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Die Friedensschlüsse von 1866

Nach dem Wiener Kongreß war das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Großmächten wesentlich besser als während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zwar wurde auch jetzt noch gelegentlich die österreichische Eifersucht auf gewonnene oder angestrebte preußische Vorteile geweckt. Aber starke Beweggründe sprachen für die Verständigung. Nicht bloß österreichische Hof- und Adelskreise, sondern auch liberale Politiker glaubten, daß der alte habsburgische Hausstaat nur absolutistisch regiert werden konnte. Kaiser Franz und Metternich suchten ihm deshalb alle Gefahren konstitutioneller Erschütterungen fernzuhalten. Von zwei Herden konnte der Funke leicht nach Österreich hinüberspringen: aus Italien und aus Deutschland. In Italien ließ der vorherrschende habsburgische Einfluß in den Regierungsschichten der selbständigen Staaten, auch wenn sie nicht schon von sich aus gleichgesinnt waren, keine entgegengesetzte zielbewußte Richtung aufkommen. In Deutschland bedurfte Metternich des Einvernehmens mit Preußen. Denn gab sich dieses nach süddeutschen Vorbildern eine Verfassung, so ließen sich ähnliche Forderungen in Österreich nicht mehr zurückhalten. Auch hätte ein preußischer Verfassungsstaat in Deutschland moralische Eroberungen gemacht. Um das zu verhüten, hielt der Wiener Hof den Berliner von konstitutionellen Versuchen zurück und stellte sich mit ihm möglichst gut. Das führte außer kleinen gegenseitigen Freundschaftsdiensten dazu, daß die beiden Großmächte sich erst in wichtigen Fragen verständigten und dann das übrige Deutschland zur mehr oder minder unfreiwilligen Zustimmung nötigten. Unterstützt wurde diese österreichische Politik durch den Mangel des Berliner Hofes an tatkräftiger Initiative. Für den Ausbau der Bundesverfassung, welcher leicht zu Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätzen hätte führen können, geschah zu Lebzeiten Friedrich Wilhelms III. fast nichts. Damals lag ein österreichisch-preußischer Zusammenstoß in weiter Ferne.

Persönlich hing Friedrich Wilhelm IV. am Wiener Hofe eher noch inniger als sein Vater. Aber er trug durch sein Liebäugeln mit der öffentlichen Meinung ein unruhiges, miß- [82] trauenerregendes Element in die preußische Politik. Er wollte gleichzeitig den liberalen Wünschen nach aktiver staatlicher Mitwirkung des Bürgertums, wenn auch schüchtern und allmählich, entgegenkommen und den Deutschen Bund handlungsfähiger machen; den romantischen Träumen von einem wiedererstarkenden deutschen Reiche war er zugänglich. Obwohl er alles im Einvernehmen mit Österreich tun wollte, vertieften sich die sachlichen Gegensätze. Als durch die Ereignisse von 1848 der König über seine Richtlinien hinausgetrieben wurde, enthüllten sich die Konfliktskeime erschreckend deutlich. Das begehrte Reich ließ sich nur gründen, wenn entweder Österreich ganz ausschied oder wenn es in zwei lediglich durch eine lose Personalunion zusammengehaltene Teile zerfiel, einen seiner deutschen Staaten, welcher der Reichsverfassung unterworfen war, und einen außerdeutschen, welcher, selbständig regiert, eigenen Gesetzen und außenpolitischen Zielen folgte. Österreich hätte dann entweder auf eine Jahrhunderte alte, allerdings schon stark untergrabene Stellung verzichtet oder als Großmacht abgedankt.

Der 1850 dicht bevorstehende Krieg wurde vermieden, weil Preußen im Olmützer Übereinkommen die deutschen Pläne aufgab und zur Bundesverfassung zurückkehrte. Bismarck hoffte damals auf völlige Entspannung der Lage. Er sah nicht ein, welche Lebensinteressen Preußen zwangen, den österreichischen Einfluß in Süddeutschland zu lähmen, und warum umgekehrt Österreich nicht das preußische Übergewicht im Norden anerkennen konnte. Gestanden sich beide Mächte ehrlich und gegenseitig diese Ansprüche zu, so war ihr inniges Zusammengehen ermöglicht, ja geboten. Alsdann ließ sich Bismarcks Verlangen erfüllen, daß in Deutschland nichts ohne Preußens Einwilligung geschehe, "daß dasjenige, was Preußen und Österreich nach gemeinschaftlicher, unabhängiger Erwägung für vernünftig und politisch richtig halten, durch die beiden gleichberechtigten Schutzmächte Deutschlands gemeinschaftlich ausgeführt werde".

