Der Pariser Frieden - Der Wiener Kongreß - Die heilige Allianz [Scriptorium merkt an: 1814-1815] Als nach dem Untergange der größten napoleonischen Armee der russische Boden gesäubert war, stritten sich in Petersburg zwei Parteien. Die eine sah das erschöpfte russische [68] Heer, die trostlosen preußischen und österreichischen Verhältnisse und hätte den baldigen Frieden und den freien russisch-englischen Handel gern mit dem Verzicht auf Eroberungen erkauft. Aber Nesselrode glaubte, daß die Franzosen erst in ihre natürlichen Grenzen zwischen Pyrenäen, Alpen, Rhein und Schelde zurückgestaut, also die Deutschen ganz befreit werden müßten, ehe Rußland in Ruhe seine inneren Wirtschaftskräfte entwickeln könnte. Dabei rechnete er zu stark auf die preußischen und österreichischen zwingenden Naturbedürfnisse, um den vielen noch so gewichtigen Gründen, welche diesen Mächten jeden neuen Kampf zu verbieten schienen, durchschlagende Bedeutung zuzuschreiben. Also auch Nesselrode wollte Napoleon nicht stürzen und erkannte sogar die Lehre von Frankreichs natürlichen Grenzen an. Von weitergehenden Ansprüchen war bei den nächsten Verhandlungen noch nicht die Rede. Die Geheimartikel des Vertrags von Kalisch (16. Febr. 1813) legten die preußischen Kriegsziele fest. Als nötig für die staatliche Sicherheit und Selbständigkeit wurde bezeichnet, daß Friedrich Wilhelm wieder wenigstens so mächtig würde wie vor Jena. Bei Alexanders polnischen Plänen erforderte das eine preußische Ausdehnung in Nord- und Mitteldeutschland, deren Mindestumfang bestimmt war, bei der aber alles andere, Länder wie Grenzen, unentschieden blieb. Bloß negativ wurde ausgemacht, daß Hannover ganz wiederhergestellt würde, also für Preußen nicht in Betracht käme. Ebenso verständigten sich Rußland und Preußen über die Auflösung des Rheinbundes und der deutschen Staatenbildungen Napoleons, ohne das endgültige Schicksal der letzteren zu regeln. Sie verabredeten bloß deren vorläufige gemeinsame Verwaltung. Eigentlich hätte man denken sollen, daß der Donaustaat selbst zur geringsten Kraftanstrengung unfähig gewesen wäre. Es war wie ein Wunder erschienen, daß er sich schon 1805 nach der schweren Niederlage von 1801 wieder aufgerafft hatte. Trotzdem er dann 1805 noch viel schlimmer heimgesucht worden war, hatte er die Welt 1809 nochmals überrascht und mehr Menschen und Geld wie je zuvor geopfert. Das Ende war eine abermalige militärische Katastrophe, im Frieden der Verlust von 3½ Millionen Menschen, 2000 Quadrat- [69] meilen, vielen Millionen Gulden laufender Jahreseinkünfte und schließlich 1811 der Staatsbankerott gewesen. Österreichs Ansehen und Macht waren völlig dahin. Das einzige Bedürfnis der Regierung wie des Volkes schien eine lange Ruhe, um sich allmählich von den Wunden der letzten Kriege zu erholen. Tröstlich war nur die Hoffnung, daß nach Napoleons Tode dessen kunstvoller Bau von selbst zusammenstürzen werde. Unter solchen Umständen kam der russisch-französische Krieg dem Wiener Hof höchst ungelegen. Siegte Napoleon, so wurde dessen Druck auf den Donaustaat noch schlimmer. Anderenfalls vertauschte dieser das für vorübergehend gehaltene französische Joch mit der unabsehbaren Dauer des nicht leichteren russischen. Metternich dachte deshalb beide Gegner durch eine österreichische Vermittlung im Zaume zu halten und hierbei womöglich einige Vorteile herauszuschlagen. Beim Eintreffen der ersten Unglücksbotschaften aus Rußland redete er Napoleon zur Nachgiebigkeit zu. Dieser fürchtete jedoch für seinen Thron, wenn er durch einen schimpflichen Frieden Einbuße an Land und Macht erlitt; hatten doch die Franzosen ihre schweren finanziellen und