wie Freiherr von Zedlitz in Preußen noch an dem Gebrauch der "Kompendien" an den Universitäten festhielt, daß in Königsberg Kant nach dem Kompendium des [176] Wolfianers Meier seine Vorlesungen über Logik abhalten mußte. Eigene Vorlesungsausarbeitungen waren verboten. Vorliegende Lehrbücher wurden Kapitel für Kapitel durchgenommen und erklärt, und nur in den Erklärungen konnten sich die Professoren in die freie Welt ihres Geistes erheben, konnten sie den eifrig nachschreibenden Studenten (die alle das Kompendium nicht besaßen!) einen Hauch wirklicher Wissenschaft vermitteln. Demgegenüber der freie, durch keine Aufzeichnung, kein Lehrbuch gehemmte Vortrag eines begeisterten Künders der Größe und wundervollen Gesetzmäßigkeit der Natur, ein Vortrag aus der Fülle des eigenen Wissens, bilderreich, mitreißend, weil eine große Persönlichkeit dahinterstand! Der Ruhm, den die kleine Bergakademie so schnell errang, wird begreiflich, wenn man die geistige und menschliche Weite ihres besten Lehrers ermißt.

Der Abrahamschacht bei Freiberg.
[175]      Der Abrahamschacht bei Freiberg, nach Abraham Gottlob Werner benannt.
[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]

Wirkung durch das Wort, durch die lebendige Rede, Auge in Auge mit seinen Zuhörern, das war der Weg, der Werner allein gegeben schien. Gegen alles Schreiben hatte er eine tiefe Abneigung; in späteren Jahren beantwortete er kaum noch die notwendigen Briefe, öffnete sie oft wohl gar nicht. So wird berichtet, daß das Schreiben, das ihm die Aufnahme in die Französische Akademie mitteilte, uneröffnet in seinem Nachlaß gefunden wurde. Er hat auch nicht viel veröffentlicht. Neben dem obenerwähnten mineralogischen Werk erschien nur noch eine größere Arbeit: Neue Theorie von der Entstehung der Gänge mit Anwendung auf den Bergbau, besonders den Freibergischen, ein Werk, das 1802 von d'Aubissons de Voisins ins Französische übersetzt wurde. Außerdem kleinere Abhandlungen mineralogischen Inhalts, über Entstehung des Basalts, über Vulkane usw. Seine Schüler gaben seine Lehren heraus, nicht immer ganz im Sinne des Lehrers, und es ist gewiß kein schlechtes Zeichen für den Lehrer Werner, daß gerade aus den Kreisen seiner Schüler die gründlichsten Gegner und Überwinder seiner eigenen Theorien entstanden: er hatte seine Schüler nicht mit der Wucht seiner Persönlichkeit, mit der Größe seines Wissens und Könnens zu seinen Wesen geformt, sondern er hatte sie Selbständigkeit gelehrt, hatte sie zu Forschern erzogen, denen der Blick für Tatsachen nicht durch vorgefaßte theoretische Meinungen getrübt wurde. Leopold von Buch und Alexander von Humboldt waren zweifellos die bedeutendsten seiner Schüler, aber sie waren in dem Kreise junger Forscher, der zu Werner als dem verehrten Lehrer aufblickte, keineswegs einzigartig.

Wie stark sein Eindruck auch auf ganz anders geartete Persönlichkeiten war, zeigt Novalis, der von 1797 bis 1799 in Freiberg Werners Schüler war. Die Frage der Bildung der Erde, der Entstehung der hochgradigen Gebirge mußte vor allem dem Dichter nahegehen, dessen Sinne für die Kräfte des Seins besonders geschärft sind. "Naturforscher und Dichter haben durch Eine Sprache sich immer wie Ein Volk gezeigt", schreibt Novalis, dessen Mystik ihn in Freiberg die seltsamsten, tiefsinnigsten Formulierungen für seelisch-geistige Vorgänge finden läßt.