Die Voraussetzung dieser ganzen Ansichten Bismarcks war, daß Österreich sich auf den Boden seiner persönlichen Auffassung stellte. Aber dieses fürchtete eine Wiederkehr der deutschen Pläne von Friedrich Wilhelm IV. und Rado- [83] witz und trachtete ihr durch zielbewußte Schwächung des preußischen Einflusses in ganz Deutschland vorzubeugen. Gerade die norddeutschen Elemente, welche nach Bismarcks Meinung unter die preußische Botmäßigkeit gehörten, sich aber ihr zu entziehen strebten, ermunterte und unterstützte die Hofburg. Bismarck war einer der Ersten, welcher die Unmöglichkeit durchschaute, sich mit einem derart gesinnten Österreich dauernd friedlich zu vertragen.

Jetzt dachte er nicht mehr wie ehedem an eine Teilung Deutschlands in einen nördlichen preußischen und einen südlichen österreichischen Machtbereich. Sonst hätte die Hofburg ein wichtiges Feld der preußenfeindlichen Propaganda unangefochten behalten. Außerdem waren gegen die mittelstaatlichen Regierungen, welche infolge ihrer Erfahrungen während der Märztage ebenfalls Preußen mißtrauten, Bismarcks natürliche Bundesgenossen die starken liberalen Oppositionen jener Länder. Diese Bundesgenossen wünschten die Mainlinie zu überbrücken, nicht zu vertiefen. Wie deshalb die österreichische Diplomatie vor 1866 in Norddeutschland gegen Preußen arbeitete, suchte Bismarck, namentlich als Frankfurter Bundestagsgesandter, in Süddeutschland Boden zu gewinnen.

Dennoch wurden 1866 seine Kriegsziele noch nicht uferlos. Wohl überschritt er nach den großen Waffenerfolgen sein ursprüngliches Programm. Aber was er mehr verlangte, sollte seine von vornherein begehrte Stellung besser sichern, keine davon abweichende neue und größere begründen. Selbstverständlich war für ihn schon vor dem Kriege als Siegespreis das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland gewesen. Sonst hatte er bisher nur beansprucht, daß Preußen Österreichs orientalische und italienische Interessen nicht zu unterstützen brauche. Diese Grundlage strebte Bismarck 1866 klar festzustellen. Er wollte nicht wieder das Schicksal Friedrichs des Großen teilen, welcher fast zwei Menschenalter hindurch ängstlich jeden drohenden Machtzuwachs Österreichs abgewehrt hatte, nur, um sich nicht mit verschlechtertem Kräfteverhältnisse verteidigen zu müssen. Österreich sollte im Osten für seinen verlorenen deutschen Einfluß reichlich entschädigt und von Preußen darin nicht gehindert, wenn auch nicht uneigennützig gefördert werden. Im außerösterreichischen Deutschland be- [84] standen für Bismarck zwischen Nord und Süd noch immer starke Unterschiede. Den Norden sollte Preußen fest in seiner Gewalt haben. Deshalb wurden erstens die übrigen norddeutschen Staaten einer neuen strafferen Bundesverfassung unterworfen, welche ihnen für die äußere Politik keine freie Hand mehr ließ, das Militär dem preußischen Oberbefehl unterstellte und wesentlich nur in Kultus, Justiz und Verwaltung Selbständigkeit gewährte. Zweitens wünschte er den unmittelbaren preußischen Landbesitz in Norddeutschland auszudehnen. Schon 1850 hatte er Gerlach Friedrichs des Großen gesunde Eroberungspolitik als Muster empfohlen und in der Olmützrede vom 3. Dez. 1850 Ähnliches angedeutet. Seitdem hören wir, abgesehen von Schleswig-Holstein, nichts mehr über dergleichen Pläne Bismarcks. Aber als der Krieg gewonnen war, wollte Bismarck durch 4 Millionen neuer Untertanen Preußens Übergewicht in Norddeutschland selbst ohne Bundesverfassung verbürgen. Rheinland-Westfalen durfte mit dem übrigen preußischen Staate nicht mehr durch Etappenstraßen verbunden bleiben, sondern mußte mit ihm künftig geographisch fest zusammenhängen. Während Bismarck für Norddeutschland jeden nichtpreußischen politischen Willen in allen Kardinalfragen ausschloß, brauchte er die süddeutschen Staaten nur zum herannahenden preußisch-französischen Kriege. Hier kamen ihm aber schon die übereinstimmenden Interessen, ja die Tatsache zu Hilfe, daß die Südstaaten bei einem französischen Vordringen weit mehr auf Preußen angewiesen waren als umgekehrt.

Aus diesen Überlegungen Bismarcks folgten 1866 drei Friedensziele. Erstens sollte Österreich außer Venetien kein Gebiet verlieren, auch nur geringe Kriegskosten zahlen und so sich leichter aussöhnen. Zweitens durfte in Süddeutschland kein Rachegefühl das gewünschte Zusammengehen gegen Frankreich unnötig erschweren. Bismarck benutzte die Pläne anderer preußischer Männer, auch in Süddeutschland Eroberungen zu machen, bloß, um ein Verteidigungsbündnis mit Preußen gegen Frankreich als geringeres Übel hinzustellen. Drittens nahm Bismarck zu den norddeutschen Annexionswünschen eine freiere Stellung ein. Außer Sachsen, welches die preußischen Heerführer aus alteingewurzelten militärischen Gründen forderten, [85] kam namentlich Hannover, Kurhessen, Oberhessen, Nassau ganz oder teilweise in Frage. Zweifelhaft war, ob zweckmäßiger ganze Staaten erworben wurden oder möglichst viele, aber jeder verkleinert, bestehen blieben. Der Streit wurde dadurch entschieden, daß Österreich die vollständige Erhaltung Sachsens durchsetzte und ohne ganz Hannover, Kurhessen und Nassau Preußens angestrebter Einwohnerzuwachs von 4 Millionen nicht erreicht wurden wäre. Bismarck, welcher jederzeit lieber ganze Staatsgebiete gewonnen als alle Staaten zerstückelt hätte, verwirklichte somit ein Ziel, welches er zwar bevorzugt, aber nie als Lebensfrage angesehen hatte.

So klar und natürlich uns diese Erwägungen heute dünken, damals setzte sie Bismarck im königlichen Hauptquartier nur nach heißen Kämpfen durch. Wilhelm I. mochte aus Gerechtigkeitsgefühl nicht den einen Feind völlig schonen, den anderen ganz berauben. Überdies hatte er gegen Österreich und Süddeutschland hohenzollernsche Familienwünsche. Gerade die schlesischen Bezirke Troppau und Jägerndorf, auf welche Friedrich der Große die besten Erbansprüche besessen hatte, waren österreichisch geblieben und die alten brandenburgischen Stammlande Ansbach und Bayreuth an Bayern gekommen. Zu Sachsen und dem Fichtelgebirge gehörte, zumal beim noch unvollkommenen Ausbau des Eisenbahnnetzes, auch der einspringende Winkel des Egerer Landes mit Karlsbad.

Indes hätte Österreichisch-Schlesien zwar alte hohenzollernsche Hausforderungen befriedigt, war aber gewiß keine Lebensfrage des preußischen Staates; Eger und Karlsbad entfielen von selbst, als Sachsen nicht mehr preußisch werden sollte. Bismarck hätte also durch nebensächliche Wünsche die künftige Freundschaft mit Österreich überflüssig, ohne greifbare bedeutende Gegenvorteile Preußens, erschwert. Namentlich aber gefährdeten diese Pläne die ganzen Kriegserfolge. Obgleich die Preußen vor Wien standen, vermochte Österreich noch hartnäckigen Widerstand in Ungarn zu leisten. Die Preußen durften dem Feinde dorthin nicht unbesorgt mit aller Kraft folgen, sondern gerieten in eine bedrängte Lage, wenn sich Rußland oder Frankreich einmischte. Nachdem Bismarck sein Hauptziel im Kampfe um Deutschlands Vorherrschaft erreicht hatte, hätte er durch untergeordnete weitere Ansprüche den gesamten Gewinn aufs Spiel gesetzt.

[86] Ebenso unzweckmäßig waren vom Standpunkte der preußischen Staatsinteressen aus die süddeutschen Forderungen Wilhelms I. Sie hätten dort Preußens Stellung geschwächt, statt verbessert. Der unmittelbare Landzuwachs hätte den Münchner Hof verärgert und auf das übrige Süddeutschland zurückgewirkt. Davor scheute Bismarck angesichts der drohenden französischen Gefahr zurück.

Auf 1866 folgte der Zusammenschluß Deutschlands und das deutsch-österreichische Bündnis. Aber hätten nur die Gefühle derjenigen Kreise entschieden, mit welchen Bismarck 1866 den Frieden vereinbarte, so hätte seine Mäßigung nicht die erwarteten Früchte getragen. Lediglich Ursachen, welche sich 1866 erst andeuteten, hatten diese Folgen.