militärischen Lasten lediglich ertragen, weil sie gleichzeitig glänzendere Tage wie je in ihrer Geschichte erlebt und ihre stolzesten Träume verwirklicht hatten! Napoleon benutzte deshalb die österreichischen Anträge nur, um Metternich hinzuhalten und noch fester als bisher an sich zu ketten. Noch hoffte er auf einen Umschlag des Glückes im Jahre 1813. Aber auch die Verbündeten drängten sich an Österreich mit Allianzvorschlägen heran. Letzteres geriet in eine schlimme Lage, wenn es ablehnte und die Verbündeten ohne Kenntnis seiner Bedürfnisse sich untereinander oder gar mit Napoleon verständigten. Es blieb dann nicht nur hinter Rußland, sondern selbst hinter Preußen zurück. Unmöglich durfte Metternich deshalb die russischen und preußischen Bündnisvorschläge ganz von der Hand weisen. Er schrieb zwei Wunschzettel, einen für den Fall des gemeinsamen Kampfes und ein Mindestprogramm. Jener richtete sich nach dem russisch-preußischen Vertrag von Kalisch, rechnete also mit der dort beschlossenen Vergrößerung Preußens, der Auflösung des Rheinbundes und Frankreichs Rheingrenze. Diesen Bedingungen entsprach, daß Österreich im Umfang von 1805 [70] wiederhergestellt, daß Polen aufs neue zwischen den drei Großmächten geteilt würde, daß in Italien das Gebiet zwischen Etsch und Mincio sowie die Pomündung an die Habsburger fiel. Dagegen war Metternichs Mindestprogramm derart entworfen, daß seiner Ansicht nach Napoleon ruhig darauf eingehen konnte. Er hätte lediglich das sowieso verlorene Polen, das ganz entlegene Illyrien und in Deutschland die Hansastädte Hamburg und Lübeck aufgegeben, nicht aber das Königreich Italien oder den Rheinbund. In Deutschland wie in Italien hätte er eine mächtige Stellung behauptet. Metternich suchte Napoleon im persönlichen Gespräche vergeblich zur Annahme der österreichischen Vermittlung und der Mindestzugeständnisse zu überreden. Österreich hatte für die letzteren die Verbündeten nur durch die Verpflichtung gewonnen, bei hartnäckigem Ablehnen Napoleons in den Krieg einzutreten. Von ihr konnte es nicht mehr zurück. Trotz tiefster Entmutigung, schlimmsten Zusammenbruchs, der größten Kampfesunlust der herrschenden Regierungskreise wurden dem keineswegs kriegerisch gesinnten Volk durch die natürliche Entwicklung der Dinge die Waffen aufgezwungen. Eine Warnung, sich auch auf scheinbar starke Friedensbürgschaften nicht zu verlassen! Nunmehr vereinbarte Österreich mit den Verbündeten in Teplitz (9. Sept. 1813) die weitere Forderungsliste: Umwandlung des Rheinbundes in einen Verband souveräner Staaten, Wiederherstellung Österreichs im Umfange von 1805, Beschränkung Frankreichs auf seine natürlichen Grenzen. Napoleon hätte noch lange nach der Leipziger Schlacht das ganze linke Rheinufer behaupten können. Denn Metternich sah in einem solchen Frankreich das notwendige Gegengewicht gegen ein übermächtiges Rußland. Je tiefer jedoch die Verbündeten nach Frankreich vordrangen, je zäher sich dessen Widerstand erwies und je größer die Opfer der Verbündeten wurden, desto mehr wuchsen deren Ansprüche. Am weitesten gingen Preußen und Württemberg. Beide Könige wollten Frankreich vom ganzen Rheine, von Basel bis zur Mündung, entfernen. Der Schwabe träumte von einem Bayern ebenbürtigen Mittelstaate, der sich vom Allgäu über den Breisgau und Elsaß hinweg bis an die Grenzen Burgunds erstreckte. Preußische [71] Politiker und Heerführer hofften, mit dem Elsaß könnten deutsche Fürsten, voran Kaiser Franz, abgefunden und als Entgelt dafür Preußen bis zur Maas vorgeschoben werden; Gneisenau wäre bereit gewesen, den Franzosen dafür das übrige Belgien zu lassen. Solche Pläne widersprachen indessen den