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[Bd. 5 S. 166]
Carl Gustav Carus, 1789-18 68, von Julius Schuster

Carl Gustav Carus.
[160b]      Carl Gustav Carus.
Gemälde von Julius Hübner, 1844.
Frankfurt a. M., Goethehaus.
Carus hat einmal gesagt: "Wer einen Menschen nicht aus dem Ganzen betrachten kann, wie wird der ihn überhaupt irgendwo verstehen?" Leben und Charakter dieses lange verkannten oder falsch verstandenen Sohnes des deutschen Volkes erschließen sich in lebendiger Größe nicht aus dem äußerlich einfach-klaren Lebenslauf.

Geboren aus gutem nordischem Stamm mit dinarischem Einschlag als einziges Kind eines Färbers zu Leipzig am 3. Januar 1789, nimmt der in seiner Vaterstadt gebildete Arzt und Dozent sechsundzwanzigjährig den Ruf als Professor für vergleichende Anatomie und Frauenheilkunde an der medizinisch-chirurgischen Akademie und als Leiter der Entbindungsanstalt in Dresden an. Von 1827 bis zu seinem Tode am 28. Juli 1869 wirkt er als Leibarzt im Dienste dreier Wettiner und als praktischer Arzt von europäischer Berühmtheit, seit 1862 als Präsident der Deutschen Leopoldinischen Akademie der Naturforscher. Mit hohen Orden

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus.
Im Jahr 1815 stiftete König Friedrich August I. die
Chirurgisch-Medicinische Akademie,
an der Carl Gustav Carus als Professor für Geburtshilfe lehrte. Sie bestand bis 1864.
[Nach uniklinikum-dresden.de.]
und der Mitgliedschaft der angesehensten gelehrten Gesellschaften ausgezeichnet, steht er durch ein halbes Jahrhundert im Mittelpunkt der Dresdner Gesellschaft, als Landschaftsmaler wie als lebenskundlicher Schriftsteller gleich geachtet, aber im Grunde einsam und ohne Schüler. Ganz verstanden hat ihn wohl nur die märkische Edelfrau aus dem Geschlecht der Knobelsdorff, Ida von Lüttichau, die Gattin des Intendanten, deren spätromantischem Kreis Carus seit 1839 als trautester Freund angehörte. Dieser tief veranlagten, ebenso kühlen wie leidenschaftlichen Frau war es gegeben, den Dämon der Natur in der eigenen Brust zu erfühlen und aus der Innerlichkeit schöpferischer Haltung Idee und Leben in neuer Schau zu binden. Auf diesem neuen Weg zur Urnatur erkennt sie die kommende Bedeutung Richard Wagners, der ihr durch die Widmung des "Fliegenden Holländers" dankt, und den wahren Carus, der dem neunzehnten Jahrhundert verschlossen blieb.

Ihm selbst ist erst spät der eigene Urgrund aufgegangen. Seine Studienzeit 1804–1809 fiel noch in die Jahre, in denen der erste vom Spekulativ-Philosophischen herkommende Angriff der Romantik von einer naturalistischeren Strömung abgelöst und vorgetragen wurde, die die deutsche Welt unmittelbar aus ihrer Verbundenheit mit dem Leben erschaute und erforschte. Der schwäbische Student Lorenz Oken verkündete 1802 den Grundriß einer Lebenslehre, in der Psychologie, Anthropologie, Ethik, Ästhetik und Wissenschaftsgeschichte nicht allein von der Philosophie des Geistes getrieben und verstanden werden, sondern von der Lebens- [167] kunde her. Das Leben beobachten, vergleichen und seinen Sinn deuten ist gegen Pantheismus, Idealismus und Positivismus das Kampfziel Okens, mit dem er von Jena aus die Wiedergeburt der deutschen Naturwissenschaft einleitet. Das Suchen nach dem Werden der Gestaltung des Lebens läßt Oken 1807 eine im Rhythmus der Lebensentwicklung emporsteigende Wiederholung sehen: der Schädel ist eine höher entwickelte Wirbelsäule. Die Verfolgung der Wirbellehre Okens beschäftigt Carus bis 1828.