Wir haben uns vielleicht allzusehr daran gewöhnt, bei der Beurteilung eines Forschers nur seine eigentlich wissenschaftliche Leistung zu berücksichtigen. Seine [177] Bedeutung als Lehrer wird dann weniger wissenschaftlich als menschlich gewertet. Aber wir müssen uns immer wieder klarmachen, daß bei jedem Wissenschaftler, bei jedem Forscher wissenschaftliche Leistung und Lehre eine untrennbare Einheit bilden. Die große wissenschaftliche Leistung des Sokrates, die seine Stellung in der Geschichte der Philosophie bestimmt, ist nicht so sehr sein Kampf gegen die Sophistik, nicht seine eigene Ethik, sondern die Tatsache, daß er einen Platon von der Dichtkunst zur Philosophie führte, daß er den Geist in ihm weckte und förderte und so teilhatte an der Schöpfung eines der gewaltigsten Gedankengebäude der Menschheitsgeschichte. Der Lehreinfluß eines Forschers beschränkt sich nicht auf den Kreis der Schüler, die er um sich sammeln kann, sondern reicht so weit, wie seine Schriften und Erkenntnisse sich verbreiten. Der Einfluß des einen Forschers auf den anderen, sei es durch die persönliche Belehrung oder durch die Offenbarung, die er dem Jüngeren durch sein Werk vermittelt, bestimmt seine Bedeutung als Lehrer; Hume, der Kant dem "dogmatischen Schlummer entriß", ist in entscheidenderem Sinne ein Lehrer Kants geworden als die Professoren der Königsberger Universität, bei denen der junge Kant hörte. Werners eigene wissenschaftliche Leistung, seine Begründung einer geologischen Formationskunde, seine Lehre, daß alle Gebirge chemische und mechanische Niederschläge aus wäßrigen Lösungen sind, sie haben keine so endgültige Bedeutung für die Geschichte der Geologie wie etwa Newtons Gravitationsgesetz für die Geschichte der Physik. Die Formationskunde ist von den Anfängen, die er ihr gab, weit fortgeschritten, und der Neptunismus wurde schon von seinen eigenen Schülern widerlegt. Aber seine wissenschaftlichen Leistungen sind fruchtbar gewesen in ihrer Wirkung, sind als Anfänge oder sogar als Fehler von einschneidender Bedeutung gewesen: "Große Irrtümer sind in der Geschichte der Wissenschaft wichtiger als kleine Wahrheiten", sagt Windelband einmal im Blick auf die Geschichte der Philosophie. Sie rufen Fragen auf den Plan, beunruhigen den Geist durch die Paradoxien, die sie enthalten, sie sind Fermente der wissenschaftlichen Entwicklung. Werners "Neptunismus" war ein solches Ferment. Er glaubte, alle Gebirgsentstehung aus diesem einen Punkte verstehen zu können, er glaubte, das Auf und Ab der geologischen Ereignisse zu begreifen durch wechselndes Überfluten und Zurücktreten der Ozeane, und er glaubte, daß es keine andere Art der Gebirgsentstehung geben könne. Brennende Kohlenflöze werden für die Entstehung der vulkanischen Tätigkeit verantwortlich gemacht, und ein Grundsatz seiner Lehre war, daß alle Gebirge noch heute an der gleichen Stelle stehen, an der sie einst aus wäßriger Lösung abgelagert wurden. Dieser "Neptunismus" war eigentlich schon in der Zeit, in der Werner ihn vertrat, überholt (denn bereits 1788 hatte James Hutton die Theorie des Vulkanismus entwickelt), aber Werners Einfluß war so groß, daß der Kampf zwischen Neptunisten und Plutonisten jahrzehntelang die Geologie erfüllte.

Goethe, der ja für mineralogische und geologische Fragen stets tiefes Interesse zeigte, hat in der Klassischen Walpurgisnacht ebenfalls für den Neptunismus [178] Partei ergriffen. Er sagt zu Eckermann (1827): "So auch hat die Mineralogie nur in einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt: zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens wegen, und dann um darin ein Document über die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Wernersche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieser Wissenschaft das Oberste zu Unterst kehrt, gehe ich in diesem Fache öffentlich nicht weiter mit, sondern halte mich im Stillen in meiner Überzeugung fort."

Es war für die Entwicklung und den Ausbau der Wernerschen Theorien ein Nachteil, daß Werner nur wenig gereist war, daß er nur kleine Gebiete der Erde aus eigener Anschauung, eigener Erforschung kannte. Seine jährlichen Badereisen nach Karlsbad lehrten ihn einige deutsche Städte kennen, seine einzige größere Reise führte ihn 1802 nach Paris, und er kannte eigentlich nur das Erzgebirge und die benachbarten Teile Sachsens und Böhmens. Auf einer so schmalen Tatsachengrundlage errichtete Werner sein Lehrgebäude, das die Entstehung aller Gebirge der Erde erklären wollte, und er, der große Verkünder des Tatsachenstudiums, der peinlich genauen Beobachtung, war selbst noch so sehr im Spekulativ-Theoretischen verhaftet, daß er auf Grund so geringer Beobachtungen den Versuch zur Gesamterklärung zu unternehmen wagte. Seine wissenschaftliche wie menschliche Bedeutung wird durch solche Erkenntnis nicht geschwächt oder gemindert. Er bleibt der große Anreger und Förderer der exakten geologischen Forschung, der Mann, der so vieles zum ersten Male gesehen und ausgesprochen hat, der als Lehrer wie als Forscher von einer umfassenden Weite und zugleich von peinlicher Genauigkeit auch in den kleinsten Dingen war.

