[Bd. 3 S. 222]
Diese Vorbemerkung über das Schicksal des Listschen Werkes kennzeichnet einen seltsamen Zustand und ist darum nicht bloß "bibliographisch" – in ihr verbirgt sich die bleibende Unsicherheit gegenüber dem Manne. Wohin mit ihm? In die Geschichte der Staatswissenschaften. Ja – doch rasch kommt das Aber: War er denn ein Wissenschaftler? Den Professortitel trug er zu Recht, doch war seine akademische Tätigkeit nur ein kurzer, mäßig geglückter Einsatz. Die Größe, die unbestreitbare, wenn auch bedrängende Größe des Mannes liegt in der Agitation, in der Publizistik, in der Neigung zum praktischen Wirken, nicht in der eigentlichen Forschung. Ist seine "Lehre" denn wirklich sein Eigentum und nicht bloß kräftig vereinfachtes und für die Zeit frisch geformtes Gedankengut anderer? Also Politiker – aber dann muß er wohl, wenn ein solcher nun eben nach dem Erfolg gewertet wird, ein schlechter Politiker gewesen sein. Alles, fast alles mißriet ihm, und vielleicht ist es zu billig, nur die Lage der Zeit, nur die Bosheit der anderen verantwortlich zu machen; denn der echte Politiker rechnet mit ihnen, um sie zu überwinden. List aber, als er an einem grauen späten Novembertag des Jahres 1846 seinem Leben ein Ende setzte, war selber ein Überwundener. Nein, er ist in keiner Gruppe unterzubringen, er steht zwischen ihnen, wie er zwischen den Zeiten steht – man könnte an ihm den Begriff und das Schicksal des [223] "Unzeitgemäßen" ablesen, wollte man aus einer späteren zeitlichen Schicht auf all die Ansagen blicken, die "eingetroffen" sind. In der Tat erscheint eine Fremdheit zwischen dem unruhigen, temperamentstarken, phantasievollen Mann und der behaglich genügsamen oder ängstlichen oder bloß vergrämten Enge des Biedermeier – man ist oft versucht, seine Lebensspanne und frische Kraft ein paar Jahrzehnte weiter zu dehnen. Aber solche Lust des Gedankens führt ins Verspielte. Denn nun wird alles in der Umgebung der Zeit fragwürdig: wie würde sie auf List wirken, wie würde er die Antworten finden? Da ist die Paulskirche. Niemandem fällt es schwer, den Mann in der deutschen Nationalversammlung zu sehen, sie mit seinen Gedanken und seinem Willen zu erfüllen. Man mag dessen gewiß sein, daß die Reutlinger, die ihn fast dreißig Jahre zuvor zweimal in die württembergischen Landstände geschickt hatten (und damit in den Beginn und Grund seines Unglücks), jetzt stolz sein würden, das leichter gewordene Bekenntnis zu ihrem Bürgerssohn zu wiederholen. Aber zu welcher Gruppe mag man ihn rechnen? – man zählt die Argumente zusammen, vergleicht, überprüft. Die Rechnung geht nicht recht auf. List bleibt im Vormärz gebunden. Indem er gegen ihn groß wurde und an ihm zerbrach, war er doch durch ihn bedingt und bestimmt. Diese dreiunddreißig Jahre, zwischen 1815 und 1848, Ära Metternich, vom Geschichtsurteil der Zeit getroffen, die "die Erfüllung" erlebte, grau, ermattet, unfroh, besaßen ihre heimliche Unruhe. Ihr politischer Ausdruck war nur episodisch, da, dort, in Verfassungskämpfen, in ein paar Kundgebungen, in etwas Presselärm oder lyrischen Glaubensbekenntnissen. Aber währenddem wuchs eine neue Schicht zu ihrem eigenen Bewußtsein und ihrem eigenen Willen – jenes "bürgerliche" Element, das durch die napoleonischen Flurbereinigungen der deutschen Legitimitäten aus alten Ordnungen und Traditionen herausgeholt war, ungefragt, sich in Neues gewöhnen sollte und nun in diese Forderung Selbstbewußtsein und Anspruch trug. Das gilt nicht für Österreich und das alte Preußen, aber für den ganzen Westen und Süden. Dort gab es für Millionen von Deutschen neue Herrscherhäuser und Vaterländer – denn das "Reich", das war ja gestorben. Lohnte es, war es sinnvoll, aus den Zufälligkeiten der territorialen Zuteilung eine neue Gefühlsbindung entstehen zu lassen? Was hatte der Mann aus Speyer mit München zu tun, was der am Bodensee mit Karlsruhe? Er war nicht gefragt worden. Diese Spannung ist für die ganze Periode wichtig – in Lists Schicksal bekommt sie ihren dramatischen Ausdruck. Man darf solchen Zusammenhang nicht vergessen. List entstammte einer Reichsstadt; die Familie, Handwerker, gehörte zwar nicht zum Patriziat, stand aber fest in der Reutlinger Überlieferung, und der fehlten nicht die gegen das württembergische Herzogtum gerichteten Legenden. Das Geburtsjahr, 1789, hat für diesen Rebellen gegen Konventionen fast einen symbolischen Zug – die Nachrichten, die vom Westen her wehten, mögen seine geweckten Kinderjahre erregt haben, man war ja auch "republikanisch". Aber es blieb nicht [224] bei