Die Schädelwirbel geben ihm das Maß für die Gehirngegenden, in deren mittleren er die Bedeutung für den Schlaf erkennt. Wie Oken sucht Carus nach der Urform des Lebens. Sieht Oken die Grundform in einer kugligen Blase, eine Vorahnung von Virchows Lehre der Zelle als Lebenseinheit, so faßt sie Carus als geometrische Urform unter zahlgestaltlich-harmonikalen Beziehungen auf. Ausdruck seiner musikalischen Begabung, entspricht diese Stilform dem Schaffen, das Kepler aus der harmonikalen Zerlegung der regelmäßigen Figuren seine Gesetze ableiten und Carus' Studienfreund Weiß die Grundlagen der Kristallographie finden ließ. Vorläufig schien es freilich, als diene Carus' Wirbelforschung der Vollendung der idealistischen Morphologie Goethes, dessen lobende Anerkennung für Carus in seltsamem Gegensatz zu seiner vernichtenden Ablehnung Okens steht. Aber Goethe und mit ihm die Klassik suchten erst nach einem geistigen Urbild, nach dem Modell, Oken und die Romantik dagegen nach einem lebendigen Sinnbild, nach dem Ausdruck. Gemeinsam ist nur die Frage nach dem sinnhaften Gehalt. Sie steckt in allen nicht nur mechanistisch-materialistisch gerichteten Entwicklungslehren, die mit Goethe als spezifisch deutsch bezeichnet werden können. Die entscheidende Frage dieses Problems ist die, ob das Wiederholungsgesetz so allgemeine Bedeutung besitzt, daß es über die Vorgeschichte des Menschen in seinen embryologischen und paläontologischen Stufen auch auf die ihm eigentümliche Entwicklung in seelisch-geistiger Beziehung sich erstreckt. Während die idealistische Typologie allzu leicht in dogmatischen Spekulationen oder Offenbarungen eines Übernatürlichen verschwebt, bleibt die lebenskundliche Betrachtung dem naturhaften Grunde stets näher und daher praktisch fruchtbarer.

Wie jeder echte Naturforscher war Carus ein begnadeter Beobachter. Der schönste Ertrag dieser Gabe ist 1827 die Entdeckung des bis dahin von niemand gesehenen Blutkreislaufes der Insekten, der für vergleichende Betrachtung ähnliche Bedeutung hat wie Goethes Entdeckung des Zwischenkiefers am Menschen.

Portrait des Carl Gustav Carus.
Portrait des Carl Gustav Carus.
Zeichnung von Carl Christian Vogel von Vogelstein, 1828.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]
All das war aber nur ein Vorspiel zu Carus' geschichtlicher Sendung als Lebensreformer. Sie wurde ihm klar, als er 1828 nach der Rückkehr aus Italien am Rheinfall stand. Jetzt ist die Bruchstelle des Übernommenen in Weg und Charakter weggespült. Mit zwingender Macht ruft ihn das Untergründige des Lebens, der nicht unmittelbar erlebbare Bereich des Unbewußten, der vor dem Zugriff der erobernden Forschung in unerlöster Nacht ruhte. Was sich Carus an der Schwelle der Vierzig klärte, fiel dem Mann von fünfzig Jahren als reife Frucht des Lebens [168] zu. Sein Werk Psyche, Entwicklungsgeschichte der Seele (1846) ist die mit dem Herzblut geschriebene Symphonie seines Lebens, die lebendige Offenbarung eines Stückes deutscher Geschichte, das Carus' deutschen Charakter, sein Verhältnis zu Natur und Gott, seine Gefühlsweise, seine Denk- und Kunstform am tiefsten erschließt.

In das menschliche Dasein geworfen, empfindet die bewußte freie Seele höchste Lust über ihre schöpferische Ichheit und tiefsten Schmerz über ihre quälende Einsamkeit im All. Bewußtes Wissen gibt keine Antwort, aber der lebendig-schöpferische Kraftspeicher in uns, das Unbewußte, vermag den Schmerz zu klären. Seine Inhalte werden in Sinnbildszenen sichtbar, wenn wir es zum Quellen bringen. Entrückung in unberührtes Naturleben macht im wachen Traum hellseherisch. Es öffnet sich der Speicher unbewußter Erinnerungen und wiederholt in Sinnbildern Bruchstücke der Ur- und Vorgeschichte des Stammeslebens: Carus schaut eine urwaldartige Landschaft, sieht aus Quelle und Baum Gestalten schreiten und hört Musik rauschen zwischen Eichen und Kultstätten, er ist in den Zauber der Urzeit eingezogen. Jetzt sieht er die Mittlerin zu diesem Erlebnis, die Natur, tiefer, reicher und schöner. Der rhythmische Wechsel von Leid und Freud der Seele – ihre Geschichte – findet sein Spiegelbild in der Erde, in deren Geschichte alle Spuren vergangener Stürme sich immer wieder klären; auch die Erde läßt Leben und Charakter erkennen. Diese Betrachtung mildert die schmerzvolle Spannung des einsamen Ich im All: das ichhafte Unbewußte hat im Stamm der Ahnen sein Maß im All, es hat wirklich heimgefunden. Die Kunst des Erdlebens, wie Carus es nennt, vermag das eigene Innere im Äußeren gegenständlich werden zu lassen durch die Übertragung auf das sinnesvermittelte Wissen in seltsam dämonisch-verklärten Bildern traumhafter und sinnbildlicher Urnatur. Im Malen vertropfte ihm der Schmerz, wandelt sich die wehe Glut zu schöner Gestalt. Carus' Landschafts- und Traumbilder sind Urkunden tiefster Befragung der schöpferischen Mächte des Unbewußten.