Denkmal für Abraham Gottlob Werner in Freiberg.
Denkmal für
Abraham Gottlob Werner
in Freiberg.
[Aufnahme von Dr. Bernd Gross, nach wikipedia.org.]
Für die Geologie ist Abraham Gottlob Werner nicht deswegen eine so entscheidende Persönlichkeit, weil er wissenschaftlich und pädagogisch selbst neue Wege beschritt, sondern weil er der Anfang für eine Tradition geologischer Arbeit wurde. D'Aubissons de Voisins erzählt in dem bereits erwähnten Bericht, daß die Schüler Werners, begeistert von seinen Ausführungen, mitgerissen von der Eindringlichkeit, mit der er die Notwendigkeit praktischer Untersuchungen verkündete, hinausgingen in die Landschaft, in die Gebirge, um mit offenen Augen selbst zu sehen, was Werner sie gelehrt, und darüber hinaus, was er selbst noch nicht gesehen hatte. Franzosen und Engländer, Skandinavier und Schweizer zogen mit den deutschen Schülern zusammen in die deutschen Gebirge, streiften in den Alpen und den böhmischen Gebirgen umher auf der Suche nach geologischen Tatsachen. Viele von ihnen mögen für die damalige Zeit merkwürdige Erscheinungen gewesen sein, und von einem von ihnen erzählen Geschichte und Anekdote, daß er in dunklem Gewande mit suchenden Augen nachdenklich durch die Landschaft wanderte. Der Rock war gebauscht von den Notizbüchern und geologischen Werkzeugen, die seine Taschen füllten, der Kopf gesenkt, die Stirn nachdenklich gefurcht. Er wanderte in Italien und in den Alpen, zog in Skandinavien umher, man sah ihn in Schottland, auf den Kanarischen Inseln, wie auf den Abhängen des Vesuvs. Bis ins [179] hohe Alter hinein rüstig und frisch, ungewöhnlich weite Strecken zu Fuß zurücklegend, immer auf der Suche nach geologischen Tatsachen und Einsichten. Ein Mensch von vollendeten Umgangsformen, ungewöhnlich reich gebildet und auf vielen Gebieten der Wissenschaft und der Kultur beschlagen, ein vorzüglicher Kenner von Ländern und Völkern, deren Sprachen er beherrschte und die er besucht und studiert hatte. Dieser eine, der große Schüler Werners, war Leopold von Buch, der in der Zeit, in der sein Freund und Mitschüler Alexander von Humboldt die süd- und mittelamerikanischen Landschaften durchstreifte, in zahlreichen Reisen die Geologie Europas erforschte.


Leopold von Buch.
[176b]      Leopold von Buch.
Gemälde von Carl Begas.
Berlin, Hohenzollernmuseum.
In Schloß Stolpe bei Angermünde ist Leopold von Buch am 26. April 1774 als Sohn eines alten Adelsgeschlechtes geboren. Auch er zeigt schon sehr früh Interesse für naturwissenschaftliche Fragen, beschäftigt sich als junger Mann bereits mit Mineralogie, Physik und Chemie. Mit sechzehn Jahren geht er nach Freiberg auf die Bergakademie, wo er bald einer der intimsten Schüler Werners wird. Drei Jahre lebt er in Werners Hause als dessen Schüler und Assistent und bald auch Mitarbeiter und Freund. Schon als Student unternimmt er seine erste Forschungsreise durch das Erzgebirge, in die Gebirge Böhmens, und er veröffentlicht eine Arbeit über die Gegend von Karlsbad. 1793 verläßt er Freiberg und studiert in den nächsten drei Jahren in Halle und Göttingen, lernt zugleich den Harz, Thüringen und das Fichtelgebirge aus eigener Anschauung kennen. 1796 wird er Bergreferendar in Breslau und widmet sich jetzt dem Studium der schlesischen Berge. Ein Jahr später schon scheidet er aus dem Staatsdienst aus, um sich ganz seiner Wissenschaft, ganz der Forschung widmen zu können. In Schlesien veröffentlicht er noch eine Monographie über die Gegend von Landeck und vor allem eine geognostische Beschreibung Schlesiens. 1797 finden wir ihn auf einer gemeinsamen Reise mit Alexander von Humboldt in Salzburg, und 1798 reist er zum erstenmal durch die Alpen nach Italien.

Besonderes Interesse gewinnt dort für ihn als Geologen in der venezianischen Tiefebene der Höhenzug der Euganeen, der vulkanischen Ursprungs ist. Aber dieses Studium vermag ebensowenig wie ein längerer Aufenthalt in Rom und mehrere Durchwanderungen des Albaner Gebirges die festgefügte Anschauung von der Richtigkeit der Wernerschen Theorie der Gebirgsablagerungen aus wäßriger Lösung in ihm zu erschüttern. Er ist ein treuer Schüler seines verehrten Lehrers, völlig von der Richtigkeit der neptunistischen Theorie durchdrungen, und doch – leise Zweifel sind ihm damals schon aufgestiegen, als er die Euganeen durchwanderte, die Ringkrater des vulkanischen Albaner Gebirges untersuchte. Aber noch hat das Gelernte die Oberhand, noch kann die Theorie, an die er glaubt, seine Zweifel widerlegen. Dann ist er fünf Monate in Neapel, ganz dem Studium des Vesuvs hingegeben, aber auch diese Zeit erschüttert ihn noch nicht, sie trägt nur dazu bei, den Stoff in ihm aufzuhäufen, der dann eines Tages, selbst vulkanischer Natur, in seinem Inneren aufbrechen muß und ihm die Haltlosigkeit der neptunistischen These beweisen wird. Von Neapel geht er nach Paris und im Jahre 1799 nach Berlin.

[180] In Berlin erhält Leopold von Buch den Auftrag, den damals noch preußischen "Kanton Neuchâtel" (Neuenburg), eine Juragegend der Westschweiz, auf mineralogische Bodenschätze zu untersuchen. Ausflüge in die Alpen und in den Jura vertiefen seine Kenntnis der europäischen Gebirge, und sie legen zugleich den Grund zu einer seiner späteren epochemachenden Arbeiten über den Jura in Deutschland. Seine Beobachtungen trägt er sorgfältig in Karten ein, und eine ganze Anzahl wissenschaftlicher Abhandlungen sind die Frucht dieser Reisen, unter ihnen die schöne Arbeit über die Verbreitung großer Gesteinsblöcke durch gewaltige Ströme (Alpengeschiebe). (Diese Arbeit wurde erst 1811 der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin vorgelegt.) 1802 reiste Leopold von Buch in die Auvergne, und 1805 ist er zum zweiten Male in Neapel. Gemeinsam mit Alexander von Humboldt und dem französischen Physiker und Chemiker Gay-Lussac studiert er wiederum die Geologie des Vesuvs und erlebt einen Ausbruch des Vulkanes, der allerdings nicht von großer Wucht ist, aber ihm doch in lebendiger Anschauung die Kräfte des Erdinneren vor Augen führt. Aber immer noch vermag die Erfahrung das festgefügte Bild seiner wissenschaftlichen Anschauung nicht zu erschüttern, wenn auch die Zweifel diesmal drängender geworden und schwerer zu widerlegen gewesen sein mögen. 1806 beginnt er dann eine Reise durch Schweden, Norwegen und Lappland, als deren Ergebnis sein bekanntes Buch Durch Norwegen und Lappland erscheint.

Zurückgekehrt widmet sich Leopold von Buch jetzt vorwiegend dem Studium der Entstehung der Alpen, den Fragen der Gebirgsbildung überhaupt. Entscheidend wird für ihn aber eine Reise, die er 1815, gemeinsam mit dem Engländer W. Smith, nach den Kanarischen Inseln unternimmt. 1826 erscheint sein Werk Physikalische Beschreibung der Kanarischen Inseln, in dem er seine aufsehenerregende Theorie der Erhebungskrater begründet, die er von den Zentral- und Reihenvulkanen absondert. Es ist der Durchbruch der plutonistischen Ideen bei Leopold von Buch, die Absage an den Neptunismus seines Lehrers Werner: Die vulkanische Kraft des Magmas wölbt die ursprünglich horizontal gelagerten Schichten blasenförmig auf, diese Wölbung zerreißt, und es bildet sich an ihrer Spitze ein Erhebungskrater, aus dem Dämpfe entweichen. Wenn die zurückgleitenden Erd- und Gesteinsmassen die Öffnung nicht wieder schließen, dann baut sich ein echter Vulkan auf.

Eine Reise nach Schottland 1817 unterbricht seine Studien für kurze Zeit, dann ist er wieder in den Alpen. Ihre Entstehung führt er jetzt nicht mehr wie Werner auf Ablagerungen zurück, sondern erklärt sie als die Wirkung aufsteigender Eruptivgesteine. Ein Besuch im Fassatal bringt seine eigentümliche vulkanische Dolomittheorie zum Ausreifen und damit zugleich einen gewissen Abschluß seiner Untersuchungen zur Gebirgsbildung. 1826 schließt er die Herausgabe einer großen "geognostischen Karte Deutschlands" in 24 Tafeln ab, deren Erfolg groß war: sie erlebte bis 1843 fünf Auflagen. 1838 erscheint dann sein Werk über den Jura in [181] Deutschland. Seine Studien und Arbeiten widmen sich jetzt vorwiegend den Versteinerungen, der Gliederung der fossilen Ablagerungen usw. Die Frucht dieser Studien sind eine ganze Anzahl bahnbrechender Abhandlungen.

Statue von Leopold von Buch an der Universität Straßburg.
Statue von
Leopold von Buch
an der Universität Straßburg.
[Nach wikipedia.org.]
Bis ins hohe Alter hinein ist Leopold von Buch unermüdlich auf Reisen, immer auf der Suche nach Tatsachen und neuen Erkenntnissen, immer tätig und fruchtbar am Ausbau seiner Lehren. Am 4. März 1853 ist er in Berlin gestorben.

Die plutonistische Theorie der Gebirgsentstehung gehört heute, wie die neptunistische, der Geschichte an. Auch sie vermochte die eigentlichen wirksamen Kräfte der gewaltigen Aufschichtungen und Faltungen, die als Gebirge in den Himmel ragen, nicht ganz zu erklären, auch sie gab nur eine Teildeutung. Aber es liegt im Schicksal wissenschaftlicher Theorienbildung, daß eine neue Theorie, die Einzelerscheinungen wohl zu erklären in der Lage ist, sich in der Entdeckerfreude der ersten Zeit weit über die Grenzen ihrer Geltung ausbreitet, daß sie selbst von dem Glauben erfüllt zu sein scheint, alle wichtigen Fragen und offenen Probleme bewältigen und lösen zu können. Erst mit wachsender Erkenntnis muß sie sich zurückziehen, so wie die Wasser, die sich bei der großen Flut weit über den Strand ergossen haben, jetzt zurückfluten in ihr normales Bett. Wir wissen heute, daß ein Teil der Gesteine, die die Erde bilden, Ablagerungen sind, Sedimentgesteine, die auch aus wäßriger Lösung sich niedergeschlagen haben. Wir wissen auch, daß die andere große Gruppe der Gesteine aus dem Urgrunde der Erde emporgequollen, daß sie durch "plutonische" Kräfte gehobene Eruptivgesteine sind. Aber wir wissen, daß die Gebirge selbst nicht diesen beiden Kräften ihr Entstehen verdanken, ebensowenig wie etwa alle Erdbeben auf plutonisch-vulkanische Vorgänge zurückgeführt werden, wie es noch L. v. Buch wollte. Wir lernen es gerade an dem Werk dieser beiden Männer wieder deutlich: wissenschaftliche Theorien sind immer zeitgebunden, sie werden durch spätere Zeiten und ihre tieferen Erkenntnisse überholt, aber sie werden nur selten völlig verdrängt. Der dreifache Sinn, den Hegel in seiner plastisch-transparenten Sprache in dem Worte "aufgehoben" mitdenkt, er gibt uns die Berechtigung zu sagen, daß das Lebenswerk dieser beiden deutschen Geologen in der Wissenschaft selbst "aufgehoben" ist: ihre Theorien mußten aufgehoben werden, um anderen, richtigeren Platz zu machen, aber sie blieben aufgehoben, nämlich aufbewahrt, und wurden zugleich hinaufgehoben in eine höhere Ebene, in einen größeren Wahrheitszusammenhang, in dem sie jetzt ihre richtige Stellung gefunden haben. Was Abraham Gottlob Werner begonnen hatte, den Blick des Forschers für die nüchterne Beobachtung zu schärfen, das hatte Leopold von Buch mit seinen Mitschülern fortgesetzt und ausgebaut. Er hat der Forschung gezeigt, wie fruchtbar das genaue Studium der Natur selbst ist, wie sie den Umfang des Beobachteten gar nicht weit genug ziehen kann, und er hat durch seine Reisen und die auf ihnen erwachsenen theoretischen Einsichten nicht nur seiner eigenen Wissenschaft, der Geologie, große Dienste geleistet, sondern sich zugleich in der Schwesterwissenschaft, der Geographie, einen hervorragenden Platz gesichert.




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