Nachricht, Begeisterung, Schrecken, Ernüchterung – die Fernwirkung ergriff das Schicksal der Heimatstadt: als der Gerbersohn, über die anfängliche Handwerkerlehre hinausstrebend, vor die Berufsentscheidung kam, hatte Reutlingen seine Selbständigkeit verloren, war württembergische Kreisstadt geworden. Der Weg, da er "Schreiber" werden sollte, mittlerer Beamter der Verwaltung, führte ihn aus der engen Heimat hinaus. Groß waren die Verhältnisse ja auch nicht, in die er trat – immerhin, sie boten ihm bald den Raum für einen ungewöhnlichen Aufstieg. Die Stuttgarter Regierung merkte, welche Begabung sich in dem Mann regte, sie zog den jungen Beamten, der die Praxis kleiner "Ämter" in seiner Ausbildung kennengelernt hatte, zu Rat und Gutachten heran, ja sie schuf für den Achtundzwanzigjährigen, der eine systematische Vorbildung für diese Aufgabe nicht genossen hatte, an der Tübinger Universität eine Professur – doch es war eine Regierung, die mit dem altwürttembergischen Kernland in schwerem Kampf lag. Uhlands Vaterländische Gedichte für das "alte gute Recht" haben dieses Ringen begleitet: im Kernland des schwäbischen Herzogtums hatte sich die ständische Ordnung, allein in Deutschland, bis ins neunzehnte Jahrhundert behauptet, sie war in zähen Auseinandersetzungen der Stolz des Landes geworden, und die "Alt-Rechtler" waren nicht gesonnen, ihre Umformung aus dem neuen königlichen Willen entgegenzunehmen. Der "Neu-Württemberger" List stand durchaus und leidenschaftlich auf der Gegenseite, warb auch in seinem Volksfreund aus Schwaben für die Reform von Verfassung und Verwaltung. Doch der Minister Wangenheim stürzte, und damit hatte List den Rückhalt verloren. Die Intrige und Verdächtigung begann – er mußte selber spüren, wie seine Arbeit unter dem Druck des Mißtrauens stand. Man wollte ihn los werden. Die Gelegenheit bot sich, 1819. List hatte für einen Kreis von Kaufleuten auf der Frankfurter Messe eine Eingabe an den Bundestag entworfen, hatte sie gewonnen, einen Verein, den deutschen Handelsverein, zu gründen, war bereit, dessen Geschäfte zu führen. Als ihm daraus erneute Schwierigkeiten entstanden, erbat er seine Entlassung aus dem Staatsdienst. Es war ein geschichtlicher Augenblick. 1818 hatte sich die Berliner Regierung entschlossen, für den ganzen, seit 1815 vergrößerten Staatsbereich die Binnenzölle aufzuheben, der Handel, die aus der Notzeit sich erholenden Gewerbe sollten den Raum des freieren Atems erhalten, Preußen ein einheitliches Wirtschaftsgebiet werden. Warum nur Preußen? Warum nicht ganz Deutschland? Der Bundestag in Frankfurt hatte die Eingabe beiseite gelegt – was konnte daraus werden, wenn er begänne, sich um die Anliegen von Privatleuten zu kümmern? Also galt es, die Regierungen zu gewinnen. List reist durch Deutschland, zu Höfen und Regierungen, ist auch in Wien bei Metternich – der spürt wohl, daß hier etwas Neues auf den Weg kommt. Mit Zeitschrift und Konferenzen soll die Teilnahme der Nation geweckt werden – manches läßt sich trefflich an, List tritt in Verbindung mit wohlgesinnten und auch opferbereiten Männern; sein Gefühl, einer großen [225] und notwendigen Sache zu dienen, läßt ihn über Kleinliches hinwegsehen. Eine spätere Zeit würde seine damalige Tätigkeit die eines "Verbandssyndikus" genannt haben, und es gab natürlich auch damals Leute, die ihn ungefähr so sahen (den Typus als solchen gab es noch nicht, und er war kein Typus). Wenn er vor Monarchen und Ministern, vor Kaufleuten oder Fabrikanten stand, wußte er sich nicht als Anwalt von Interessen, sondern als der Gesandte der deutschen Zukunft. Aber da gab es noch eine Vergangenheit, die ihn band: der Kampf um die württembergische Neugestaltung. In dem Augenblick, als ein allgemeiner Ruf und Beruf ihn vor die breite Aufgabe stellte, hatte auch die Heimatstadt sich seiner erinnert. Die württembergische Verfassung war in einem Kompromiß fertig geworden, Reutlingen wählte List zum Abgeordneten. Das Mandat wurde kassiert, der Mann war noch nicht dreißig Jahre alt, ein paar Monate fehlten. Er wurde zum zweiten Male gewählt – Ende 1820 trat er in die württembergische Kammer, und mit der großartigen Unbefangenheit und weiten Auffassung von der parlamentarischen Aufgabe suchte er jetzt für die Reformpläne zu kämpfen, die er ein paar Jahre zuvor in Denkschriften und publizistisch vertreten hatte. Das sollte ihm schlecht bekommen. In einer Petition seiner Reutlinger Wähler, die in der kräftigen Sprache ihre eigene Art erkannten, faßte er zusammen, was er im Staatswesen als morsch oder schlecht ansah, das