Wünschen der anderen Großmächte. Gerade daß Belgien nicht französisch blieb, sondern hier ein gegen Frankreich verteidigungsfähiger Mittelstaat herrschte, war Englands dringendste Sorge. Es verschaffte es daher den Holländern. Weil es aber diesen die Fähigkeit nicht zutraute, einen neuen französischen Angriff abzuwehren, verabredete es mit Preußen das Recht, bestimmte belgische Festungen in einem neuen Kriegsfalle gemeinsam zu besetzen. Der Zar war der Eifrigste, um Napoleon zu entthronen und die Bourbonenherrschaft wiederherzustellen. Da durfte möglichst wenig geschehen, was König Ludwig XVIII. in den Augen des französischen Volkes schaden konnte. In Österreich wünschte wohl Stadion die alte Habsburgische Stellung am Oberrhein, namentlich den Breisgau und Elsaß, zurückzugewinnen. Aber Kaiser Franz und Metternich waren aus verschiedenen Gründen dagegen. Einmal hätten sie damit neben den italienischen Erwerbungen ihrem Staate eine unerträgliche Last aufgebürdet. Zweitens wollten sie vermeiden, daß durch allzugroßen Gebietsverlust Frankreich unnötig geschwächt, daß namentlich auch Rußland der Vorwand zu eigenen Ansprüchen geliefert würde. Denn je weiter sich Preußen im Westen ausdehnte, desto mehr polnische Bezirke konnten russisch werden, ohne daß Preußen unter den Umfang von 1806 zurücksank. Außerdem plante der Zar, den Österreichern den Elsaß zu schenken und dafür Galizien abzunehmen. Letzteres wollte Metternich nicht verlieren und erst recht nicht gegen den schwierigen elsässischen Außenposten eintauschen. So stürmisch deshalb die deutsche Volksmeinung die elsässischen und lothringischen Annexionswünsche unterstützte, so scheiterten sie an den Bedürfnissen Österreichs, Rußlands und Englands und an der Geschicklichkeit, mit der die Franzosen dieselben ausnutzten. Nicht einmal das ursprüngliche Vorhaben der Verbündeten wurde festgehalten, Frankreich auf den Umfang von 1792 zu beschränken. Fast auf der ganzen Linie von [72] der flandrischen Küste bis gegen Weißenburg schob es im ersten Pariser Frieden (30. Mai 1814) seine Grenzen über die vorrevolutionären hinaus. Mit Mühe holte Humboldt für die Deutschen Kaiserslautern zurück; Saarbrücken und Landau, welches vor 1800 nur ganz kurze Zeit unter Ludwig XIV. den Franzosen gehört hatte, blieben in deren Händen. Als Napoleon aus Elba nach Frankreich zurückkehrte, schien noch einmal für Preußen die Gelegenheit gekommen, die Franzosen im Westen weiter zurückzudrängen. Die Ansicht, daß der Krieg mit dem französischen Kaiser, nicht mit dem französischen Volke, geführt worden sei, ließ sich nicht mit der alten Energie aufrechterhalten, seit letzteres so rasch von Ludwig XVIII. wieder abgefallen war und dem Imperator abermals zugejubelt hatte. Auch verfehlte Napoleons Vordringen seinen Eindruck unter den Heerführern der Verbündeten nicht. War die Gefahr durch den Sieg von Waterloo auch abgewendet worden, so hatte sich doch gezeigt, daß die 1814 vereinbarten Bestimmungen Europa vor keinem neuen französischen Überfalle schützten. Gneisenau verlangte wenige Tage nach der Schlacht für Belgien die nordfranzösische Festungslinie, vor allem Lille, für Deutschland "die Festungen der Mosel und des Rheins nebst Lothringen und alles Land, dessen Flüsse sich in die Maas ergießen". Er wollte, daß Nassau, Ansbach und Bayreuth preußisch und die dortigen Herren mit Luxemburg und dem Elsaß entschädigt würden. Auch Hardenberg forderte für die Niederlande "die Plätze, die ihm Bürgschaft sein können", für Österreich den Elsaß, für Preußen "einige Festungen an der Mosel und Saar". Humboldt hielt Preußen ohne gesicherte rheinische Besitzungen für unfähig, gleichzeitig