[Bd. 5 S. 418]
Stephan wurde am 7. Januar 1831 in Stolp in Hinterpommern als das achte von zehn Kindern eines Schneidermeisters geboren. Der Großvater war Unteroffizier bei den Stolper Husaren gewesen. Seine Vorfahren hatten als Schiffer in Schweden und in Danzig gelebt. Mütterlicherseits entstammte Stephan angesehenen Stolper Handwerkerfamilien. So war der Vater seiner Großmutter Stadtgildemeister gewesen. Dessen Vater wieder, der 1749 verstorbene Stadtziegelmeister Rach, ist als der gemeinsame Vorfahr für Stephan und seinen Zeitgenossen, den Generalfeldmarschall Grafen von Haeseler, festgestellt worden. Stephans Jugend war ein doppelter Kampf. Zunächst galt es ihm, der Schwächlichkeit des Körpers Herr zu werden. Rege Beteiligung an den Schlachten [419] seiner Schulgenossen und tüchtige Leistungen im Turnen und Schwimmen verhalfen ihm dazu. Schon als Fünfzehnjähriger konnte er einen älteren Mitschüler vom Ertrinken retten. Schwieriger wurde für ihn das Ringen um eine Aufstiegsmöglichkeit im Leben, da seinem Vater die Mittel fehlten, ihn eine auswärtige höhere Lehranstalt besuchen zu lassen, denn einer solchen stand die einst berühmt gewesene Stolper Ratsschule nicht mehr gleich – und etwa zum Theater zu gehen, für das sich Stephan nicht bloß als Zuschauer begeistert hatte, verbot die ernste Einstellung seines Vaters. Als er deshalb die Schule als Bester mit dem Zeugnis "Vorzüglich" verließ, blieben ihm die Grenzen seiner Berufswahl eng gezogen. Er wählte das Postfach, obwohl es hier mit den Beförderungsaussichten recht ungünstig stand. "Ein schlechter Kerl", sagte er damals, "der nicht denkt Generalpostmeister zu werden." Hatte er schon als Schüler begonnen, sich ein für sein Alter ungewöhnliches Maß an Wissen, namentlich in der Literatur, Geschichte, den Naturwissenschaften und den Sprachen, anzueignen, so setzte er dies jetzt Jahre hindurch, ohne aber darüber etwa ein Duckmäuser zu werden, mit um so staunenswerterer Energie fort, als der praktische Postdienst den Beamten damals bis vierzehn Stunden täglich beanspruchte. Schon als Achtzehnjähriger veröffentlicht er während einer Tätigkeit beim Postamt in Marienburg über dessen Ordensschloß einen Aufsatz, der ihm eine Belobigung durch den Oberpräsidenten der Provinz einträgt. Vorzeitig zur ersten Fachprüfung zugelassen, besteht Stephan sie mit Auszeichnung. Zur Belohnung dafür beruft ihn nach Ableistung seines Militärjahrs die Berliner Zentralbehörde, das Generalpostamt, zu sich ein. Unerwartet tritt gerade hier rasch der Versucher an ihn heran: ein Vorgesetzter mutet ihm einen Spitzeldienst zu, was er entrüstet ablehnt. Denn "der moralische Mensch" – schreibt er hinterher einer Schwester – "muß die Gunst von oben zurückweisen, wenn er, um sie zu erreichen, sein besseres Ich opfern soll". Infolge dieses Zwischenfalls schiebt man ihn schon nach wenigen Wochen wieder ab, und zwar nach Köln. Dort wird er auf höheren Befehl in die schwierigste Stelle des Hauptpostamts, die Auslands-Briefabfertigung, gesteckt, wo sonst nur Beamte arbeiten, die die damals sehr verwickelten Vorschriften des internationalen Briefdienstes – ein für ihn völliges Neuland – gründlich kennen. Indem er es jetzt jenen Beamten im Schweiße seines Angesichts nachtun muß, läßt er es nicht dabei bewenden, sein tägliches oder nächtliches Dienstpensum abzuleisten. Vom Theater erneut in Bann geschlagen, schreibt er für die Kölnische Zeitung über Kunstfragen, pflegt regen Verkehr mit Bühnenangehörigen und Leuten von der Feder und verlobt sich, zweiundzwanzig Jahre alt, mit einer jungen ungarischen Opernsängerin, Anna Tómala, die ihm bis zu ihrem frühzeitigen Tode eine Ehe voll Glück und Sonne schenkt. Und während er daneben auf das Staatsexamen hinarbeitet, beschäftigen ihn immer wieder allerlei Gedanken über die den buntscheckigen Bestimmungen des internationalen Briefverkehrs zugrunde liegenden [420] tausend zwischenstaatlichen Postverträge. Das wird für ihn der Nährboden, aus dem später sein kühner Entschluß reifen sollte, jene Unzahl ganz verschiedenartiger Abkommen mit ihrer unübersehbaren Fülle von Gebührensätzen durch einen einzigen, alle Länder umfassenden Vertrag zu ersetzen.