übermäßige, unselbständige und dabei harte Schreiberwesen, er forderte Neugliederung der Bezirke, gerechte Steuer, Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens, Ausbau der Selbstverwaltung. Das war alles nichts Außerordentliches – die Petition fiel freilich durchaus aus dem Rahmen, daß sie, umfassend, fast eine Art von Regierungsprogramm, Gegenprogramm brachte und mit großem, derbem Freimut begründet war. Die Antwort erfolgte: Strafantrag wegen Aufreizung gegen Staatseinrichtungen. Damit das Verfahren durchführbar sei, mußte List des Mandates entkleidet werden. Ein böses Spiel begann. Zwar trat ein Mann wie Uhland, der in den vorangegangenen Jahren des Verfassungskampfes Lists Gegner gewesen war, jetzt für ihn ein, aber Rachegefühl und Druck der Regierung vermochten, daß Reutlingens Abgeordneter aus der Kammer ausgeschlossen wurde. Das Gericht verurteilte ihn zu zehn Monaten Festungshaft. List, dessen Optimismus damit nicht gerechnet hatte, floh. Man mag heute sagen, das sei unbedacht gewesen, habe ihn erst eigentlich ins Unrecht gesetzt – das ist die Klügelei, die vom Ablauf der Dinge her den Fehler sucht, der so viel verschuldet hat. Sein stolzes Rechts- und Freiheitsgefühl, durch über ein Jahr währenden Streit gekränkt, floh die Demütigung, floh ins Ungewisse; er fuhr nach Straßburg, in die Schweiz – irgendwie würde sich wieder eine Arbeit aufbauen lassen. Aber die Stuttgarter Regierung blieb ihm auf den Fersen – man verweigerte ihm die Niederlassung. Es ging ihm schlecht. Freunde rieten, heimzukehren und die Gnade des Königs anzurufen. Hatte er nicht dessen ersten Mitarbeiter treulich und mit Auszeichnung gedient? Doch Wilhelm I. blieb stumm. Der Heimkehrer wird [226] gefaßt und auf den Asperg gebracht, der auch einmal Schubarts arge Herberge gewesen war. Man quält den Häftling mit Sortieren von Uniformstücken. Nach fünf Monaten erläßt man ihm den Rest der Strafe, gegen das Versprechen der Auswanderung. Die Heimat will ihn los sein. Die Heimat? Es ist der Haß einer Bürokratie, die in dem unruhevollen Mann eine gefährliche Kraft wittert; sie kann nicht verzeihen. Wie sehr sie nicht verzeihen konnte, das ahnte dieser Zwangsauswanderer nicht, als er mit Frau und Kindern übers Meer fuhr. Nur fort! Amerika – da war Lafayette, der alte General, er hatte ihn bei einem Besuch in Paris kennengelernt, der wollte, sollte ihm helfen. Aber es blieb bei dem Wollen und Sollen. Doch das Land ist jung – man lebt dort noch nicht von Empfehlung und Verbindung. Man wagt etwas. List wagt es, ein kleines Landgut zu bewirtschaften – er muß leben. Doch kommt er nicht voran, und seine Gedanken suchen das Allgemeine. Das Allgemeine trifft er noch nicht, als er in Reading die Leitung einer deutschen Zeitung übernimmt. Aber es ist der Weg. Die Redaktionsstube wird zum Schulzimmer, in dem er Amerika kennenzulernen hat, wenn er darüber etwas sagen soll – List hat aber immer mehr außerhalb der Schulräume, in jedem Sinn, gelernt, seine Tätigkeit bringt ihn zusammen mit Handelsleuten und Gewerbetreibenden, und nun wiederholt sich in gewissem Maße der Vorgang des Jahres 1819 – er schreibt der jungen amerikanischen Industrie, die zwischen Freihandel und Schutzzoll schwankt, ein Programm, ihr Programm – sie soll sich gegen die englische Fabrikenüberlegenheit schützen. Im Unterschied zu der Arbeit, die er in Deutschland versucht hatte, die auf unmittelbare Verhandlungswirkung ausgerichtet war, erfährt sein Bemühen auf dem amerikanischen Boden eine theoretische Vertiefung: die Lehre von Adam Smith von der allgemeinen ökonomischen Gültigkeit des freien Spiels der Kräfte wird im Grundsätzlichen in Frage gestellt. Das Thema ist angeschlagen, das später der stärkste Akkord in der Melodie seines Wirkens sein wird – manchen ist er allein im Gedächtnis geblieben. Doch das ist jetzt nur ein Ansatz. Der Zufall reißt ihn in andere Geschäfte, er läßt ihn auf einer Wanderung abbaufähige Kohle entdecken, der Landwirt von vorgestern, der Redakteur von gestern wird Bergbau-Unternehmer; er bringt eine Aktiengesellschaft zusammen; die Sache kommt in Zug, er atmet auf, es sieht so aus, als ob er nun aller Sorgen ledig wäre. Er ist froh und fast dankbar –diese Arbeit hat ihn auch gelehrt, was es vielleicht wirtschaftlich und sonst bedeuten könnte, wenn man die neue Erfindung, den Dampfwagen auf Schienen, in die nationale Wirtschaft eingliederte. Der Präsident Jackson schätzt den brauchbaren und uneigennützigen Deutschen. Doch den befällt eine eigentümliche Unruhe. Ist das seine Sendung, die