Der Zusammenbruch Preußens [Scriptorium merkt an: 1807] Die Schicksale der deutschen Politik vor dem jetzigen Weltkriege erinnern an die Zeiten am Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach dem Baseler Frieden konnte Preußen ent- [65] weder den alten Faden wieder aufnehmen und mit Frankreichs Feinden gehen oder umgekehrt mit letzterem sich verbinden und dessen deutsche Pläne fördern. Tat Preußen das erstere, so unterstützte es den österreichischen Nebenbuhler ohne sicheren eigenen Gewinn. Beschritt es den zweiten Weg, so erkaufte es Landerwerb mit der Einbuße an deutsch-nationalem Ansehen und hing künftig viel stärker von Frankreich ab. Jedenfalls barg die eine wie die andere Wahl große Kriegsgefahren, welche der neue König Friedrich Wilhelm III. unbedingt zu vermeiden wünschte. Darum weigerte er sich, so oder so sich zu binden und setzte sich zwischen zwei Stühle. Hierbei durfte er nicht einmal ganz das Liebeswerben von beiden Seiten zurückweisen. Auch gab es am Berliner Hofe verschiedene Richtungen, welche für den Notfall die eine oder die andere Freundschaft anstrebten. Franzosen wie Österreicher wurden immer wieder vertröstet und hingezogen, erlebten Enttäuschungen und bildeten sich zuletzt die Überzeugung, daß die preußische Politik unzuverlässig und hinterlistig sei. Preußens Lage wäre trotzdem haltbar gewesen, wenn es seinen Friedenswillen den anderen hätte vorschreiben und damit die Entscheidung gewinnen können. Tatsächlich gingen die Ereignisse über seinen Kopf hinweg und engten seine Bewegungsfreiheit immer mehr ein. Der Berliner Hof zeigte seine Schwäche und machte Napoleon immer rücksichtsloser. Besonders offenbarte sich beides bei dessen Einfall in Hannover. Früher hatte die Regierung wiederholt ähnliche französische Absichten diplomatisch bekämpft, war ihnen 1801 sogar durch die zeitweilige Besetzung des Landes zuvorgekommen; jetzt verhüllte sie ihre Blößen notdürftig durch die Ausrede, daß das eigene Staatsgebiet nicht verletzt worden sei. In Wahrheit fürchtete sie die neugewonnene französische Ausfallsstellung gegen den natürlichen Kern der brandenburgisch-preußischen Macht. 1805 durften Napoleon wie seine Feinde bereits drohen, die preußische Neutralität zu verletzen. Jener schickte sogar unbekümmert um Friedrich Wilhelms Herrscherrechte die französischen Truppen durch Ansbach und Bayreuth. Das Endergebnis der preußischen Politik war, daß sie zwar den Krieg mehrere Jahre unter fortgesetzten Verlusten an Macht, Ansehen und Vertrauen hinausgeschoben hatte, [66] ihn aber zuletzt ohne hinreichende Bundesgenossen unter den schlechtesten Bedingungen gegen einen überlegenen mächtigen Feind führen mußte. Als die ersten Spuren eines kommenden französisch-preußischen Zusammenstoßes auftauchten, erörterte 1798 Sieyès mit Talleyrand zwei fruchtbare Gedanken: einen norddeutschen, Frankreich unterworfenen Staatenbund und den preußischen Rückzug hinter die Elbe. Napoleons Einmarsch nach Hannover hatte wenige Jahre später den anfangs phantastisch anmutenden Plan teilweise schon verwirklicht. Preußens Zusammenbruch gestattete, im Frieden von Tilsit (9. Juli 1807) die alten Absichten weit zu überschreiten. Unmittelbar nach der Schlacht bei Jena hätte Preußen den Frieden billiger haben können. Ein von Napoleon diktierter Entwurf ließ ihm auf dem rechten Elbufer alles, auf dem linken Magdeburg und die dort hinübergreifenden altmärkischen Bezirke; bloß eine größere Kriegskostenentschädigung konnte der Kaiser wegen der erschöpften französischen Finanzen nicht entbehren. Dafür wollte er freilich Preußen in die Zwangsjacke seiner europäischen Politik stecken und mutete ihm zu, alle Hafen den Engländern zu sperren und die Türkei gegen jeden russischen Angriff schützen zu helfen. Jedoch Friedrich Wilhelm hoffte auf die Russen und ließ sich auf nichts ein. Nunmehr gedachte Napoleon die Hohenzollern zu entthronen. Wir besitzen noch den Anfang eines öffentlichen Aufrufs, welcher diesen Schritt vor Mit- und Nachwelt rechtfertigen sollte. Vor dem Äußersten bewahrte den König die russische Freundschaft. Wenn Napoleon seinem ursprünglichen Vorhaben gemäß Frankreichs Macht bis zur Weichsel ausdehnte, stand er an der russischen Grenze. Da erwartete Alexander von einem wenn auch geschwächten Preußen, mit dem ihn nahe persönliche Beziehungen verknüpften, immerhin einigen Schutz. Napoleon, der den Zaren zur Durchführung der Handelssperre gegen England brauchte, konnte an dessen preußischen Wünschen nicht vorübergehen. Aber er verlangte vom König jetzt ganz andere, drückendere Bürgschaften als voriges Jahr. Um ihm ein nochmaliges Zusammengehen mit Rußland zu erschweren, raubte er Preußen auch östlich der Elbe die Freiheit des selbständigen Handelns. Fast Preußens ganzer bis- [67] heriger polnischer Besitz kam zum Großherzogtum Warschau und damit an den König von Sachsen, dessen Macht der preußischen ebenbürtig wurde. Hohe Kontributionen, die langfristige Besetzung wichtiger Festungen, die nachträgliche Vorschrift, daß das stehende preußische Heer nicht über 42 000 Mann betragen dürfte, die Herrschaft über Etappenstraßen, auf welchen Napoleon jederzeit Truppen gegen die russische und polnische Grenze durch Preußen hindurch bewegen konnte, knebelten den niedergeworfenen Hohenzollernstaat vollständig. Insgeheim dachte Napoleon daran, sich, falls Preußen seine Geldpflichten nicht einhalten konnte, Schlesien verpfänden oder veräußern zu lassen, auf solche Art Sachsen und Warschau unmittelbar zu verbinden und sich eine Heerstraße nach Rußland zu schaffen, die nicht über preußisches Gebiet ging. Preußen sollte die Franzosen nach Napoleons Wünschen niemals wieder gefährden und ähnlich wie Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden ein gegen Frankreich ohnmächtiger, diesem geld- und beistandpflichtiger, für eine gute innere Verwaltung gerade noch tauglicher Staat werden. Aber die nächsten Jahre zeigten, daß durch noch so klug ausgedachte Friedensbedingungen ein Staat und Volk auf die Dauer nicht naturwidrig gefesselt werden kann. Scharnhorst umging die militärischen Bestimmungen durch die zeitlich verkürzte und ziffernmäßig stark ausgedehnte Soldatenausbildung. Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen erhöhten die preußische Steuerkraft. Eine auf künstliche Machtverschiebung begründete Zwangslage läßt sich nicht verewigen, sondern bricht zusammen, wenn die Ursachen aufhören, aus denen sie entsprungen ist. Dabei war die preußische Krone nichts weniger als wagemutig. Gab sie doch selbst 1813 nur zögernd und widerwillig nach! Um so lehrreicher ist, daß Napoleons kunstvoller Bau nicht einmal ein Jahrzehnt standhielt.
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