Stephan, der 1865 Vortragender Rat geworden war, hatte, auch vom verkehrspolitischen Standpunkt aus, die eine Einigung Deutschlands vorbereitenden Schritte Bismarcks mit größter Spannung verfolgt. Kaum war die Stadt Frankfurt (Main), in der sich die fürstliche Generalpostdirektion befand, 1866 von preußischen Truppen besetzt worden, als er auch schon dort erschien und die Leitung der taxisschen Post in die Hand nahm mit dem Ziele, das alte Lehnsinstitut mit allem, was dazu gehörte, der preußischen Post einzuverleiben, mochten auch einflußreiche Stellen, selbst in Berlin, anders darüber denken. Mit höchster Umsicht und Tatkraft führte er das Ablösungswerk durch, bei dessen Ablauf der Fürst von Thurn und Taxis mit drei Millionen Taler entschädigt wurde. Die für ganz Thüringen jetzt hergestellte postalische Einheit mit Preußen gewann weiter an [421] Wert durch die Beweise der Sympathie und Dankbarkeit, die die taxisschen Postbeamten, als Stephan von Frankfurt Abschied nahm, ihm, der sie "verpreußte", gleichwohl lieferten. Die Hochwertigkeit seines Menschentums hatte ihnen diesen schweren Übergang auch durch die Art, mit der er die meist schlecht besoldeten Taxianer in die Gruppen der preußischen Postbeamten einreihte, leicht gemacht. Lebhaftes Kopfschütteln gab es nur bei den höheren taxisschen Beamten darüber, wie Stephan es fertiggebracht hatte, neben der Leitung ihrer Behörde auch noch in denkbar kürzester Frist die sehr schwierige Ermittelung des Wertes des fürstlichen Postrechts und die Ablösungsverhandlungen mit dem Fürsten sowie den Landesherren des Lehnsgebiets vollendet zu meistern, während er daneben immer noch Zeit fand, im Stadtarchiv Studien zu machen, die den Preußen abholden alten Frankfurter im persönlichen Verkehr für seine Zwecke zu gewinnen und – recht oft – im Freundeskreise zu Ehren seiner geliebten Frau Musika den Becher zu schwingen. Ähnlich erging es den auswärtigen Diplomaten, mit denen er vor und nach der Frankfurter Zeit in ihren Ländern neue Postverträge abschloß, und die, wenn er mit ihnen je nach Bedarf englisch, französisch, italienisch, spanisch oder portugiesisch verhandelt hatte, für den Tag dann meist "erledigt" waren, während er anschließend in Museen ging oder Land und Leute studierte, um abends einen geselligen Kreis durch seine vielseitige Unterhaltungsgabe und als glänzender Anekdotenerzähler zu fesseln und hinterher im Hotel noch einen Lagebericht für Berlin zu entwerfen. Seine beruflichen Mitarbeiter daheim konnten sich, je länger je mehr, der Wirkung einer solchen ungewöhnlichen geistigen und körperlichen Spannkraft nicht entziehen, bis schließlich in den ganzen Postbetrieb ein Leben hinein kam, das durch die keiner Behörde bis dahin eigen gewesene beschwingte Art des Dienstvollzugs und der Verkehrsbedienung Stephan den lebhaften Beifall der Nation eintrug. In Norddeutschland bestanden nach dem Kriege von 1866, der die Länder Hannover, Schleswig-Holstein und Lauenburg mit zu Preußen brachte, noch acht Postbezirke – in Sachsen, den beiden Mecklenburg, Oldenburg, Braunschweig und den drei Hansestädten. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Norddeutschen Bundes verschmolz Stephan diese Vielheit zu einem Verkehrsgebiet: der Postverwaltung des Bundes. Außer ihr gab es jetzt noch in Deutschland eigene Posten in Bayern, Württemberg und Baden. Aber für manches, was sie noch voneinander trennte, wußte Stephan einen Ausgleich zunächst darin zu finden, daß es ihm gelang, die süddeutschen Postbereiche für eine verbilligte einheitliche Briefgebühr (von zehn Pfennig) im Verkehr innerhalb Deutschlands zu bestimmen und deren Geltungsbereich auch noch auf Österreich-Ungarn auszudehnen. Großen Jubel löste diese Tat aus. Nicht gering war auch die Genugtuung darüber, daß – infolge eines von Stephan herbeigeführten [422] Abkommens – die Staaten Dänemark und Schweden jetzt ihren eigenen Postämtern in den Hansestädten entsagten. Schon Stephans postalischen Leistungen der sechziger Jahre – die er dabei als Geheimrat des Generalpostamts aus sich heraus vollbringt – ist so auch ein hoher nationaler und sozialer Zug eigen. Deshalb fällt es Bismarck nicht schwer, in ihm den Mann zu erkennen, der dem Vaterlande bei Durchführung des deutschen Einigungswerkes weiter hervorragende Dienste leisten wird, und ihn kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges zum Generalpostdirektor zu machen. Als solcher führt Stephan sofort die von ihm bereits 1865 erfundene Postkarte ein, von der sein Amtsvorgänger nichts hatte wissen wollen und die nun den deutschen Truppen 1870/71 mit Hilfe der von Stephan großartig geleiteten deutschen Feldpost unschätzbare Dienste leistet. Es ist nicht nur die Posttechnik, die hoch zu entwickeln er jetzt unternimmt. Die ungewöhnlich praktische Seite seines Wesens bekundet sich auch durch eine feine Witterung für alles, was im Postverkehr noch sonst zeitgemäß erscheint. Hinzu kommt seine Organisationsgabe mit dem geniehaften Blick für das Große und doch Einfache, das er dann, die gesamte Materie bis ins einzelne beherrschend, mit stürmischer Energie vollendet aufbaut, ohne, dank seiner Fähigkeit zur Mäßigung, die Grenzen des Erreichbaren zu überschreiten. Dies und seine hohe sittliche Auffassung von der Post als der Mittlerin des Gedankenaustausches der Menschen und Völker machte sie, die bisher als Inbegriff der Prosa galt, zu einem Kulturinstitut ersten Ranges. Eine Fülle von Einrichtungen, die der Gegenwart zu einer unentbehrlichen Selbstverständlichkeit geworden sind, gehen, als das Werk eines einzigen Mannes, auf Stephan zurück. So verdanken wir ihm den billigen Einheitstarif für Pakete bis zu 5 kg, der den Kleinversand außerordentlich gefördert und das Entstehen neuer Industriezweige ermöglicht hat. Zu der Paketkarte, die den umständlichen "Begleitbrief" ablöst, gesellen sich der Bücherzettel, der Postauftrag, die Nachnahme und das dringende Paket. Um jedermann die Postbenutzung weiter zu erleichtern, erhält das Reichspostgebiet ein engmaschiges Netz von Verkehrsanstalten, wie es kein anderes Land der Welt besitzt. Den sonst unverhältnismäßig hohen Einrichtungs- und Unterhaltungskosten für Fachämter weiß Stephan dabei durch eine neue Klasse von Postanstalten, die Postagenturen, zu begegnen, die die Landbevölkerung fortan von der zeitraubenden Benutzung städtischer Posteinrichtungen unabhängig machen. Und hatte die Landzustellung, zumal in den Preußen 1866 einverleibten Postgebieten, bisher viel zu wünschen übrig gelassen, so verlor sie jetzt, auch mit Hilfe der neugeschaffenen Posthilfsstellen, ihren Charakter als Stiefkind völlig. 