Amerikaner zu lehren, ihnen gar vorzumachen, wie sie zu Wohlstand und Unabhängigkeit kommen? Er glaubt an seine Sendung. In jener Zeit schreibt er: "Mir geht es wie Müttern mit ihren verkrüppelten Kindern... Im Hintergrunde aller meiner [227] Pläne liegt Deutschland." Jackson bestellt ihn zum Konsul der Union in Hamburg – unter deren Schutz glaubt er wirken zu können. Ende 1830 verläßt er, zunächst allein, Amerika. Aber in Le Havre erfährt er, daß der Entschluß des Präsidenten vom Senat nicht bestätigt wurde. Er bleibt in Paris, publizistisch tätig, 1832 geht er nach Leipzig, nun als amerikanischer Konsul, die Schwierigkeiten sind drüben beseitigt, verfolgen ihn aber hier, dank der Bemühungen der württembergischen Regierung. Der Samen, den er vor bald anderthalb Jahrzehnten ausgeworfen hatte, war inzwischen ins Wachstum gekommen – Einzelverträge hatten die Zölle zwischen Nachbarstaaten niedergelegt, der deutsche Zollverein, wenn auch ohne Österreich und die Hansestädte, stand vor seiner Verwirklichung, ein einheitliches Wirtschaftsgebiet. Doch dies konnte nicht das Ende sein. Die Schlagbäume an den Grenzen wurden herausgerissen – das war gut. Bedeutete es schon die Einheit der Wirtschaft? Bedurfte diese nicht einer unmittelbaren Bindung und Verbindung? Man mag finden: es war wieder ein geschichtlicher Augenblick, wie 1819, und es wurde erneut Lists Beruf, die Losung des Tages auszugeben. Sie hieß: Eisenbahn. Die kommenden Jahre, nach 1832, sind fast völlig von der Werbung für diesen Gedanken angefüllt. Sachsen, zumal Leipzig, sind als Ausgangspunkt glücklich gewählt; dort empfindet man, was der Handel und die sich regenden Gewerbe aus der Beschleunigung und Sicherung des Warenverkehrs gewinnen könnten. Eine Gruppe angesehener Männer stützt List, als er den Versuch macht, die theoretische Erkenntnis der Verwirklichung dienstbar zu machen. Der Staat ist dem Versuch wohlwollend, doch sieht er nicht, noch nicht, daß ihm eine neue eigentümliche Aufgabe zuwächst, und wenn List in seiner Arbeit durchaus von dem nationalwirtschaftlichen Ziel beherrscht ist, so muß er doch zugleich die privatwirtschaftlichen Instinkte anregen: man kann an Eisenbahnen verdienen, gebt euer Geld zur Aktiengründung, die glänzende Rente wird nicht fehlen. So kommt es zu der Gesellschaft, die die Bahn von Dresden nach Leipzig baut – freilich, List erlebt an ihr keine Freude. Das Intrigenspiel raubt ihm den Anteil am Erfolg, die Mißgunst verkleinert sein Verdienst – wieder bricht eine Hoffnung zusammen, und als die Erträgnisse des amerikanischen Besitzes schmelzen, sucht er wieder die Fremde. 1837 geht er nach Paris. Sein Auftreten für die Eisenbahnsache war an sich nicht ohne Wirkung gewesen. Die Schrift, in der er ein sächsisches Eisenbahnsystem als den Kern eines gesamtdeutschen Netzes entworfen, berechnet, begründet hatte, machte auch auf die Zeitgenossen Eindruck. Die spätere Zeit hat in dieser Planung vor allem das Prophetische des Mannes zu sehen versucht. Eindrucksvoller aber und wahrhaft erschütternd tritt diese Kraft der Phantasie, ein Weltbild der Zukunft zu gestalten, in den beiden Aufsätzen hervor, die 1834 und 1836 die Allgemeine Militärzeitung brachte, die Erfahrungen des Weltkriegs scheinen vorweggenommen in der Schilderung, welche Defensivkraft einem Land durch ein wohlausgebautes Bahnnetz zuwachse: der Zweifrontenkrieg ist gesehen, die strategische Massierung [228] durch plötzliche Verschiebung von ganzen Heeren, das Tempo und die Kosten sind berechnet, die Wohltat von Lazarettzügen dargetan. Freilich: der Schluß der packenden Abhandlung ist von der Geschichte widerlegt worden. List, der auch dem Geldgeber sagen will, daß sein dem Bahnbau gegebenes Kapital im Krieg nicht allzusehr gefährdet wäre, tröstet ihn zugleich: je vollkommener das Bahnnetz, desto stärker seine Kraft, das Wagnis eines Angriffskrieges zu verhindern. Denn die Kriege werden als Grenzkriege erstarren, die "Siege nicht bis ins Innere verfolgt werden können". Also werden die Eisenbahnen dazu helfen, "den Krieg selbst totzumachen". Das ist der lapidare Schluß der Abhandlung – kein sentimentales, sondern ein technisch-strategisches Plädoyer. Gewiß, die Geschichte hat es nicht gehört – und doch, während wir es lesen, denkt man an die großen Operationen des Weltkriegs, an die Rolle der Bahnen – ist dies nicht der achtzig Jahre vor der Bestätigung geschriebene Kommentar der strategischen Verkrampfung im September und Oktober 1914? Aber es ist zugleich mehr als dies: der wunderbar plastische Ausdruck einer Begabung, die das technisch-ökonomische Hundert-Kilometer-Experiment, dessen Ideologie sich um Zins und Rente drehte, in der weltpolitischen Vergrößerung und damit in einem völlig neuen Sinn sehen konnte.
Mit einer neuen publizistischen Waffe, dem Zollvereinsblatt, dient er im freien Kampf seinen Ideen – das ist eine glänzende publizistische Leistung, aber ihr Ertrag entläßt ihn nicht aus der Not. Es kommt der schändlichste Augenblick seines Lebens: man denunziert ihn als einen bezahlten Soldschreiber, und er veröffentlicht seine Jahreseinnahmen, mit der Ausbreitung seiner Armut seine Ehre verteidigend. Und doch entfaltet er in Not und Enttäuschung eine starke Produktivität, reist nach Belgien, reist nach Ungarn, wo man ihn dankbar feiert, reist nach London, [229] in das Lager des "Feindes" – denn aller Kampf dieser Jahre hatte der "englischen Lehre" und hatte der Methode der englischen Politik gegolten. Und er fühlt sich beim "Feinde" wohl – man achtet ihn, und er atmet tief auf in einer Luft, die von der See ihre Würze erhält, die ihm frei erscheint von der Enge und Widrigkeit des kleinstaatlichen Biedermeierbetriebes. Eine Vision: wird Deutschland sich erst zur eigenen Kraft ermannt haben, gegen Englands wirtschaftliches Verhalten, dann wird es sich politisch mit ihm verbünden. Denn der Tag mag kommen, da Frankreich und Rußland sich finden... das ist im Sommer 1846. Aber der Herbst verjagt die farbigen Bilder der Erwartung, die Lebensangst bricht durch: wovon wird er leben können, wird seine Gesundheit noch lange halten? Der Süden soll ihm Erholung geben. Auf der hastig beschlossenen Fahrt endet er in Kufstein dies Leben.
[230] Die volkstümliche Vorstellung sieht in Friedrich List wesentlich den Begründer und Verteidiger des Schutzzolles. Das ist begreiflich, wenn man an die vielseitige und mannigfaltige Argumentation denkt, die er diesem wirtschaftlichen Mittel zuwendet. Aber es wird leicht vergessen, daß er in dem Schutzzoll nur ein Mittel sah. Die originale Tiefe seiner Gedanken wird verflacht, wenn zu stark diese – zeitgeschichtlich überbetonte – Seite seiner Theorie gezeigt wird. List hat den Schutzzoll nicht "erfunden" – man weiß, wie er die Lehre und Praxis der merkantilistischen Staatsepoche beherrscht hatte. Adam Smith und mehr noch Ricardo hatten ihn "wissenschaftlich" zu zertrümmern begonnen – die englische Lehre, die "klassische" Nationalökonomie, trat den Siegeszug an in einem Zeitabschnitt, da die neue Technik, der wachsende Verkehr, die politische Emanzipation des dritten Standes, einen neuen Weltzustand und mit ihm ein neues Weltbild schufen. Gegen dessen geistige Gültigkeit und sachliche Herrschaft nimmt List den Kampf auf. Er spricht nur von der "Schule". Adam Smith stellt der reglementierten Staatswirtschaft seiner Zeit den frei entscheidenden Homo oeconomicus gegenüber, der nach der Einsicht in sein Können und in die Lage des Marktes die Ware erzeugt, die ihm den höchsten Ertrag bringen wird. Der wirtschaftliche Sinn richtet sich aus nach dem Tauschwert, er erzwingt die Arbeitsteilung nach Geschicklichkeit wie nach den natürlichen Voraussetzungen – im freien Tausch regeln sich die Preise nach Angebot und Nachfrage, das gilt für die Einzelwirtschaften wie für die Volkswirtschaften, die freie Konkurrenz ist der Hebel des technischen Fortschritts, des unternehmenden Wagens, sie bringt auch jene große internationale Wirkung von Sonderung der Erzeugung und gegenseitige vorteilhafteste Ergänzung des Bedarfs. Natürlich ist das nur ein roher Umriß, eine bewußte Vereinfachung, Smith selber muß ja heute gelegentlich in Schutz genommen werden, als ob er nur den wirtschaftenden Einzelmenschen gesehen habe, sein Werk handelt vom "Wohlstand der Nationen" – doch begründet er die Lehre vom natürlichen und wohltätigen Automatismus des freien Marktes. Der junge List hatte ihr selber nicht ferne gestanden. Er war, zur Einsicht erwachend, in einer Zeitlage und Umgebung, die das Werden einer größeren Wirtschaftseinheit erlebte, und wenn diese auch nur Württemberg hieß. Auch der Kampf des Jahres 1819 galt nicht der Errichtung, sondern der Niederlegung von Zollgrenzen – die anregende und erzieherische Kraft des größeren Marktes wurde von List selbstverständlich keinen Augenblick verkannt. Da aber nicht eine abstrakte Schulmeinung, sondern immer die Wirklichkeit seine Lehrmeisterin war, bedeutete die Begegnung mit den amerikanischen Verhältnissen den Zwang, die überkommene Vorstellungswelt zu überprüfen. Das Ergebnis war nicht einheitlich und mit einem Schlag vorhanden, auch