Rußland Widerstand zu leisten; "man zwingt es sonst zu einer Politik, die der Idee eines intermediären Staates und Bewahrers des allgemeinen Gleichgewichts keineswegs entspricht". Man könnte die preußischen Stimmen, welche sich ähnlich äußerten, beliebig vermehren. Ebenso regten sich in Württemberg die alten Wortführer ausgedehnter Annexionen wieder. Eine Denkschrift des Kronprinzen Wilhelm, tatsächlich wohl ein Werk Wintzingerodes, verteidigte die früheren Ansprüche mit den Worten: "Auf keinem Punkte längs der französischen Grenze von den Alpen bis [73] zur Nordsee sind die staatlichen Grenzwälle von der Natur deutlicher gezeichnet als durch die Vogesen in Süddeutschland". Varnbüler wollte sogar wissen, daß selbst Schwarzenberg und Wellington Lille, Straßburg, Landau, Diedenhofen und Longwy von Frankreich losreißen wollten. Nicht einmal Metternich entzog sich dem Gewichte solcher Beweggründe. In einem langen Memorandum sprach er von dem französischen Verteidigungssystem, das auf den ständig vermehrten Eroberungen beruhte, dessen Wert neuerdings durch Ursachen verstärkt worden sei, die nicht hoch genug eingeschätzt werden könnten. Er stellte der organisierten französischen Nationalverteidigung die zielbewußte Zerstörung aller festen Plätze in Deutschland und Belgien seit Ludwig XIV. gegenüber, ein Verfahren, welches mit unveränderter Beständigkeit den französischen Schutz auf Kosten aller seiner Nachbarn sichern sollte. "Die Überzeugung des französischen Volkes, daß die Kriege es nur Menschen und höchstens noch Geld kosten, aber das Privateigentum nicht verwüstet wird, daß seine Bürger nicht Gefahr laufen, dem unvermeidlichen Schrecken feindlicher Heereseinfälle ausgesetzt zu sein, hat unbestreitbar mit am wirksamsten den Angriffswillen des revolutionären Regiments gestärkt". Deshalb verlangte Metternich, den Franzosen die ihm 1814 gelassenen Zugangstore zu entreißen, ihre "Festungen der ersten Linie" entweder abzunehmen und zur Verteidigung der Nachbarstaaten zu gebrauchen oder wenigstens zu schleifen. Als das mindeste bezeichnete er Landau, um die ganz zerstörte pfälzische Grenzfestung Philippsburg zu ersetzen, die Schleifung Hüningens, die Beschränkung der Straßburger Festungswerke auf die Zitadelle. "Die Abhänge und Vorgelände von Vogesen und Jura, die ausdehnungsfähigen Festungen der zweiten Linie würden für die Franzosen noch immer einen mehr als genügenden Schutz bilden und der Mangel an süddeutschen Festungen würde noch immer den Nachbarmächten Deutschlands einen Vorsprung lassen." Gegenüber den preußischen und württembergischen Wünschen klangen Metternichs Ansprüche freilich bescheiden. Sie bildeten einen Ausgleich zwischen seinem grundsätzlichen Widerwillen gegen jede französische Gebietsschmälerung und den als un- [74] abweislich erkannten deutschen Bedürfnissen. Wie Varnbüler richtig bemerkte, wirkten drei Gründe für Metternichs Abneigung zusammen: die Angst, daß Rußland doch noch Galizien haben wollte, der Wunsch, nicht wieder durch den Schutz Vorderösterreichs in einen Kampf mit Frankreich verwickelt zu werden, und die Besorgnis vor einer zu großen Ausdehnung der süddeutschen Staaten. Von England und Rußland war ein Verständnis für die deutschen Wünsche nach dem Elsaß und Lothringen erst recht nicht zu erwarten. Capodistria stellte sich in seiner Eingabe an den Zaren auf den Standpunkt, daß die Verbündeten ausdrücklich nur gegen Bonaparte den Krieg wieder aufgenommen, die Erhaltung des ersten Pariser Friedens als Kampfziel angegeben und Frankreich nicht als Feindesland behandelt hätten. "Es hieße von Anfang an dem Bourbonenkönigtum den Todeskeim einzuimpfen, wenn man Ludwig