1875 übertrug Bismarck Stephan auch die Leitung der bis dahin einem General unterstellten Reichstelegraphie, um das kostspielige Nebeneinander zweier verwandter Verkehrsverwaltungen zu beseitigen und das rückständig [423] gewordene Telegraphenwesen dem hohen Stande der Posteinrichtungen anzugleichen. Stephan führte als "Generalpostmeister" diese Aufgabe vorbildlich durch. Sofort begann er außerdem, um die Betriebssicherheit der bisher oberirdisch verlaufenden Telegraphenlinien wesentlich zu erhöhen, trotz des Abratens aus Gelehrtenkreisen mit dem Bau von Erdfernkabeln, die schließlich zweihundertzwanzig Städte, darunter die bedeutendsten Handels- und Waffenplätze des Reiches, miteinander verbanden. Deutschland erhielt damit vor allen übrigen Ländern das technisch vollkommenste Telegraphenliniennetz. Auch dem noch nach Entfernungen abgestuften, mit mindestens zwanzig Worten rechnenden Telegraphentarif geht Stephan alsbald zu Leibe und ersetzt ihn durch den als einen großen Fortschritt begrüßten Worttarif, dem er ebenso im internationalen Verkehr zum Siege verhilft. Als 1877 das von dem Amerikaner Bell erbaute Telephon nach Europa kommt, erkennt Stephan als einziger unter den Verkehrsministern der Welt sofort die Bedeutung dieses unscheinbaren Apparates, stürzt sich auf dessen praktische Auswertung und macht ihn in Deutschland dem öffentlichen Verkehr früher dienstbar, als dies in Amerika selbst geschieht. Gleichzeitig erklärt Stephan, obwohl Gesetzesunterlagen dafür noch fehlen, das Fernsprechwesen, wie er das Wort "Telephonie" umtauft, zu einem Regal des Staates. Darin läßt er sich auch nicht beirren, als Kreise der Großindustrie und des Kapitals dafür eintreten, das neue Verkehrsmittel – zum Nachteil seiner Benutzer sowie der Sicherheit des Reiches – der Ausbeutung durch Wirtschaftsunternehmen des In- oder gar Auslands zu überlassen. Stephans auf das Wohl des Vaterlandes eingestellte Lebensarbeit führt ihn weiter dazu, Bismarck die Einrichtung deutscher Reichspostdampferlinien nach dem Fernen Osten und nach Ostafrika vorzuschlagen, um die Beförderung der deutschen Überseepost von englischen und französischen Dampfern unabhängig zu machen und Deutschlands Weltgeltung und Handel zu steigern. Die Verwirklichung dieser Pläne wird von großer Bedeutung für die Entwicklung der jungen deutschen Kolonialgebiete sowie des hinter dem englischen bisher zurückgebliebenen deutschen Schiffsbaus, der nun bald Weltruf erlangt. Langjährige schwierige Verhandlungen kostete es Stephan, auch für den deutschen Telegrammverkehr nach Übersee Eigenwege anzubahnen, um aus der Kontrolle des die Erde umspannenden britischen Kabelnetzes herauszukommen. Noch kurz vor seinem Tode wurde ihm die