nicht gleich in einer sauberen Systematik geordnet. Denn in der seltsamen (und dabei immer fesselnden) Verschränkung von aktueller Publizistik und dem Bedürfnis nach logisch-rationaler Argumentation sind die Einsichten nicht gleich geschieden. Das Wichtigste ihres Inhaltes ist [231] dies: der "Lehre von den Werten", den Tauschwerten, stellt er die "Lehre von den produktiven Kräften" gegenüber – nicht in den preismäßig erfaßbaren, meßbaren, tauschbaren Werten ist das Wesen und das eigentümliche Schwergewicht der Wirtschaft zu sehen, sondern in den Fähigkeiten, Werte zu schaffen. Wenn man so will, eine "Dynamisierung" der wirtschaftlichen Betrachtung, auf den erzeugenden Menschen ausgerichtet, nicht auf das Sachgut. Die Entwicklung dieser menschlichen Kräfte ist lenkbar, also eine Aufgabe der Politik und Erziehung. Sie müssen in ihrem wesenhaften, national und geschichtlich geschiedenen Sein erkannt werden, damit der Einsatz richtig genommen werde. Es ist eigentümlich, wie bei List die geschichtliche Betrachtung einer Sonderlage, in der er Meister ist, begleitet bleibt von gewissen naturrechtlichen Vorstellungen: er sieht die wirtschaftliche Entfaltung in einer Gesetzlichkeit, in einer formulierbaren Stufenfolge sich vollziehen, vom Ackerbau her, zu dem Handwerk, Manufaktur, Handel, Fabrikenwesen treten – es ist die menschliche Aufgabe, die Maße richtig zu erkennen, damit in der Blüte eine Harmonisierung der Interessen, eine Gleichgewichtslage in Produktion und Konsumbedarf gesichert sei. Es ist der Sinn einer gestaltenden Politik, die ökonomisch verfährt, aber nationalpolitisch denkt. Denn das ist schließlich das Entscheidende an Lists Erscheinung. Die fachwissenschaftliche Erörterung wird nicht daran vorbeigehen, seine Schutzzoll-Lehre auch in den von ihm selber gezeigten Bedingtheiten darzutun. Der Zoll ist für ihn kein Dogma, sondern eine Zweckform der "Erziehung" – für Amerika galt das gleiche wie für Deutschland, daß die schlummernden gewerblichen Kräfte geweckt und in ihren ersten Regungen so lange gegenüber den durchgebildeteren Volkswirtschaften von Frankreich, vorab von England, gesichert sein sollten, bis sie in technischem und organisatorischem Vermögen die gleichen Voraussetzungen erreicht haben. List, in die Frühwelt der industriellen Revolution gestellt und von den Möglichkeiten der Technik aufs stärkste beeindruckt, denkt zunächst gewerblich. Das hat, wenn man aus seiner Waffenschmiede die Kampfwerkzeuge für spätere Zollkämpfe holte, oft genug eine Rolle gespielt, daß er für die Agrarprodukte Freihandel forderte – der landwirtschaftliche Absatz schien ihm in der regen gewerblichen Entwicklung, in dem sie begleitenden Verbrauchswachstum genügend gesichert. Zoll war für ihn nicht Schutz der Rente, sondern Verpflichtung zur Arbeitsintensivierung. Doch ist kaum ein Zweifel erlaubt, daß er diese These nicht zum Dogma gemacht, sondern an der Zweckfrage der nationalen Wohlfahrt, an dem gewonnenen oder gestörten Gleichgewichtsverhältnis ausgerichtet hätte. Lists Beitrag zur deutschen "Bildungsgeschichte" mag darin gefunden werden, daß, wenn er die Deutschen auch nicht gerade ökonomisch denken lehrte, er ihnen doch, wenn man so sagen darf, den Geschmack an wirtschaftspolitischer Literatur beibrachte. Die war an sich gering, und wo sie systematisch angelegt war, mit geringen Ausnahmen, dünn und langweilig. Die geistige Haltung der führenden Schicht war von der Philosophie oder vom Ästhetischen her bestimmt; das Politische [232] kam ideenmäßig von der Auseinandersetzung mit den Elementen der großen Revolution nicht los und geriet in dem Wiederholen des Für und Wider in eine ziemlich unfruchtbare Verfestigung; der echte geschichtliche Sinn war erst im Erwachen. List ist, im ganzen, diesem zuzuordnen. Zwar hat er, in wissenschaftlicher Technik, keine geschichtlichen Studien getrieben, aber er sah geschichtlich und gehört so doch in die Nähe von Ranke, dem er nach Temperament und politischer Grundstimmung ferne genug steht. Die "historische Schule" der deutschen Nationalökonomie kann List zu ihren Vorläufern rechnen, wenn freilich für ihn das geschichtliche Begreifen und Darstellen nie eigentliche Aufgabe, sondern Hilfswerk oder Voraussetzung seiner der aktuellen Gestaltung zugewandten Arbeit war. Wenn man heute gern Friedrich List – vielleicht aus dem Unterbewußtsein eines schlechten Gewissens heraus um den Nachruhm besorgt – den größten deutschen Nationalökonomen nennt, so darf dies Wort nicht die Marke für eine Kartothek der Wissenschaften sein. Natürlich gehört Friedrich List in die Handbücher der Wirtschaftslehre und der Soziologie, aber er sprengt sie durch sein Schicksal und sein Menschentum. Er ist kein Forscher, sondern ein Täter, kein Gelehrter, sondern ein Politiker. Aber was ist das für ein Politiker, der zwischen Leid und Enttäuschung irrt, ins Weglose, ins Rückweglose irrt! So steht Friedrich List für das Bewußtsein unter den Propheten, denen zu sagen, aber nicht zu vollenden gegeben war. Und in der Tat, das ist das Wunderbare und immer Erschütternde und manchmal Unheimliche an diesem Mann, wo immer man ihn fasse: wie er das Werdende, das Seinsollende oder das Drohende zu sehen und zu deuten weiß. Und zwar auf eine unvergleichliche und einmalige Art. Denn dieses In-der-Zukunft-und-mit-der-Zukunft-Leben ist so wenig verschwärmte Romantik wie rationale Phantastik, die ein besseres Utopien einer schlechten Gegenwart als Ziel oder Trost malt. Die rationale Kraft ist gewiß stark, und es gehört zu den argen Mißverständnissen, wollte man vor ihm "Schau" gegen "Erkenntnis", Sehertum gegen Rechnertum stellen. List beweist und begründet. Aber indem er dies tut, hat er ein außerordentliches Gefühl für Wachstumskräfte und Spannungen, eine Macht der Zusammenfassung des Gesellschaftlichen, Wirtschaftlichen, Politischen – so spürt er mit einem ganz feinen Gehör den Takt der werdenden Geschichte und malt zugleich mit lebhaften Farben den Deutschen die Forderung an die Wand, die sie zu erfüllen haben, um in dieser Geschichte zu bestehen. Man sagt etwas sehr Richtiges, doch Ungenügendes, wenn man List einen großen Patrioten nennt, der die Einheit des Vaterlandes ersehnte und erdachte. Dies ist es nicht, was ihn vor den Zeitgenossen auszeichnete. Denn solche Sehnsucht war in Zehntausenden vorhanden, aus der staatlichen Sonderung herauszukommen, die politische Einheit unter leistungsfähiger Führung zu gewinnen – welcher Weg dazu notwendig, das mochte strittig sein; nach dem Ziel schauten [233] viele aus. Aber wen gab es neben ihm, der hinter diesem Ziel die neue europäische Lage und damit eine neue Aufgabe sah? Vielleicht ist das Größte an List, daß er in der Zeit der deutschen Ohnmacht, des regulierten Status quo, da das politische Denken entweder zur idealistischen Verklärung des Seienden oder zur bösen radikalen Verstimmung oder zur lyrischen Ersatzbefriedigung führte, in unbefangener Klarheit und Nüchternheit von der deutschen Lage in Europa sprach. Für ihn ist, in den dreißiger, in den vierziger Jahren, die politische Übereinstimmung zwischen Frankreich und Rußland im Anmarsch – der Hinweis auf sie dient schon seinem militärischen Eisenbahnprogramm. Sie muß "naturgemäß in einer Entente cordiale endigen" – deren Ziel ist, Deutschland so weit zu unterdrücken, wie es für den Zweck des Bündnisses, "die Bedrohung der englischen Suprematie in Europa und Asien", erforderlich ist. "England", heißt es in der Denkschrift von 1846, "wird alle von dem Nil, Euphrat und dem Tigris, von dem Roten Meer und dem Persischen Meerbusen bespülten Länder gänzlich und für immer in seine Gewalt bekommen;... es wird den Weg von London nach Bombay auf vierzehn Tage abkürzen." (Die Schiffe fuhren damals noch wochenlang um Afrika herum.)... "Der Beherrscher Rußlands wird gezwungen sein, gegen Europa hin die Rolle Philipps von Mazedonien, gegen Asien hin die seines Sohnes Alexander zu spielen." Und so fort. Er hatte den Amerikanern die Möglichkeiten ihres Weges aufgeschrieben, den Ungarn ihre Aufgabe gedeutet – es ist reizvoll, diese Durchblicke in die Zukunft zu verfolgen, und es wäre töricht, aus einer Zeitlage heraus festzustellen, daß hier, daß dort die Ansage nicht eingetroffen ist, die Geschichte eine andere Lösung gewählt hat. Friedrich List war weder glücklicher noch ertappter Astrologe, sondern ein Willensgestalter (auch der Wille gehört in das System der "produktiven Kräfte"). Wichtig allein ist doch dies, daß in jener Zeit ein Mann dieses Deutschlands, ein Privatmann ohne einen anderen Auftrag als den, den die eigene Verantwortung ihm zuwies, weltpolitisch zu denken verstand und diesem Denken alles andere, allen Ratschlag für Zoll und Verkehr, für Maß und Münze, für Gewerberecht, Ausbildungswesen, Industriepropaganda unterordnete. Wenn ihm die Nation, die deutsche Nation der Zukunft sinnenhaft vor Augen stand, dann wußte er um ihr bedrohtes Sein – eben darum aber wollte er sie tüchtig, reich, mächtig und einig wissen. Er glaubte an die deutsche Aufgabe, wies ihr die Führung in Mitteleuropa, den Beruf gegen den Südosten zu, und