Im Unbewußten hat Carus den Urgrund des Lebens gefunden, die Nachtseite der Natur, wie sie der frühe Romantiker Schubert 1808 ahnend gesichtet hatte. Aus ihm hat jeder Mann eine Erinnerung an sein früheres Dasein und eine Vorerschauung des kommenden. Im Kreislauf des Unbewußten und des Bewußten gehen unsere Vorstellungen zum größten Teil immer wieder im Unbewußten unter und treten nur in Augenblicken und einzeln in das Bewußtsein. Die Kraft, die das Unbewußte speist, ist Carus eine nicht nur physikalische, sondern zugleich eine seelische, eine vitale Energie. Sie ist die regelnde, wiederherstellende und heilende Kraft der Natur, die zu wahren und anzufachen Hauptaufgabe aller Lebens- und Heilkunst ist; denn von ihr lebt der Leib. Um durch dieses Kräftespiel, den inneren Arzt der Natur, zu heilen, bedarf es ebenso wie zur Ermöglichung der Heilwirkung durch den äußeren Arzt der liebenden Hingabe. Eros ist der Herrscher des Unbewußten.

[169] Von den Beziehungen des Unbewußten zwischen dem Ich und der Rasse, der Kunst und der Heilkunde stößt Carus zu den im Bereich des unbewußten Seelenlebens angelegten seelischen Wirkungsmöglichkeiten vor, den ererbten Anlagen von Begabung, Gedächtnis und Temperament. Dies gelingt ihm durch die Brücke zur Gestaltlehre, von der er ausgegangen war. Das Seelische, das Charakterliche, prägt sich immer im Körperbaulichen aus. Auch die frühe Romantik, etwa Novalis, blickte durch die Gestalt auf den Sinn und durch beide in mystischer Schau auf das Göttliche. Carus dagegen kommt es auf den gesamt-vitalen Charakter an. Aus der leib-seelischen Verfassung, der Konstitution, will er in der Gestalt Ausdruck, Sinnbild für seelische Anlagen finden und dadurch den Charakter der Person verstehen. Carus' Symbolik der menschlichen Gestalt (1853) ist der erste grundlegende Versuch einer lebenskundlichen Ausdruckslehre. Seine Betrachtungen der körperlichen und seelischen Anlagen sind in ihrer meisterhaften Darstellung trotz des veralteten Unterbaus der Wirbellehre noch heute unerreicht.

Vom Körperbau und Charakter der einzelnen Menschen dringt Carus zu dem der verschiedenen Rassen vor. Dazu kam er durch die Erkenntnis des alle überragenden geniehaften Ichs. Im Haus am Frauenplan trat 1821 Goethe vor ihn in strahlender Schönheit: so ganz, so vollkommen, durchzuckte es Carus, kann nur sein, wer wohlgeboren ist aus einer hervorragend guten Rasse. Gesundheit des Stammes, der ihn zeugte, kann allein den Leib gebären, ohne dessen Wohlbeschaffenheit die Entfaltung der Seele und des Geistes nicht möglich ist. Nur aus einer Rasse, die alle anderen überragt, kann die Persönlichkeit eines Goethe hervorgehen. Die Denkschrift zu Goethes hundertstem Geburtstag Über die ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschenstämme für höhere geistige Entwicklung ist wie die drei Goethe-Vorträge – zuhöchst der in äußerster Klarheit gestaltete von 1849 – für alle Zeiten leuchtendes Vorbild für lebensnahe Goethe-Forschung. Wenn alle gleich wären, wie könnte es da Werte geben, wie sie die Geschichte der Menschheit weist? Das verschiedene Verhalten einer Rasse in Temperament und in ihrem Charakter zur Erde und zur Frömmigkeit gehört zum gottgewollten Wesen der Menschheit. Die Rassenlehre Blumenbachs nach der Schädelform genügt Carus nicht, sie muß erweitert werden zum Ausdruckszusammenhang von Anlage, Gestalt und Heimaterde.