Genugtuung, daß mit der Herstellung und dem Verlegen des ersten deutschen Kabels von der Nordseeküste nach den Vereinigten Staaten von Amerika begonnen werden konnte. Ein vaterländischer Wunsch blieb ihm unerfüllt: die deutsche Einheitsbriefmarke. Schon 1871 hatte er in der Erwartung, daß das Reichspostgebiet nach der Einverleibung Badens und Elsaß-Lothringens bald auch noch mit den beiden süddeutschen Postverwaltungen ein Ganzes werden würde, als Vorläufer die Einführung einer deutschen Einheitsmarke bei Bismarck zu erreichen versucht. Aber das [424] Reichsgefüge erschien seinem Begründer noch nicht stark genug, um den namentlich von Bayern zu erwartenden entschiedenen Einspruch gegen gemeinsame Postwertzeichen auf die leichte Schulter nehmen zu können, nachdem jene beiden Staaten bei der Reichsgründung sich bereits zu einer einheitlichen Postgesetzgebung und Tarifgestaltung sowie dazu hatten verstehen müssen, daß fortan die Reichspost auch bei Vertragsschlüssen mit dem Ausland führend wurde. Stephans nach außen hin größtes Werk, "die strahlende Vision seiner Jugend", ist die Gründung des Weltpostvereins. Von 1862 ab hatte er durch den Abschluß neuzeitlicher Postverträge mit den Regierungen Europas sowie den Vereinigten Staaten von Amerika den Boden dazu geebnet. Durch seine überragende und bezwingende Verhandlungskunst weiß er 1874 auf einem Postkongreß in Bern die Vertreter von einundzwanzig Ländern für einen von ihm entworfenen "Allgemeinen Postvertrag", den späteren Weltpostvertrag, zu gewinnen, der mit einem Schlag unter Niederlegung aller Grenzschranken für dreihundertfünfzig Millionen Menschen ein einheitliches Postgebiet schafft, durch Einführung des billigen Weltbriefportos den bisherigen Brieftarif von dreihundertdreißig Druckseiten auf wenige Druckzeilen zusammenschrumpfen und die Völker sich fortan zu einem Gesetz bekennen läßt, das auf dem Boden der Gleichberechtigung den geistigen Verkehr der Menschheit regelt. Die Unentbehrlichkeit dieser Stephanschen Schöpfung mußten später selbst die Väter des Versailler Diktats ausdrücklich anerkennen. Hatte Stephan schon 1857 in seiner Geschichte der preußischen Post ausgesprochen, daß "der Post erstes Gesetz die Förderung des Gemeinwohls sei", so wurde er auch später als Verwaltungschef nicht müde, eine Erleichterung und Verbilligung des Verkehrs zum Nutzen aller Teile des Volkes dem Verlangen der Reichsfinanzverwaltung nach Überschüssen voranzustellen. Als er damit in seinen letzten Dienstjahren selbst beim Reichskanzler auf starken Widerstand stieß, weil die sonstigen Ausgaben des Reiches die Einnahmen dauernd überschritten, legte ihm eine an der Oberfläche haftende Kritik seine jetzt durch Zwang verlangsamte Reformtätigkeit als Alterserscheinung aus. Im jüdisch-sozialdemokratischen Lager trieb man den Undank so weit, Stephan deshalb einen Petrefakten zu nennen. Die letzte umfassende Arbeit seines Lebens, die zu vollenden ihm beschieden blieb, war die Durchführung seines 1875 in Angriff genommenen Plans, allenthalben menschenwürdige Verkehrsstätten zu schaffen, zugleich unter Bruch mit der bisher bei den