XVIII. zwingen würde, in Zugeständnisse zu willigen, welche das französische Volk belehren würden, wie mißtrauisch die europäischen Mächte gegen die Dauerhaftigkeit ihrer eigenen Schöpfung sind." Englands Minister Castlereagh wäre bereit gewesen, vorübergehend einzelne französische Plätze zu besetzen; aber auch er war gegen dauernde größere Gebietsveränderungen. So entsprach der zweite Pariser Frieden im wesentlichen Metternichs Wünschen. Unwillkürlich fragt der Historiker, welche Folgen ein anderer Ausgang der preußischen Bestrebungen gehabt hätte. Österreich wäre wieder in die Grenzwacht am Rheine eingerückt, welche seit Richelieu zu immer neuen Zusammenstößen zwischen dem Donaustaate und Frankreich geführt hatten. Ein starkes französisches Rachebedürfnis hätte sich gegen die Hofburg gekehrt. Letztere wäre weit mehr gezwungen gewesen, in Deutschland moralische Eroberungen zu machen und einen dauernden maßgebenden Einfluß zu behaupten. Die süddeutschen Staaten wären in größere Abhängigkeit vom Wiener Hofe geraten. Deutschland hätte sich viel entschiedener in eine südliche österreichische und nördliche preußische Hälfte gespalten und die kleindeutschen Bestrebungen, unter den Hohenzollern ein einiges außerösterreichisches deutsches Reich zu gründen, hätten sich entweder gar nicht oder unter viel größeren Hindernissen verwirklicht. [75] Man muß sich diese Wahrscheinlichkeiten vergegenwärtigen, um die Tragweite der beiden Pariser Frieden zu ermessen. Statt daß sie die Ergebnisse der österreichisch-französischen Übereinkünfte seit 1797 umstießen, setzten sie deren Tendenzen fort. Jetzt erst schied Österreich endgültig aus der durch Rudolf von Habsburg begründeten Stellung aus; nur noch schwächliche Versuche und lockere Beziehungen verbanden es mit dem Oberrhein. An einer geschichtlich wichtigen Völkerscheide trennte es deutlicher als bei irgend einer früheren Gelegenheit seine Interessen von den deutschen. Bei den Friedensschlüssen des 17. und 18. Jahrhunderts hatte es dies ungestraft tun können, weil es rechtlich im Reiche eine zu starke Stellung besaß und weil auch tatsächlich die meisten deutschen Staaten auf sein Wohlwollen angewiesen waren. Jetzt ebnete es der deutschen Vorherrschaft Preußens den Weg. So schmerzlich dem Geschlechte Gneisenaus und Steins der Verzicht auf die deutsche Westmark in diesen Jahren war, für die Ereignisse von 1866 und 1870 bildete Metternichs Entsagung und die Unlust Österreichs, im Elsaß wieder Fuß zu fassen, die notwendige Voraussetzung. Ebenso folgenschwer wurden die Entscheidungen des Wiener Kongresses über das neue Preußen. Vor 1806 hatten die Hohenzollern einen halb polnischen Staat mit stark nach Osten gerichteten Interessen beherrscht. Hardenberg, der aus Hannover gekommen war und in Berlin immer die allgemein deutschen Gesichtspunkte gegen die besonderen preußischen betont hatte, verwarf den Gedanken an eine abermalige derartige Belastung. Wie er schon 1807 dem Zaren einen Austausch zwischen Sachsen und dem größten Teile von Preußisch-Polen vorgeschlagen hatte, hegte er gegen Alexanders Verlangen nach dem Großherzogtum Warschau keine grundsätzlichen Bedenken. Aber damit erneuerte sich der Nachteil einer übermäßig ausgedehnten, militärisch ungeschützten Grenze und eines tiefen Einspringens fremden Gebietes in den östlichen preußischen Staat. Preußische Offiziere wendeten sich deshalb gegen allzu große Nachgiebigkeit. Boyen wollte den Staat mindestens bis zum unteren Narew erstrecken, Knesebeck gar fast die ganze Beute der letzten beiden polnischen Teilungen zurückgewinnen. Erschwert wurde die russisch- [76] preußische Verständigung, weil niemand zuvor