Rasse steht über dem Typus. Nach dem Verhältnis der Erde zur Sonne unterscheidet Carus als Nachtvölker die Neger, als Abenddämmerungsvölker die Indianer, als Morgendämmerungsvölker die Mongolen und als Tagvölker vor allem die Kaukasier. Diese lassen bei Carus die Züge der nordischen Rasse erkennen, wie wir heute sie fassen. Ihre kulturelle Leistung übertrifft alle Rassen, ihr auszeichnendes Merkmal ist das Heldische als höchstes Glücksgefühl vor der Entscheidung im Kampf, sie umschließt die Völker, deren Sonnenhelden den Aufgang der Menschheit heraufführten. Die Rasse als politische Idee, die Gemeinschaft gestaltet, das ist der letzte Schluß, den der mutige Lebensforscher zieht.

[170] Carus erkannte den Zusammenhang von deutscher Natur- und Weltanschauung: das Sich-Versenken in die Natur, den deutschen Hauch der Seele, den Ausdruck, die Teilnahme am Leben der Natur (Erdleben 1841). Diesem Kunstsinn ist jede einfachste Seite des Naturlebens der Darstellung wert, wenn man sie nur in ihrem eigentlichen Sinn erfaßt wie die Niederländer, Claude Lorrain und sein Freund Caspar David Friedrich, in dem die Kunst der späten Romantik ihren kräftigsten Ausdruck findet. Nicht anders ist es in der Musik: verschiedenes Gefallen haben die verschiedenen Völker für Klänge, Ton und Tonfolgen. Oder in der Schauspielkunst: der Macbeth des Negerschauspielers Ira Aldridge ist nur eine Karikatur, den Othello macht er erst eigentlich durchsichtig, und in einer komisch-bestialischen Negerposse ist er völlig ausdrucksgemäß.

Im unbewußten Innersten der Seelen- und Willensregion liegt für Carus alles beschlossen. Für ihn gibt es keinen Logos, der für sich die Wahrheit darstellt, über der Einzelseele keinen Stufenbau, wie in allen biotheologischen Begriffen, keine Weltseele. Sein Christentum dehnt sich nicht auf die ganze Menschheit aus, sondern schränkt sich in der Rassenseele, die in dem einzelnen sich entfaltet, auf den Bereich eines arteigenen Lebenskreises ein. Gott gebiert sich in der Seele. Die Loslösung von der Natur hat auch Gott vom Urgrund im Volksbewußtsein gelöst. Einer fernen Zukunft schaut Carus eine neue Gotteslehre aus dem Erbe germanischer Frömmigkeit vor.

Dresden, Frauenkirche.
Carl Gustav Carus: Dresden, Frauenkirche.
Getuschte Pinselzeichnung, um 1824.
[Nach zeno.org.]      [Vergrößern]