sang ihr zugleich das hohe, fast jauchzende Lied von der Seeluft, die frei macht – man könnte aus manchen seiner Aufsätze den Überschwang eines frühen, ahnenden Imperialismus der wagenden Leistung heraushören. Sicher hat er die expansiven Gewalten in ihren ersten Regungen gespürt, die aus dem Schoße dieser seiner Zeit in ein paar Jahrzehnten aufbrechen und ausbrechen sollten. Dann mußte auch Deutschland zu seinem Berufe bereit und geschickt sein. Dies Deutschland, das ihm keine gemäße Wirksamkeit gab! Einmal floh er, zweimal ist er ausgewandert. Die Fremde bot ihm Arbeit, auch Ehre, gewiß Ruhe [234] des bürgerlichen Seins – er kehrte immer zurück, er glaubte, daß Deutschland ihn brauche, da er nur an Deutschland dachte. Warum stieß es ihn immer wieder zurück? Irgendwann, so müßte man meinen, verbrauchte sich doch auch die Gehässigkeit der kleinstaatlichen Bürokratie. Sein menschliches Bild ist von der Legende zum Teil übersponnen, doch bleibt es, aus Briefen und Zeugnissen, schließlich und vor allem durch die höchst persönliche Art seiner schriftstellerischen Kraft erkenntlich. Schicksal und Ende haben ihm den Umriß einer tragischen Erscheinung gegeben. Seine natürliche Anlage enthielt dafür wenige Elemente. Denn er war eine zutiefst optimistische Natur, er war durchaus das, was man heute mit leicht abschätzendem Ton "fortschrittsgläubig" nennt; den Menschen begegnete er mit einer arglosen Offenheit, tätig, hilfsbereit – es werden die Züge einer gelassenen Heiterkeit berichtet. Geistreich und beweglich, rasch argumentierend – dann mochte er wohl aufbrausend werden, wenn er auf das Rohe oder Subalterne stieß. Schon für den jungen Beamten war ein lebhafter Sinn für die Gerechtigkeit und eine einfühlsame Mitleidensfähigkeit charakteristisch – diese wache Empfindsamkeit, die dem andern galt, wird beherrschter Stolz, allmählich vortastendes Mißtrauen, da er in den Kampf um seine Arbeit, später um seine Ehre gezwungen wird. Manche tadelnde Zeugnisse der Menschen, mit denen er zu tun hatte, sprechen wohl von seinem Selbstbewußtsein, auch von seiner Heftigkeit – wir glauben zu sehen, wie in die Züge des fülligen Menschen, die auf Gelassenheit, Humor, Güte weisen, eine gewisse Gespanntheit tritt, ein Eigensinn, der den andern "auf die Nerven ging", als Unverträglichkeit oder Rechthaberei wirkte und im Grunde nur Verteidigung war. Wie, wollten sie ihm seinen guten Namen rauben, ihn zum bezahlten Agenten erklären, zum Gedankendieb, Abenteurer, Querulanten? Da mochte dann der Zorn ausbrechen oder der Stolz einer sauberen Tapferkeit sich jäh, drohend, höhnend aufrichten – das Wissen um den eigenen Wert trug ihn, und es war kein Zug kleiner Eitelkeit, wenn er freimütig die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit seines Wesens verteidigte. Aber es mußten furchtbare Stunden sein, da er in die Nation hineinhorchte – kein Echo kam. Und die Angst überfiel ihn: wie lange noch so, in Geldsorge, in unsicherer Arbeitskraft – er war ein Schaffer sondergleichen gewesen. Alles umsonst...?
Die schriftstellerische Kraft von List besaß Rhythmus, Glanz, Bewegung und hohe Anschaulichkeit; sie ist nicht einheitlich, denn er zwang sich, um seinen theoretischen Rang zu erweisen, gelegentlich zu einer etwas umständlichen Begrifflichkeit, die uns altmodisch anmutet; dann aber strömt seine Beredsamkeit farbig, sinnlich, in unmittelbarer und unbefangener Bildhaftigkeit. So hatte noch keiner [235] über "trockene" Gegenstände zu den Deutschen gesprochen, und er erzog sie, im ermüdenden Aussprache- und Erziehungsbedürfnis, in einem durch Enttäuschung nicht gelähmten publizistischen Gründungseifer, politisch zu lesen und ökonomisch zu denken. So wurde er, dem Amt und Sicherung der Arbeit versagt blieben, den ein schwaches oder mißtönendes Echo aus der eigenen Zeit und aus dem eigenen Volk verzweifeln ließ über den Sinn seines Lebens, doch eine Macht der heimlichen Unruhe, ein leidenschaftlicher Fragesteller und furchtloser Beantworter. Das Leben, das die dunkle Stunde wegwarf, trug Frucht, mochte auch der Name vergessen oder verdeckt sein: die deutschen Kräfte begannen sich zu spannen, zu regen, der Same keimte, den er in Glauben und Gesinnungen ausgestreut. Und die Rückschau fing an, den Mann freier zu sehen – nicht nur die Tragik eines zeitgebundenen Seins, Ursprünglichkeit oder Bedingtheit einer Lehre, sondern dies: das Ethos eines nationalen Erziehertums. In ihm wuchs er zum Symbolhaften und gewann die Umrisse des Zeitlosen.
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