Staatsbauten angewandten Schablonenarchitektur. Noch bis Anfang der siebziger Jahre hatten vielfach Haus- und Treppenflure oder Durchfahrten als Schaltervorräume dienen müssen und ebenso die Betriebsräume nur zum kleinen Teil gesundheitlich sowie in ihrer Durchbildung genügt. Stephan ließ nunmehr gegen dreihundert neugestaltete, reichseigene Posthäuser – neben zweitausend kleineren Mietspostgebäuden – entstehen, [425] wobei er als erster Verwaltungschef die im Inland erzeugten Baustoffe ausländischen vorzog. Dadurch förderte er nicht nur die heimische Bautätigkeit, sondern schützte auch die nationale Arbeit. Die Bevorzugung des Repräsentativen in der Fassadengestaltung der größeren Posthäuser hat ihm die spätere Generation vielfach verdacht. Zu seiner Zeit war jedoch die Bauweise des zwecklich Konstruktiven noch unbekannt. Und da die Stephansche Bauform nicht wenig dazu beitrug, das Ansehen der jungen deutschen Reichspost im In- wie im Auslande zu mehren, ist ihr eine kulturelle Bedeutung auch jetzt nicht abzusprechen. Stephans Vielseitigkeit hatte Bismarck 1877 bewogen, ihm auch die Reichsdruckerei anzuvertrauen. Stephan machte aus ihr eine Musteranstalt für das deutsche Druckereigewerbe auf dem Gebiet der nachbildenden Kunst. Als Gelehrter von hohen Graden hatte er schon in jüngeren Jahren verschiedene erstklassige verkehrsgeschichtliche Werke geschrieben. Sein bedeutendstes war jene achthundert Druckseiten umfassende Geschichte der preußischen Post, die er mit siebenundzwanzig Jahren veröffentlichte und der auch in andern Verwaltungen nichts Gleichwertiges zur Seite stand. Sprachwissenschaftliche Studien veranlaßten ihn 1875, die erste Bewegung gegen die Fremdwörter wachzurufen und sogleich deren achthundert aus dem Postbetrieb auszumerzen. Zunächst wurde sein Vorgehen belacht oder mit Protesten beantwortet, bis er allmählich die Zustimmung weitester Kreise fand und, seinen Spuren folgend, der Allgemeine Deutsche Sprachverein entstand. Um dieselbe Zeit hatte Stephan in einem Vortrag "Weltpost und Luftschiffahrt" die Erfindung des lenkbaren Luftschiffs als nahe bevorstehend prophezeit. Viele erklärten das für eine Utopie, nur nicht Graf Zeppelin, der, durch diesen Vortrag angeregt, sein erstes starres Luftschiff entwarf.
Die seelischen Erregungen hierüber und langjährige Überarbeitung begünstigten bei ihm die Entwicklung der Zuckerkrankheit. Er wußte, was ihm bevorstand, wenn er sich von jetzt ab nicht schonte. Das Heilmittel Insulin gab es damals noch nicht. Aber nach wie vor unterzog er sich den Strapazen des Dienstes, auch auf Reisen, wie in seiner besten Zeit. Auch die Jagdleidenschaft, der er sich in reiferen Jahren zugewandt hatte, gab er nicht auf. Freilich war der deutsche Wald für ihn zugleich die Stätte, die ihn innerlich stärkte und erhob und ihm wahre Erbauungsstunden bereitete. Und hatte sein für das Schöne in Kunst und Natur tief empfänglicher Geist schon immer das Bedürfnis empfunden, dem, was ihn ergriff, auch in Versen Ausdruck zu geben, so half ihm das auch, jetzt inmitten der schweigenden Natur trüber Gedanken wieder Herr zu werden.