wissen konnte, welche Gebiete die Verbündeten im Kampfe gegen Napoleon erobern, welche deutsche Fürsten sich ihnen anschließen oder widersetzen würden. Dadurch war es unmöglich, eine bestimmte deutsche Entschädigung für Preußen auszumachen. Entsprechend blieb auch das Schicksal Polens in der Schwebe. Der Kalischer Vertrag sicherte dem Berliner Hofe nur ein zur Verbindung zwischen Westpreußen und Oberschlesien unentbehrliches Stück ohne nähere Angabe der Größe und der Lage zu. Diese vieldeutigen Vereinbarungen nutzte Metternich aus. Er brauchte ein Preußen, welches stark gegen Rußland wurde, aber in Deutschland den österreichischen Einfluß nicht zu sehr schmälerte. Deshalb begünstigte er Preußens polnische, bekämpfte seine deutschen Erwerbungen. Sein geheimer Gedanke war, daß mindestens der ganze Weichselbogen preußisch oder österreichisch würde. Erreichte Metternich das, so beschnitt er zugleich Preußens Ansprüche in Deutschland. Namentlich behagte ihm wenig, daß Preußen ganz Sachsen gewinnen, auf dem Kamme des Erzgebirges eine starke Grenze bekommen und damit auch ohne den Erwerb Hannovers in Norddeutschland maßgebend werden sollte. Allerdings, wenn Metternich Preußen von Rußland losgerissen und an Österreichs und Englands Seite gegen Rußland in eine politisch-feindliche Stellung gebracht hätte, wäre ihm Sachsen kein zu hoher Preis gewesen. Hardenberg, welcher für ein starkes Mitteleuropa schwärmte, hätte Metternichs Vorschlag begrüßt. Aber der König bewahrte dem Zaren seine Freundschaft und die preußischen Wünsche in Polen ließen sich mit denen Alexanders vereinen. Denn da Hardenberg über die Warthelinie nicht hinausstrebte, Rußland das Gebiet westlich der Prosna preisgab, blieb nur ein schmaler Streifen längs Schlesien und Posen, außerdem freilich das von Alexander heftig begehrte Thorn, umstritten. Schließlich verzichtete der Zar auf dieses Verlangen, Preußen auf die Warthelinie. Die preußisch-russische Einigung beeinflußte tief das gegenseitige Verhältnis der beiden deutschen Großmächte und wirkte auf die deutschen Fragen zurück. Metternich widersetzte sich jetzt ebenso sehr der Aufsaugung Sachsens wie etwaigen [77] erneuten Gelüsten Preußens nach den alten brandenburgischen Herrschaften Ansbach und Bayreuth oder nach anderen Gebieten in Süddeutschland oder in dessen Nähe. Ganz konnte er allerdings die preußischen Ansprüche nicht ablehnen. Denn da England hinter Hannover stand und dieses nicht nur wiederherstellen, sondern sogar erweitern wollte, da ferner durch die holländischen Forderungen Preußen sich nicht bis an oder gar über die Maas ausdehnen konnte, mußte es entweder Sachsen oder ein größeres Stück am Rheine erhalten; Schwedisch-Pommern und die etwa noch verfügbaren mitteldeutschen Bezirke reichten nicht für den ihm vertragsmäßig zugesicherten Gebietsumfang aus. In der sächsischen Frage kam es nach langen Erörterungen zu einem Kompromiß: der nördliche, dünner bevölkerte, aber für Preußen militärisch wichtigere Teil wurde preußisch, der südliche seinem alten König zurückgegeben. Diese Lösung zwang aber Metternich Zugeständnisse in Westdeutschland auf. Um Preußen keinesfalls nach dem Süden vorrücken zu lassen, hatte er ihm ursprünglich nur Bezirke nördlich der Mosel bewilligt. Mit Sachsens Teilung entfiel allerdings Hardenbergs Plan, König Friedrich August in Westfalen mit Münster und Paderborn zu entschädigen. Aber auch wenn beide Stifter an Preußen kamen, wogen sie mit dessen sonstigen Gewinnen zusammen die Verluste in Polen nicht auf. So opferte schließlich Metternich das Gebiet zwischen Mosel und Nahe mit der wichtigen Festung Koblenz. Außerdem bekam Preußen durch Wetzlar