Bekannt sind die Bündnisverhandlungen zwischen Frankreich, Österreich und Italien vor dem Kriege von 1870. Beust und die österreichischen Heerführer huldigten dem Rachegedanken und wollten zur gegebenen Zeit im Verein mit Napoleon und Viktor Emanuel gegen Preußen losschlagen. Auch Kaiser Franz Josef stand persönlich diesen Plänen nicht fern. Als der Wiener Hof durch die sich überstürzenden Ereignisse in den Julitagen 1870 unvorbereitet angetroffen wurde, suchte er Napoleon vorläufig noch zurückzuhalten. Obgleich das nicht gelang, hielt er anfangs trotzdem die Neutralität durchaus nicht für unbedingt nötig. Wir wissen heute aus Wertheimers Andrassybiographie, daß im entscheidenden Kronrate, an welchem der Kaiser, Erzherzog Albrecht, die beiden Ministerpräsidenten und die drei gemeinschaftlichen Minister teilnahmen, Andrassy anfangs so gut wie allein stand. Neben der Unmöglichkeit, bald in den deutsch-französischen Krieg einzutreten, haben die energisch geltend gemachten ungarischen Sonderinteressen und die Schnelligkeit der preußischen Siege schließlich in Österreich den Ausschlag gegeben. Keinesfalls hat aber die Erinnerung daran, daß Österreich 1866 keine Provinzen abgetreten, irgendwelche Rolle gespielt. Im Gegenteil hätte sich Osterreich gerade mit demjenigen Feinde von 1866, welcher ihm nicht durch eigene Kraft, sondern durch fremde Hilfe fruchtbares Land entrissen, gegen Preußen vereinigt. Diese Bestrebungen fallen um so mehr ins Gewicht, weil es das einzige Mal in Franz Josefs langer Regierung war, wo dieser nicht durch den [87] Zwang der Lage getrieben, sondern aus freier Überzeugung dem Gedanken eines Krieges nicht abhold war.

Auch Bismarcks süddeutsche Rechnung wäre trotz der geschlossenen Bündnisverträge beinahe fehlgeschlagen. Nach den Mitteilungen Béla Orczys hätten noch wenige Tage vor der Kriegserklärung Bayern und Württemberg dem Wiener Hofe versichert, daß sie keine Veranlassung hätten, sich am Kampfe zu beteiligen. In München verweigerte die ultramontane Partei die Mitwirkung am Kriege bis ganz kurz vor Toresschluß und fand auch in der königlichen Familie lebhaften Beifall. Am württembergischen Hofe wurden ebenfalls starke Einflüsse für Neutralität geübt. Was zuletzt in beiden Ländern die Entscheidung über Krieg und Frieden herbeiführte, war hauptsächlich der offenkundige Eindruck, daß der Charakter eines Verteidigungskrieges und darum der Bündnisfall unzweifelhaft gegeben sei, und war in Verbindung damit der bestimmte starke Wille weiter bayrischer und württembergischer Volkskreise. Aber es bedurfte eben eines so außergewöhnlich günstigen Kriegsanlasses und seiner Volkswirkung, um Bismarcks Hoffnungen, die sich außer der Vertragstreue auf die Gemeinsamkeit der Interessen gründeten, zu bestätigen.

Wir stoßen hier auf eine Schranke in Bismarcks staatsmännischem Können, vielleicht überhaupt im Vermögen jedes Politikers. Wie er 1848–50 an eine weitgehende Übereinstimmung der preußischen und österreichischen Bedürfnisse, an die leichte Vereinbarkeit ihrer Gegensätze geglaubt hatte, wie er am 6. Februar 1888 die Vereinbarungen mit Italien als "Ausdruck der Gemeinschaft in den Bestrebungen und Gefahren" bezeichnete und sie deshalb "fest, haltbar und dauerhaft" erachtete, so beherrschten ihn bei den Friedensschlüssen von 1866 die gleichen Erwägungen. Solche Erwartungen können sich aber nur erfüllen, wenn der andere Teil denselben nüchternen, auf das Zweckmäßige und Erreichbare konzentrierten Gesichtspunkten folgt. Das ist bei den Österreichern nach den Märztagen, bei den Italienern in den letzten 10–15 Jahren nicht der Fall gewesen; andere Ziele, die außerhalb des unbedingt Notwendigen lagen, aber der ganzen Gefühlswelt mehr entsprachen, haben beide Male die praktischen Motive zurückgedrängt. Solche Abweichungen von der scheinbar natürlichen Bahn vermag der [88] fremde Staatsmann wahrzunehmen und zu berücksichtigen, aber selten vollständig und dauernd zu meistern.






Deutschlands Friedensschlüsse seit 1555:
Ihre Beweggründe und ihre geschichtliche Bedeutung

Professor Dr. Gustav Wolf