"Ein Herz, das widersteht der Zeiten Flucht, So blieb er bis zuletzt doch ein Lebensbejaher, der das irdische Dasein nicht als ein Jammertal ansah, vielmehr als ein Geschenk, das man sich durch Arbeit täglich von neuem verdienen muß. "To be or not to be, that is not the question for me", schrieb er, Hamlets berühmten Monolog abwandelnd, einer Engländerin, "I like to be!" Da es ihm Bedürfnis war, wo er konnte, andern eine Freude zu bereiten, griff er auch gern zum launigen Knittelvers, den er vortrefflich und spielend zu meistern wußte. In geeigneten Fällen gab er selbst einem amtlichen Bescheid, den er gerade unterzeichnete, einen solchen Abschluß. Er war eben der Meinung, daß auch im Dienst, so streng er ihn auffaßte, dem Scherz ein Plätzchen zustünde. Wie er jugendliche Streiche im Dienste beurteilte, kennzeichnet sein Verhalten, als er bei einem Besuch der Wartburg deren kleine Postanstalt betrat und den Schalterbeamten, dem der Sommertag zu warm vorkam, in Hemdsärmeln antraf. Unwillig fragte ihn Stephan, wo der Herr Vorsteher wäre. Der junge Beamte erwiderte: "Ich werde ihn sofort rufen!" und verschwand denn auch schleunigst durch eine Tür, um gleich darauf in seinem Uniformrock wieder zu erscheinen und sich als der Vorsteher zu melden. Diese Geistesgegenwart gefiel Stephan so, daß er, an keinen Tadel mehr denkend, dem Beamten sagte: "Das haben Sie ausgezeichnet gemacht", und ihm die Hand drückte. – "Um der Jugend gerecht gegenüberzustehen, [427] muß man sich die Erinnerung an die eigene Jugend lebendig erhalten", lautete ein Satz in einem Erlaß Stephans von 1888 an die Chefs der Oberpostdirektionen, den man eine Art verkehrs- und personalpolitisches Testament nennen möchte. Bald danach widerfuhr es ihm, der für die Beamtenschaft, selbst nach dem Urteil seiner sozialdemokratischen Gegner, sehr viel getan und auch jede Vettern- und Protektionswirtschaft von ihr ferngehalten hat, daß unter jungen mittleren Beamten der Reichspost eine Mißstimmung aufkam: sie hielten die in den siebziger Jahren für ihre Gruppe vom Reichstag und Bundesrat festgelegten Beförderungsaussichten für inzwischen überholt und sich vor den Militäranwärtern in dieser Hinsicht zurückgesetzt. An sich anerkannte das auch Stephan. Was ihn gleichwohl hinderte, sich bei der Heeresverwaltung für ihre Wünsche einzusetzen, war die Art ihres Vorgehens gegen ihn, der, noch in patriarchalischen Anschauungen groß geworden, dem hier erstmalig im Beamtenkörper auftretenden Korporationswesen mißtrauisch gegenüberstand, zumal da alsbald Vertreter der am Bestande des Reichs rüttelnden Linksparteien sich zu Beschützern der jungen Bewegung aufwarfen. Außerdem fand Stephan hier bei seinen nächsten Mitarbeitern nicht mehr das, was er in jenem Erlaß von 1888 als die erste Pflicht eines Beamten bezeichnet hatte: Freimut und Offenheit nach unten und oben zu üben. Der Respekt vor seiner Überlegenheit hatte auch sonst manchem von ihnen den Mut der Unbefangenheit gemindert. Anfang 1897 war die Zuckerkrankheit bei Stephan so weit vorgeschritten, daß er sich wegen eines brandig gewordenen Zehs legen mußte, nachdem er noch im Reichstag, auf einem Stuhl kniend, den Postetat an drei Tagen persönlich vertreten hatte. Er ließ sein Bett neben seinen
Als einige Monate später wieder ein Weltpostkongreß, diesmal in Washington, tagte, den einundsechzig Länder aller Erdteile beschickt hatten, stand inmitten des Sitzungssaals ein schwarzumflorter Sessel in Erinnerung an den Mann, der, wie der amerikanische Präsident der Versammlung in seiner Eröffnungsrede sagte, "die Seele der Postwelt gewesen war, der Bismarck der Post".
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