einen Vorposten fast an den Toren Frankfurts. Bis zum Ende des alten Reiches hatte der Berliner Hof seinen rheinisch-westfälischen Besitz mit anderen Augen betrachtet als den märkischen, schlesischen und preußischen. Ersterer hatte in wenig abgerundeten, verhältnismäßig kleinen Stücken bestanden und war an Macht und Reichtum nur noch ein Schatten des einstigen großen Herzogtums Jülich-Kleve-Berg gewesen. Dazu hatte er die Hohenzollern mit starken Interessen an den Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts in der deutschen Westmark belastet. Den Wünschen der preußischen Staatsmänner hätte deshalb eine stärkere Konzentration des Königreichs in Mitteldeutschland entsprochen. Sie äußerten offen, daß sie den linksrheinischen Besitz weniger aus parti- [78] kularistisch-preußischen als aus allgemein-deutschen Gründen antraten, daß sie ihn als ein notwendiges Übel gegen die alte, gerade hier so verderblich gewesene, Kleinstaaterei betrachteten. Überdies erreichten sie von Hannover nicht die dringend gewünschten südlichen Bezirke, welche den Kern des preußischen Staates mit der neuen Rheinprovinz verbunden hätten. Die zwei Etappenstraßen, welche Preußen nach freiem Ermessen benutzen durfte und welche teils durch Hannover, teils durch Hessen gingen, bildeten einen kümmerlichen Ersatz. Dadurch erschien dem Berliner Hofe die rheinische Stellung noch künstlicher, den ehemaligen österreichischen Niederlanden vergleichbar. Unzufrieden und vielfach empfindlich diplomatisch gedrückt schieden die Preußen vom Wiener Kongreß. Ideal war für sie weder die polnische noch die sächsische noch die rheinische Lösung. Namentlich die beiden letzten wären niemals ausgesonnen worden, wenn nicht durch den Kalischer Vertrag der künftige preußische Umfang vorgeschrieben gewesen wäre. Aber mit Österreichs Rückzug aus Süddeutschland zusammen bedeuteten alle drei Lösungen eine wichtige Voraussetzung für die künftige Einigung Deutschlands unter Preußens Krone. Denn sehr bald zeigte sich der wesentliche Unterschied seines alten und seines neuen rheinischen Besitzes. An Stelle der früheren Splitter war eine zusammenhängende, reiche, entwicklungsfähige Provinz getreten. Aus Kleve hatte 1795 Friedrich Wilhelm II. zurückweichen können, ohne damit Preußens Gesamtstellung gefahrdrohend zu schwächen. Die provinzialen Interessen der Rheinländer nach allen Richtungen zu schützen und aufrechtzuerhalten, wurde bald eine Lebensfrage des preußischen Staates. Aber auch in der Mitte und im Osten war dessen Gebiet abgerundeter und geschlossener geworden. Der Pfahl im Fleische, welchen Schwedisch-Pommern gebildet, welcher den Königen so hohe militärische Opfer gekostet hatte, war beseitigt. Weit leichter als ehedem konnte eine einheitliche Wirtschafts- und Zollpolitik betrieben werden. Neue politische Lebensaufgaben waren Preußen vorgezeichnet. Weit mehr als in seiner früheren Gestalt bedurfte es jetzt nach Bismarcks Zeugnis der Vorherrschaft über Norddeutschland in irgendwelcher Form. [79] Abgeschlossen wurde die Zeit der Napoleonischen Kriege durch die von Alexander eigenhändig entworfene heilige Allianz. Sie enthielt keine praktischen Bestimmungen, sondern nur grundsätzliche Richtschnuren. Der Zar, Kaiser Franz und Friedrich Wilhelm III. versprachen, sich als durch unauflösliche brüderliche Bande geeint anzusehen, bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Beistand und Hilfe zu leisten, wie rechte Hausvater ihre Untertanen und Truppen zu behandeln und sich stets zu erinnern, daß sie Glieder einer einzigen christlichen Familie wären. Äußere Kriege und innere Revolutionen sollten bei dieser Gesinnung der Monarchen künftig ausgeschlossen sein. Alle Mächte, welche ihr beipflichteten, wurden zu diesem ewigen Freundschaftsbunde eingeladen. Tatsächlich wurde der europäische Friede nicht durch solche Phantasien aufrechterhalten, sondern durch die gesamten politischen Voraussetzungen und durch die gemeinsamen Interessen der in den verschiedenen Staaten herrschenden Faktoren. Frankreich ging zwar sehr geschwächt, aber noch immer als eine ansehnliche Macht mit einem fortdauernden Wohlstande seiner Bevölkerung aus dem Kriege hervor. An eine baldige Erneuerung seiner alten Eroberungszüge konnte es freilich nicht denken, zumal es genug innere Sorgen hatte; anderseits wurde es von keiner Seite bedroht. Rußland wandte sich dem Oriente zu, England erlebte schwere innere Wirtschaftskrisen, Österreich und Preußen hatten keine Bedürfnisse, die zum Kriege drängten, Italien hing ganz von der Hofburg ab. Noch wichtiger war, daß die führenden Männer verschiedener miteinander wetteifernder Staaten, die französischen Bourbonen so gut wie der Wiener Hof und der König von Preußen, für ihre Stellung fürchteten, wenn Europa aufs neue erschüttert wurde. Sie waren entschlossen, jede auftauchende Frage nach ihren übereinstimmenden friedensbedürftigen Interessen gemeinsam zu behandeln und zu keiner empfindlichen Störung des europäischen Gleichgewichts oder der innerstaatlichen Ruhe auswachsen zu lassen. Die lange Friedensdauer vom Wiener Kongreß bis zu den Märztagen darf uns aber nicht zum Glauben verleiten, daß der politische Himmel lange wolkenlos geblieben wäre. [80] Obgleich Frankreich durch den Jahrzehnte währenden Krieg tief erschöpft war, regten sich die alten Eroberungsgelüste bald wieder. Als 1822 auf dem Kongreß in Verona die ersten Anzeichen eines Auseinandergehens der früheren Feinde Napoleons sichtbar wurden, begannen die französischen Bestrebungen, durch Freundschaft mit Rußland wieder zu den natürlichen Grenzen zu kommen. Anfangs war das noch eine Privatmeinung Chateaubriands. Aber die nächste Zeit sah die orientalischen Wirren und die dabei abweichenden Wünsche der europäischen Großmächte. Nunmehr entwarf Chateaubriand auf Verlangen des auswärtigen Ministers eine Denkschrift, in welcher er der russischen Sehnsucht nach Konstantinopel Rechnung trug und für Frankreich eine Entschädigung an anderer Stelle empfahl. "Wir wollen die Rheinlinie von Straßburg bis Köln haben. Das sind unsere gerechten Ansprüche." Bald darauf äußerte er in Rom zum dortigen holländischen Gesandten offen: "Kein französisches Ministerium kann sich halten, das nicht Frankreich die natürliche Rheingrenze wiedergibt." Tatsächlich waren solche Ansichten in den verschiedensten Parteikreisen der Pariser Gesellschaft geläufig. Palmerston meldete nach Hause, wie entschieden die Rheingrenze als unentbehrlich bezeichnet wurde. General Richemont nannte sie "das beständige Ziel unserer Anstrengungen, unsere ganze Politik, unsere ganze Zukunft, das Pfand unserer Ruhe und der Ruhe Europas". Der neue Ministerpräsident Fürst Polignac glaubte über die innerpolitischen Schwierigkeiten durch kühne auswärtige Plane hinwegzukommen. Zweifelhaft blieb nur, ob zunächst Brüssel und Antwerpen oder die preußische Rheinprovinz gewonnen werden sollte. 1829 schlug Polignac das erstere Ziel dem Zaren Nikolai vor; 1830 riet er König Karl X., Preußen einen Tausch zwischen dem linken Rheinufer und Holland anzubieten. Er hätte die ganze europäische Landkarte verändert, um für Frankreich die gewünschte Korrektur des Pariser Friedens herauszuschlagen und den jetzigen Besitzern die Opfer zu erleichtern. Die Lage wäre vielleicht ohne den Sturz der Bourbonen kritisch geworden.
|