Eichen am Meer.
Carl Gustav Carus: Eichen am Meer.
Öl auf Leinwand, 1834/35.
[Nach wikipedia.org.]      [Vergrößern]
Das Schmerzlich-Schreckliche ist ihm der Anfang und Ursprung alles Schönen, die Symbolik seiner eigenen Bilder aber ist gesund; sie weist nicht das geringste Zeichen von Entstaltung auf; sein Bildwerk ist den Meistern deutscher Romantik ebenbürtig. Nur als schöpferischer Ausdruck, als Charakter, als Landschaft ihres leib-seelisch-geistigen Lebens, nicht als Produkt von Drüsenströmen noch von Trieben ist die Persönlichkeit vielleicht ganz zu verstehen. Das gilt auch für Carus. Will man seine Art charakterisieren, so, wie man etwa von dionysisch oder apollinisch spricht, so könnte man sie orphisch nennen. Er fühlte sich als Orphiker und meinte damit den Mythos, der nur Natur ist, das Leben der Natur. Im Unbewußten, das in der Seele jedes Volkes webt, erschloß sich ihm die uralte Erkenntnisnotwendigkeit des Mythos. Das ist seine Größe und seine Grenze. Der orphische Wille besiegt die dunklen Naturmächte nicht durch Kampf, sondern durch Verklärung, und die harte, willensmächtige Herrscherkraft etwa des staufischen Menschen scheint Carus nur Steigerung der vitalen Kraft. Der letzten Gipfelung im Willen versagt sich der Orphiker im Schauer vor der dunklen Dämonie des Mythos. Der orphische Wille besingt saitenschlagend ein geschautes Schönheitsideal; das bedeutet nicht nur Willigkeit zu liebender Hingabe an den Lebensstrom; die Kraft des Unbewußten wird einem bewußten Willen der Prägung zu schöner Gestalt dienstbar gemacht. Dieser Ausgleich macht das Wechselspiel im menschlichen Willensleben schmerzfrei, aber auch kampflos und damit letztlich in seinem Dasein fragwürdig; der Wille des staufischen Helden dagegen nimmt von dem [171] aus den Wassern aufsteigenden Gott, dem Leben, Leier und Schwert, um dem Licht kampfsingend den Weg zu Herrschaft und Macht zu bahnen.

In Carus verklingt Okens naturalistische Romantik, die ihm Ziel und Weg war, wie ein schöner Traum im Herbst, dem kein Frühjahr folgt, sondern Tod der Seele und des Lebens. Einer Zeit, deren kulturelles Absinken in dem Strom des Niederganges seit 1840 besiegelt war, galt Carus nur als Spieler einer zügellosen Phantasie, sein gedrucktes Werk von 25 000 Seiten war für sie nur lächerliche Makulatur. Carus sah wie Fingal die Söhne der kleinen Menschen kommen, die gerissenen Virtuosen, die geschäftigen Literaten und Kritiker. Er hielt an der hohen Idee Deutschland in Treue und Trotz fest. Wer dachte außer Ida von Lüttichau, der Freundin, und ihm, welche lebenswichtigen Probleme deutscher Wissenschaft und Kunst, die zum großen Teil Neuland bedeuteten, in Aufgaben der Zukunft sich abzeichnen würden. In der Zeit echter Besinnung erst erhob sich sein Bild wieder: die aus dem Weltkriegserlebnis erwachende deutsche Wissenschaft entdeckte in Carus einen ihrer wahrhaften Gestalter. Kein philosophischer und künstlerischer Naturforscher und Arzt der Romantik hat eine Auferstehung erlebt wie er. Sein Bild wurde von den Schlacken der Vergangenheit befreit. Die deutsche Lebenskunde, die Seelen- und Heilkunde, die Ausdruck-, Charakter- und Sinnbildforschung, die Persönlichkeits- und Rassenforschung, die Philosophie, Kunst und Literatur stehen staunend vor der Größe und Einheit einer überreichen Forschung für das Leben, die erst spät auf vielen Umwegen und gegen viele Irrwege fruchtbar wurde und in ihrer Tiefe noch längst nicht ausgeschöpft ist.

Wenn die deutschen Naturforscher und Ärzte auf ihrer 94. Versammlung zu Dresden 1936 Carus' Andenken durch die Enthüllung einer Marmorbüste an seinem Haus geehrt haben, so bedeutet dies mehr als die späte Erinnerung an ihren hohen Ahnen, der 1822 bei der ersten Versammlung von einer künftigen deutschen Naturwissenschaft sprach.

In der Heimat, an der Quelle von Popperode mit ihren alten Linden war einst dem vierjährigen Knaben altgermanischer Naturdienst in Sage, Brauchtum und Landschaft zum frühen Erlebnis geworden, hatte seine Seele sich wahrhaft daheim gefühlt, so wie ihm in des Amos Comenius' Sichtbarer Welt das Bild der menschlichen Seele als alraunhafte Menschengestalt hinter einem Vorhang in unauslöschlicher Erinnerung geblieben war. Vermochte auch Carus den Vorhang nicht völlig zu heben, so hat die ihn früh durchzitternde Ahnung, daß hinter und vor ihm nur Ein Leben wirkt und webt, durch dieses Ur- und Kindheitserlebnis zu Symbol und Mythos geführt und ihn von seinem frühen Leid durch das Glück der hohen in den Ahnen ruhenden Idee erlöst: der verklärte Wille des Orphikers, in dem der Mythos des Lebens singt und klingt.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz